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Spannend und romantisch: New-Adult-Suspense bei LYX
Die Tage der Angst sind vorbei. Die sechs College-Studierenden mussten sich in dem abgeschiedenen Luxus Ski Resort in Eagle Creek ihren dunkelsten Geheimnissen stellen und lernen sich zu vertrauen. Denn nur gemeinsam konnten sie dem mysteriösen Unbekannten entkommen, der sie erpresst und bedroht hat. All das hat die Gruppe zusammengeschweißt - und bei einigen auch romantische Gefühle entstehen lassen. Doch nun wird diese Anziehung im beschaulichen Belville erneut auf die Probe gestellt, als sie sich nach einer Reihe von unerklärlichen Ereignissen die Frage stelle müssen, ob sie der Gefahr wirklich entkommen sind ...
Abschlussband der ONE-OF-SIX-Dilogie
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Seitenzahl: 603
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Prolog
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Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Kim Nina Ocker bei LYX
Impressum
KIM NINA OCKER
ONE OF SIX
VERTRAUEN
Roman
Die Bedrohung durch den mysteriösen Unbekannten ist vorbei. Aber was die junge College-Studentin Luca Murphy gemeinsam mit sechs anderen Menschen in dem abgeschiedenen Luxus-Ski-Resort in Eagle Creek erlebt hat, ist nicht spurlos an ihr vorbeigegangen – und nicht alle aus der Gruppe haben es sicher wieder nach Hause geschafft. Luca würde die Erinnerung an Kälte und Dunkelheit am liebsten vergessen, doch da sind, wie ein warmer Lichtstrahl, auch noch ihre Gefühle für Devan Sandoval. Schließlich hat sie nur in Devans Nähe Sicherheit und Geborgenheit gespürt. Er war ihr Schutz vor dem tosenden Sturm. Und den braucht sie nun mehr als je zuvor. Denn obwohl die verbliebenen sechs es nicht wahrhaben wollen, langsam kommen Zweifel auf, ob wirklich die richtige Person verhaftet wurde. Und als Luca anonyme Nachrichten erhält, wird ihr klar, dass sie die Wahrheit nur finden wird, wenn alle aus der Gruppe sich vertrauen und ihre Geheimnisse miteinander teilen. Auch wenn dies bedeutet, dass Dinge enthüllt werden könnten, die alles infrage stellen, was Luca zu wissen glaubt …
Liebe Leser:innen,
wir möchten euch darauf hinweisen, dass ihr hier den zweiten Band der »ONE OF SIX«-Dilogie in der Hand haltet. Deswegen beginnt dieses Buch auch mit Kapitel 49.
Solltet ihr Band eins noch nicht gelesen haben, legt dieses Buch zur Seite und beginnt mit »ONE OF SIX – Verrat«, dann wird alles viel mehr Sinn ergeben.
Außerdem möchten wir darauf hinweisen, dass dieses Buch folgende Themen beinhaltet:
Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), Schilderungen von Mobbing, Stalking, Depressionen, Gewalt und Mord.
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Kim und euer LYX-Verlag
Für Marita
In der menschlichen Hand stecken neununddreißig Muskeln, und jeder einzelne der meinen verkrampft sich in Ekstase, als ich die Überschrift des Artikels lese. Das graue Papier der Zeitung, das meiner Meinung nach schon vor Jahren von der Digitalisierung in die ewige Verdammnis hätte geschickt werden sollen, zittert kaum merklich zwischen meinen Fingern. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich mir eine Zeitung gekauft, bis heute Morgen. Als wäre ich einer amerikanischen Filmszene entsprungen, bin ich mit einem geschmack- und farblosen Drei-Dollar-Hotdog durch die Stadt gelaufen und wurde von den reißerischen Schlagzeilen ausgebremst, die mich von unzähligen, mit Wäscheklammern angepinnten Zeitungen eines Straßenkiosks beinahe angeschrien haben:
BLUTIGER BERGKRIMI STATT TRAUMKARRIERE
GIPFEL DES SCHRECKENS – NUR FÜNF ÜBERLEBENDE
MOUNTAIN-MASSAKER IM ORTIZ GRAND RESORT
Schnaubend starre ich auf das Foto, das vor mir an der Pinnwand hängt und neben Kassenbons, Flugtickets und Hotel-Reservierungsbestätigungen um meine Aufmerksamkeit buhlt. Ich habe es mit meinem Handy aufgenommen und ausgedruckt. Für gewöhnlich bin ich kein Mensch mit Hang zur Selbstdarstellung, aber als Dokumentation meines ersten Erfolges – und gleichzeitig meiner Niederlage – brauchte dieses Bild den Schritt von einer digitalen Nichtigkeit zu einem handfesten Beweis für mein schöpferisches Werk. Das ist untypisch für mich. Weicht ab von meiner üblichen Wachsamkeit und meiner Vorliebe, die Realität, in der ich aktuell zu leben gezwungen bin, zu kontrollieren. Digitale Spuren lassen sich leicht verwischen. Für mich jedenfalls, da mein Intelligenzquotient, meine Auffassungs- und Verarbeitungsgabe und meine Problemlösungsmechanismen effizienter arbeiten, als es bei einem durchschnittlichen Menschen der Fall ist.
Trotzdem hatte ich das Bedürfnis, dieses Foto aus dem mechanischen Gefängnis, das die Speicherkarte meines Telefons darstellt, zu befreien. Ihm einen Körper, eine Form, eine Existenz zu schenken. Die Schlagzeilen, für die irgendein bedeutungs- und gesichtsloser rasender Reporter mutmaßlich ein funkelndes Goldsternchen für Kreativität verliehen bekommen hat, amüsieren mich. Sie alle sind überzogen, spielen mit der Fantasie und der Vorstellungskraft der Lesenden und schaffen ein Narrativ in deren Köpfen, das viel zu häufig rein gar nichts mit der Realität gemeinsam hat. Natürlich ist dieser Effekt kalkuliert und keinesfalls ein unbedachter Zufall, dennoch überrascht es mich jedes Mal aufs Neue, mit welch unverschämten Lügen die Presse heutzutage durchkommt. Massaker. NUR fünf Überlebende. Bergkrimi. Lächerlich.
Bedächtig hebe ich die Zeitung, die ich noch immer in der Hand halte, als wäre sie eine scharfe Handgranate. Diese Überschrift ist meine liebste. Die schwarzen Buchstaben, deren Druckertinte bereits auf meine Fingerspitzen abfärbt, legen sich um mein Herz wie eine aus Silben gewebte Decke. Sie schmeicheln mir. Sie heben mich und meine Taten auf einen aus Illusionen, Übertreibungen und Hyperbeln bestehenden Thron, der weit über der Gesellschaft mit ihren allgegenwärtigen Ängsten schwebt und mich zu einer albtraumhaften Schattenfigur manifestiert:
JUNGE MENSCHEN ÜBERLEBEN ALBTRAUM: FLUCHT VOR MÖGLICHEM SERIENMÖRDER AUF BERGGIPFEL
Serienmörder. Dieses Wort gleicht eher einem Sonett als einer einfachen Aneinanderreihung von Buchstaben. Es ist faktisch absolut inkorrekt, und für gewöhnlich betrachte ich unfähige Schreibende als eine Abscheulichkeit der Gesellschaft. In diesem speziellen Fall allerdings deute ich es als Zukunftsvision. Als Prognose einer Realität, die ich schon sehr bald heraufbeschwören werde.
Mein Blick wandert von der Aufmerksamkeit heischenden Überschrift zu dem Text, der sich in kleinen, gedrungenen Wörtern aneinanderreiht.
Eagle Creek, Colorado – Es begann als eine vielversprechende Karrierechance, endete aber in einem Albtraum, der einem der fünf Opfer einen eisigen Tod bescherte. Fünf Bewerber*innen wurden zu einem fünftägigen Assessment-Center in die exklusive Ski-Anlage des Ortiz Grand Resort eingeladen. Doch was als unschuldiger Wettbewerb begann, verwandelte sich schnell in eine Tragödie voller Geheimnisse und Gefahr – und endete für einen von ihnen tödlich.
Die fünf Auserwählten, wie die Studierenden von den Medien inzwischen genannt werden – Luca Murphy (20), Devan Sandoval (22), Leander Cole (23), Christine Parker-Bell (21) und Paul Barnes (21)–, reisten in der Erwartung nach Eagle Creek, ihre Fähigkeiten zu demonstrieren und um den begehrten Nebenjob zu konkurrieren. Doch schon bald wurde die Idylle des Resorts erschüttert, als ein Unbekannter begann, die Social-Media-Accounts von Paul Barnes zu infiltrieren und dort persönliche Informationen preiszugeben. Dieser Eingriff gefährdete nicht nur seine Privatsphäre, sondern auch seine Beziehung zu Christine Parker-Bell.
Die malerische Landschaft verwandelte sich rasch in einen schaurigen Ort, als Barnes spurlos verschwand, ohne eine*n seine*r Konkurrent*innen oder den Inhaber des Resorts über seinen Plan zu informieren. Die Situation verschlechterte sich weiter, als die Gruppe zusammen mit Jacob Gullingham, dem Neffen des Resortinhabers, und Ana Kasakow, einer Servicemitarbeiterin, durch einen plötzlichen Schneesturm eingeschneit wurde.
Im Folgenden versetzten ein Stromausfall und ein beinahe verheerender Angriff auf Luca Murphy die Gruppe in Angst und Schrecken. Die Überlebenden flohen in die Berge und machten dabei eine grausame Entdeckung: die Leiche von Paul Barnes, halb im Schnee vergraben und auf einem kleinen Plateau zurückgelassen.
Den Verbliebenen gelang die Flucht über einen geschlossenen Skilift, von dem sie schließlich mithilfe von Jacob Gullingham gerettet und in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht wurden.
In der darauffolgenden Polizeiuntersuchung geriet Matthew I., ein Techniker des Ortiz Grand Resort, unter Verdacht und wurde schließlich festgenommen. Laut nicht weiter definierten Quellen wurden Beweise eines eindeutigen Erpressungsversuchs gegen das Todesopfer auf dem Telefon des Verdächtigen gefunden. Gegenstand der Erpressung war angeblich unter anderem ein Fremdgeh-Beweis seitens Parker-Bells, persönliche Informationen, die kriminelle Vergangenheit Barnes’ Vaters betreffend, und Veruntreuungs-Vorwürfe gegenüber Jacob Gullingham, dem Neffen des Ortiz-Besitzers Gregory Ortiz. Anfragen bezüglich eines Interviews wurden wiederholt von Ortiz’ Büro abgelehnt.
Keiner der Beteiligten stand bislang für eine Stellungnahme zur Verfügung.
Während die Ermittlungen andauern, bleiben viele Fragen unbeantwortet, und die Wunden der Überlebenden werden nur langsam heilen.
Freitag, 03. November 2023
Ich sitze im Schneidersitz auf meinem Bett und beobachte Riley, die allen möglichen Kram in ihre Handtasche schmeißt.
»Du musst echt nicht abhauen«, sage ich, allerdings aus reiner Höflichkeit. »Wahrscheinlich bleiben wir sowieso nicht die ganze Zeit hier. Wir gehen bestimmt was essen oder …«
Sie winkt so energisch ab, dass es aussieht, als wolle sie eine Fliege verscheuchen. »Ich bin alleine von dem, was du erzählt hast, traumatisiert. Wenn ihr das alles noch einmal durchkaut, will ich sicher nicht danebensitzen.«
Statt einer Antwort verziehe ich nur das Gesicht. Ehrlich gesagt würde ich es ihr gerne gleichtun: meine Sachen packen und abhauen, bevor Ana kommt. Als sie mir vor ein paar Tagen geschrieben und mich gefragt hat, ob sie vorbeikommen kann, habe ich sofort zugestimmt. Aber nicht, weil ich sie sehen will. Im Gegenteil. Unser Versprechen, in Kontakt zu bleiben und uns gegenseitig auf dem Laufenden zu halten, haben wir alle gebrochen. Vielleicht weil wir einander nur noch mehr an das erinnern, was vor vier Wochen dort oben in den Bergen von Colorado geschehen ist. Die Tragweite der ganzen Sache ist mir erst richtig bewusst geworden, als ich wieder zu Hause war. Die knappe Woche, die ich nach Eagle Creek bei meinen Eltern verbracht habe, war die Hölle. Die Geschehnisse sind über mir zusammengebrochen wie eine Sturzflut, haben mich unter sich begraben und mir eine Zeit lang die Luft genommen.
Ich bin mir nicht sicher, welcher Aspekt dieser Geschichte mich mehr belastet hat: Pauls Tod, die Tatsache, eine tiefgefrorene Leiche gefunden zu haben, oder die Erkenntnis, dass wir einem Mörder entkommen sind? Vielleicht war es die Summe der Dinge. Als ich zurück in Portland war, habe ich mich zusammengerissen und meinen Alltag wieder aufgenommen, aber die Angst und die Beklommenheit schwelen noch immer im Hintergrund, als würden sie nur darauf warten, mich in einem schwachen Moment zu erwischen und mir erneut den Boden unter den Füßen wegreißen zu können.
Von Leander, Jacob oder Christine habe ich nichts mehr gehört, dafür aber von Ana. Sie wollte wissen, ob die Polizei sich gemeldet hat, fragte nach Details aus meinem Verhör durch die Polizei im Krankenhaus, nach meinen Theorien. Meine Antworten waren größtenteils einsilbig, was vor allem daran lag, dass die Gespräche meine Erinnerungen mit voller Wucht zurückkehren ließen. Wie die Geister, die ich rief.
Ich reiße mich selbst aus meinen Gedanken, bevor ich mal wieder in den Strudel aus Erinnerungen gezogen werden kann. Riley schultert gerade ihre Handtasche, dann dreht sie sich zu mir um und mustert mich kurz. »Ich kann auch bleiben«, sagt sie ernst. »Du musst es nur sagen, falls du emotionale Unterstützung brauchst.«
Energisch schüttle ich den Kopf. Trotz des ganzen Chaos, das in mir tobt, habe ich nie so richtig mit Riley darüber gesprochen, wie es mir geht. Gegen welche Dämonen ich seit dieser Nacht kämpfen muss. Und das soll auch so bleiben. »Es ist okay, wirklich. Ich mag Ana. Du kannst gehen, wenn du willst.«
Sie nickt noch einmal, dann zwinkert sie mir zu, weist mich an, sie anzurufen, sollte ich sie brauchen, und verschwindet anschließend durch die Tür auf den Flur unseres Wohnheimes.
Geräuschvoll atme ich aus, sobald die Tür hinter ihr ins Schloss fällt. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. In zwanzig Minuten sollte Ana hier sein, das ist einfach nicht genug Zeit, um mich emotional darauf vorzubereiten. Während ich bei Jacob, Devan und mir das Gefühl habe, wir alle wollen die Ereignisse dieser Nacht so weit wie möglich von uns wegschieben, scheint Ana genau das Gegenteil zu tun. Sie lässt die Sache einfach nicht ruhen, hinterfragt jedes Detail und verbeißt sich in die kleinsten Vermutungen und Spekulationen. Sie hat mir nicht genau gesagt, warum sie mich besuchen will. Aber ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend ist sich sicher, dass es nicht um ein einfaches Kaffee-Date geht.
Ich greife nach meinem Handy, das neben mir auf der Bettdecke liegt, und öffne die Seite einer Nachrichtenagentur. Das Telefon ist neu, genau wie sämtliche Social-Media-Profile, die darauf angemeldet sind. Nach allem, was in Colorado passiert ist, wurde jeder von uns regelrecht gestalkt: Es kamen unzählige Interviewanfragen von der Presse, Freunde wollten unsere Version der Geschichte hören, und irgendwelche Leute, die uns höchstens vom Sehen kannten, haben versucht, Tratsch aus erster Hand zu ergattern. Nachdem unsere Namen bekannt wurden, haben wir uns alle von Instagram und Co. zurückgezogen, wenig später wurden auch unsere Handynummern geleakt. Keine Ahnung, von wem, aber es spielt eigentlich auch keine Rolle.
Vor einer Woche war Christine bei The Late Show zu Gast und hat ein Interview gegeben. Das hat mich nicht wirklich überrascht. Wir hatten keinen Pakt oder etwas in der Art, aber ich bin von Anfang an davon ausgegangen, dass Jacob, Devan und Leander nicht mit den Medien sprechen oder Interviews geben wollen. Bei Christine habe ich allerdings mit so was gerechnet. Danach war die Aufmerksamkeit noch einmal deutlich größer, doch zum Glück ist sie gerade dabei, wieder abzuflachen. Irgendwo auf der Welt gibt es sicher einen neuen Skandal, ein neues, grausameres Verbrechen, und die Aufmerksamkeit der Menschen richtet sich auf jemand anderen.
Zum Glück. Je schneller Gras über diese ganze Geschichte wächst, desto besser. Matthew Ismar sitzt hinter Gittern. Es gibt keinen Grund, alles immer und immer wieder zu durchleben. Paul ist tot, und das ist furchtbar. Er hat Vergeltung und Aufklärung verdient. Aber wir anderen leben, und man sollte uns zumindest die Chance geben, zurück zur Normalität zu finden.
Mit zusammengebissenen Zähnen rutsche ich vom Bett und halte den Atem an, als ich mich aufrichte. Die verdammte Prellung an meinem Oberschenkel und meiner Hüfte tut immer noch ziemlich weh. Meine ganze linke Seite sah bestimmt drei Wochen lang so aus, als hätte ein Kind mit grünen und gelben Filzstiften darauf herumgemalt. Die Ärzte haben mich vorgewarnt, dass eine solche Verletzung locker bis zu acht Wochen lang schmerzen kann, trotzdem bin ich jedes Mal sauer, wenn mein Bein unter meinem Gewicht protestiert. Ich bin vor einem Mörder geflohen, und die einzige Verletzung, die ich davongetragen habe, ist eine Prellung von einem Sturz auf eine verdammte Laterne. Das ist doch ein Witz.
Leise vor mich hin fluchend schlurfe ich ins Bad, um meine Haare zu kämmen und mir die Zähne zu putzen. Mir ist bewusst, dass ich mich ein wenig gehen lasse. Ich tue das Nötigste: besuche meine Kurse, erledige meine Aufgaben, esse, trinke … ich überlebe. Aber meine Haare sind stumpf, weil ich sie nicht richtig pflege, und ich müsste ganz dringend Wäsche waschen. Ich habe das Gefühl, ein bisschen die Kontrolle verloren zu haben, was womöglich daran liegt, dass mir der Alltag auf einmal unfassbar belanglos vorkommt.
Als ich fertig bin, ziehe ich mich schnell um. Gerade schließe ich den Knopf meiner Jeans, da klopft es laut an der Tür. Ich zucke zusammen, und ein paar Sekunden lang schlägt mein Herz viel zu schnell. Ich atme tief ein, durchquere den Raum und öffne die Tür.
Ana steht mit einem breiten Grinsen im Flur und schaut auf mich herunter. Im ersten Moment bin ich verwirrt, weil sie so anders aussieht, dann fällt mir auf, dass ihre Haare deutlich kürzer sind als noch vor ein paar Wochen und eine andere Farbe haben. Vermutlich ist das ihre ganz persönliche Reaktion auf das, was wir erlebt haben. Ihr Anblick löst eine Lawine an Erinnerungen aus und befeuert das ungute Gefühl, das sich seit meinem Aufenthalt in Eagle Creek in meiner Magengegend eingenistet hat. Aber Anas Veränderung hilft, die Gefühle im Zaum zu halten. Als hätte mein Verstand Schwierigkeiten damit, die Verbindung zwischen dieser neuen Ana und der aus Colorado zu ziehen.
»Du siehst heiß aus«, sage ich, während sie mich in eine kurze Umarmung zieht. »Komm rein.«
Ana macht ein paar Schritte in mein Wohnheimzimmer und sieht sich um. »Nett hier.« Sie deutet auf die Seite, auf der sich Rileys Habseligkeiten befinden, und wirft mir einen amüsierten Blick zu. »Warum weiß ich, dass das nicht deine Seite ist?«
Riley ist ein bunter Mensch: Batik-Bettwäsche, ein Kunstdruck von Roy Lichtenstein an der Wand, ein Regal voll mit einer wilden Mischung aus Funko Pops, Büchern und einer beeindruckenden Kotztütensammlung. Ihre Seite sieht nach Spaß aus, meine nach Klosterschule.
Ich zucke mit den Schultern und lasse mich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch fallen. »Die Zimmer hier werden teilweise jedes Semester neu vergeben. Irgendwie habe ich es nie eingesehen, mir für so kurze Zeit so viel Mühe zu machen.«
»Sympathisch«, kommentiert Ana, dann setzt sie sich auf mein Bett. »Ich habe auf dem Weg hierher übrigens Kaffee bestellt. Wusstest du, dass dein Campus einen Kaffee-Lieferservice hat?«
»Ja«, lache ich. »Das wusste ich. Haben ein paar Studierende letztes Jahr gegründet.«
»Verrückt.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe zwei Latte bestellt, ich hoffe, das ist okay.«
»Klar.« Ich lege den Kopf schief und mustere sie. Ana wirkt irgendwie nervös. Als wüsste sie nicht so richtig, was sie mit ihren Händen anfangen soll oder was sie normalerweise mit ihren Füßen tut. Die schlägt die Beine übereinander, stellt sie dann aber wieder auf, streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schiebt sich die Ärmel ihres Hoodies hoch, nur um sie dann wieder herunterzuziehen.
»Was ist los?«, frage ich, als ihr Herumgezappel mich allmählich nervös macht.
»Was soll los sein?«
»Versteh mich nicht falsch, ich freue mich, dass du da bist.« Lüge. »Aber du bist doch nicht gekommen, um dir mein Zimmer anzugucken. Von New York hierher fährt man sicher … ich würde sagen, fünf Stunden?«
»Ich bin geflogen«, sagt sie und grinst, als ich die Augen verdrehe. »Ist nicht so kompliziert, es gibt eine Direktverbindung.«
Ich mache eine abwehrende Handbewegung. »Du weißt, was ich meine.«
Sie beißt sich auf die Lippe und seufzt dann. »Ich bin nicht von New York aus hergekommen.«
»Sondern?«
»Ich war beim Ortiz.«
Allein der Klang des Namens dieses verdammten Resorts sorgt dafür, dass mir der Schweiß ausbricht. Paradoxerweise wird mir heiß, auch wenn ich diesen Ort eher mit Kälte, Schnee und Tod verbinde. »Warum?«, frage ich, obwohl ich mir sicher bin, dass ich die Antwort auf diese Frage gar nicht hören will.
Ana verschränkt die Arme vor der Brust und sieht mich ein paar Sekunden lang an, als würde sie überlegen, was genau sie darauf antworten soll. Dann seufzt sie. »Mich lässt die ganze Sache einfach nicht los.«
»Mich auch nicht, Ana«, antworte ich trocken. »Aber genau deswegen kann ich mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dahin zurückzugehen … jemals.«
Sie schüttelt den Kopf. »Du verstehst nicht, was ich meine.«
»Dann klär mich auf.«
»Ich glaube, wir haben etwas übersehen«, beschwört sie mich. »Es gibt so unfassbar viele Fragen, die niemand beantwortet hat, und ich will nicht einfach darüber hinwegsehen. Ich will nicht einfach so tun, als wären nicht super viele Sachen in dieser ganzen Geschichte unlogisch.«
Bemüht ruhig atme ich aus. Um ehrlich zu sein, überrascht ihr Geständnis mich nicht. Ich hatte zwar damit gerechnet, dass Christine diejenige sein würde, die nicht abschließen kann, aber auch Ana wirkt wie ein Mensch, der jedem kleinen Rätsel auf dieser Welt auf den Grund zu gehen versucht.
»Das ist die Aufgabe der Polizei, Ana«, erinnere ich sie sanft. »Wenn es Dinge gibt, die sie uns nicht erklären, dann vermutlich, weil es uns nichts angeht.«
»Wen sollte es etwas angehen, wenn nicht uns?«, schnaubt sie.
»Das sind laufende Ermittlungen, und das Ganze ist gerade einmal einen Monat her. Was auch immer sie gegen diesen Matthew in der Hand haben, wird nicht wenig sein. Ansonsten könnten sie ihn nicht die ganze Zeit über festhalten.«
Ich unterdrücke ein Schaudern, weil sich vor meinem inneren Auge ein Bild manifestiert, wie eigentlich immer, wenn ich an diesen Mann denke. Ich habe sein Foto nur ein Mal gesehen, während des Verhörs, trotzdem hat sich das Gesicht in mein Gedächtnis eingebrannt. Ich bin mir fast sicher, dass der Typ grundsätzlich nicht unheimlich aussieht. Wenn ich mich recht erinnere, hat er auf dem Foto sogar ganz freundlich dreingeschaut. Trotzdem ist dieses Gesicht meine ganz persönliche Personifikation des Teufels.
»Sind wir uns sicher, dass er immer noch im Knast ist?«
»Ja. Der eine Polizist, Hadad, hat mir versprochen, sich zu melden, sollte er entlassen werden.« Ich balle die Hand zur Faust. »Devan und ich sind ihm begegnet, schon vergessen? Sie würden es uns sagen, sollte er freikommen. Oder wenn sie sich geirrt hätten.«
Ana legt den Kopf kaum merklich schief. »Devan hat auch nichts Neues gehört?«
»Nicht, dass ich wüsste.« Ich sehe Ana an, dass sie nachhaken will, doch in diesem Moment klopft es an der Tür. Ein wenig zu abrupt stehe ich auf, verziehe kurz das Gesicht, als Schmerz von meiner Hüfte bis ins Bein schießt, und öffne dann die Tür, um den Kaffee entgegenzunehmen. Nachdem ich Ana einen der Pappbecher gegeben habe, lehne ich mich gegen den Schreibtisch und nehme einen Schluck. Für meinen Geschmack ist der Latte zu süß und nur noch lauwarm, aber immerhin ist es Koffein.
Auch Ana schneidet eine Grimasse, kommentiert den Kaffee jedoch nicht und legt stattdessen den Kopf schief, als sie mich wieder anschaut. »Also. Habt ihr …« Sie zögert und lächelt dann. »Habt ihr Kontakt? Du und Devan, meine ich.«
Diesen Punkt der Unterhaltung würde ich eigentlich ungern vertiefen. Aber es gibt keinen Grund, Ana anzulügen, und ich will das Thema nicht unnötig aufbauschen … auch vor mir selbst nicht. »Mehr oder weniger.« Langsam nehme ich den Deckel ab und trinke einen Schluck. »Er wollte vorbeikommen, aber … keine Ahnung. Ich kann mich damit im Moment nicht beschäftigen.«
Ihr Blick ist nachdenklich geworden. Sie legt den Kopf schief. »Was ist los?«
Ich zucke mit den Schultern. »Nichts eigentlich. Es ist nichts passiert oder so. Aber nach unserer Rückkehr … ich weiß auch nicht. Ich wollte nicht reden, und ich brauchte eine Pause, verstehst du? Worüber sollen Devan und ich uns unterhalten, wenn wir uns sehen? Er würde mit Sicherheit über das sprechen wollen, was im Ortiz passiert ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir uns einfach in ein Café setzen und uns über unsere Kurse austauschen würden oder darüber, was er am Wochenende gemacht hat.«
»Warum nicht? Wenn du ihm sagst, wie du dich fühlst, würde er sicher Rücksicht darauf nehmen, oder nicht?« Sie lächelt. »Devan ist mir wie ein rücksichtsvoller Kerl vorgekommen. Zumindest dir gegenüber.«
»Ja, das würde er sicher.« Ich seufze. »Aber das will ich auch nicht. Es wäre irgendwie gezwungen, und wir müssten die ganze Zeit den rosa Elefanten im Raum ignorieren.«
Ana nimmt einen weiteren Schluck, dann fängt sie an, an dem Aufkleber herumzuknibbeln, auf dem die Bestellung und meine Zimmernummer notiert sind. »Darf ich ehrlich sein?«
»Lieber nicht.«
Sie grinst. »Für mich klingt das, als hättest du Schiss. Fragt sich nur, wovor.«
»Klar habe ich Schiss«, antworte ich mit einem trockenen Lachen. »Devan ist … ein guter Kerl. Und ich habe die Angewohnheit, mich zurückzuziehen, wenn es mir zu viel wird. Du hast es selbst gesagt: Er ist rücksichtsvoll und fürsorglich. Er soll sich nicht um mich kümmern müssen oder ständig aufpassen, was er sagt oder tut. Das ist zu anstrengend, vor allem so früh in dieser … Beziehung. Solche Probleme sollten frühestens nach der Honeymoon-Phase kommen.«
»Und hast du ihm das erklärt?«, fragt sie skeptisch.
Ich beiße mir auf die Lippe und schüttle den Kopf. »Halb. Ich habe ihm gesagt, dass ich ein bisschen Zeit brauche. Und er hat das akzeptiert.«
»Natürlich hat er das.«
Mir ist klar, dass Ana noch deutlich mehr zu sagen hat, doch zu meiner Erleichterung fügt sie nichts weiter hinzu. Ich bin nicht naiv, ich weiß sehr genau, was ich tue. Mir liegt etwas an Devan, und ich habe Angst davor, unsere Chance auf eine Beziehung – sollten wir die überhaupt haben – zu verpassen, nur weil ich gerade emotional nicht in der Lage dazu bin. Sollten Devan und ich es versuchen, will ich auf unbeschwerte Dates gehen, Spaß haben, ich selbst sein. All das machen, was wir während unserer stürmischen Kennenlernphase übersprungen haben. Und vor allem will ich, dass er er selbst ist. Nicht rücksichtsvoll, vorsichtig und zensiert. Sollten unsere Gefühle füreinander tatsächlich echt sein und nicht nur das Ergebnis eines Urlaubsflirts in Kombination mit Todesangst, dann bestehen sie auch noch in ein paar Wochen. Wenn ich die Zeit auf dem Berg verarbeitet habe und in der Lage bin, mich auf ihn und mich selbst zu konzentrieren. Ich erwarte nicht, dass er auf mich wartet, aber mehr kann ich im Moment einfach nicht bieten.
Doch das sage ich Ana nicht. Auch wenn es sich ganz natürlich anfühlt, mit ihr zu reden, kenne ich sie kaum. Das vergesse ich manchmal. Unsere gemeinsame Zeit im Ortiz hat uns zusammengeschweißt, und ich sehe sie, Devan, Leander, Christine und Jacob eher wie entfernte Verwandte als wie Menschen, die ich gerade mal ein paar Wochen kenne und mit denen ich nur ein paar Tage gemeinsam verbracht habe. Aber für eine Therapiestunde reicht das Vertrauen dann doch noch nicht.
»Was ist mit Leander?«, frage ich stattdessen, um vom Thema abzulenken.
Ihre Reaktion ähnelt meiner ziemlich stark: Sie senkt den Blick und reißt abrupt ein Stück des Etiketts vom Kaffeebecher. »Schwieriges Thema.«
»Ach ja?«, lache ich. »Wie überraschend.«
Sie schüttelt den Kopf. »Nicht so, wie du denkst. Ich habe keine Angst vor meinen eigenen Gefühlen. Leander ist es, der nicht mit mir reden will.«
Überrascht sehe ich sie an. Ihre und Leanders Beziehung war schon während unserer Zeit im Resort ein Rätsel für mich, trotzdem hatte ich das Gefühl, dass sie etwas miteinander verbindet. Und wenn ich mich recht erinnere, haben sie Händchen gehalten, während wir am Flughafen aufs Boarding gewartet haben.
»Was ist passiert?«
Auf einmal verändert sich ihr Blick und wird beinahe vorsichtig. »Deswegen wollte ich mit dir reden, Luca.«
»Du bist hergekommen, um über Leander zu reden?«, frage ich verwirrt. Ich bin gerne bereit, Ana bei ihren Beziehungsproblemen, oder wie auch immer sie es nennen will, zu helfen, aber damit habe ich ehrlich gesagt nicht gerechnet. Ich habe Ana im Ortiz als freundlichen Menschen kennengelernt – offen, herzlich, witzig. Ich gehe also schwer davon aus, dass sie zu Hause Freunde oder Freundinnen hat, mit denen sie über Leander sprechen könnte. Warum kommt sie mit diesem Thema ausgerechnet zu mir?
»Nicht direkt«, antwortet sie, dann zieht sie ihr Handy aus der Hosentasche und wirft einen Blick darauf. Erst denke ich, dass sie abzulenken versucht, doch dann bemerke ich die Röte, die sich auf ihrem Gesicht ausbreitet. »Aber vorher müssen wir noch mal kurz auf Devan zurückkommen, fürchte ich.«
»Nee, nee, nee. Bleib schön beim Thema. Was ist mit Leander?«
»Ich meine es ernst«, sagt sie kleinlaut und steht auf. »Ich wusste nicht, dass es zwischen euch schwierig ist.«
»Zwischen mir und Leander?«
»Zwischen dir und Devan! Ehrlich, das tut mir leid.«
Meine Überforderung ist mir wahrscheinlich deutlich anzusehen. Stirnrunzelnd schüttle ich den Kopf. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Ana. Warum bist du hier?«
Sie zieht den Kopf ein. »Es tut mir wirklich, wirklich leid«, fleht sie beinahe. »Hätte ich gewusst, wie es dir geht, hätte ich dich vorgewar…«
Ein lautes Klopfen an der Tür unterbricht sie. Ihre Augen werden groß, und ich bemerke den entschuldigenden Ausdruck in ihrem Gesicht, als sie sich zur Tür umdreht und darauf zugeht.
Mein Herz bleibt einfach stehen. Sämtlichen medizinischen Regeln zum Trotz bin ich mir sicher, dass es aufhört, zu schlagen. Denn mir ist klar, wer dort vor der Tür steht, schon bevor Ana sie öffnet und Devan in mein auf einmal viel zu kleines Wohnheimzimmer tritt.
Das Knarzen meiner Stuhllehne klingt wie ein vertrautes Wiegenlied. Mir ist aufgefallen, dass das Geräusch sich verstärkt, wenn es kälter ist. Sinkende Temperaturen verkleinern die mikroskopischen Fugen des Kunststoffes und machen ihn spröde. Es ist erstaunlich faszinierend, wie sehr ein solch kostengünstiges und gewöhnliches Möbelstück sich mit den Gemütszuständen meiner verbliebenen Fünf vergleichen lässt. Auch ihnen hat die Kälte zugesetzt, hat sie erschüttert und morsch werden lassen. Vielleicht wurden auch die Fugen ihres Verstandes verändert. Ich leide nicht an Selbstüberschätzung, dennoch halte ich es für möglich, dass ich einen Einfluss auf die Kernessenz dieser Menschen hatte. Dass ich ein Teil von ihnen geworden bin wie ein Parasit, der sie von innen heraus verzehrt und bis zur allerletzten Sekunde unbemerkt bleibt.
Ich wende den Kopf und schaue hinüber zu dem geöffneten Fenster. Dann werfe ich einen Blick auf die Uhr am unteren Rand meines Bildschirms. Seit mittlerweile achtzehn Stunden, sieben Minuten und schätzungsweise fünfundvierzig Sekunden habe ich das Fenster nicht mehr geschlossen. Die Autos unten auf der Straße trotzen der Kälte, den Minusgraden, die die Luft erfrieren und einen Teil der Welt erstarren lassen. Im Zimmer ist es eiskalt. Das hat eine erstaunliche Wirkung auf mich, wie ich überrascht festgestellt habe. Meine vor Kälte tauben Finger, die Eisblumen, die vor etwa zwei Stunden begonnen haben, auf der Scheibe zu sprießen, der fadenscheinige Nebel, der sich bei jedem meiner Atemzüge vor meinem Mund materialisiert und dann wieder verschwindet – all das katapultiert mich zurück. Durch die Zeit, durch den Raum. Zurück zu der Nacht, in der die erste Runde endete. Oder zu der, in der ich Paul aus dem Spiel genommen habe. Oder zu der, in der ich herausgefunden habe, dass das angebliche One-Way-Glas der Fenster in den Chalets nicht einmal annähernd so effektiv ist wie die Erbauer dieser Anlage es sich versprochen haben. In dieser Nacht habe ich mich gefragt, ob jemals einer von ihnen nahe genug an das Fenster herangetreten ist, das Gesicht gegen das eiskalte Glas gedrückt hat, so fest, dass die Scheibe unter seinem heißen, erwartungsvollen Atem beschlagen ist. Ob jemals einer von ihnen dort verharrt hat, beobachtet hat. Abgewartet.
Vermutlich nicht. Hätten sie das getan, wäre ihnen bewusst geworden, dass das großgeschriebene Versprechen auf Privatsphäre eine scheinheilige Lüge ist. Dass nichts in dieser papierdünnen Welt so solide, so unfehlbar ist, dass es sich einem entschlossenen Verstand mit einem festen Ziel vor Augen in den Weg zu stellen vermag. Aber wie so oft in meiner vergleichsweise kurzen Zeit auf Erden musste ich wieder einmal feststellen, dass der einfache Geist der breiten Masse nicht damit rechnet, eine Lücke im System zu finden, eine Lüge in einem Versprechen. Sie wollen sie nicht finden und sich damit eingestehen, dass die Realität, in der sie leben, auf einem Grundgerüst aus bunten, wunderschönen Illusionen besteht.
Luca Murphy wollte es in dieser Nacht auf jeden Fall nicht sehen. Das Offensichtliche. Dabei habe ich liebevolle Spuren hinterlassen. Einen Gruß aus der Unsichtbarkeit, wenn man so will.
Sie hat geschlafen, ohne zu bemerken, dass ich jeden ihrer Träume beobachte. Sie in mich aufsauge, vergifte und als Albträume in ihren unschuldigen Verstand zurücksende. Xoxo.
Das durchdringende Geräusch des Freizeichens reißt mich so abrupt aus meinen Gedanken, als wäre ich plötzlich aus tiefem Wasser an die Oberfläche aufgetaucht und in gleißend hellen Sonnenschein getreten. Ich setze mich auf und richte den In-Ear-Kopfhörer in meinem linken Ohr. Die einschläfernde Musik der Warteschleife hat mich einen Moment lang beinahe benommen werden lassen, aber während die freundliche Stimme am anderen Ende sich meldet, schärft mein Verstand sich, als würde ich an einem Regler drehen.
»Sir? Sind Sie noch bei mir?«, fragt die gesichtslose Frau, Sofia Jiménez.
»Selbstverständlich.«
»Vielen Dank, dass Sie gewartet haben.« Ich verdrehe die Augen, behalte das Lächeln aber bei, weil man dieses kleine Arrangement der Gesichtsmuskeln im Tonus der Stimme erkennen kann. »Ich habe mich besprochen und kann Ihre Buchung sehr gerne entgegennehmen.«
Langsam hebe ich die Augenbrauen. »Ach, wirklich?«
»Unser Hotel eröffnet am zwölften November. Habe ich Sie richtig verstanden, dass Sie gerne eines unserer Luxuschalets, den Biberdamm, beziehen möchten?«
»Ja.« Meine Stimme klingt kälter als noch vor ein paar Sekunden, aber das liegt außerhalb meiner Kontrolle. »Ich bin ehrlich gesagt überrascht, dass Sie Ihre Tore so schnell wieder öffnen.«
Ein kurzes Schweigen. »Ich fürchte, ich verstehe nicht.«
Natürlich nicht. »Ich habe den Namen Ihres Resorts in allerlei Schlagzeilen gesehen. Ich hatte kaum Hoffnung, so schnell nach den Ereignissen eine Buchungsbestätigung zu erhalten.«
Wieder Schweigen. Vermutlich, um die richtigen Worte zu sortieren oder den Zettel zu finden, auf dem die akkurate Antwort auf derlei Fragen notiert ist. »Wir freuen uns, unsere Gäste wieder begrüßen zu dürfen. Falls Sie die Buchung vornehmen möchten, bräuchte ich bitte Ihren Namen.«
Unwillkürlich verengen sich meine Augen zu Schlitzen. »Ich habe außerdem gelesen, dass die Chalets aufgrund eines Problems mit der Zufahrtsstraße außer Betrieb genommen wurden.«
»Wie gesagt. Ich bestätige die Buchung sehr gerne für Sie. Ich versichere Ihnen, dass es keinerlei Probleme geben wird.«
Die ungesagten Worte schweben zwischen uns in der Luft, versuchen, das nicht enden wollende Nichts zwischen unseren Realitäten zu überwinden, und verpuffen dann doch. Es wird keine weiterenProbleme geben. Keine Probleme, verglichen mit dem im Schnee vergrabenen Toten, den Stromausfällen … all dem Grauen, das dieser Ort gesät und geerntet hat.
»Verzeihung, sind Sie noch dran?«
»Ja.«
»Ich brauche bitte Ihren Namen, Sir. Sie erhalten die Buchungsunterlagen per E-Mail oder postalisch. Wie es Ihnen lieber ist.«
Ich werde nicht gerne überrascht. Aber dass das Ortiz und sein Handlanger es tatsächlich vollbracht haben, das Hotel zu reanimieren, trifft mich zugegebenermaßen unvorbereitet. Mit kalten, tauben Fingern fahre ich über das Mousepad und öffne die Website des Ortiz Grand Resort. Ich navigiere mich selbst durch die verschiedenen Menüs, bis ich das Gästebuch finde. Es erhebt sich wie eine irreführende, tödliche Fata Morgana.
»Mein Name ist Barnes«, antworte ich glatt. Meine Stimme klingt freundlich, beinahe heiter. Als hätte sie niemals in ihrer gesamten Existenz einen trübseligen Ton angeschlagen. »Bitte reservieren Sie auf Barnes.«
Devan umarmt Ana, dann kommt er auf mich zu. Er kann höchstens zwei, drei Sekunden brauchen, um die Entfernung zwischen uns zu überwinden, dennoch kommt mir diese Zeit vor wie Stunden. Devans üblicher Bartschatten ist zu einem nachlässigen Dreitagebart geworden, seine Haare sind länger. Er trägt ein T-Shirt und Jeans, in der einen Hand hält er eine Sportjacke. Insgesamt wirkt sein Aussehen irgendwie unordentlicher als während unserer Zeit in Colorado. Ich habe ihn vier Wochen lang nicht gesehen. Wir haben einmal videotelefoniert, aber das war direkt nach meiner Ankunft bei meinen Eltern. Mir ist nicht klar gewesen, wie sehr ich sein Gesicht vermisst habe. Ich habe vielleicht sogar vergessen, wie es sich anfühlt, in seiner Nähe zu sein. Mein Herz nimmt mit einem schmerzhaften Stolpern seinen Dienst wieder auf, nur um sofort doppelt so schnell wie gewöhnlich weiterzuschlagen.
Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll. Aber bevor ich überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen bekomme, ist Devan bei mir und zieht mich an sich. Einfach so. Er fragt nicht um Erlaubnis, sagt kein Wort zu mir. Stattdessen greift er nach meinen Schultern und zieht mich an seine harte, warme Brust. Den Bruchteil einer Sekunde bin ich wie erstarrt, dann scheint mein Körper ein Eigenleben zu entwickeln und meinen Verstand ganz einfach abzuschalten. Ich atme geräuschvoll aus, schlinge die Arme um seine Taille und schließe die Augen. Lehne mich einen Moment lang an ihn und ignoriere sämtliche Einwände, die ich vorhin noch Ana und mir selbst gegenüber angebracht habe.
Nach ein paar Sekunden spüre ich Devans Wange auf meinem Kopf. »Hi, Kittycat«, murmelt er.
Ich lache erstickt. »Hi. Das ist der bescheuertste Spitzname bis jetzt.«
»Ich nehme das als Kompliment.«
Widerstrebend mache ich mich los. Am liebsten würde ich mich einfach für immer in seine Arme kuscheln und die Welt da draußen ausschließen, aber das macht die ganze Sache nur noch komplizierter. Ich sehe ihn an, dann Ana. »Was soll das alles hier?«
Hätte Ana nicht vor ein paar Minuten beteuert, dass sie keine Ahnung hatte, wie es zwischen mir und Devan steht, hätte ich befürchtet, sie würde irgendeine ganz unangenehme Intervention durchziehen.
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, antwortet Devan. Auch er hat mich losgelassen, doch er steht immer noch dicht neben mir. Dichter, als es auf platonischer Ebene normal ist, würde ich sagen. »Ana hat gefragt, wann ich am Campus bin, und mir dann gesagt, dass ich herkommen soll. Ich dachte, du wüsstest Bescheid.«
Ich runzle die Stirn. »Du wärst heute sowieso gekommen?«
Er weicht meinem Blick aus. »Ich bin bis Mittwoch hier. Bei einer Klausur herrscht Anwesenheitspflicht, und ich muss mit ein paar Professoren sprechen.«
In meinem Inneren streiten sich zwei Gefühle miteinander: Einerseits bin ich enttäuscht, dass er sich nicht bei mir angekündigt, sondern mit Ana über seinen Besuch gesprochen hat, andererseits weiß ich, dass ich kein Recht habe, mich über sein Verhalten zu beschweren. Ich war diejenige, die sich Zeit und Abstand gewünscht, seine Anrufe ignoriert und einsilbig auf Nachrichten reagiert hat.
Also lächle ich einfach nur und versuche, die Nervosität und das Kribbeln in meiner Magengegend zu ignorieren. Ich wende mich an Ana und schaue sie auffordernd an. »Was ist los?«
Plötzlich steht ihr die Nervosität ins Gesicht geschrieben. Sie beißt sich auf die Lippen, so fest, dass sie weiß werden, dann nickt sie Richtung Bett. »Setzt euch. Ist ’ne längere Geschichte.«
Ein Teil von mir will einfach aus dem Zimmer rennen. Oder mir wie ein Kind die Hände auf die Ohren pressen und so tun, als wären Devan und Ana gar nicht da. Ich will feige sein und das Problem so lange ignorieren, bis es von selbst verschwindet. Weder habe ich Lust darauf, mit Ana über das zu sprechen, was in Eagle Creek passiert ist, noch will ich mich neben Devan setzen und fürs Erste so tun, als stünde nichts zwischen uns. Ich mag ihm aus dem Weg gegangen sein, trotzdem bin ich der Meinung, dass wir miteinander sprechen sollten. Jetzt, da er ohnehin hier ist. Das ist das Mindeste, was er verdient hat.
Aber ich tue oder sage nichts von alledem. Nicht, weil ich gut oder stark bin, sondern weil ich weiß, dass es ohnehin keinen Sinn hätte. Ich gehe an Devan vorbei und setze mich aufs Bett. Ich rutsche auf die Matratze und ziehe die Beine an, während er sich auf die Bettkante sinken lässt und Ana uns gegenüber auf meinem Schreibtischstuhl Platz nimmt. Sie klemmt die Hände zwischen die Knie und atmet einmal geräuschvoll aus.
»Du machst mich echt nervös«, sage ich und werfe Devan, der Ana stirnrunzelnd mustert, einen kurzen Blick zu.
»Ist etwas passiert?«, fragt er ruhig.
Ana schüttelt den Kopf. Sie lächelt, doch das Lächeln erreicht nicht ihre Augen. »Nicht wirklich. Ich weiß, dass du das Thema meidest, Luca, aber ich fürchte, wir müssen darüber reden.«
Mir schießt das Blut ins Gesicht, als Devan sich zu mir umdreht. Er schweigt, trotzdem erkenne ich die tausend unausgesprochenen Fragen in seinem Blick.
»Schon gut«, murmle ich.
»Ich weiß nicht genau, wie ich es am besten sagen soll, deswegen mache ich es kurz und schmerzlos, okay?« Sie sieht uns an und wartet offensichtlich auf eine Reaktion, also nicke ich nur. »Ich denke nicht, dass Matthew Ismar der Mörder von Paul ist.«
Das war’s. Keine Erklärung, keine Ausführungen nichts. Ana sitzt einfach nur da und starrt uns an.
Ich hebe auffordernd die Augenbrauen. »Was?«
»Ich glaube nicht, dass Matthew Ismar der Mörder ist«, wiederholt sie sachlich, als würde das bloße Echo ihrer Worte irgendetwas ändern. »Zumindest nicht er allein.«
»Okay, langsam«, sagt Devan und hält mich davon ab, einen wirklich unfreundlichen Kommentar über unnötig dramatische Gesprächsführungen abzugeben. »Von Anfang an: Du hast mich herzitiert und Luca überfallen, weil du denkst, die Polizei hätte den Falschen verhaftet?«
»Ja.« Als sie mit den Schultern zuckt, sieht sie beinahe ein wenig eingeschüchtert aus. »Ich weiß, wie das klingt. Ehrlich, ich habe mir wirklich, wirklich viele Gedanken darüber gemacht. Aber hätte ich mit euch am Telefon darüber gesprochen, hättet ihr mir nicht richtig zugehört. Und es ist wichtig, dass ihr mir zuhört.«
»Ana«, beginne ich erschöpft, »das hatten wir doch alles schon. Ich meine das nicht böse, aber denkst du ernsthaft, dass du besser im Ermitteln bist als die Polizei? Dass die nicht alles, worüber du dir anscheinend Gedanken gemacht hast, schon selbst in Betracht gezogen haben? Hier geht es um Mord. Ich glaube wirklich nicht, dass die Beamten das auf die leichte Schulter nehmen und einfach den Nächstbesten verhaften. Die haben Beweise.«
»Was für Beweise?«
»Nachrichten, in denen Ismar Paul erpresst hat«, sage ich eindringlich. »Die hatten sie bereits in der Nacht, in der sie uns aus dem Lift geholt haben, schon vergessen? Der Typ war der Haustechniker und konnte locker diesen ganzen Stromausfall inszenieren. Er hatte ein Motiv. Das ergibt alles zu viel Sinn.«
Sie richtet sich ein wenig auf. »Was, wenn ihm diese Nachrichten untergeschoben wurden? Nur weil jemand Schulden hat, bedeutet das nicht, dass er jemanden erpressen oder sogar töten würde. Ich habe Schulden, und ich habe nicht vor, irgendjemanden in ein Eis am Stil zu verwandeln.«
»Leute haben schon aus viel weniger wichtigen Gründen gemordet, Ana«, wirft Devan ein, immer noch mit zum Verrücktwerden ruhiger Stimme. Wie kann er bei diesem Thema so entspannt sein? »Jacob meinte, dass der Typ Familie hat. Ich glaube nicht, dass er von Anfang an vorhatte, Paul zu töten, aber wenn er Geld brauchte, um seine Familie zu versorgen, ist es nicht der schlechteste Plan, jemanden wie Paul oder Christine zu erpressen. Die Sache ist einfach aus dem Ruder gelaufen.«
»Er hat nicht einfach nur die Gelegenheit genutzt, Devan!« Ihre Stimme klingt jetzt eindringlich, beinahe beschwörend. »Er hat nicht einfach im Resort gearbeitet, uns gesehen und sich gedacht, dass das eine gute Chance wäre, seine Schulden loszuwerden. Es war geplant. Aufwändig geplant. Das ist ein bisschen viel Aufwand für ein paar Tausend Dollar! Mehr wollte er von Paul laut dieser Nachrichten nämlich nicht haben.«
»Woher weißt du das?«, frage ich skeptisch. »Die Typen, die unsere Aussage aufgenommen haben, meinten, Matthew hatte wahrscheinlich vor, uns alle zu erpressen. Er ist nur nicht so weit gekommen.«
Ana schnaubt und schiebt sich die Haare aus der Stirn. »Christine hat mir die Nachrichten gezeigt. Matthew Ismar hat darin zweitausend Dollar verlangt. Erscheint euch das wie eine Summe, die man von einem millionenschweren Nepo-Baby erpresst? Die Barnes besitzen Geld wie Heu. Paul hätte locker das Zehnfache innerhalb von vierundzwanzig Stunden klarmachen können, wahrscheinlich ohne dass seine Eltern auch nur mit der Wimper gezuckt hätten.«
»Wie gesagt. Die Polizei meinte, dass er uns alle erpressen wollte.«
»Leander muss am Ende des Monats jeden Penny umdrehen, Devan ist ein verdammter Influencer und hatte seit Wochen keine Kooperationen mehr. Jeder Zwölfjährige mit einem Internetzugang kann herausfinden, wie viel er mit seinen Videos verdient.« Sie verzieht das Gesicht und sieht Devan entschuldigend an. »Nicht böse gemeint, aber ich gehe davon aus, dass du mit deiner Creator-Agentur keine Millionen verdienst. Und du, Luca, magst wohlhabende Eltern haben, aber du finanzierst dich selbst, richtig?«
Ich sehe sie fassungslos an. »Woher weißt du das alles?«
Ana klatscht in die Hände. »Genau das ist der Punkt! Genau das! Ich habe euch gestalkt, und ich bin nicht einmal gut darin! Social Media, Google und so weiter, dafür waren echt keine krassen Skills notwendig.«
»Moment mal«, grätscht Devan dazwischen und hebt die Hände, als wolle er einen fahrenden Wagen anhalten. »Zuerst einmal: Ich kann sehr gut von meinem Einkommen leben, aber danke, dass du dir Gedanken darum machst. Ich habe keine Schulden, nicht einmal einen Studienkredit, und ich habe mir vor einer Woche eine neue Couch gekauft.«
Seufzend sehe ich ihn an. »Darum geht es hier nicht wirklich, Devan.«
»Die Couch hat ’ne Schlaffunktion und zwei wireless Charger, also doch, darum geht es irgendwie schon.« Er zwinkert mir zu, was ich nur mit einem Augenverdrehen quittiere. Dann wird er wieder ernst. »Worum geht es hier, Ana? Schön und gut, dass du so eine krasse Hackerin bist, aber das sind keine sensiblen Daten. Was hat das mit Matthew oder Paul zu tun?«
»Wenn ich das alles ohne großen Aufwand rausgefunden habe, dann konnte Ismar das auch, oder nicht? Wenn man schon das Risiko eingeht, jemanden zu erpressen, wird man seine potenziellen Opfer doch wenigstens googeln.«
»Und?« Ich zucke mit den Schultern. »Vielleicht kommen Leander, Devan oder ich nicht infrage – trotz der mit Sicherheit sehr beeindruckenden Couch. Auf der Liste standen auch noch Christine und Jacob, und bei denen gab es sicher etwas zu holen.«
Ein paar Sekunden lang sieht Ana mich an, während sie auf ihrer Unterlippe herumkaut. »Ich weiß, dass du am liebsten nicht mehr an die ganze Sache denken würdest, okay? Ich will dich nicht ärgern. Aber wir müssen etwas unternehmen.«
»Warum?«, frage ich eindringlich. »Hör auf, um den heißen Brei herumzureden, und komm zum Punkt!«
»Ihr alle habt eine Mail bekommen, richtig? Von dieser Vermittlungsagentur, educationcare. Ganz am Anfang, als die Stelle im Ortiz ausgeschrieben wurde.«
»Einen Newsletter«, berichtige ich sie verwirrt. »Nicht von der Agentur selbst, sondern von der Uni.«
Sie nickt langsam. »Der Newsletter kam nicht von der Uni. Auch nicht von der Agentur, sondern von einer unbekannten Adresse. Educationcare hat die Stelle zwar ausgeschrieben, aber nur auf ihrer eigenen Homepage.«
»Aber warum … was?« Verwirrt schüttle ich den Kopf. »Ehrlich, Ana, ich verstehe nur Bahnhof.«
»Die Stellenanzeige wurde bei educationcare aufgegeben, ja. Aber sie wurde nur auf der Website gepostet, weil sie kein lokales Angebot war. Die Newsletter, die ihr erhalten habt, gab es offiziell nicht. Und sie wurden offenbar an niemand anderen verschickt als an euch fünf.«
»Quatsch.« Ich lache trocken, doch weder sie noch Devan stimmen ein. »Das ist doch Blödsinn. Diese Stelle war der Wahnsinn. Es gab Tausende Leute, die sich darauf beworben haben.«
»Nenn mir eine Person«, antwortet Ana herausfordernd. »Gibt es eine Freundin oder einen Kommilitonen, von denen du weißt, dass sie sich ebenfalls beworben haben?«
Ich öffne den Mund, schließe ihn dann jedoch wieder. Riley hat sich nicht beworben, aber darüber habe ich mich nicht gewundert, weil sie Geschichte im letzten Semester studiert und die Semesterferien jedes Jahr bei ihrer Familie in Europa verbringt. Ich hatte von Anfang an nicht erwartet, dass sie an diesem Job interessiert ist. Ein Mädchen aus meinem Literaturkurs hat sich auf die Stelle beworben, allerdings nur, weil ich ihr den Kontakt weitergeleitet habe. Ich habe ihr von der Ausschreibung erzählt, und sie meinte, dass Newsletter in ihrem Spam-Ordner landen. Keine von uns hat sich darüber gewundert. Keine von uns hat hinterfragt, warum eine Mail von der Uni im Spam …
»Das ist doch Blödsinn«, sage ich erneut, diesmal weniger energisch. »Wie stehen die Chancen, dass wir die Einzigen waren, die diese Mail bekommen haben, und wir alle uns beworben haben?«
Ana sieht von mir zu Devan. »Devan hat sich nicht beworben. Keine Ahnung, ob er die Mail gelesen hat oder nicht, aber die Agentur hat sich angeblich bei ihm gemeldet, oder nicht?«
Ich folge ihrem Blick. Devan sieht mich nicht an, sondern mustert mit zusammengezogenen Augenbrauen Ana. »Ich habe keine E-Mail bekommen. Auch nicht in meinem Junk-Ordner, den checke ich regelmäßig.«
»Genau. Auch Paul hat sich nicht selbst beworben, sondern Christine für ihn und sich zusammen. Pauls Vater hat direkt ein Bestechungsgeld mit überwiesen, damit beide einen Platz im Assessment-Center bekommen.«
Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn man die Rädchen in meinem Kopf rattern hören könnte. Ich bin vollkommen überfordert mit Anas Ausführungen.
»Sag mir einfach, worauf du hinauswillst, Ana«, sagt Devan, der genauso verwirrt klingt, wie ich mich fühle.
»Ich will darauf hinaus, dass jemand diese Stelle meiner Meinung nach gefakt hat. Wobei, nein, das stimmt so nicht. Das Auswahlverfahren wurde inszeniert. Die Stellenausschreibung war von Anfang an darauf ausgelegt, dass ihr fünf ins Assessment-Center eingeladen werdet.«
»Ich sage es gerne noch einmal: Das ist Blödsinn.«
»Ist es nicht. Ich habe mit Jacob gesprochen.« Ana redet jetzt so schnell, dass es mir schwerfällt, ihre Worte zu verstehen. »Angeblich hat die Agentur eine Vorauswahl getroffen und nur zehn Bewerbungen an die Assistentin seines Onkels weitergeleitet. Fünf davon waren Schrott, unvollständig oder die scheinbaren Bewerber haben nicht reagiert. Ihr fünf wart die einzig ernst zu nehmenden Kandidaten. Das soll nicht gemein klingen oder so, aber Jacobs Onkel hatte quasi keine andere Wahl, als euch einzuladen. Jacob hat sogar gefragt, ob er noch weitersuchen soll, weil die Resonanz zu klein war. Aber bis zur Neueröffnung war nicht mehr viel Zeit, also hat er euch eingeladen.«
»Warte, warte, warte!« Devan fährt sich mit den Händen über das Gesicht. »Das ergibt alles immer weniger Sinn, Ana. Wenn nur wir die Mail bekommen haben, woher kommen dann die anderen fünf Bewerbungen? Und was soll das bitte für ein abgefahrener Plan sein, jemanden erpressen zu wollen, sich dafür wahllos fünf Leute auszusuchen und eine Ausschreibung über eine real existierende Agentur zu manipulieren, dann darauf zu hoffen, dass sich die richtigen fünf auch bewerben, danach anzunehmen, dass diese fünf von Jacob oder seinem Onkel genommen werden, einzig und allein mit dem Ziel, sie ins Resort zu locken, um dann zwei von ihnen zu erpressen? Heilige Scheiße, Ana, was hast du geraucht?«
»Woher weißt du das überhaupt alles?«, frage ich erneut.
»Ich habe mit Leuten gesprochen«, erwidert sie achselzuckend. »Mit Jacob, mit jemandem von der Agentur. Ich sage ja nicht, dass das für mich Sinn ergibt. Aber wenn wir das mal alles zusammenfassen – dass die Newsletter gefakt waren, die ihr bekommen habt, dass Devan extra angefordert wurde und so weiter –, dann ist diese ganze Matthew-Ismar-Theorie einfach nicht schlüssig. Hätte er jemanden erpressen wollen, wäre es ihm nur um das Geld gegangen, hätte es definitiv einen einfacheren Weg gegeben. Und – noch mal, das ist nicht böse gemeint – dann hätte er dich, Devan und Leander nicht ins Boot geholt. Im Ortiz gehen während der Saison jeden Tag unzählige reiche Säcke ein und aus. Wir haben einen Haufen reiche Stammgäste. Es hätte einfachere Wege gegeben, glaubt mir.«
Angespannt rutsche ich vom Bett und verschränke die Arme vor der Brust. Am liebsten würde ich im Zimmer auf und ab gehen, doch ich brauche nicht noch mehr Unruhe in diesem kleinen Raum. »Du willst mir also sagen, dass du denkst, wir wurden absichtlich in dieses Resort gelockt?«
»Ja. Das denke ich.«
»Warum?«, fragt Devan, während er sich das Kinn reib. »Jacob stand auch auf dieser Liste, und er hat sich offensichtlich nicht auf den Job beworben.«
»Genau deswegen denke ich, dass derjenige, der dafür verantwortlich ist, Beziehungen zum Resort hat.« Sie sieht uns ein wenig hilflos an, als wolle sie uns mit bloßer Willenskraft überzeugen. »Vielleicht war es sogar Matthew, aber dann hatte er ein völlig anderes Motiv als das, welches die Polizei ermittelt hat. Jacobs Onkel hat ja tatsächlich nach einem Social-Media-Manager gesucht. Gut möglich, dass Matthew oder wer auch immer einfach die Gelegenheit genutzt hat.« Sie hebt die Hände und lässt sie geräuschvoll auf ihre Oberschenkel fallen. »Aber der Grund dafür war sicher nicht Erpressung!«
»Das ist eine ziemlich wilde Geschichte, Ana.« Ich kneife mir in den Nasenrücken und versuche, den stechenden Schmerz zu ignorieren, der sich hinter meiner Stirn zusammenbraut. Seit ich wieder zu Hause bin, hatte ich zwei Migräne-Attacken. Vorher hatte ich die nicht. Noch eine Nebenwirkung, die mir dieser verdammte Ort in Colorado eingebracht hat. »Ich verstehe, dass du die ganze Geschichte hinterfragst, aber ich denke immer noch, dass die Polizei solchen Sachen durchaus nachgegangen ist. Das ist ihr Job. In alle Richtungen zu ermitteln und so weiter.«
»Sie haben bei unseren Befragungen nur die Erpressung und die Schulden angesprochen, oder nicht?«
»Das war nicht einmal vierundzwanzig Stunden, nachdem das alles passiert war«, erinnere ich sie erschöpft. »Ich denke, seitdem haben sie mehr gemacht.« Ich werfe Devan einen Blick zu, der immer noch nachdenklich die Augenbrauen zusammengezogen hat. »Was denkst du denn?«
»Falls das alles mit der Agentur stimmt«, beginnt er und hebt die Hand, als Ana protestierend den Mund öffnet. »Ich meine damit nicht, dass du lügst, also entspann dich. Aber du hast nur mit Mitarbeitenden gesprochen, oder nicht? Du hast keinen Einblick in die Fallakte oder in irgendwelche Interna. Es gibt die Möglichkeit, dass sich deine Einwände logisch erklären lassen, und ich bin der gleichen Meinung wie Luca: Die Polizei wird sicher mit der Agentur gesprochen haben und der Sache nachgegangen sein.«
»Also wollt ihr das alles ignorieren?«, fragt Ana ungläubig.
»Nein. Mir kommt die ganze Sache auch komisch vor. Aber ehrlich gesagt finde ich die Erklärung, dass es einen großen, komplizierten Plan hinter alledem gibt, unwahrscheinlicher als die, dass du falsche Informationen hast oder irgendjemand von educationcare sich nur ein bisschen wichtigmachen wollte und die Geschichte aufgebauscht hat.«
Angespannt greife ich nach meinem Kaffeebecher und nehme einen großen Schluck. Ana ist deutlich anzusehen, dass sie wütend ist. Vielleicht auch nur frustriert oder überfordert. Ich mache ihr sicher keinen Vorwurf. Wir haben heftige Dinge erlebt auf diesem Berg, und zumindest mir ist all das erst richtig bewusst geworden, als ich wieder zu Hause war. Als hätte das Adrenalin mich aufrecht gehalten und wäre abrupt abgefallen, sobald ich zurück in der normalen Welt war. Jeder geht anders mit so einer Erfahrung um – tagsüber versuche ich, das Geschehene zu ignorieren, und erhalte nachts dafür die Quittung, indem ich schweißgebadet aus Albträumen aufwache. Gut möglich, dass Anas Bewältigungstrategie darin besteht, etwas zu unternehmen. Irgendetwas zu tun, das eigentlich außerhalb unserer Handlungsmöglichkeiten liegt.
Genau das ist das Problem und der Grund dafür, dass ich nachts diese ganze Hölle noch einmal erlebe und Matthews Gesicht in meinen Träumen auftaucht: Keiner von uns hatte in der Hand, was in dieser Nacht auf dem Berg passiert ist. Wir wurden gejagt, getrieben. Egal, was dahintersteckte oder welches Motiv Matthew gehabt haben könnte – er hat mit uns gespielt. Keiner von uns hat wirklich eine Ahnung, ob es uns schlimmer hätte treffen können, ob wir unserem Jäger tatsächlich entkommen sind oder unwissentlich nach seinen Regeln gespielt haben, weil er uns entkommen lassen wollte. Und das ist ein wirklich widerliches Gefühl. Ich fühle mich machtlos, und ich bin mir sicher, dass es den anderen ganz genauso geht.
»Ana«, sage ich und versuche, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen. »Denk bitte nicht, dass wir dich nicht ernst nehmen oder so. Wenn du willst, können wir zusammen nachforschen oder mit der Polizei reden. Aber ich glaube wirklich, du verrennst dich da in etwas.«
Wütend starrt sie mich an. Ihre Brust hebt und senkt sich ein wenig zu heftig, dann steht sie auf. »Ihr macht euch etwas vor«, sagt sie mit zitternder Stimme und zeigt erst auf mich, dann auf Devan. »Ihr könnt euch ja gerne weiter einreden, dass alles gut ist. Ich verstehe, dass ihr das glauben wollt. Wirklich. Aber ich weiß, dass ihr nicht wirklich überzeugt davon seid. Ist es nicht so? Dieses Gefühl, beobachtet zu werden, die Angst, dass bald wieder etwas Schlimmes passiert … ich weiß, dass ihr das auch spürt! Und es wird nicht verschwinden, nur weil ihr es ignoriert!«
Devan erhebt sich ebenfalls. »Ana …«
»Nein«, fährt sie ihm dazwischen. Sie verschränkt fest die Arme vor der Brust. »Denkt darüber nach. Das ist alles, was ich will.«
Dann dreht sie sich um und stürmt hinaus, so schnell, dass ich kaum etwas unternehmen kann. Als die Tür hinter ihr ins Schloss fällt, hallt der Klang in meinem Inneren nach wie ein Donnerschlag. Meine Kehle schnürt sich zu. Egal, was der rationale Teil meines Verstandes sagt, egal, was ich Ana gerade eben versichert habe – eine kleine Stimme in meinem Kopf erinnert mich daran, wie ich vor dieser schicksalhaften Nacht versucht habe, die anderen davon zu überzeugen, dass auf dem Gelände etwas vor sich geht. Und dass keiner mir geglaubt hat. Sie flüstert mir zu, dass sich unser Fehler auf keinen Fall wiederholen darf. Unser Fehler, den verdammten Unbekannten auf dem Berg zu unterschätzen.
Luca nimmt einen weiteren großen Schluck von ihrem Kaffee, dann kneift sie die Augen zusammen und atmet einmal tief durch die Nase ein und aus.
»Alles okay?«, frage ich zögernd. Alles in mir schreit danach, zu ihr zu gehen und sie in den Arm zu nehmen. Vorhin habe ich mir das erlaubt, aber jetzt zwinge ich mich dazu, auf Abstand zu bleiben. Auch wenn es beinahe körperlich wehtut. Luca hat mich gebeten, ihr Raum zu geben. Das habe ich zu respektieren, weil es mir nicht zusteht, zu entscheiden, was das Beste für sie ist. Dabei spielt es keine Rolle, dass ich überzeugt davon bin, ihr helfen zu können.
Sie legt den Kopf schief, bevor sie die Augen wieder öffnet und mir einen merkwürdigen Blick zuwirft. »Was hältst du davon?« Sie deutet über die Schulter zur Tür. »Von dem, was Ana herausgefunden hat.«
»Falls es stimmt, was sie herausgefunden hat. Ich verstehe, dass sie sich Sorgen macht, wenn sie es glaubt.« Eigentlich wechsle ich das Thema nur ungern, doch ich spiele mit. Solange Luca redet und mich nicht rausschmeißt, bin ich fürs Erste zufrieden. »Aber das alles ist für mich ein bisschen zu schwammig. Ich denke eher, dass sie sich in etwas reinsteigert.«
»Stimmt es, dass du keine Mail bekommen hast?«, fragt sie tonlos. »Mit dem Stellenangebot, meine ich.«
»Ja.« Ich zucke mit den Schultern. »Vielleicht habe ich sie auch nur nicht gesehen, und sie ist irgendwie durchgerutscht. Aber bis heute habe ich mir darum keine Gedanken gemacht.«
»Du wurdest direkt vom Hotel angeschrieben, richtig?«
Ich schüttle den Kopf. »Nein. Von einer Mitarbeiterin der Agentur. Sie meinte, ich wurde ihr von einem meiner Professoren empfohlen.«
»Und das hast du geglaubt?«
»Warum nicht?« Während ich sie ansehe, verlagert sie das Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Ihre Haltung wirkt angespannt, und ich wünschte, sie würde sich hinsetzen. »Das war ein verdammt guter Job, und die Agentur arbeitet mit den Colleges zusammen. Ich ging davon aus, dass die Stellenausschreibung einfach an ein paar geeignete Kandidaten rausgeschickt wurde. Aber wie gesagt, ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht.«
Sie beißt sich auf die Lippe, wie immer, wenn sie nachdenkt. »Das ist komisch«, sagt sie schließlich, ohne mich anzusehen. »Gerade weil es ein verdammt gutes Angebot ist, hätten sie eigentlich keinen Bewerbern hinterherlaufen müssen.«
»Ich bin halt wirklich gut. Ich verstehe, dass sie sich die Chance nicht entgehen lassen wollten.«
Sie wirft mir einen seltsamen Blick zu, bevor sie sich wieder abwendet.
»Was ist, Luca?«, frage ich angespannt.
Ihr Schulterzucken wirkt beinahe überzeugend beiläufig. »Ich bin einfach nervös.«
Ich glaube ihr nicht. Wir haben vielleicht nur ein paar Tage miteinander verbracht, und die Erinnerungen daran werden überlagert von all den düsteren Ereignissen, die während unserer letzten Nacht im Resort passiert sind. Trotzdem kenne ich Luca. Vielleicht kenne ich sie sogar besser als viele ihrer Freundinnen oder Kommilitoninnen. Denn ich habe jede Seite von ihr gesehen, war bei ihr, während sie Freude, Angst und Trauer erlebt hat. Wir kennen einander. Und deswegen bemerke ich diesen Funken in ihren Augen, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob es sich dabei tatsächlich um Misstrauen oder um grundsätzliche Anspannung handelt.
Natürlich verstehe ich, was gerade in ihr abgeht. Die Wochen nach unserer Verabschiedung am Flughafen waren eine beschissene Hölle, auch für mich: die Aufmerksamkeit der Medien, die Angst und Sorgen meiner Familie und Freunde, das Gedankenkarussell, das sich immer und immer wieder um all das gedreht hat, was in Colorado passiert ist. Dass Luca mich ignoriert hat, hat das Fass beinahe zum Überlaufen gebracht. Nach einer knappen Woche bei meinem Vater habe ich die nicht enden wollenden Fragen und die forschenden Blicke nicht mehr ausgehalten und bin nach Hause gefahren. Ich habe viel mit Leander und auch hin und wieder mit Jacob geredet, trotzdem war Luca diejenige, mit der ich eigentlich sprechen wollte.
»Luca«, sage ich leise und mache einen Schritt auf sie zu. Ich beobachte sie, als erwarte ich, dass sie wie ein scheues Reh im Scheinwerferlicht davonrennt. »Können wir reden, bitte?«
»Wir reden doch.« Ihr zaghaftes, freudloses Lächeln beweist, dass ihr durchaus klar ist, was ich meine. Als ich sie nur auffordernd ansehe, seufzt sie. »Ich will nicht gemein sein, Devan, wirklich nicht. Ich weiß, dass ich dir hundertachtzigtausend Entschuldigungen schulde.«
»Du schuldest mir gar nichts.«
Sie fällt ein kleines bisschen in sich zusammen, dann setzt sie sich wieder aufs Bett. Ich bin ein wenig erleichtert. Ihr Gesicht ist ein wenig blass und die Augen groß und glasig. Irgendetwas ist im Busch. Ich habe mich dazu entschieden, dieses Zimmer nicht zu verlassen, bis sie mit der Sprache herausgerückt ist.
Ich gehe zu ihr hinüber und setze mich neben sie. »Du hast mir gesagt, was Phase ist, dass du Zeit brauchst und so weiter. Du hast nichts falsch gemacht.«
Sie schweigt ein paar Sekunden lang, den Blick auf ihre Hände gerichtet, die den Kaffeebecher umklammern. »Ich habe das Gefühl, ich muss das hinter mir lassen, verstehst du? Und wenn ich dich angucke, denke ich an diese Nacht und an Paul und den ganzen Scheiß.«
Das zu hören, tut weh. Wenn ich sie ansehe, sehe ich deutlich mehr als diese beschissene letzte Nacht. »Was kann ich tun?«