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Nach dem Erscheinen seines zweiten Kindertagebuchs "Die Berlinreise“ wurde Hanns-Josef Ortheil häufig gefragt, wie er als Zwölfjähriger ein derart beeindruckendes Buch schreiben konnte. Dieser Frage ist er jetzt in dem Band "Der Sift und das Papier" nachgegangen. Schritt für Schritt wird erzählt, wie er, begleitet und angeleitet von Vater und Mutter, sich das Schreiben beibrachte. Er beschreibt, wie er übte und wie diese Übungen langsam übergingen in kleine Schreibprojekte, die er sich selber ausdachte und verfolgte. Es ist die bewegende Geschichte eines Jungen, der lange Zeit nicht sprach und der einen eigenen Weg zum Sprechen und Schreiben suchen musste. Und es ist bei allen Widerständen, die sich in den Weg stellten, die Geschichte eines Wunderkinds, das früh ein Gefühl für das Erzählen besaß und das über eine Gabe verfügte, die alle anderen überstrahlte: beobachten zu können und das Beobachtete traumwandlerisch in die richtigen Worte zu fassen.
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Seitenzahl: 478
Zum Buch
Seit dem achten Lebensjahr erhielt Hanns-Josef Ortheil von seinen Eltern Schreib- und Sprachunterricht. Sie hatten Angst, dass er Sprechen und Schreiben – nach Jahren des Stummseins – nicht mehr richtig lernen würde. Die »Schreibschule« der Eltern folgte keinen Lehrbüchern oder sonstigen Vorlagen. Sie entstand Tag für Tag spontan aus dem Bild- und Sprachmaterial, das die nahen Umgebungen (Spiele, Straßen und Plätze in Köln und im Westerwald, Nachrichten, Buchlektüren etc.) anboten.
Mit den Jahren machte der Junge diesen in seinem Erfindungsreichtum einzigartigen und hochkreativen Workshop immer begeisterter mit. Allmählich übernahm er selbst die Regie, stellte sich täglich eigene Schreibaufgaben, erfand kleine Erzählungen und Geschichten, schrieb Gedichte und Mini-Dramen und begann, an ersten »Romanen« zu arbeiten. Schon bald erschienen seine ersten Kindertexte dann auch in Zeitungen und Zeitschriften. Ein sehr ungewöhnlicher Autor war geboren: »Das Kind, das schreibt.«
In »Der Stift und das Papier« erzählt Hanns-Josef Ortheil den Roman dieser unvergleichlichen Passion. Er blickt auf seine frühen Übungen und die Räume ihrer Entstehung zurück, und er versucht, die Geheimnisse der Lehre seiner Eltern genauer zu verstehen. Dazu taucht er tief in das große Archiv der frühesten Texte ein, das sein Vater von den ersten Schreibversuchen an aufbaute und das heute das wohl umfangreichste Manuskript-Archiv eines derzeit lebenden Autors darstellt.
Zum Autor
HANNS-JOSEF ORTHEIL wurde 1951 in Köln geboren. Er ist Schriftsteller, Pianist und Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Seit vielen Jahren gehört er zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Thomas-Mann-Preis, dem Nicolas-Born-Preis und zuletzt dem Stefan-Andres-Preis. Seine Romane wurden in über 20 Sprachen übersetzt.
HANNS-JOSEF ORTHEIL
Der Stift und das Papier
Roman einer Passion
LUCHTERHAND
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© 2015 Luchterhand Literaturverlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlagmotiv: © plainpicture/Didier Gaillard
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-16394-5
www.luchterhand-literaturverlag.de
1
Anfänge
Die Hütte meines Vaters
ICH SITZE in der Jagdhütte meines Vaters auf dem elterlichen Grundstück im Westerwald. Ich sitze auf einem einfachen, harten Stuhl ohne Seitenlehnen, vor mir ein kleiner, rechteckiger Tisch. Durch das schmale Fenster schaue ich in die ausgebreitete Weite der Landschaft, bis zu den Hügelformationen des Rothaargebirges. Auf meinem Tisch liegen sehr viele Stifte und Papier unterschiedlicher Formate. Ich muss mich entscheiden, welchen Stift und welches Papier ich jetzt zum Schreiben nehme. Es ist früh am Abend. Kurz schließe ich die Augen, dann entscheide ich mich: Ich beginne zu schreiben …, plötzlich, von einem Moment auf den andern … – bin ich wieder: Das Kind, das schreibt …
Die Jagdhütte steht am Rand des großen Waldgrundstücks, auf dem sich meine Eltern etwa ein Jahrzehnt nach Kriegsende ein Haus gebaut haben. Lange Zeit hat sich nur mein Vater in dieser Hütte aufgehalten. Es gibt dort einige Regale, einen bequemen Sessel, ein Radio, viele Schallplatten und einen Plattenspieler. Für Vater war diese Hütte ein Rückzugsort, in dem er sich gern allein aufhielt. In den Regalen hatte er Zeitschriften zur Vermessungskunde und Bücher zu den Themen Natur, Wald, Jagd untergebracht. Beide Themengebiete gehörten für ihn eng zusammen. Sein Beruf als Geodät (Landvermesser) war, so gesehen, nur eine passende Umsetzung seines großen Interesses für alles, was sich in der Natur ereignete. Die einsamen Landschaften des Westerwaldes waren für solche Beobachtungen und Studien ein geradezu ideales Terrain. Er konnte dort tagelang unterwegs sein, ohne einem einzigen Menschen zu begegnen. Stattdessen traf er jedoch, wenn er geschickt, vorsichtig und möglichst geräuschlos durch die Wälder streifte, immer wieder auf einzelne Tiere oder Tiergruppen, die oft keinerlei Scheu zeigten. Seit seinen Kindertagen auf einem westerwäldischen Bauern- und Gasthof war mein Vater beobachtend und forschend in der Natur unterwegs. Am liebsten hätte er sich wohl ein Leben lang von frühmorgens bis in den Abend im Freien aufgehalten.
Ich selbst durfte die Jagdhütte betreten und mich dort aufhalten, als mein Vater begann, mich im Schreiben zu unterrichten. Etwa seit meinem dritten Lebensjahr hatte ich kein Wort gesprochen, so wie auch meine Mutter in diesen frühen Kinderjahren nicht gesprochen hatte. Nach dem Verlust von vier Söhnen hatte sie immer weniger und dann gar nichts mehr gesagt, und ich selbst hatte mich diesem Verhalten angepasst und ebenfalls aufgehört, noch irgendetwas zu sagen. Ich hatte geschwiegen und mich an meiner stillen Mutter orientiert, die alle notwendigen Mitteilungen auf kleinen Zetteln vermerkte. Die vielen Zettel (manchmal zwanzig, dreißig am Tag) waren das einzige Mittel der Kommunikation in unserer Familie gewesen, ich habe meine Mutter als eine lesende, schreibende, aber lange Zeit nicht sprechende Person erlebt.
Andere Menschen dagegen konnte ich natürlich zu den verschiedensten Gelegenheiten beim Sprechen beobachten. Ich hörte, wie unterschiedlich sie sprachen: hell, dunkel, langsam, holprig, mit vielen oder wenigen Pausen, lebhaft, stockend. Manches konnte ich auch verstehen, und zwar vor allem dann, wenn sich das Gesprochene auf etwas bezog, das in der Umgebung anwesend war. Stand ich mit meiner Mutter in einem Käseladen (wo wir einen Zettel mit unseren Bestellungen abgaben und später wiederkamen, um die Bestellungen abzuholen), so konnte ich sehen, dass eine Frau auf ein Stück Käse deutete und zum Beispiel sagte: »Ein Stück von dem Emmentaler, bitte!« Das Stück Käse, das die Verkäuferin dann aus der Vitrine fischte, hieß anscheinend »Emmentaler«, ohne dass mir klar geworden wäre, wieso man gerade solch einem Käse diesen merkwürdigen Namen gegeben hatte. »Emmentaler« – das war zunächst nur ein bestimmter Klang, den ich eine Weile im Kopf behielt, rasch aber wieder vergaß, wenn ich ihn nicht in bestimmten Abständen wieder zu hören bekam. Nannte man aber nur diesen Käse »Emmentaler«? Oder gab es noch andere Dinge oder vielleicht sogar Menschen, die »Emmentaler« genannt wurden?
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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