Like Nobody Else - Kim Nina Ocker - E-Book

Like Nobody Else E-Book

Kim Nina Ocker

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Beschreibung

Band 3 der Upper-East-Side-Reihe

Die zwanzigjährige June Bishop wünscht sich nur eins: endlich selbst für ihr Leben verantwortlich sein zu können. Seit sie vor vier Jahren einen Autounfall hatte, von dem sie nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schäden davontrug, lassen sie ihre überfürsorglichen Eltern kaum aus den Augen. Doch June schafft es, sie zu einem Kompromiss zu bewegen: Sie kann wieder aufs College gehen, wenn sie sich jemanden sucht, der ihr bei den Dingen hilft, die sie allein nicht bewältigen kann. Aber als der gutaussehende Sam vor ihr steht und sie dazu überredet, ihm den Job zu geben, ahnt sie nicht, dass er wesentlich mehr für sie werden wird als ihr Collegebegleiter - genauso wenig wie Sam ahnt, dass dieser gutbezahlte Job sein ganzes Leben durcheinanderbringen wird ...

"Ein wundervoller Roman über das, was im Leben wichtig ist." Darks Lesehimmel über "Nothing Like Us"

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Seitenzahl: 526

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmung123456789 1011121314151617 1819202122232425262728EpilogDanksagungDie AutorinKim Nina Ocker bei LYXImpressum

KIM NINA OCKER

Like Nobody Else

Roman

Zu diesem Buch

Die zwanzigjährige June Bishop wünscht sich nur eins: endlich selbst für ihr Leben verantwortlich sein zu können. Seit sie vor vier Jahren einen Autounfall hatte, von dem sie nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schäden davontrug, lassen sie ihre überfürsorglichen Eltern kaum aus den Augen. Doch June schafft es, sie zu einem Kompromiss zu bewegen: Sie kann wieder aufs College gehen, wenn sie sich jemanden sucht, der ihr bei den Dingen hilft, die sie allein nicht bewältigen kann. Aber als der gutaussehende Sam vor ihr steht und sie dazu überredet, ihm den Job zu geben, ahnt sie nicht, dass er wesentlich mehr für sie werden wird als ihr Collegebegleiter – genauso wenig wie Sam ahnt, dass dieser gutbezahlte Job sein ganzes Leben durcheinanderbringen wird …

Für dich

1

»Muss ich dir beim Pinkeln helfen?«

Ich sah von dem Bewerbungsbogen auf und musterte das Mädchen, das vor mir saß. Ein Teil von mir war sicher, dass ich mich verhört hatte, ein anderer wollte lachen, und ein dritter wollte den Löffel nach ihr werfen, der auf meiner Untertasse lag. Ihren Angaben auf dem Bewerbungsbogen nach hieß das Mädchen Paris, und ja … irgendwie sah sie auch aus wie eine Paris. Wasserstoffblonde Haare, eigenartig unnatürlich wirkende blaue Augen und genug Schminke im Gesicht, um die echte Paris Hilton ein Jahr lang mit Make-up zu versorgen.

Am liebsten wäre ich einfach aufgestanden und gegangen. Doch Paris war schon die achte Bewerberin heute. Die achte, der ich würde absagen müssen, und allmählich wurden meine Möglichkeiten knapp. Meine Eltern zahlten zwar gut, aber irgendwann würden mir trotzdem die Bewerbungen ausgehen, und dann hatte ich ein echtes Problem.

Erneut musterte ich mein Gegenüber und versuchte mir angestrengt vorzustellen, die nächsten Monate mit diesem Mädchen zu verbringen. Vielleicht war sie ja ganz lustig, wenn man sie besser kennenlernte. Vielleicht hatte sie gerade eine übel durchzechte Nacht hinter sich, oder sie war krank, weswegen ihr Gehirn vorübergehend einfach nicht vollständig in Betrieb war.

»Ähm, nein«, beantwortete ich schließlich ihre Frage und rang mir ein verdammt überzeugendes Lächeln ab. Ich wusste, dass ich mich zickig benahm und eventuell nicht ganz fair zu ihr war. Allerdings musste man zu meiner Verteidigung auch sagen, dass sie nicht die erste Bewerberin war, die ich mir heute ansah. Meine Nerven lagen blank, und ich wollte nur noch eins: Nach Hause in meine Badewanne und mich die nächsten zwei Stunden nicht mehr bewegen. »Nein, für so etwas bist du nicht zuständig.«

»Für was bin ich dann zuständig?«, fragte sie, griff nach ihrem Eistee und nahm einen Schluck. Auf dem Glas blieb ein Lippenstiftabdruck zurück.

Das war eine verdammt gute Frage. Ich atmete einmal tief durch, um mich zu sammeln, und blickte hinab auf meinen Ausdruck der Stellenausschreibung. »Wie in der Anzeige schon stand, brauche ich jemanden, der mir im College und in Alltagsdingen hilft«, sagte ich und klang dabei wie meine eigene Mutter. »Es ist mein letztes Semester, und es fallen eine Menge Dinge an, die ich vor meinem Abschluss erledigen muss. Für mich allein ist das organisatorisch schwierig, deswegen brauche ich jemanden, der mir zur Seite steht. Autofahren, Wege erledigen, Besorgungen machen … Solche Sachen eben.«

Sie sah mich an, und eine ihrer Augenbrauen wanderte in die Höhe. »Aber du sitzt nicht im Rollstuhl.«

»Dir entgeht ja wirklich nichts«, murmelte ich und schloss einen Moment die Augen. Nein, das hier hatte keinen Sinn. Mochte sein, dass ich zurzeit ein wenig gereizt war, doch ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, mehrere Monate mit diesem Mädchen zu verbringen. Wir waren definitiv zu verschieden. Nicht, dass ich es unbedingt auf ein mehrmonatiges Arbeitsverhältnis anlegen würde, aber ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, wie lange es dauern würde, bis ich einen Praktikumsplatz und eine Wohnung gefunden und meine Eltern davon überzeugt hatte, dass ich mein Leben allein bewältigen konnte, also konnte sich die Sache durchaus länger hinziehen.

»Ich habe etwas, das man Parese nennt«, erklärte ich. Allmählich fühlte ich mich wie eine gesprungene Schallplatte, weil ich den ganzen Tag schon das Gleiche erzählte. »Meine linke Seite ist nicht normal belastbar, das bedeutet, dass ich bei manchen Dingen im Alltag Schwierigkeiten habe. Und ich fahre prinzipiell kein Auto. Aber auch das stand in der Anzeige, wenn ich mich nicht irre.«

»Schon klar«, erwiderte Paris leicht verwirrt. »Hab mich nur gewundert, weil du so normal aussiehst.«

»Vielen Dank.« Ich nahm einen kräftigen Schluck von meinem inzwischen lauwarmen Kaffee, faltete die Hände dann auf dem Tisch und sah Paris. »Es tut mir wirklich leid, Paris, aber ich denke nicht, dass das mit uns beiden funktioniert.«

»Warum nicht?«

Ich wand mich innerlich. »Weißt du, ich suche nicht einfach nur jemanden, der mir hilft«, versuchte ich zu erklären, genau wie ich es meinen Eltern vor zwei Wochen erklärt hatte. »Ich suche so etwas wie eine Freundin, verstehst du? Eine Art Mitbewohnerin, die mir ab und zu zur Hand geht. Ich bin kein Pflegefall.«

War ich wirklich nicht, auch wenn ich die meiste Zeit das Gefühl hatte, dass meine Eltern genau das über mich dachten. Seit dem Autounfall vor drei Jahren hatte ich eine halbseitige Lähmung, wenngleich auch keine schwere. Ich konnte selbstständig laufen, den linken Arm und das linke Bein scheinbar normal bewegen, doch für manche Dinge fehlte mir schlicht und ergreifend die Kraft. Ich fuhr nicht Auto, hatte Probleme, mich in einer U-Bahn aufrecht zu halten und konnte mir nicht allein die Schuhe zubinden. An schlechten Tagen schaffte ich es nicht einmal, einen Reißverschluss zu schließen oder mein Handy zu bedienen, was ziemlich schwierig ist, wenn man allein lebt. Aus diesem Grund wohnte ich noch bei meinen Eltern. Und das nervte mich. Immerhin war ich fast einundzwanzig Jahre alt. Ich hatte zugestimmt, bei ihnen zu bleiben, bis ich das College beendet hatte. Dieses Versprechen hatte ich gehalten, doch jetzt, da ich mit großen Schritten auf meinen Abschluss zuging, wurde ich unruhig. Ich wollte mein neues Leben planen und verdammt noch mal endlich richtig durchstarten. Nichts konnte mich aufhalten. Außer diese dämlichen Bewerbungsgespräche vielleicht. Denn genau das war der Deal: Mom und Dad ließen mich ohne Riesendrama ausziehen – vorausgesetzt, ich fand jemanden, der mir bei der Vorbereitung und in der ersten Zeit nach meinem Abschluss zur Hand ging.

Und das gestaltete sich offensichtlich schwieriger als gedacht.

»Wir könnten Freunde werden!«, sagte Paris und holte mich damit gedanklich wieder zu unserem Gespräch zurück. »Im Ernst, ich wäre ’ne super Freundin!«

Ich lächelte müde. Mir war klar, weshalb sie sich dermaßen ins Zeug legte. Offenbar war ihr gerade klar geworden, dass meine Eltern wirklich ziemlich gut bezahlten, wenn man bedachte, dass die Person, die den Job ergatterte, den Großteil der Arbeitszeit einfach nur anwesend sein musste.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte ich lächelnd, aber bestimmt. »Danke, dass du gekommen bist.«

Sie musterte mich noch einen Moment lang, als würde sie überlegen, welche Argumente sie noch anbringen konnte, um mich zu überzeugen. Wahrscheinlich deutete sie meinen Gesichtsausdruck richtig, denn schließlich gab sie auf und verschwand ohne ein weiteres Wort. Dass sie ihren Eistee nicht bezahlt hatte, störte sie dabei offensichtlich wenig.

Sobald sie verschwunden war, ließ ich mich stöhnend in meinem Stuhl zurücksinken. Mein Bein tat mir weh, weil ich es bereits seit Stunden nicht richtig bewegt hatte, und mir dröhnte der Kopf von dem Geräuschpegel und der stickigen Luft in dem kleinen Café. Acht Bewerber hatte ich hinter mir. Acht Bewerber, die allesamt absolut untauglich waren. Viele waren selbst noch Studenten und würden es zeitlich kaum einrichten können, mich zu einigen Kursen zu begleiten, manche waren sicher nur wegen des Geldes aufgetaucht, und andere waren mir einfach unsympathisch gewesen. Dabei hatte ich gar keine hohen Ansprüche. Ich forderte keine medizinische oder pflegerische Ausbildung, nicht einmal Erfahrung in diesem Bereich. Alles, was ich wollte, war ein nettes Mädchen in meinem Alter, das mir nicht das Gefühl vermittelte, ein Krüppel zu sein. Eine Freundin, mehr nicht. Allerdings bezahlte man Freunde normalerweise nicht dafür, Zeit mit einem zu verbringen.

»Langer Tag?«

Ich wandte mich um und entdeckte Jam, der mit einem Tablett auf der Hand neben mir aufgetaucht war und mit dem Kopf auf meine leere Kaffeetasse deutete. Jam war der Inhaber des Cafés. Ich schätzte ihn auf Mitte fünfzig, trotz des glatten Gesichts und der immer noch blonden Haare. Doch aus irgendeinem Grund strahlte er die Weisheit eines weitaus älteren Mannes aus. Ich kannte Jam seit ungefähr zwei Jahren, seit ich Stammgast in seinem Café in Uptown Manhattan war. Nach dem Unfall hatte es eine Weile gedauert, bis ich mich wieder unter Menschen getraut hatte, doch seitdem kam ich jede Woche hierher, um zu lernen oder am Laptop zu arbeiten. Oder um einfach ein bisschen der liebevollen Fürsorge meiner Eltern zu entfliehen.

»Ich verstehe Menschen nicht, Jam«, seufzte ich und reichte ihm meine leere Tasse. »Wirklich, manche von denen haben sicher nicht einmal die Stellenanzeige richtig gelesen.«

Er lachte tief und irgendwie rauchig. »Du bist viel zu pessimistisch für dein Alter, Kleine.«

Ich nahm die Bewerbungsbögen in die Hand und hielt sie hoch wie eine Waffe. »Acht Leute, Jam! Acht Leute, und keiner hat auch nur annähernd gepasst.«

Er besah sich den Stapel und zuckte die Schultern. »Wie viele sind noch übrig?«

»Nachdem wir diejenigen aussortiert haben, die schon auf dem Papier Idioten waren? Im Ernst, da war eine, die hat als Foto ein Bild von sich und ihren Freundinnen beim Spring Break geschickt. Inklusive Bikini und roten Bechern! Und dabei hatte ich nicht mal nach Fotos gefragt«, motzte ich und erntete ein Grinsen. »Zwölf waren danach noch übrig. Aber ich kann mir unmöglich noch vier Mal diesen Blödsinn anhören.«

Jam sah sich einen Moment in seinem Laden um und checkte die vier besetzten Tische, dann ließ er sich mit einem Schnaufen auf den Stuhl sinken, auf dem eben noch Paris gethront hatte. »Was ist los, Kleine?«

Wieder seufzte ich. Wenn ich so darüber nachdachte, hatte ich im Laufe des Tages ziemlich viel geseufzt, dabei war es noch nicht mal Abend. »Ich will diesen Job gar nicht vergeben, weißt du? Es ist unnötig. Ich bin doch kein Pflegefall!«

»Das behauptet auch niemand, June.«

Ich zog eine Augenbraue hoch. »Meine Eltern schon.«

Er schüttelte den Kopf. Jam kannte meine Geschichte und meine Situation, und irgendwie war er einer der wenigen, auf dessen Meinung ich tatsächlich etwas gab. »Das tun sie nicht, und das weißt du auch. Sie machen sich nur Sorgen um dich.«

»Das weiß ich«, sagte ich leise. »Aber ich will niemanden, der mich behandelt wie ein rohes Ei. Am liebsten würde ich einfach in eine WG ziehen. Da sind schließlich immer Leute, die mir helfen können, falls ich etwas brauche.«

»Und warum tust du es nicht?«

Ich lachte trocken. »Die Leute müssen wissen, worauf sie sich einlassen. Ich kann nicht einfach zu fremden Menschen ziehen und erwarten, dass sie mir die Schnürsenkel binden.«

Jam schenkte mir ein schiefes Lächeln. »Dann kauf dir Schuhe mit Klettverschluss.« Gegen meinen Willen musste ich tatsächlich lachen, doch Jam wurde schnell wieder ernst. Er bedeckte meine schwache linke Hand mit seiner riesigen Pranke und drückte meine Finger. »Ich hab das Gefühl, du weißt selbst nicht so richtig, was du willst.«

»Doch«, erwiderte ich ein bisschen patzig. »Dass man mich in Ruhe lässt.«

»Sie sind deine Eltern«, erinnerte er mich überflüssigerweise. »Sie haben Angst um dich, Mädchen. Sie wollen nicht noch eine Tochter verlieren, und du bist ihnen ein bisschen Nachsicht schuldig, finde ich. Besorg dir diesen Alltagshelfer, mach deinen Abschluss und beiß die Zähne zusammen, bis sie sich daran gewöhnt haben, dass du jetzt ein großes Mädchen bist. Danach kannst du tun und lassen was du willst.«

»Dein Wort in Gottes Gehörgang«, murmelte ich und rang mir ein Lächeln ab, als Jam aufstand und mir die Schulter drückte.

Als er weg war, griff ich nach dem Handy und öffnete meine Nachrichten. Ich war nicht gut im Tippen, weil meine linke Hand meistens nicht mitspielte und ich mit nur einer Hand ziemlich langsam war. Doch bevor ich auch nur ein Wort ausschreiben konnte, klingelte das Telefon, und ich zuckte zusammen.

»Hey, Mom«, sagte ich in betont fröhlichem Ton und strich mit der freien Hand über meinen schmerzenden Oberschenkel. »Ich wollte dir gerade schreiben.«

»Ich weiß«, erwiderte sie, »ich habe gesehen, dass du online bist.«

Nur mit Mühe konnte ich eine patzige Antwort unterdrücken. Ich liebte meine Mom wirklich, aber die Vorstellung, dass sie auf ihr Handy starrte und wartete, dass ich online kam, machte mich genauso wütend wie meine erfolglose Suche nach einem brauchbaren Alltagshelfer.

»Wie ist es gelaufen?«

»Geht so«, murmelte ich und blätterte die Liste der Bewerber durch. »Viele waren nur wegen der guten Bezahlung da, schätze ich, und manche studieren selbst noch.«

Ein paar Sekunden lang blieb es still, dann hörte ich, wie sie geräuschvoll ausatmete. »Dad und ich haben das schon befürchtet. Vielleicht war das doch keine so gute Idee …«

»Was?«, fragte ich und saß auf einmal kerzengerade auf meinem Stuhl. »Macht keinen Rückzieher, Mom, wir haben einen Deal!«

»Der Deal war, dass wir dir Freiraum geben, wenn du jemanden findest, June. Aber im Moment sieht es nicht danach aus, dass …«

»Ich brauche eure Erlaubnis nicht«, erinnerte ich sie leicht panisch. »Ich bin zwanzig, Mom, und wenn ich ausziehen will, dann tu ich das auch!«

Meine Antwort war um einiges barscher ausgefallen als beabsichtigt. Ich hörte, wie meine Mutter kurz Atem holte, und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Klar, ich war volljährig, und genau genommen hatten meine Eltern keinerlei Macht über mich. Doch ich liebte die beiden und wusste zu schätzen, was sie in den vergangenen drei Jahren für mich getan hatten. Mir war durchaus klar, was sie durchzustehen hatten. Ich wollte ihnen keinen Kummer machen, wollte nicht, dass sie sich Sorgen machten.

»Entschuldige, Mom«, sagte ich leise. »Wirklich, es war einfach ein langer Tag.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie antwortete. »Lass uns zu Hause weiterreden, ja? Vielleicht finden wir ja eine andere Lösung.«

Wieder wallte leichte Panik in mir auf. Dieser Deal war hart erkämpft, und ich würde nicht zulassen, dass sie einen Rückzieher machten, nur weil ich zu pingelig bei der Auswahl war. »Ich habe jemanden!«, sagte ich kurz entschlossen, zog auf gut Glück einen Bewerberbogen aus dem Stapel der Leute, die ich noch nicht persönlich kennengelernt hatte, und legte ihn vor mir auf den Tisch. »Ich nehme Sam. Weißt du noch, mit dem Hund? Das wird super!«

Ich war nicht wirklich gut im Lügen, deswegen wunderte es mich nicht, dass Mom misstrauisch klang. »Ich dachte, es wäre nicht gut gelaufen?«

»Ist es auch nicht«, entgegnete ich betont fröhlich. »Die anderen Bewerber waren für die Tonne, aber Sam passt zu mir, Mom.«

Jam ging an mir vorbei und warf mir einen fragenden Blick zu. Ich lächelte nur.

»Bist du sicher?«

»Klar, Mom«, sagte ich und betete zu Gott, dass das stimmte.

Am nächsten Tag verabredete ich mich mit Sam. Im Gegensatz zu meinen Eltern hatte ich ihr noch nicht versichert, dass sie den Job bekam, sondern sie lediglich zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Allerdings hatte mein Dad bereits den Vertrag aufgesetzt, weshalb dieses Gespräch unbedingt gut laufen musste. Ansonsten würde ich mir schleunigst eine andere Sam suchen oder jemanden dafür bezahlen, sich für Sam auszugeben. Denn wenn meine Eltern Wind davon bekamen, wie schlecht die Umsetzung des Plans lief, würden sie garantiert einen Rückzieher machen.

Dieses Mal ging ich nicht in Jams Café, weil ich mich dort gestern ein bisschen beobachtet gefühlt hatte. Stattdessen hatte ich ein Treffen im Central Park vorgeschlagen. Für September war es noch recht warm, und mein Bein machte nach der langen Sitzerei am Vortag Probleme, sodass mir ein bisschen Bewegung ganz guttun würde. Außerdem fand ich es irgendwie sinnvoll, Sam direkt zu demonstrieren, auf was sie sich da einließ. Die Physiotherapie zeigte zwar Wirkung, doch die Gangstörung konnte ich nie ganz kaschieren. Ich versuchte, mich nicht dafür zu schämen, doch ich konnte auch nicht bestreiten, dass mir die Blicke anderer Leute manchmal unangenehm waren.

Ich war ein bisschen früh dran und schlenderte durch den Park zur Bow Bridge. Ich mochte den Central Park, doch meistens war er mir deutlich zu überfüllt. Jetzt, unter der Woche und am Vormittag, war es erträglich, und ich ließ mir die mehr oder weniger warme Sonne ins Gesicht scheinen. Die ersten Blätter verfärbten sich bereits orange und verwandelten den See und die Brücke in die malerische Kulisse, die man oft auf Postkarten bewundern konnte. Das hier mochte ich an New York. Ich befand mich in einer der aufregendsten Städte der Welt, aber in dieser Oase mittendrin – auch wenn man den Lärm und die einen umrahmenden Wolkenkratzer nie ganz ausblenden konnte – war es wirklich friedlich. Im Herbst würde es umwerfend sein, und im Winter konnte man auf dem Wollman Rink Schlittschuh laufen. Auch wenn ich das seit meinem Unfall nicht mehr gemacht hatte, war ich optimistisch, dass ich mich diesen Winter trauen würde. Es konnte immerhin nicht mehr passieren, als dass ich auf dem Hintern landete.

Fünf Minuten zu früh erreichte ich die Bow Bridge, stellte mich mitten darauf und lehnte mich gegen das Geländer. Ich machte mir keine Sorgen, dass Sam mich übersehen würde, zu dieser Uhrzeit waren lediglich vereinzelte Jogger, Touristen oder Pärchen unterwegs. Ich stützte mich mit den Unterarmen auf die Brüstung und sah hinab aufs Wasser, das sich leicht im Wind kräuselte. Dieser See mit dem wahnsinnig kreativen Namen The Lake hatte mich als Kind sehr fasziniert. Mein Dad hatte Tara und mir erzählt, dass darin Kobolde lebten, an die man Wegezoll zahlen musste, wenn man die Brücke überqueren wollte. Zahlten wir nicht, würden sie uns folgen und unsere Haarspangen oder Ohrringe klauen. Diese Vorstellung hatte uns sehr fasziniert, aber ich musste auch zugeben, dass ich echt Schiss vor den kleinen imaginären Biestern gehabt hatte. Auch wenn wir jedes Mal brav einen Keks oder einen Penny auf die Brüstung gelegt hatten, hatte ich bei jedem Schritt überprüft, ob alle Klammern noch an Ort und Stelle waren.

Ich lächelte bei der Erinnerung, auch wenn ich einen leichten Stich in der Brust verspürte. So war es immer, selbst nach drei Jahren noch. Die schönsten Bilder in meinem Kopf hatten einen grauen Schleier, als wären sie nicht richtig entwickelt worden. Als würde ein Teil fehlen, weil ich die Einzige war, die sich daran erinnerte. Tara konnte es nicht mehr.

Mit einem leisen Seufzen schob ich die Hand in die Tasche. Ich hatte zwar nur Hustenbonbons dabei, aber ich war sicher, dass die Kobolde es durchgehen lassen würden. Entschlossen legte ich zwei Bonbons neben mir auf die Steinmauer. Eines für mich, eines für Tara.

»Bist du June?«

Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Ich war so in Gedanken gewesen, dass ich meine Verabredung total vergessen hatte. Und Sam wohl auch, wie es aussah, denn neben mir stand ein hochgewachsener blonder Kerl und sah erwartungsvoll auf mich runter. Und ja, er sah buchstäblich auf mich runter. Er musste an die einsneunzig sein, was bei meinen einsdreiundsechzig schon einen gewaltigen Größenunterschied darstellte.

Seufzend hob ich die Hand. »Schickt sie dich, um mir abzusagen?«

Der Typ runzelte die Stirn und musterte mich, er wirkte nachdenklich. Ich musste mich zusammenreißen, um seinem Blick nicht zu folgen und zu überprüfen, ob mein Hosenstall offenstand oder etwas in der Art.

»Wer soll mich geschickt haben?«, fragte er schließlich. Er hatte eine dunkle und durchaus freundliche Stimme.

»Sam«, sagte ich langsam. »Ich war mit ihr hier verabredet. Wegen des Jobs.«

Er sah mich ein paar weitere Sekunden lang an, dann verzog sich sein Gesicht zu einem Grinsen. Und, holla, was für ein Grinsen das war. Auch mit ernster Miene sah der Kerl schon gut aus: groß, breite Schultern, dunkelblondes Haar, markante Züge. Doch wenn er nicht so ernst dreinblickte, war er wirklich ein Schnuckelchen. Er hätte locker auf der Titelseite irgendeines Männermagazins posieren können.

Er streckte mir eine große Hand entgegen, die ich misstrauisch schüttelte. »Ich glaube, ich hab mich nicht vorgestellt. Ich bin Sam.«

Ich blinzelte ein paar Mal zu ihm hoch. »Bitte was?«

»Wir waren verabredet.«

»Nein.«

Er lachte leise und nickte. »Ich fürchte doch.«

Oh Gott.

2

Das musste ein schlechter Scherz sein. In der Stellenanzeige hatte eindeutig gestanden, dass ausschließlich weibliche Bewerberinnen gesucht wurden. Und dieser Kerl war eindeutig nicht weiblich.

»Tut mir leid, aber das kann nicht sein«, sagte ich mit fester Stimme und deutete mit der Hand auf ihn. »Du bist nicht die Sam, mit der ich geschrieben habe.«

Einer seiner Mundwinkel hob sich amüsiert. »Und warum nicht?«

»Weil in der Anzeige eindeutig stand, dass ich eine Frau suche«, erklärte ich. »Und Sam Smileys benutzt hat.« Dieser Kerl sah nicht aus, als würde er Smileys benutzen.

Innerlich gratulierte ich mir selbst zu diesem schlagenden Argument, doch der Typ schien nicht sonderlich beeindruckt. »In der Anzeige stand nichts dergleichen. Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich bin Sam. Samuel, wenn du es genau wissen willst.«

»Was?«, schrie ich beinahe, während mir immer rascher das Blut ins Gesicht stieg. »Natürlich stand es drin! Ich würde niemals …«

Er unterbrach mich, indem er mir sein Smartphone unter die Nase hielt. Dort stand meine Anzeige, schwarz auf weiß. Und der Titel lautete »Alltagshelfer (m/w) gesucht«.

»Ich bin mir sicher, dass ich es anders eingestellt habe!«, rief ich und griff nach dem Handy, doch er entwand es mir und tippte erneut darauf herum. Das war eindeutig unser Chatverlauf. Die Nachrichten, die ich mit der vermeintlichen Sam gewechselt hatte.

Verdammt, verdammt, verdammt. Mir klappte der Mund auf, und ich zog mein eigenes Handy hervor, doch natürlich handelte es sich um denselben Chat. Wie hatte mir ein derartiger Fehler unterlaufen können? Und warum zum Teufel hatte ich mit Sam nicht telefoniert? Weil ich Telefonieren hasste und es mich nervös machte, schon klar, doch im Moment hätte ich mich wirklich dafür schlagen können.

»Tja«, sagte ich. Die Situation überforderte mich völlig. »Das ist ja jetzt unangenehm.«

»Sehe ich auch so.«

Ich sah auf und bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. »Warum hast du dich überhaupt beworben?« Selbst wenn ich es nicht ausdrücklich in die Anzeige geschrieben hatte, hätte er zwischen den Zeilen lesen müssen, dass ich eine Frau für diesen Job suchte und keinen jungen Typen.

»Weil die Anforderungen gepasst haben«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, die danach ein bisschen lächerlich in alle Himmelsrichtungen abstanden. »Ein Kumpel hat mir die Anzeige geschickt. Trip Young, ich glaube, du kennst ihn.«

Ja, ich kannte Trip, wenn auch nur flüchtig. Meine Tante arbeitete in der Beratungsstelle seiner Familie. Allerdings verstand ich nicht, warum Trip meine Stellenanzeige an irgendwelche absurd großen, grotesk gut aussehenden Typen weiterleiten sollte. »Tut mir echt leid, dass du den ganzen Weg gekommen bist und so weiter, aber das wird nichts«, sagte ich bestimmt.

»Ich habe keine falschen Angaben gemacht«, sagte er, immer noch mit diesem schiefen Grinsen. »Ich habe nicht behauptet, eine Frau zu sein. Und ich heiße wirklich Sam. Ich wollte dich nicht täuschen, ich habe einfach nicht dran gedacht, dass der Name irreführend sein könnte. Dass du falsche Schlüsse gezogen hast, ist nicht meine Schuld.«

Ich öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder. Hastig versuchte ich meine Gedanken zu ordnen und die Sache irgendwie mit Vernunft anzugehen. »Ist dir eigentlich klar, was du tun musst, falls du diesen Job bekommst?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe die Anzeige gelesen, June. Und ich bin mir sicher, dass du mir den Rest erklären wirst«, sagte er zuversichtlich.

Missmutig musterte ich ihn und überlegte, wie ich aus der Situation wieder herauskommen sollte. Denn ich wollte ihn eindeutig nicht als Alltags- oder Collegehelfer. Es war mir ohnehin schon unangenehm genug, mir von einem völlig fremden Menschen beim Schuhebinden helfen lassen oder ihn durch meine Kurse schleifen zu müssen. Das auch noch von einem durchaus schnuckeligen Typen zu verlangen, war undenkbar.

Allerdings wusste ich nicht, ob ich überhaupt eine Wahl hatte. Schließlich hatte ich meinen Eltern großspurig erzählt, dass ich jemanden gefunden hatte. Wenn ich jetzt einen Rückzieher machte, stellten sie sich womöglich wieder quer. Und das wollte ich beinahe noch weniger, als mir von diesem Sam beim Pinkeln helfen zu lassen.

Hatte ich meiner Mom gegenüber eindeutig erwähnt, dass Sam ein Mädchen sei? Falls ja, war ich ohnehin aufgeflogen. Ich versuchte mir unsere Gespräche gestern am Telefon und dann zu Hause in Erinnerung zu rufen, doch ich war mir nicht sicher. Egal, ich musste es riskieren.

Ich atmete einmal tief durch und hob den Blick zu Sam. »Warum hast du dich überhaupt beworben?«, fragte ich, in der Hoffnung, irgendein Gefühl für den Kerl zu bekommen. »Ich meine, das ist nicht gerade der typische Sommerjob, oder?«

Er zuckte mit den Schultern, wirkte weder peinlich berührt noch verlegen. Der Kerl strahlte eine Selbstsicherheit aus, um die ich ihn ein wenig beneidete. Viele Menschen, die selbstsicher rüberkommen wollten, wirkten arrogant. Sam nicht.

»Wie gesagt, Trip hat mich drauf gebracht«, erklärte er lächelnd, stellte sich neben mich und lehnte sich mit dem Hintern gegen die Mauer. »Ich will ehrlich sein, die Bezahlung ist der Wahnsinn. Weißt du eigentlich, dass du dich damit weit überm Durchschnittslohn befindest?«

Jetzt war es an mir, mit den Schultern zu zucken. Das Geld interessierte mich wenig, damit hatte ich nichts zu tun; das war Sache meiner Eltern.

Er lächelte mich an. »Ich kann gut mit Menschen, und normalerweise können Menschen auch ganz gut mit mir. Ich bin mir sicher, wenn du dich entspannst, sind wir beide ein tolles Team.«

»Das klingt ja ganz nett und so weiter«, sagte ich und lehnte mich neben ihm an die Brüstung. Dass mein Kopf dabei kaum bis auf seine Schulterhöhe heranreichte, registrierte ich durchaus. »Aber ich will kein Team. Ich will unabhängig sein. Das ist der einzige Grund, warum ich diese Anzeige geschaltet habe.«

Das Stirnrunzeln kehrte zurück. »Verstehe ich nicht.«

»Ist auch nicht wichtig«, seufzte ich und schüttelte den Kopf. Dann sah ich ihn an, wobei ich mich ziemlich strecken musste, und kniff die Augen ein wenig gegen das grelle Sonnenlicht zusammen. »Und du bist dir sicher, dass du Bock darauf hast? Du musst mit mir zum College, und wenn ich shoppen gehen will, musst du mich begleiten, wenn ich das will. Du bist quasi mein persönlicher Sklave!«

Er lachte so laut, dass ich ein wenig zusammenzuckte. Trotzdem musste ich zugeben, dass es ein angenehmes Lachen war. Warm und voll und irgendwie ehrlich. »So leicht lasse ich mich nicht abschrecken, keine Sorge.«

»Im Ernst«, sagte ich nachdrücklich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Jemanden, der nach einer Woche das Handtuch schmeißt, kann ich nicht gebrauchen. Dann suche ich mir lieber gleich jemanden, der es ernst meint.«

»Die Bewerbung war mein voller Erst«, sagte er ruhig und erwiderte meinen Blick. »Ein wenig Vertrauen wäre gar keine schlechte Basis für uns beide, meinst du nicht?«

Pfft. Mein Vertrauen musste er sich erst einmal verdienen.

»Okay«, sagte ich schließlich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir machen einen Probearbeitstag. Wenn du dich vernünftig anstellst, bekommst du den Job.«

Eine seiner Augenbrauen wanderte in die Höhe. »Dir ist aber schon klar, dass dein Dad mir den Entwurf für den Vertrag bereits geschickt hat, oder?«

»Ich entscheide, wer eingestellt wird«, sagte ich mit so viel Selbstbewusstsein in der Stimme, wie ich aufbringen konnte. »Also wirst du mich überzeugen müssen, Sam.«

Sein Grinsen wurde eine Spur breiter, als würde er sich auf diese Herausforderung freuen. Allerdings bezweifelte ich, dass ihm klar war, was tatsächlich auf ihn zukam. Meine Eltern bezahlten gut für diesen Job, er sollte ihn sich also verdienen.

»Ich werde dich überzeugen, June«, sagte er und hob die Hand für ein High-Five. »Du wirst mich nicht mehr gehen lassen wollen.«

Ich verdrehte die Augen und klatschte halbherzig ab. »Ich glaube, das ist eine Szene aus Pretty Woman«, sagte ich. »Und ich bin der reiche Kerl, der dich aus der Gosse holt.« Er lachte, aber ich stimmte nicht mit ein. »Ich weiß, dass du den Job wegen des Geldes machst.«

Sein Lachen erstarb, zu meiner Enttäuschung wirkte er aber weder peinlich berührt noch ertappt. Stattdessen richtete er sich ein wenig weiter auf, sodass er mich noch mehr überragte als ohnehin schon. »Ich kenne dich nicht, June, also werde ich es nicht um deinetwillen tun. Ich kann das Geld gut gebrauchen. Das bedeutet aber nicht, dass ich meine Arbeit nicht vernünftig machen werde. Okay?«

Ich sah ihn noch ein paar Sekunden an, doch in seinem Gesicht war nichts als Entschlossenheit zu erkennen. »Okay. Dann sind wir uns einig.«

SAM

»Trip!«, rief ich, als die Haustür hinter mir ins Schloss fiel und ich meine Turnschuhe abstreifte.

»Was?«, schrie er zurück.

Ich folgte seiner Stimme ins Wohnzimmer, wo er mit Lexie auf der Couch lag. Immerhin waren die beiden angezogen. Vor zwei Wochen war ich früher als gewöhnlich nach Hause gekommen und hätte, wenn ich auch nur zwei Minuten später aufgetaucht wäre, die beiden locker in flagranti erwischt. Lexie war heiß und inzwischen quasi Bestandteil dieser WG, und Trip war mein bester Freund – trotzdem gab es Dinge, die ich einfach nicht sehen wollte.

»Hey, Lexie«, sagte ich und ließ mich auf den Sessel den beiden gegenüber fallen. Ja, ich kam mir vor wie das fünfte Rad am Wagen, aber ehrlich gesagt war ich das mittlerweile gewohnt. Seit die beiden es auf die Reihe bekommen und eine Beziehung angefangen hatten, hing Lexie ständig hier ab.

Sie grinste und wackelte mit den Augenbrauen. »Na, wie war’s?«

Ich runzelte die Stirn. »Ich hab keine Ahnung.«

Trip tätschelte Lexie den Hintern, und sie rückte ein wenig von ihm ab, damit er sich einigermaßen gerade hinsetzen konnte. »Hast du es versaut, Mann? Das wäre peinlich.«

»Für wen?«, fragte ich genervt. »Für dich oder für mich?«

»Ich hab Molly gesagt, dass du ein guter Kerl und perfekt für den Job bist.«

»Kennst du diese June überhaupt?«, fragte ich.

Er zuckte mit den Schultern. »Wir sind uns ein paar Mal begegnet. Sie ist nett. Wie kann man das denn in den Sand setzen?«

»Habe ich doch gar nicht«, sagte ich energisch. »Warum geht ihr eigentlich automatisch davon aus?«

»Weil du nicht so wirkst, als hättest du gerade die Anstellung deines Lebens ergattert.« Lexie zeigte mit einem manikürten Finger auf mich. »Hast du vergessen, was ihre Eltern dir monatlich zahlen wollen?«

»Glaub mir, das ist der einzige Grund, warum ich das mache«, grummelte ich und ließ mich ächzend in den Sessel sinken. »Ich war nur nicht so richtig das, was Miss Bishop erwartet hat, befürchte ich.«

Trip musterte mich stirnrunzelnd. »Wie meinst du das?«

»Sie dachte, ich bin eine Frau.«

Lexie lachte schallend. »Warum das?«

Ich schüttelte missmutig den Kopf. »Hab nur ›Sam‹ in meine Bewerbung geschrieben. Ich hab nicht dran gedacht, dass sie das missverstehen könnte.«

»Du Trottel!« Sie lachte. »Wie hat sie reagiert?«

»War nicht begeistert.«

Trip wirkte nicht annähernd so amüsiert wie Lexie, was ich ihm nicht verdenken konnte. Er hatte mit Molly gesprochen und ein gutes Wort für mich eingelegt. Molly arbeitete in der Beratungsstelle seiner Eltern und war Junes Tante, deshalb hatte Trip von der freien Stelle erfahren. Und er hatte direkt an mich gedacht.

Trip war einer der wenigen Menschen auf dieser Welt, die über meine Situation Bescheid wussten.

»Keine Sorge«, sagte ich ihm, auch wenn ich ihn nicht direkt ansah. »Ich habe morgen einen Probearbeitstag. Das schaffe ich schon.«

»Will ich dir auch geraten haben«, maulte er. »Du kennst Molly nicht. Die will man wirklich nicht wütend machen. Und sie beschützt ihre kleine Nichte wie ein Pitbull.«

»Ihre kleine Nichte braucht keinen Pitbull«, bemerkte ich aus voller Überzeugung. »Sie hat mich richtig langgemacht, dabei ist sie nur fünfzig Zentimeter groß oder so.«

»Bring sie mal mit!«, rief Lexie begeistert. »Wenn sie schon den ganzen Tag mit dir verbringen muss, kann sie dabei auch ein bisschen Spaß haben!«

Energisch schüttelte ich den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ihr so etwas Spaß machen würde.«

Ihr Lachen erstarb, und ein Funkeln trat in ihre Augen, das mir ein bisschen Angst machte. »Was soll das denn heißen? Ich bin lustig!«

Ich hob die Hände. »Ich habe auch nichts anderes behauptet. Ich glaube nur, dass du ein bisschen zu … zu …«

»Ja?«

»Überleg dir gut, was du sagst, Mann«, sagte Trip, der jetzt deutlich amüsierter wirkte als noch vor ein paar Minuten. Schön für ihn.

»Du bist vielleicht ein bisschen zu laut für sie, verstehst du?«, versuchte ich die Situation zu retten, stand aber vorsichtshalber langsam aus dem Sessel auf. »Sie ist mehr so der trockene Typ, hab ich den Eindruck.«

»Zu laut?«, wiederholte Lexie, richtete sich ein Stück auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin absolut liebenswert, und ich habe ein Händchen für Menschen, Sam! Ich habe euch alle um den kleinen Finger gewickelt, ohne dass ihr es überhaupt gemerkt habt.«

»Klar«, sagte ich hastig, biss mir auf die Lippen und bewegte mich möglichst unauffällig ein Stück in Richtung meines Zimmers. »Ich werde sie fragen, in Ordnung?«

Sie sah mich aus zusammengekniffenen Augen an, wirkte aber nicht zufrieden. »Erzähl ihr einfach, wie großartig wir sind!«

Ich drehte mich um und verließ das Wohnzimmer, bevor sich Lexie weiter in ihre Idee reinsteigern konnte. Denn nein, ich würde June sicher nicht fragen. Ich wusste nicht recht, was ich nach unserer ersten Begegnung von ihr halten sollte. Wir spielten definitiv nicht in derselben Liga, trotzdem hatte dieses Mädchen irgendetwas an sich, was mich neugierig machte. Vielleicht war es auch nur ihre Geschichte, die mich interessierte, ich konnte es nicht genau benennen. So oder so fiel mir aber die Vorstellung schwer, wir könnten uns eines Tages anfreunden. Sie hatte einen Stock im Arsch, so viel war sicher. Und ihre Familie hatte vermutlich mehr Geld, als ich jemals hätte ausgeben können. Ich lebte mit Sicherheit nicht an der Armutsgrenze, aber für das, was ich mir für mein Leben vorstellte, reichte es nicht mal annähernd.

Und vor allem nicht für das Leben meines Stiefbruders, an dem mir wesentlich mehr lag als an meinen eigenen Plänen.

Doch die Situation würde sich hoffentlich bald ändern. Auf ein Jahr war dieser Job begrenzt. Ein Jahr lang würde ich mehr verdienen als jemals zuvor. Ich musste June lediglich beweisen, dass ich perfekt für diesen Posten war.

Ein Kinderspiel.

3

Ich nahm mir ein Taxi nach Hause. Das Treffen mit Sam hatte mich ausgelaugt, und ich war nicht sicher, ob ich die holprige U-Bahn-Fahrt heil überstanden hätte. Dank dem Geld meiner Eltern stand mir zu jeder Tages- und Nachtzeit ein Fahrer zur Verfügung, doch ich nahm seine Dienste nur selten in Anspruch. Auch wenn ich eigentlich wusste, dass ein eigener Chauffeur eher ein Zeichen für Reichtum war als für Schwäche, erinnerte es mich immer wieder daran, warum ich selbst nicht Auto fuhr. Und das passte mir nicht, also griff ich lieber auf ein Taxi zurück. Das fühlte sich normaler an. Wenn ich auf die Dienste des Chauffeurs zurückgriff, war mir hingegen immer zumute, als wäre ich ein körperliches Wrack, das nicht für sich selbst sorgen konnte.

Wir hielten vor unserem Haus in Uptown Manhattan. Es war groß und herrschaftlich und kam mir immer ziemlich protzig vor. Früher hatten wir in einer richtigen Villa abseits des New Yorker Trubels gewohnt, doch vor zwei Jahren waren wir in diesen Stadt-Palast gezogen, damit die Wege kürzer und nicht mehr so umständlich für mich waren. Das jedenfalls war der Grund, den meine Eltern mir auftischten. Die Wahrheit sah anders aus: Das Haus in Whitestone hatte uns alle ständig an meine Schwester erinnert. Jedes Mal, wenn einer von uns an dem leeren Zimmer vorbeigegangen war, hatte es uns ein kleines Stückchen weiter in den Abgrund gezogen, obwohl wir uns mit aller Kraft zurück in ein annähernd unbeschwertes Leben zu kämpfen versuchten.

Dieses Haus, das neue Haus, war frei von Erinnerungen. Es umfasste drei Stockwerke und reihte sich perfekt in die umliegenden Bauten ein. Dunkle Backsteinfassade, weiße Fensterläden und ein hoher schmiedeeiserner Zaun, der neugierige Touristen vom Anwesen fernhielt. Ich mochte das Haus nicht besonders. Es war zu groß und zu leer für drei Leute. Auch wenn sich meine Mom durchaus Mühe gegeben hatte, es in ein gemütliches Zuhause zu verwandeln, fühlte ich mich nicht wohl. Was unter anderem ein Grund dafür war, dass ich es kaum erwarten konnte, in meine eigene Wohnung zu ziehen. Endlich auf eigenen Beinen stehen, einen Job finden und mich mit meinem Leben arrangieren. Und auch wenn meine Eltern das Gegenteil behaupteten, war ich sicher, dass es ihnen besser gehen würde, wenn wir nicht mehr unter einem Dach lebten. Ich liebte meine Eltern, und sie liebten mich, doch ich wollte sie nicht länger belasten. Sich um mich zu kümmern und sich Sorgen um mich zu machen, wann immer ich das Haus verließ und allein die große, gefährliche Welt betrat, kostete sie viel Kraft. Am Anfang würde es vielleicht schwer für sie sein, doch wenn sie sich erst einmal daran gewöhnt hatten, mich nicht ständig um sich zu haben, würden sie sich entspannen.

Meine Mom öffnete die Haustür, bevor ich auch nur aus dem Taxi gestiegen war. Sie war eine hübsche, schlanke Frau, ziemlich groß – im Gegensatz zu mir –, und sie hatte die gleichen tiefbraunen Haare wie ich, auch wenn sie einen Kurzhaarschnitt trug. Mein eigenes Haar war lang und wellig und fiel mir meist offen über den Rücken.

»Wie ist es gelaufen?«, fragte sie, sobald ich den Fahrer bezahlt hatte und die vier Stufen zur Haustür hinaufging.

Ich lächelte überzeugend. »Morgen machen wir einen Probelauf.«

Die Augen meiner Mutter leuchteten vor Aufregung. »Wann?«

»Wenn ihr nicht da seid«, sagte ich bestimmt und schob mich an ihr vorbei in die Diele. Wie alles in diesem Haus war dieser Raum riesig, mit glänzendem Parkettboden und hohen Stuckdecken. »Im Ernst, Mom, ich brauche keinen Babysitter. Genau dafür haben wir doch jemanden gesucht, erinnerst du dich?«

»Das meinte ich doch gar nicht«, erwiderte sie leicht beleidigt. »Aber dein Dad und ich würden sie gern mal kennenlernen.«

»Tut ihr auch«, wich ich aus und biss mir auf die Lippen. Es war vermutlich besser, ihnen vorerst noch nichts von der Kleinigkeit zu erzählen, dass Sam nicht das freundliche Mädchen von nebenan war, das wir uns vorgestellt hatten. Zwar war es eigentlich meine Entscheidung, aber es würde ihnen mit Sicherheit nicht gefallen. Und unser Deal war noch zu zart, um dermaßen auf die Probe gestellt zu werden. »Lass uns erst mal sehen, wie wir miteinander klarkommen, okay? Dann können wir eine große Familienzusammenführung machen, versprochen.«

Mom wirkte nicht gerade überzeugt, aber zu meiner Erleichterung ließ sie es gut sein. Vielleicht hatte sie genau wie ich keine Lust, sich zu streiten. Seit ich den beiden vor ein paar Monaten eröffnet hatte, dass ich ausziehen wollte, war die Stimmung im Haus angespannt. Vor allem, seit sie hatten einsehen müssen, dass ich mich nicht umstimmen ließ.

Ich war bald mit dem College fertig, ich war erwachsen. Ich konnte nicht für immer bei meinen Eltern wohnen und wollte es auch gar nicht.

»Ist Dad schon zu Hause?«, fragte ich, stieg aus meinen Stiefeln und kickte sie in die Ecke, wofür ich ein Augenrollen von meiner Mutter kassierte.

»Er ist im Esszimmer«, antwortete sie, während sie meine Schuhe zurechtrückte. »Wir können gleich essen.«

Ich folgte ihr durch einen Salon, dessen Daseinsberechtigung sich mir noch nicht wirklich erschlossen hatte, durch das Wohnzimmer und dann ins Esszimmer, das von einem riesigen Tisch dominiert wurde. Daran fanden locker zwanzig Leute Platz, was auch notwendig war, denn meine Mom organisierte gern Dinnerpartys. Auch wenn die Veranstaltungen im Hause Bishop in den letzten Jahren seltener geworden waren, verging kaum ein Monat, in dem meine Mom nicht zu einer Party einlud. Und auch wenn ich auf solche Großereignisse gern verzichtet hätte, liebte ich den Tatendrang meiner Mom. Ich hatte das Gefühl, dass sie niemals untätig herumsaß. Sie arbeitete nebenbei als Immobilienmaklerin, obwohl sie es eigentlich nicht nötig hatte. Meine Mom und mein Dad stammten beide aus guten Familien und hatten bereits einen Haufen Geld mit in die Ehe gebracht. Mein Dad war ein gefragter Professor für Mathematik, und sein Gehaltsscheck fiel deutlich höher aus als der normaler Professoren. Doch meine Mom hielt es einfach nicht aus, nichts zu tun zu haben. Trotz des Personals kochte sie, backte und organisierte ständig irgendwelche Feste – nicht alle fanden tatsächlich statt, aber irgendein Projekt hatte sie immer am Wickel.

Mein Dad saß am Kopfende der Tafel und tippte auf seinem Tablet herum, als Mom und ich das Zimmer betraten. Im Gegensatz zu meiner Mutter war er bereits ergraut, aber ich fand, es stand ihm. Er trug seine Lesebrille und ein T-Shirt mit dem New-York-Yankees-Logo und wirkte damit so gar nicht wie ein Mathe-Nerd.

»Morgen kommt Junes Alltagshelferin«, verkündete Mom, während sie zum Tisch hinüberging und mir einen Stuhl zurückzog. Das konnte ich durchaus selbst tun, doch so waren meine Eltern eben.

Dad sah auf und grinste. »Was soll sie machen? Deine Wäsche waschen?«

»Es ist gut, dass sie zuerst hierherkommt, Stephan«, sagte Mom streng und setzte sich neben mich. »Sie müssen sich kennenlernen.«

Ich sah meinen Dad an und legte nachdenklich den Kopf schief. »Das mit dem Wäschewaschen ist eigentlich keine schlechte Idee. Immerhin soll sie so eine Art Allround-Kraft sein, oder?«

Mein Vater lachte, während Mom genervt seufzte. So war das immer. Auch mein Dad machte sich Sorgen und hätte mich am liebsten in Watte gepackt, doch er lebte sein ganzes Leben mit einem Augenzwinkern. Schon immer hatte ich mich ständig mit ihm gegen meine Mutter verbündet, und ich wusste, dass es auch jetzt so sein würde. Wäre es nach ihm gegangen, hätte ich schon längst ausziehen können – und zwar ganz ohne Theater.

Wir begannen zu essen, während Mom uns von ihrem Tag erzählte und mich noch ein bisschen über das Treffen mit Sam ausfragte. Ich versuchte, die Antworten so unverfänglich wie möglich zu halten, wusste aber, dass ich mich ziemlich tief in die Scheiße ritt. Wenn herauskam, dass Sam ein ziemlich niedlicher Kerl in den Zwanzigern war, würde es Ärger geben. Doch dann war es hoffentlich schon zu spät, um ihm noch zu kündigen. Wobei abzuwarten blieb, ob Sam tatsächlich so eine hervorragende Arbeitskraft war, wie er selbst von sich behauptete.

»Was wollt ihr morgen zusammen machen?«, fragte mein Dad, nachdem Mom lang und breit von dem Haus erzählt hatte, das sie in Downtown verkauft hatte.

Ich zuckte mit den Schultern und nahm die Gabel in die rechte Hand, weil die linke zu zittern begonnen hatte. »Ich weiß es noch nicht genau. Vielleicht einkaufen gehen oder so, damit wir nicht nur rumsitzen und es peinlich wird. Uni-Kurse habe ich ja erst nächste Woche wieder.«

»Nächsten Samstag kommen die Jeffersons«, rief Mom und strahlte mich an. »Du könntest Sam einladen. Dann lernen wir sie kennen, und sie kann dir beim Zurechtmachen helfen. Du hasst es doch, wenn ich das mache.«

Stimmt, das tat ich. Allerdings hatte ihr Vorschlag genau zwei Haken: Erstens bezweifelte ich, dass Sam fundierte Kenntnisse über Flechtfrisuren besaß, und zweitens brauchte ich keine Hilfe. Klar, ich war nicht sehr fingerfertig, aber ich konnte meine Haare einfach offen tragen.

Ich nickte unbestimmt und spießte ein Stück Steak mit meiner Gabel auf. »Mal sehen. Vielleicht passt es ja auch gar nicht.«

»Aber du hast doch gesagt, dass sie toll ist?«

»Klar«, meinte ich kauend. »Aber das heißt ja noch nicht, dass wir uns auf Dauer verstehen. Lasst mir einfach ein bisschen Zeit, in Ordnung?«

»So viel Zeit, wie du brauchst, Liebes«, sagte meine Mom und tätschelte meine Hand. Ich wusste, was sie dachte. Wenn ich niemand Geeigneten fand, würde ich noch eine Weile bei ihnen wohnen bleiben.

Natürlich hätte ich einfach ausziehen können, wann immer ich wollte. Immerhin war ich volljährig. Allerdings würde ich meine Eltern damit verletzen, und das wollte ich nicht. Das hatten sie nicht verdient nach allem, was sie in den letzten Jahren durchgemacht hatten.

Das mit Sam musste funktionieren.

Am nächsten Tag wachte ich nervös auf, und das Gefühl legte sich auch im Laufe des Morgens und Vormittags nicht. Mom und Dad hatten früh das Haus verlassen, und wieder hatte ich das Gefühl, dass die Räume zu groß und die Flure zu lang für mich allein waren. Zwar wuselte hier irgendwo eine reizende Reinigungskraft namens Mariella herum, doch wir unterhielten uns nie, und sie war so diskret, dass ich die meiste Zeit vergaß, dass sie überhaupt im Haus war.

Sam musste jeden Augenblick da sein, und ich war immer noch nicht sicher, wie das alles funktionieren sollte. Ich war allgemein schon nicht besonders gut darin, Hilfe anzunehmen. Wie sollte ich ausgerechnet bei ihm über meinen Schatten springen können? Wenn er wenigstens hässlich oder verheiratet gewesen wäre, dann wäre die Hemmschwelle nicht ganz so groß. Immerhin war ich eine Frau. Und ich besaß Hormone, was bedeutete, dass mir seine Muskeln und seine Größe durchaus aufgefallen waren.

Wobei, vielleicht war er ja verheiratet. Gut, er war ein wenig jung, doch er konnte zumindest in einer wahnsinnig festen Beziehung stecken oder schwul sein. Ja, am besten, er war schwul. Danach würde ich ihn fragen müssen.

Das, was ich wirklich brauchte, war eine zweite Meinung. Jemanden, der mich entweder in meinen Zweifeln bestätigte, oder mir sagte, dass ich übertrieb. Allerdings fiel mir niemand ein, der diesen Job übernehmen könnte. Früher wäre es Tara gewesen, die Sam begutachtet und ein Urteil gefällt hätte. Allerdings … wäre Tara noch hier, wäre Sams Anwesenheit nicht vonnöten.

Der leise Schmerz, der sich jedes Mal einstellte, wenn ich an meine Schwester dachte, flammte in meiner Brust auf, doch ich schob ihn zur Seite. Das konnte ich jetzt nicht gebrauchen. Meine Nerven lagen ohnehin schon blank.

Eine Minute zu früh klingelte es. Ich goss mir gerade ein Glas Wasser ein und zuckte zusammen, als der Gong durch die hohen Räume hallte. Ein Schwall Wasser lief mir über den Ärmel, und ich rannte fluchend zur Tür, während ich mit einem Küchentuch an meinem Shirt herumtupfte.

Ich öffnete die Tür und wurde von etwas Schwerem getroffen, noch bevor ich den Mund für eine Begrüßung öffnen konnte. Irgendetwas stieß gegen meinen Bauch, und ich stolperte rückwärts. Mit meinem Gleichgewichtssinn war es ohnehin nicht allzu weit her, doch ich landete zudem noch auf meinem schwachen Bein, und es knickte unter mir weg. Ich stieß einen schrillen Schrei aus, ruderte mit den Armen und wäre sicher mit dem Hintern auf dem Parkett gelandet, wenn sich nicht eine große Hand um meinen Oberarm geschlossen und mich aufrecht gehalten hätte. Mehr oder weniger. Fluchend versuchte ich mein Gleichgewicht wiederzufinden, als Sam mich zu sich heranzog und mich wieder auf die Füße stellte.

»Toll, Pamela, das war ja ein hervorragender erster Eindruck.«

Ich blinzelte ein paar Mal und versuchte mich wieder zu fassen. Mein Blick streifte Sam und blieb an einem riesigen Ungetüm von Hund hängen, das wedelnd in der Diele stand. »Was ist das?«, kiekste ich, machte mich ruckartig von Sam los und brachte hastig ein paar Schritte zwischen mich und den Hund, der eher einem kleinen Pony glich.

»Das ist Pamela«, sagte Sam und klopfte dem Tier auf den Hals, das sich daraufhin brav hinsetzte, wobei sein ganzer Hintern hin und her wackelte, weil es so wild mit dem Schwanz wedelte. »Tut mir wirklich leid, sie ist manchmal ein wenig übereifrig.«

Ich presste eine Hand über meinem wild schlagenden Herzen auf die Brust und atmete ein paar Mal tief durch. »Es hat mich angegriffen.«

»Sie hat dich begrüßt«, verbesserte er. »Sie ist ein freundlicher Hund.«

Ich deutete mit dem Finger auf das Tier. »Du willst sie aber nicht mit reinbringen, oder?«

Jetzt runzelte er die Stirn und sah auf den Hund hinab, der immer noch wie wahnsinnig mit dem Schwanz wedelte. »Jetzt bist du aber ein bisschen gemein, June. Du verletzt ihre Gefühle.«

Wieder sah ich hinab. Mochte ja sein, dass dieses Tier im Moment nicht sonderlich angriffslustig wirkte, doch ich traute Hunden nicht so richtig. Vor allem den großen nicht. Wir hatten selbst nie einen gehabt, meine Erfahrung mit Hunden beschränkte sich auf den kläffenden Nachbarsköter, der immer versucht hatte, mir in die Füße zu beißen, wenn ich dem Zaun zu nahe gekommen war. Einmal hatte er es sogar geschafft, und das hatte echt wehgetan. Und jener Hund war um einiges kleiner gewesen als das Pony, das da gerade auf meiner Türschwelle saß und fröhlich die Zunge aus dem Maul baumeln ließ.

»Können wir jetzt reinkommen?«, fragte Sam und lächelte mich vorsichtig an. »Pamela ist superlieb, ich schwöre es dir. Aber ich kann sie nicht draußen lassen, es ist arschkalt.«

Ich streckte den Kopf aus der Tür und musste ihm zustimmen. Es war wirklich kalt. Und ich mochte zwar kein Hundefreund sein, aber ein Unmensch war ich auch nicht. Ich schloss die Tür. »Okay, meinetwegen. Aber er bleibt an der Leine, bis ich mir sicher bin, dass er nicht Amok laufen wird, klar?«

Sam lachte. »Hast du Angst vor Hunden?«

»Ich traue ihnen nicht«, verbesserte ich.

»Blödsinn«, widersprach er und tätschelte dem Hund den Kopf. »Guck sie dir an. Sieht sie in deinen Augen etwa böse aus?«

Ich gehorchte und runzelte die Stirn. Pamela war groß und überwiegend braun, mit schwarzen Flecken an Bauch, Hals und Gesicht. Ihre Ohren standen ab, und sie hatte die Augen halb geschlossen, während sie gleichmäßig am Bein ihres Herrchens hechelte. Gut, wie ein durchgeknalltes Monster sah sie jetzt nicht aus. Das überzeugte mich allerdings nicht besonders.

»Halt sie bitte ganz kurz«, sagte ich nur, drehte mich um und ging in den Salon. Ich hatte mich entschieden, Sam hier zu empfangen. Dieser Raum war für mich vollkommen sinnlos gewesen – bis heute. Ein Salon war irgendwie einschüchternd, und ich wollte Sam ein wenig reizen, um zu gucken, was er sich gefallen lassen würde. Falls das mit uns beiden funktionieren sollte, musste er mir Paroli bieten. Ich würde es nicht ertragen können, wenn er mir jeden Wunsch von den Augen ablesen, mich bemuttern und zu allem Ja und Amen sagen würde. Das hatte ich zu Hause zur Genüge.

Ich deutete auf einen der knautschigen Sessel und setzte mich selbst auf die Couch, während sich Pamela zu Sams Füßen zusammenrollte und mich irgendwie mitleiderregend ansah. Vielleicht war sie eine derart kühle Begrüßung nicht gewöhnt und war beleidigt, weil ich sie nicht gestreichelt hatte.

»Okay«, sagte ich und faltete die Hände in meinem Schoß. Heute war kein guter Tag, meine Gelenke schmerzten und waren steif, vor allem in der Hand. »Ich dachte, wir stecken direkt mal die Rahmenbedingungen ab, damit wir beide wissen, worauf wir uns einlassen.«

Sam nickte ziemlich geschäftsmäßig. »Schieß los.«

»Ich bin kein Pflegefall«, eröffnete ich sachlich und sah ihm fest in die Augen. »Wenn meine Eltern nicht wären, hätte ich diese Stelle niemals ausgeschrieben. Ich werde dieses Jahr mein Studium abschließen, und ich komme allein klar. Der einzige Grund, warum du hier sitzt, ist der, dass sich meine Eltern dann besser fühlen. Das ist auch der Grund, warum die Stelle zeitlich begrenzt ist.«

Er nickte. »Auf ein Jahr.«

»Genau. So lange haben meine Eltern Zeit, sich daran zu gewöhnen, dass ich das Studium abschließen und ausziehen werde. Danach bin ich frei.«

Eine seiner Augenbrauen hob sich. »Das klingt ziemlich dramatisch.«

Ich legte den Kopf schief. »Meine Eltern sind toll. Aber sie machen sich zu viele Gedanken.«

»Okay«, sagte er und nickte erneut.

»Na schön. Also, deine Aufgaben bestehen im Grund darin, mir im College und bei Alltagsangelegenheiten zu helfen. Bislang habe ich Kurse teilweise online oder über Privatlehrer durchlaufen, war nur stundenweise in der Uni. Ab nächster Woche besuche ich jede der Vorlesungen, und dabei brauche ich Unterstützung. Zumindest am Anfang. Du hilfst mir bei der Wohnungssuche und dabei, mir einen Job oder ein Praktikum zu suchen. Später dann wahrscheinlich auch beim Packen und beim Umzug. Hauptsächlich brauche ich jemanden, der mein Auto fährt und da ist, wenn mein Körper streikt.« Ich grinste. »Du bist quasi mein Assistent.«

Er zuckte nicht einmal mit der Wimper. »Mein Traumjob.«

»Manchmal musst du vielleicht kochen oder Papierkram für mich erledigen, wenn ich es nicht schaffe. Oder putzen. Ja, putzen gehört definitiv auch dazu.« Ehrlich gesagt hatte ich nicht vor, ihm derlei Aufgaben zu übertragen. Allerdings musste ich mir sicher sein, dass er diesen Job ernst nahm und nicht bei der ersten Schwierigkeit abhauen würde.

»Verstanden.«

Ich musste zugeben, dass ich ein bisschen beeindruckt war. Aber ich war auch noch nicht fertig. »Einmal in der Woche habe ich Physiotherapie. Da musst du mich auch hinfahren. Manche der Übungen muss ich dann zu Hause wiederholen, und für manche brauche ich Hilfe.«

»Kein Problem.«

»Ich würde sagen, damit warten wir, bis wir uns besser kennen.«

»Sehr gern.«

Okay. Er war besser, als ich gedacht hätte. Ich kannte Sam überhaupt nicht, doch aus irgendeinem Grund war ich sicher gewesen, dass er nicht der Typ war, der putzte und kochte. Wobei man fairerweise sagen musste, dass ich in Sachen Menschenkenntnisse – oder eher Männerkenntnisse – echt schlecht war. Was hauptsächlich daran lag, dass mein Kontakt zu ihnen außerhalb der Uni eher begrenzt war.

»Dieser Hund …«, begann ich, wurde aber sofort von Sam unterbrochen.

»Das ist meine einzige Bedingung«, sagte er, sanfter als erwartet. Er klang beinahe bittend. »Ich habe sie nicht immer bei mir, aber wenn sie da ist, bringe ich sie mit. Pamela ist gut erzogen und benimmt sich, versprochen. Sie hat noch niemals jemandem etwas getan. Du musst echt keine Angst vor ihr haben.«

Als Sam ihren Namen aussprach, hob die Hündin den Kopf und sah ihr Herrchen treu ergeben an. Als sie merkte, dass kein Kommando folgte, ließ sie den Kopf wieder auf ihre Vorderpfoten sinken und richtete den Blick erneut auf mich.

»Warum nennt man seinen Hund Pamela?«

Jetzt lächelte er wieder. »Den Namen hatte sie schon, als ich sie aus dem Tierheim geholt habe. Ich fand irgendwie, dass er zu ihr passt.«

Das konnte ich nicht so richtig nachvollziehen, aber es ging mich eigentlich auch nichts an. Allerdings registrierte ich durchaus den Umstand, dass er offenbar einen Hund aus dem Tierheim gerettet hatte. Anscheinend war er ein guter Kerl, und irgendwie bekam ich das Gefühl, dass das zum Problem werden könnte.

4

»Schön«, sagte ich schließlich, griff nach einem Ausdruck auf dem Tisch und reichte ihn Sam. »Hier stehen wichtige Telefonnummern drauf, die du kennen solltest. Die musst du immer dabeihaben, genau wie ein paar Medikamente, die auf der Rückseite stehen. Du bist jeden Tag von neun bis siebzehn Uhr bei mir, aber das sind nur grobe Angaben. Welche Arbeitszeiten wirklich sinnvoll sind, sehen wir mit der Zeit. Am Wochenende hast du frei, es sei denn, es steht irgendetwas an, aber das besprechen wir dann rechtzeitig. Dein Gehalt überweisen dir meine Eltern und es besteht keine Kündigungsfrist meinerseits. Wenn du also Scheiße baust, bist du raus. Solltest du kündigen wollen, musst du drei Wochen im Vorfeld Bescheid sagen, damit ich einen Ersatz suchen kann.«

Er betrachtete stirnrunzelnd die Liste, dann sah er mich an. »Ist das fair? Ich kann fristlos auf die Straße gesetzt werden, kann aber nicht kündigen?«

Ich verzog keine Miene. »Der Job ist lächerlich hoch bezahlt. Die Bedingungen legen meine Eltern fest. Wenn du also ein Problem damit hast, musst du dich an sie wenden. Ich denke allerdings nicht, dass sie da mit sich reden lassen.«

Er nickte und sah erneut auf die Liste. »Das sind echt viele Nummern.« Er drehte das Blatt um und hob die Augenbrauen. »Und echt viele Medikamente.«

Mein Gesicht wurde heiß, doch ich zwang mich zu einem ausdruckslosen Gesichtsausdruck. »Die meisten davon sind nur für den Notfall. Das erkläre ich dir noch.«

»Okay«, sagte er langsam. »Sonst noch etwas, was ich wissen sollte? Über dich?«

Jetzt wurde ich wirklich rot, doch ich schob das Schamgefühl beiseite. »Nein, vorerst nicht. Ich denke, das war’s fürs Erste.«

»Bin ich jetzt dran?«

»Womit?«, fragte ich irritiert.

Statt einer Antwort zog er einen kleinen Zettel aus der Hosentasche und strich ihn auf seinem Knie glatt. »Ich habe auch ein paar Dinge, die ich im Vorfeld klären wollte. Die sollten wir kurz durchgehen.«

»Okay?« Meine Verunsicherung ließ meine Antwort eher wie eine Frage klingen.

»Nummer eins wäre, was genau ich bei dir darf und was nicht. Körperlich gesehen.«

»Ähm«, sagte ich, ein wenig verwirrt von seinem professionellen Tonfall. »Wenn ich Hilfe brauche, bitte ich darum, würde ich sagen. Mein Hauptproblem ist das Bein, manchmal kann ich es nicht mehr gut belasten. Das Wichtigste wird sein, dass du mich stützt, wenn ich es brauche. Dabei würden sich maximal unsere Arme berühren oder so.«

Gott, ich klang wie ein Trottel. Als wären wir Kinder.

Er nickte und wandte sich wieder seinem Zettel zu. »Kannst du Fahrrad fahren?«

»Wie bitte?«

»Fahrrad fahren«, wiederholte er sachlich. »Du fährst nicht selbst Auto, hast du gesagt, oder? Ich hatte gedacht, dass wir vielleicht Fahrrad fahren könnten, aber das ist mit deinem Bein wahrscheinlich eher schlecht, oder?«

Immer noch ein wenig verwirrt, nickte ich. »Ja, das ist schwierig.«

Wieder nickte er ab. »Muss ich beim Essen irgendwas beachten? Falls ich mal koche oder etwas mitbringe? Irgendwelche Allergien?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Gibt es irgendwelche Anzeichen, auf die ich achten muss? Was weiß ich … falls du ohnmächtig wirst oder zusammenbrichst oder so?«

In meinem Kopf materialisierte sich das Bild, wie ich in seinen Armen zusammenbrach und er mich mitten im Fall auffing, und lenkte mich einen Moment so sehr ab, dass ich beinahe vergaß, dass er auf eine Antwort wartete.

Ich räusperte mich. »Nein, so ist es nicht. Ich bin seit Jahren nicht mehr ohnmächtig geworden. Da brauchst du keine Angst zu haben.«

Der vernünftige Teil in mir sah mich strafend an, doch ich ignorierte ihn vorerst. Mir war klar, dass ich Sam von den Angstattacken erzählen musste. Doch aus irgendeinem Grund wollte ich mir das für später aufsparen. Vielleicht hoffte ich, dass er mich nicht ganz so mitleidig ansehen würde, wenn er die Liste meiner Gebrechen nach und nach erfuhr und nicht geballt alles auf einmal.

»Okay«, sagte Sam, faltete seinen Zettel wieder zusammen. »Das war’s fürs Erste. Was jetzt?«

Ich brauchte ein paar Sekunden, um meine Gedanken zu ordnen, dann konzentrierte ich mich wieder auf den Plan. »Ich zeige dir das Haus, würde ich sagen?«

Beinahe stolperte ich über meine eigenen Füße, als ich aufstand und die Empfangshalle ansteuerte. Sam verunsicherte mich. Ob es nun am Hund oder seiner entspannten Haltung lag, wusste ich nicht. Er hatte mich nicht einmal danach gefragt, wie es zu der Verletzung gekommen war. Das war ungewöhnlich. Sam war überraschend taktvoll und irgendwie pragmatisch, damit hatte ich nicht gerechnet.

Mit jedem Schritt wurde mir mulmiger, vor allem, als der Treppenlift in Sicht kam. So ein Ding benutzten hauptsächlich alte Menschen. Doch Treppen waren ein Problem für mich, und nach einem langen Tag war mein Knie manchmal so steif, dass ich Ewigkeiten für ein paar Stufen brauchen würde. Allerdings war das Ding ebenfalls superlangsam und surrte nervtötend. Darauf konnte ich im Moment gut verzichten, also ignorierte ich ihn, griff mit der gesunden Hand nach dem Geländer und ging die ersten Stufen hinauf.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Sam, der sich ein paar Meter hinter mir in Stellung gebracht hatte, als würde er sich darauf vorbereiten, mich aufzufangen.

»Danke, geht schon«, sagte ich.

»June.«

»Was?« Ich drehte mich um.

Er stand immer noch am Fuß der Treppe und sah mich leicht vorwurfsvoll an. Nicht mitleidig, wie ich erwartet hatte. »Das ist mein Job, oder nicht?«

Da hatte er recht. Dennoch … »Wir lernen uns erst kennen, Sam. Ich kenne dich nicht, es könnte auch sein, dass du mich die Treppe runterschubst, einfach weil es dir Spaß macht.«

Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, und er kam die paar Stufen zu mir herauf, bis er neben mir stand. Dann hielt er mir auffordernd Pamelas Leine hin.

»Was soll das?«, fragte ich verwirrt und musterte misstrauisch den schwarzen Strick.