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Mit 50 literarischen Miniaturen und kurzen Erzählungen unternimmt Hanns-Josef Ortheil eine Reise an die Quelle seiner literarischen Arbeit: die Kunst der genauen Beobachtung und Wahrnehmung. Als Pate dient ihm der Aristoteles-Schüler Theophrast. Der wurde mit seinem kleinen Büchlein "Charaktere", 319 v. Chr. entstanden, zu einem bis heute gelesenen Meister der Porträtkunst. Wie Theophrast registriert Ortheil in seinem Umfeld typisch menschliche Eigenwilligkeiten. Mit feinem Humor und Lust an der Präzision formt er daraus Figuren, die dem Leser verblüffend vertraut scheinen: Kennt nicht jeder einen Enthusiasten, der sich in einen Rausch schwärmt – oder eine notorische Aber-Sagerin, mit der eine Diskussionen kein Ende findet? Den Sport-Fetischisten, der notfalls gegen sich selbst antritt – oder die Promovendin, die jede Kleinigkeit in alle denkbaren Teile zerlegen muss? Im Laufe des Buchs erweitert Ortheil die Porträt-Miniaturen zu eigenständigen kleinen Geschichten: Seine Charaktere spielen mit in jener großen "Comédie humaine", die zwischen Leben und Literatur nicht unterscheidet.
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Seitenzahl: 100
Hanns-Josef Ortheil
Reclam
2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH
Coverabbildung: akg-images / © Heirs of Josephine N. Hopper/VAGA at ARS, NY / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2022
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
akg-images / © Heirs of Josephine N. Hopper/VAGA at ARS, NY / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
ISBN978-3-15-0962078-7
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011421-6
www.reclam.de
Einladung zur Lektüre
Charaktere – in meiner Nähe
Die Aber-Sagerin
Der Enthusiast
Die Promovendin
Der Ungehobelte
Die Gutstrukturierte
Der Appetitor
Die Familienfürsprecherin
Der Hedomat
Der Codaist
Die Monologistin
Der Chronist
Die Überdiplomatische
Der Stoiker
Die Ausredenvirtuosin
Der Selbstlober
Die Schönfärberin
Der Nestbewohner
Die Anprobiererin
Der Neutrale
Der Sportfetischist
Die Moderatorin
Die Psychogeografin
Die Auslöfflerin
Der Zeitlose
Die Mitspielerin
Der Dorfsheriff
Der Brombeerpflücker
Der Multi-Aktive
Der Topoptimierte
Das Aufräumkind
Der Testesser
Der Unterwasserlebende
Die Romanspielerin
Der Küchenschweiger
Die Außerhausesserin
Der Kultivierte
Der Internet-Rezensent
Der Hundehalter
Der Spielfreudige
Die Eilfertige
Die Weitläufige
Die Italiensüchtige
Der Trinkkumpan
Die Waldgängerin
Die Bestellfreudige
Der Fernseh-Dialogist
Der Kussteufel
Der Teilchenbeschleunigte
Der Sehnsuchtstrinker
Die Kupplerin
Theophrastos von Eresos (um 371 – um 287 v. Chr.) wurde als einer der begabtesten und vielseitigsten Schüler des griechischen Philosophen Aristoteles bekannt. Zusammen mit seinem großen Lehrer wirkte er in dessen philosophischer Schule, dem Peripatos in Athen. Nach Aristoteles’ Tod übernahm er die Leitung und führte sie erfolgreich weiter. Im Verlauf seines Unterrichts hat Theophrast viele Schriften verfasst, darunter auch ein kleines Büchlein mit dem Titel Charaktere, das um 319 v. Chr. entstanden ist.
Es besteht aus dreißig kurzen Porträts von menschlichen Typen, die Theophrast im Athen seiner Zeit aufmerksam beobachtet hat. Der Begriff ›Charakter‹ ist dabei nicht im heutigen Sinn zu verstehen. Er meint vielmehr im Griechischen die wesentliche ›Prägung‹, die einen Menschen ausmacht und in vielen einzelnen Momenten seiner Existenz zum Ausdruck kommt. Eine solche ›Prägung‹ verliert man mit der Zeit nicht, sie ist vielmehr so wesentlich, dass sie einen durch ein ganzes Leben begleitet.
Die Texte porträtieren Charaktere wie »den Schmeichler«, [8]»den Gefallsüchtigen«, »den Kleinlichen« oder »den Ungehobelten« – und das jeweils in dieser kaleidoskopartigen Form:
Der Ungehobelte
Der Ungehobelte trinkt, bevor er zur Volksversammlung geht, erst noch einen Kykeon; er behauptet nämlich, dass Parfüm durchaus nicht süßer dufte als Thymian. Er trägt zu große Schuhe. Er spricht (stets) mit lauter Stimme.
Er misstraut seinen Freunden und Angehörigen, aber seine Haussklaven weiht er in die wichtigsten Dinge ein; auch den Tagelöhnern, die für ihn die Feldarbeit leisten, erzählt er alles, was sich gerade in der Volksversammlung abgespielt hat.
Beim Sitzen schlägt er (gewöhnlich) seinen Mantel oberhalb der Knie nach oben, so dass seine Blöße zu sehen ist.
Nichts kann ihn erfreuen auf der Straße oder in Staunen versetzen, aber wenn ihm ein Ochse, Esel oder Ziegenbock über den Weg läuft, bleibt er stehen und beäugt ihn.
Wenn er etwas aus der Speisekammer holt, isst er gleich gern davon, und den Wein trinkt er (vorzugsweise) mit wenig Wasser.
Erst treibt er es heimlich mit der Köchin, und gleich danach hilft er ihr beim Mahlen des Getreides und (der Zuteilung) der Tagesration für alle Hausgenossen und für sich selbst.
[9]Während des Frühstücks wirft er den Ochsen nebenher ihr Futter vor.
Er öffnet Ankömmlingen selbst die Tür und ruft dann den Hund, packt ihn an der Schnauze und sagt: »Da seht ihr, was für ein Kerl hier auf mein Grundstück und Haus aufpasst.«
Will ihm jemand Geld zurückerstatten, bringt er es fertig, die Annahme einer Silbermünze zu verweigern, weil sie einen zu hohen Bleigehalt habe, und statt ihrer eine andere zu verlangen.
Hat er einem Nachbarn einen Pflug, einen Korb, eine Sichel oder einen Sack geliehen, kann er nachts nicht schlafen, weil er immer daran denken muss.
Er singt im Bad und beschlägt seine Schuhe mit Nägeln.
Geht er in die Stadt hinunter, fragt er einen ihm gerade Entgegenkommenden, wie viel das Leder gekostet habe und der Räucherfisch und ob der Archon an diesem Tag den Monatsbeginn verkünde, und sagt ihm, dass er sich, gleich wenn er unten angekommen sei, die Haare schneiden lassen und auf demselben Weg im Vorbeigehen bei Archias Räucherfisch besorgen wolle. (Übers. von Karsten Wilkens, Reclams Universal-Bibliothek 14214, S. 17/19.)
Gut erkennbar ist, dass Theophrast nicht die Psyche seiner Figuren seziert, sondern zeigt, wie und woran man ihre jeweilige Zugehörigkeit zu einem Typus erkennt. So erzählt er in episodischer Manier von ihrem Tun und Lassen anhand [10]der oft übersehenen, aber deutlich wahrnehmbaren Zeichen ihrer Selbstdarstellung. Er kreist auffällige Verhaltensformen ein und studiert sie: Was fällt als Erstes auf? Erweitert sich die erste Einschätzung einer Person um weitere Komponenten? Lassen ihre Kleidung, ihre Vorlieben oder ihr Sprechen Rückschlüsse zu?
Immer enger zieht sich das aus den unterschiedlichsten Beobachtungen bestehende Netz der Wahrnehmung zusammen, so dass aus einer zunächst nur flüchtig gesehenen Gestalt des Athener Großstadtlebens ein Typus und allmählich sogar eine Figur wird. Als Figur spielt sie auf der Bühne der öffentlichen Räume eine bestimmte Rolle und ist dadurch ein kleiner, quicklebendiger Teil der Comédie humaine.
Schon vor vielen Jahren erstaunte ich während meiner Lektüre immer wieder über diese scharfen Blicke einer präzisen Menschenkenntnis. Vergleichbares kannte ich lange nicht. Die Lektüre wirkte anregend und mehr noch – sie verleitete einen dazu, Personen in der eigenen Umgebung in ähnlicher Form genauer zu betrachten.
Das habe ich oft auch als ein Schriftsteller getan, der Theophrasts Methodik für sein Schreiben nutzen und fruchtbar machen konnte. Figuren und Charaktere zu erfinden, ist schließlich eine zentrale Aufgabe des Erzählens überhaupt. Durch Theophrast angeregt, studierte ich die Eigenwilligkeiten von Menschen genauer, um daraus Gestalten für das eigene Erzählen zu gewinnen. Manchmal machte ich mir [11]selbst auch durch kurze Notizen klar, aus welchen einzelnen Zügen und Momenten meine Figuren und Personen sich zusammensetzten.
Dieses Verfahren ist aber nicht nur im Zug von literarischen Vorarbeiten für Erzählungen oder Romane von Interesse. Auch im alltäglichen Leben kann es nützlich sein, indem es aus dem Umgang mit anderen Menschen ausbaufähige Erfahrungen macht. Im idealen Fall entwickelt sich im geselligen Kreis eine Art von Gesellschaftsspiel: Was fällt an unserem Gegenüber auf? Welche Regungen und Gesten offenbaren ein typisches Verhalten? Und wo durchbrechen singuläre Lebensimpulse die ersten Festlegungen?
Um davon zu berichten, bin ich Theophrast in diesem Buch gefolgt und erzähle von heutigen Charakteren in meiner Nähe. Dabei lehne ich mich an seine Methode einer präzisen Porträtkunst an, ohne sie penetrant zu kopieren. Meine Sammlung beginnt mit kurzen Skizzen und erweitert sich dann zu Miniaturen und eigenständigen Geschichten.
Die Kunst eines solchen Erzählens besteht darin, eine gleichsam schwebende Balance zwischen der Figur eines Typus und seiner individuellen Gestalt zu finden. Ist der Typus zu starr gezeichnet, wird er zur Karikatur oder gar zum Klischee. Erhält er dagegen genug individualisierende Ressourcen, bleibt er als profilierte Gestalt dauerhaft in Erinnerung. Solche lebendigen Existenzen von heute vor dem Hintergrund von Theophrasts Methodik zu entwerfen – das hatte ich vor. Zusammen wirken sie wie das Personal eines breit [12]angelegten Romans, der Verhaltenssymptome der Gegenwart analysiert.
Allen Freundinnen und Freunden, die ›Modell gestanden‹ haben, danke ich an dieser Stelle für die Bereitschaft, sich als Porträtierte gespiegelt zu sehen.
Die Aber-Sagerin hört einem nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Während man mit ihr redet, überlegt sie bereits, wie sie antworten könnte: »Ja, aber …«
Hat sie ein passendes »Aber« gefunden, bestärkt sie dieser Fund so, dass sie auf das erste auch ein zweites und drittes »Aber« folgen lässt.
Passt man nicht auf, landet man mit ihr im Aber-Universum. Dort steht alles auf der Kippe: die nächste Aktion, die kommenden Monate, das folgende Jahr, das zukünftige Leben.
Ihre Leidenschaft für das »Aber« lässt sie sogar alles in Frage stellen, was gerade nicht stattfindet, möglicherweise aber stattfinden könnte.
Unentwegt sucht sie nach den Abgründen des Daseins. An jeder Ecke tun sie sich auf, so dass es am besten wäre, man rührte sich nicht mehr.
Verlangt man von ihr schließlich doch einen Entschluss, gibt sie in Notfällen klein bei und macht mit.
Während man mit ihr etwas plant, verfolgt sie jedoch im [16]Stillen weiter die Gegenwelten des »Aber«. So handelt sie nur unter Vorbehalt.
Nie kommt man mit ihr an ein Ende. Hat man etwas zusammen unternommen, sagt sie: »Schön und gut, aber …«
Es bringt einen nicht weiter, auf ihr »Aber« ebenfalls mit einem »Aber« zu antworten. Sie ist die Meisterin, man würde in jedem Fall den Kürzeren ziehen.
Macht man sie auf ihr »Aber« aufmerksam, ist sie gekränkt. Da man sie nicht kränken möchte, nimmt man rasch wieder alles zurück. Sie lächelt und sagt: »Na gut, aber …«
Erzählt man ihr eine Neuigkeit, zweifelt sie am Wahrheitsgehalt des Erzählten. Sie schaut einen nachdenklich an und sagt: »Aber ist das wirklich so gewesen? «
Um sie auf einen neuen Gedanken zu bringen, bietet man ihr ein »oder« an: »Wollen wir hierhin oder dorthin?« Sie überlegt kurz und antwortet: »Gerne hierhin, aber im Dorthin gefällt es mir auch …«
Der Enthusiast schwingt die Flügel der Einbildungskraft. Mit ihrer Hilfe fliegt er in Richtung zukünftiger Ländereien, die er unbedingt erobert sehen möchte.
Spricht er von ihnen, gerät er in einen Rausch. Glühend vor Begeisterung, malt er die Zukunft aus.
Wendet man dies oder das gegen sein Schwärmen ein, reagiert er empfindlich, oft sogar beleidigt.
Seine Träume gehören anfänglich nur ihm, so solitär sind sie gebaut. Verwirklichen will er sie aber mit anderen, von denen er umstandslos annimmt, dass sie ebenfalls Enthusiasten sind.
Nichts verabscheut er so sehr wie Bedenkenträger oder Menschen, die jeden Schwung durch Einwände ausbremsen.
Hat er sich einem Ziel verschrieben, verwendet er allen Eifer, es zu erreichen, bis hin zur Selbstaufgabe.
Durch seine starke Willenskraft saugt er von allen Seiten Begleitung an: Bilder, Musik, Tanz – alles, was ihn auch nur entfernt berührt, nimmt er auf seinen Ritten und Wegen mit.
[18]Unterlaufen böse oder finstere Mächte seinen Lebensernst, klappt er zusammen und regt sich nicht mehr.
Er ist und bleibt ewig jung. Nicht einmal vorstellen kann er sich, dass er altert oder seine Pläne etwas Gestriges haben könnten. In seinen Augen sind sie die Glanzlichter einer besseren Zeit.
Gerät er außer sich, weil ihn sein großer Schwung fortträgt, lädt er alle zum Essen und Trinken ein. Sein finaler Traum ist das große Fest, das er nicht lange plant, sondern ohne große Mühe improvisiert.
Hat er einige Freundinnen und Freunde um sich geschart, widmet er sich jeder und jedem von ihnen, indem er sie nach ihren besonderen Festwünschen befragt und sie nach Möglichkeit auch erfüllt.
Die Promovendin behandelt alles so, als müsste sie darüber eine Doktorarbeit schreiben. Jedes Ding und jedes Ereignis werden so lange von allen Seiten betrachtet, bis sie in alle nur denkbaren Teile zerlegt sind.
Die ungezählten Perspektiven des Betrachtens benennt und reflektiert sie ausgiebig. Nagelt man sie auf eine bestimmte Idee fest, zieht sie sofort die Karte einer anderen.
Widmet man sich mit ihr einem neuen Projekt, beginnt sie mit Gliederungen des Möglichen: Erstens, Zweitens, Drittens, a, b, c …
Sie liebt Einschübe, Absätze, Interpunktion. Jedem noch so simplen Hauptsatz eröffnet sie weite Felder möglicher Nebensätze, Streiflichter und Pausen.
Ist man mit ihr zu Fuß unterwegs, zieht sie in Gedanken die Register sämtlicher Witterungen, die einem begegnen könnten.
Hat man Geburtstag, gratuliert sie einem mit dem Blick auf die möglichen Sterbedaten, unter besonderer [20]Berücksichtigung der in Frage kommenden Lebensweisen, die sie vielschichtig ausmalt.
Soll sie einen Titel, eine Überschrift oder ein Thema formulieren, macht sie daraus einen Bandwurm nach dem Vorbild von barocken Romantiteln.