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ICH FÜRCHTE, DASS MEIN HERZ MIT JEDER MINUTE, DIE ICH MIT IHM VERBRINGE, UNEMPFÄNGLICHER FÜR LOGISCHE ARGUMENTE WIRD
Die junge Personenschützerin Charlotte Blossom bekommt einen Auftrag, den sie nicht ablehnen kann: Sie soll als Bodyguard für den ältesten Sohn der einflussreichen Familie Newton arbeiten. Der attraktive Gideon ist von den Sicherheitsmaßnahmen seiner Eltern und der Überwachung durch Charlotte allerdings gar nicht begeistert. Doch während eines Ausflugs mit seiner Yacht kommen sich die beiden näher und Charlotte beginnt, hinter die Fassade des begehrtesten Singles der Stadt zu sehen. Aber als es zwischen ihr und Gideon immer stärker knistert, wird Charlotte klar, dass es abseits des strahlenden Glanzes der High Society auch dunkle Schatten gibt, in denen bisher ungeahnte Gefahren lauern.
»Mitreißend von der ersten bis zur letzten Seite - ich konnte TAINTED DREAMS nicht aus der Hand legen. Ein Buch voller Spannung, Twists und unwiderstehlicher Anziehung! Lasst euch hineinziehen in die Welt der Reichen und Schönen, in der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick erscheint!« ANNA SAVAS
Erster Band der neuen New-Adult-Suspense-Trilogie der SPIEGEL-Bestseller-Autorin Kim Nina Ocker
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Seitenzahl: 540
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Leser:innenhinweis
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
Danksagung
Die Autorin
Die Bücher von Kim Nina Ocker bei LYX
Impressum
KIM NINA OCKER
Tainted Dreams
KINGSBAY SECRETS
Roman
Die junge Personenschützerin und Kampfsporttrainerin Charlotte Blossom erhält einen Auftrag, den sie nicht ablehnen kann: Sie soll als Bodyguard für den Sohn der einflussreichen Familie Newton arbeiten. Für Charlotte ist es die Chance, ihre Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen. Als sie ihr neues Leben in Miami beginnt und sich auf dem Anwesen der Newtons in einer Welt voller Luxus wiederfindet, kommen ihr jedoch schon bald Zweifel an ihrer Entscheidung. Denn der attraktive Gideon Newton ist von den neuen Sicherheitsmaßnahmen wenig begeistert. Aber mit der Zeit bekommt Charlotte ein immer besseres Gespür für ihre Aufgaben – und auch für den Mann, den sie nun ständig begleiten soll. Sie beginnt, hinter die Fassade des begehrtesten Singles der Stadt zu blicken. Während sie und Gideon sich näherkommen, wird Charlotte allerdings klar, dass es abseits des strahlenden Glanzes der High Society auch dunkle Schatten gibt, in denen bisher ungeahnte Gefahren lauern. Gefahren, die nicht nur ihr Herz bedrohen.
Für Andrea
&
Für die eine Person, die dir während einer Gruppenunterhaltung noch zuhört,
obwohl alle anderen sich schon abgewendet haben und du nicht mehr weißt,
ob du weiterreden oder einfach aufhören sollst.
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier einen Contenthinweis.
Achtung: Dieser enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Kim und euer LYX-Verlag
Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich eine Leiche geklaut, aber ich schätze, es gibt für alles ein erstes Mal. Wobei »Leiche« die falsche Beschreibung ist. Nennen wir es lieber »sterbliche Überreste«.
So oder so hält sich mein schlechtes Gewissen in Grenzen. Immerhin ist das hier die scheußlichste Beerdigung, auf der ich jemals gewesen bin. Das macht es ein bisschen einfacher. Am liebsten würde ich von diesem unfassbar unbequemen Stuhl aufspringen, die große mit Blumen gefüllte Porzellanvase umschmeißen, die neben der stilvollen Urne aufgestellt ist, und dabei zusehen, wie die Scherben auf dem polierten Marmor ein Mosaik formen.
Unwillkürlich kralle ich die Finger um das kleine Programmheft. Allein die Existenz dieses Heftes lässt mich beinahe kotzen. Mir ist klar, dass mich ein Großteil der Anwesenden hier für menschlichen Abfall hält, doch das beruht auf Gegenseitigkeit. In der gesellschaftlichen Nahrungskette stehe ich ihrer Meinung nach vermutlich noch unter den drogenabhängigen Schnorrern in Liberty City. Zumindest würden sie sich das wünschen. In Wahrheit wissen sie, dass es mich nicht mehr als ein Fingerschnipsen kosten würde, um jeden von ihnen in der sozialen Versenkung verschwinden zu lassen. Sie haben Angst vor mir. Und das sollten sie auch, jetzt erst recht.
Mein Blick klebt an der Urne, die inmitten eines Blumenmeers aus weißen Lilien, Vergissmeinnicht und rosafarbenen Rosen aufgestellt wurde. Im Grunde ist sie nicht mehr als eine sauteure Tupperdose aus Keramik. Ein paar Blattgoldverzierungen, hübsche Kornblumendrucke in Vintage-Optik. Nichts Besonderes und unter normalen Umständen sicher nichts, was meine Aufmerksamkeit länger als ein paar Sekunden fesseln würde. Doch es ist einfacher, die Urne anzustarren als den Raum und die Gäste um mich herum. Es ist einfacher, meine Wut unter Kontrolle zu halten, wenn ich mir nicht die ganze Zeit vor Augen führe, wo wir gerade sind.
Im Palast der verfickten Newtons.
Der Name hallt in meinem Kopf wider – wie immer, wenn ich den Fehler mache, über eines der Mitglieder dieses verdammten Clans nachzudenken. In letzter Zeit machen sie sich über meine Gedanken her wie beschissene Ratten über ein All-you-can-eat-Büfett.
Sie haben ihre Asche in diesem Salon zur Schau gestellt wie einen funkelnden Weihnachtsbaum. Nein, vielmehr wie eine Trophäe. Als wollten sie damit ihren Besitzanspruch geltend machen, indem sie ihr Familiensiegel auf das glänzende Porzellan pressen. Sie hat zu ihnen gehört – nicht zu ihrem Bruder, nicht zu uns, nicht zu mir. Sie war eine von ihnen.
Nur über meine eigene verdammte Leiche. Selbst wenn ich nicht persönlich in diese ganze Scheiße verwickelt wäre, würde ich das hier boykottieren wollen. Aus Prinzip.
Aber ich bin nun einmal persönlich involviert. Ich habe nicht darum gebeten, doch das Schicksal hat sich davon offensichtlich nicht abhalten lassen – und damit mein gottverdammtes Leben zerstört.
Ich werde aus den Gedanken gerissen, als mir bewusst wird, wie tief ich die Fingernägel in meine Handfläche gebohrt habe. Das Programmheft ist vermutlich kaum noch als solches zu erkennen.
Ich muss mich zusammenreißen. Mich auf den Plan konzentrieren.
Mit unbewegter Miene lasse ich den Blick durch den Raum schweifen. Zu sehen ist das typische Interieur des alten Geldadels von Miami: strahlend weiße Wände, an denen irgendwelche teuren Originale hängen, hohe Decken mit Kronleuchtern, alte, auf Hochglanz polierte Möbel, die lediglich als Statussymbole dienen. Ich erkenne gerahmte Urkunden, Fotos von verschiedenen Familienmitgliedern an der Seite irgendwelcher Promis oder Politiker, Pokale und noch mehr Kunst. Das hier ist eine Ausstellungsfläche, mehr nicht. Kein Zuhause.
Jemand setzt sich neben mich und ich schaue auf. Dunkelblauer Anzug mit Nadelstreifen, weißes, gestärktes Hemd, schwarze Krawatte und schwarzes Einstecktuch. Der Typ könnte mein Vater sein und gleicht oberflächlich betrachtet jedem anderen Gast dieser beschissenen Farce. Trotzdem erkenne ich ihn sofort: unser Verbindungsmann.
Er nickt kaum merklich. Meine Muskeln und sämtliche Nervenenden in meinem Körper haben nur auf das Zeichen gewartet. Plötzlich stehe ich unter Strom. Die Hand, in der ich noch immer das Heft halte, ballt sich zur Faust, mein Blick schärft sich, als hätte jemand an einem Rädchen gedreht. Ich hefte ihn erneut auf die Urne.
Auf das Ziel.
Wie von selbst finden meine Augen die filigrane Inschrift auf der Vorderseite der Keramik. Der Name hat sich in mein Herz gegraben, als wäre auch dort jemand mit einer Graviermaschine am Werk gewesen. Der Name, der mein Leben berührt und meine Fassade mit geballter Faust durchbrochen hat, für den um mich herum so viele Tränen vergossen werden.
Charlotte E. Blossom
Die gepolsterte Faust kracht so hart in mein Gesicht, dass ich unwillkürlich nach Luft schnappe. Sofort schließe ich die Augen, trotzdem tauchen weiße Lichtblitze in meinem schwarzen Blickfeld auf.
»Wow«, keuche ich und neige prüfend den Kopf, bevor ich die Augen wieder öffne. Dann schüttle ich die Arme aus, um meinem Körper etwas zu tun zu geben, statt sich auf den Schmerz zu konzentrieren. »Der hat gesessen.«
»Es tut mir so, so leid«, ruft Selin, während sie sich die Boxhandschuhe von den Händen zieht und einen unsicheren Schritt auf mich zumacht. Sie sieht aus, als könnte sie sich nicht entscheiden, ob sie mir zu Hilfe eilen oder sich aus dem Staub machen soll. »Deswegen habe ich dir gesagt, dass ich lieber auf einen Boxsack einprügeln will.«
»Ein Boxsack weicht aber nicht aus«, sage ich und höre mich dabei an wie eine gesprungene Schallplatte. Ich öffne den Mund und schiebe den Kiefer ein paarmal hin und her, höre jedoch weder ein Knacken noch nimmt der Schmerz zu. Es sollte also nichts gebrochen sein.
»Du weichst ja genauso wenig aus«, protestiert sie kleinlaut. Als ich ihr einen bösen Blick zuwerfe, grinst sie. Ein schlechtes Gewissen hat sie also offensichtlich nicht.
Ich straffe den Rücken und nehme erneut meine Position ihr gegenüber ein. Meine Hände stecken noch immer in den Pratzen, also hebe ich die Arme und sehe Selin auffordernd an. »Weiter.«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein danke. Ich würde dich wirklich gerne noch ein paar Minuten länger vermöbeln, aber für heute reicht es, denke ich.«
Genervt sehe ich sie an. Selin ist eine meiner besten Freundinnen, aber manchmal würde ich sie wirklich, wirklich gerne ein bisschen würgen. Seit Wochen trainiert sie mit mir, doch bisher sind wir keinen Zentimeter vorangekommen. Sie ist zu zögerlich und macht sich ständig Sorgen darüber, dass sie mir eventuell wehtun könnte.
Gut, der Schlag gerade hat tatsächlich wehgetan, aber das war meine Schuld. Dass ein Schüler oder eine Schülerin die Handschlagpolster verfehlt, kommt vor. Ich hätte wirklich ausweichen müssen.
»Du bist ein Feigling«, sage ich, ziehe allerdings die Pratzen aus, weil ich weiß, dass es keinen Sinn hat. Ich werfe ihr einen Blick über die Schulter zu. »Wir haben noch drei Monate, bis du nach Boston ziehst. Wenn du bis dahin ’ne knallharte Schlägerbraut sein willst, müssen wir mal irgendwie weiterkommen.«
»Das klingt, als würde ich mich gleich als Erstes einer Motorradgang anschließen wollen.«
Ich zucke mit den Schultern. »Was immer dich glücklich macht.«
Sie schneidet eine Grimasse, dann öffnet sie ihre Sporttasche und holt ihren Hijab und ein paar Spangen heraus. Wir trainieren immer nach offiziellem Ladenschluss, damit wir den Trainingsraum für uns allein haben, dafür lädt sie mich einmal im Monat zu ihrer Familie zum Essen ein. Diese Tradition hat vor zwei Jahren angefangen, nachdem wir zusammen in einem arabischen Restaurant gegessen haben und sie mir daraufhin einen zwanzigminütigen wütenden Vortrag über echtes tunesisches Essen gehalten hat. Im Nachhinein stimme ich ihr absolut zu. Ihre Mom ist die beste Köchin, der ich je begegnet bin.
Sie nimmt mich in den Arm und verabschiedet sich, während ich den Schlüssel aus meinem Rucksack ziehe und mich noch einmal in der kleinen Halle umsehe, um mich zu vergewissern, dass ich nichts vergessen habe. Die Trainingshalle gehört meinem Bruder, und der ist verdammt empfindlich. Ich darf sie nur kostenlos nutzen, solange ich sie in einwandfreiem Zustand hinterlasse. Und ich will mein Glück sicher nicht herausfordern.
Als ich gerade die Eingangstür hinter mir abschließe, höre ich Schritte auf der Steintreppe. Ich drehe mich um und bemerke Jude, der mit hochrotem Gesicht auf mich zukommt.
»Du bist noch da«, schnauft er, während er die letzten Stufen erklimmt und mich dann in eine kurze Umarmung zieht. »Ich dachte, ich hätte dich verpasst. Warum gehst du nicht an dein Handy?«
»Weil ich gearbeitet habe«, erinnere ich meinen großen Bruder ein wenig schroff. Ich mustere ihn von oben bis unten. »Wirst du dich jemals an dieses Klima gewöhnen?«
Er schnaubt. »Der Sommer hier ist wie ein beschissener Backofen.«
Grinsend schiebe ich den Schlüssel in meine Hosentasche. Er hat nicht ganz unrecht, trotzdem würde ich die Sonne und die Hitze niemals wieder gegen das ständige Regenwetter in Washington, D. C. eintauschen. Ich bin vor knapp sechs Jahren zu meinem Bruder nach Chelmsford gezogen – eine Achtzigtausend-Einwohner-Stadt im Brevard County mit durchschnittlich dreihundertsiebenundvierzig Sonnentagen. Inzwischen will ich mir gar nicht mehr vorstellen, wie es war, jeden Morgen mit Nebel und grauem Himmel aufzuwachen.
»Was willst du?«, frage ich und schultere meinen Rucksack. »Du hast seit über einer Stunde Feierabend.«
Da ist eine Regung in seinem Gesicht, die ich nicht richtig deuten kann. Entweder ist er aufgeregt, wütend oder belustigt. Könnte alles heißen, wenn er die Lippen auf diese bestimmte Art und Weise zusammenpresst.
»Wir gehen ins Büro. Ich muss dir was zeigen.«
Einen Moment lang überlege ich, abzulehnen und nach Hause zu gehen. Es war ein verdammt langer Tag, und eigentlich will ich nur noch auf die Couch und irgendeine Folge hirnloses Trash-TV gucken. Aber ich bin neugierig, also folge ich Jude die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, in dem das kleine Büro der Securityfirma meines Bruders liegt. Er schließt auf und setzt sich hinter den Schreibtisch, während ich mich auf die zerschlissene dunkelblaue Couch fallen lasse.
»Also«, beginnt er in irritierend geschäftsmäßigem Ton. Er öffnet seinen Laptop und sieht ein paar Sekunden lang auf den Bildschirm, dann schaut er mich an. »Kennst du die Familie Newton?«
»Keine Ahnung«, antworte ich verwirrt. »Es gibt tausend Newtons.«
»Die Familie Newton«, wiederholt er, und seine Augen weiten sich. »Valentine und Eliza Newton, Newton Logistics? Der Familie gehört halb Miami.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Ich war noch nie in Miami.«
»Wie auch immer«, sagt Jude ungeduldig und tippt kurz auf seinem Laptop herum, bevor er ihn zu mir umdreht. Darauf ist ein Artikel des MiamiHerald geöffnet. Ganz oben ist ein Foto abgebildet, das mich an eines dieser alten Familienporträts erinnert: Ein Mann und eine Frau sitzen mit einem geheimnisvollen Lächeln nebeneinander in samtroten Ohrensesseln, links und rechts von ihnen stehen ein kleines Mädchen und ein Mann, den ich auf mein Alter oder jünger schätzen würde. Über dem Foto steht die wahnsinnig kreative Überschrift: DasNewton-Imperium –EineFamilieübernimmtBiscayneBay.
»Interessant«, sage ich langsam. Ich schaue auf und werfe Jude einen fragenden Blick zu. »Sagst du mir jetzt, worauf du hinauswillst, oder soll ich raten, damit ich endlich nach Hause komme?«
»Die Frau auf dem Bild ist Eliza Newton und gehört zu einer der einflussreichsten Familien an der Ostküste. Ihr Büro hat mir vor zwei Stunden ein Angebot für einen Vollzeitauftrag geschickt.«
Ich reiße die Augen auf. »Ist das dein Ernst?«
»Mein voller Ernst. Sie will jemanden für einen Observationsjob. Zwölf Monate, Festgehalt mit der Möglichkeit auf eine Vertragsverlängerung und einer unbefristeten Einstellung, wenn es gut läuft.«
Fassungslos schüttle ich den Kopf. »Der Job ist in Miami? Was sagt Camille dazu?«
Jude und seine Frau Camille haben eine gemeinsame Tochter. Miami ist zwar nicht aus der Welt, trotzdem bin ich mir sicher, dass Judes Familie nicht begeistert sein würde, den Großteil der Zeit auf ihn verzichten zu müssen.
Aber Jude schüttelt den Kopf und sieht mich so eindringlich an, dass sich ein ungutes Gefühl in meiner Magengegend ausbreitet. »Das Angebot ist nicht für mich, Charlie. Es ist für dich.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Warum kontaktieren sie dich? Ich arbeite nicht mal für deine Firma.«
»Du stehst in unserer Kartei.«
»Als freiberufliche Personal Trainerin«, rufe ich ihm kopfschüttelnd ins Gedächtnis. »Nicht als Personenschützerin oder was auch immer die sich vorstellen. Wahrscheinlich haben sie etwas verwechselt.«
Jude schnaubt. »Eliza Newton macht keine Fehler, Charlie. Ihr Büro hat dich namentlich angefragt. Inklusive Personalnummer, woher auch immer sie die haben. Und ihre Mitarbeiterin hat heute schon zweimal mit Catherine telefoniert, um sicherzugehen, dass wir ihr Anliegen diskret und mit höchster Priorität behandeln.«
Catherine ist Judes Sekretärin. Mir schwirrt ein bisschen der Kopf. »Aber warum?«, frage ich mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Ich bin mir sicher, dass es in Miami mehr als eine Securityfirma gibt. Warum interessieren sie sich für jemanden aus Orlando und nicht für jemanden, der vor Ort und besser geeignet ist als ich?«
»Mach dich nicht kleiner, als du bist«, meint Jude beinahe genervt. »Du kannst alles, was es für diesen Job braucht. Du hast die nötigen Kurse gemacht, das Fahrsicherheitstraining, die Sachkundeprüfungen. Du bist eine der besten Selbstverteidigungstrainerinnen, die ich im Laufe meiner Karriere gesehen habe. Du bist mehr als qualifiziert.«
Mit jedem weiteren Wort meines Bruders wandern meine Augenbrauen höher. Wir sind beide nicht gerade der Typ für Gefühlsausbrüche, und dieser Überfluss an Lob überfordert mich ein wenig.
»Ich habe in vielen Bereichen nur Theoriekenntnisse«, sage ich trotzdem. »Das ist nicht zu vergleichen mit einem Vollzeitjob als Bodyguard. Ich darf nicht mal eine Waffe führen.«
Er winkt ab. »Das ist Papierkram. Wenn die Newtons wollen, dass du eine führst, kannst du die Genehmigung innerhalb einer Woche bekommen.«
Ich beiße mir auf die Lippe. Grundsätzlich fühle ich mich in meinem Job ziemlich sicher, ziemlich selbstbewusst. Ich weiß, was ich kann, und für gewöhnlich verlasse ich mich auf meine Fähigkeiten. Aber das hier ist verdammt viel Verantwortung und ein extrem großer Schritt. Was, wenn ich mich überschätze, all meine Zelte abbreche und dann in Miami eine gewaltige Bauchlandung hinlege?
»Wissen die, dass ich noch nie einen Personenschutz-Auftrag geleitet habe?«
»Das kannst du sie gerne selbst fragen. Sie wollen dich spätestens Anfang nächster Woche.«
Ich lache, weil ich einen Moment lang wirklich glaube, dass er mich verarscht. Aber er stimmt nicht in mein Lachen ein. »Das kann ich nicht machen«, sage ich langsam. »Jude, hast du ’ne Ahnung, wie teuer die Lebenshaltungskosten in Miami sind? Ich könnte mir nicht mal ein WG-Zimmer leisten. Essen, ein Auto … Das geht nicht.«
Ohne mit der Wimper zu zucken, dreht er den Laptop wieder zu sich herum und tippt eine Weile, dann beginnt der Drucker hinter ihm auf dem kleinen Sideboard zu brummen. Jude nimmt den Ausdruck und legt ihn vor mir auf den Tisch.
»Was ist das?«, frage ich.
»Das Angebot. Lies es dir durch, dann kannst du immer noch Nein sagen.«
Ich beuge mich vor und greife danach, dann lasse ich mich wieder in die Polster sinken. Es geht um einen befristeten Anstellungsvertrag für ein Jahr, inklusive einer zweimonatigen Probezeit. Sie wollen einen diskreten Personen- beziehungsweise Begleitschutz mit Observationsauftrag, auf den jedoch nicht näher eingegangen wird.
Als ich bei dem Abschnitt ankomme, in dem es um die Vergütung geht, berühren meine Augenbrauen beinahe meinen Haaransatz.
»Sechstausend Dollar im Monat«, lese ich monoton vor. »Das kann nicht deren Ernst sein.«
»Lies weiter.«
Mein Blick bleibt an dem Betrag hängen, und ich muss mich zwingen, mir den Rest durchzulesen. Meine Umzugskosten werden getragen, außerdem werden mir ein Apartment inklusive Nebenkostenübernahme, ein Fahrer und bezahlter Urlaub angeboten.
Schnaubend schaue ich auf. Jude grinst, als könnte er die emotionslose Fassade nicht länger aufrechterhalten. »Was sagst du?«
»Dass das zu gut ist, um wahr zu sein«, erwidere ich ungläubig. »Ich sage es gerne noch einmal, weil du diese Kleinigkeit nicht zu registrieren scheinst: Ich bin keine erfahrene Personenschützerin, Jude. Ich gebe hauptsächlich Selbstverteidigungskurse und stehe ab und zu an Clubtüren. Was auch immer diese Newton sich vorstellt, sie erwartet garantiert eine Person mit mehr Erfahrung in dieser Art von Aufgaben. Ich war seit Ewigkeiten bei keinem Auftrag mehr dabei, bei dem es um Personenschutz ging.«
Damals habe ich Jude und seiner Familie zuliebe die Ausbildung angefangen, habe alle nötigen Kurse absolviert – Kampfsportausbildung, Fahrsicherheitstraining, die psychologische Wesensprüfung, Erste-Hilfe-Kurse und so weiter – und mich ziemlich gut geschlagen. Aber bei Judes Aufträgen geht es in der Regel um kurzzeitigen Personenschutz für B-Promis oder Politiker auf der Durchreise. Das war nichts für mich, und das habe ich ziemlich schnell bemerkt. Also habe ich mich auf Selbstverteidigungskurse für Frauen spezialisiert – ein Feld, in dem ich deutlich mehr bewirken und meine Fähigkeiten besser einsetzen kann. Es ist mindestens ein Jahr her, dass ich Jude als Bodyguard zu einem Auftrag begleitet habe.
Erneut überfliege ich das Angebot. »Hier steht kein Wort darüber, was genau ich da machen soll. Zumindest nichts, was erklärt, warum sie ausgerechnet mich beauftragen wollen.«
»Deswegen sollst du mit ihnen sprechen!« Jude beugt sich mit einem eindringlichen Blick vor. Er schiebt den Laptop zur Seite und legt die Handflächen auf die Tischplatte. »Charlie, wenn das Angebot valide ist, dann ist das eine einmalige Chance. Nach dem Jahr stehen dir finanziell alle Türen offen.«
»Ich weiß es wirklich nicht, Jude. Ich mache mich total lächerlich, wenn sie mich einfach nur mit jemandem verwechselt haben.«
Er seufzt so schwer, als wäre ich eine Fünfjährige, der er die Grundlagen der Quantenphysik zu erklären versucht. »Okay, Vorschlag: Catherine ruft dort an und stellt klar, wer du bist, was deine Qualifikationen sind und über wie viel Erfahrung du verfügst. Und wenn sie dich immer noch kennenlernen wollen, sprichst du mit ihnen.«
Ich lege den Ausdruck zurück auf den Tisch und verschränke die Arme vor der Brust, bevor ich Jude mustere. »Was springt für dich dabei raus?«
Den unschuldigen Blick kann er sich schenken. Jude ist zwar nur mein Halbbruder, trotzdem kenne ich sein Gesicht beinahe so gut wie mein eigenes.
»Sie haben jemanden aus meiner Firma angefragt«, sagt er achselzuckend und grinst, als ich schnaube. »Offiziell bist du meine Angestellte.«
»Ich stehe auf deiner Website, weil ich deine Trainingsräume nutze, Jude. Du vermittelst mir keine Kundinnen.«
Ungerührt deutet er auf den Ausdruck. »Die hier habe ich dir vermittelt.«
»Hast du nicht!« Mein Lachen klingt ein wenig trocken. »Du hast selbst keine Ahnung, wie die auf mich gekommen sind! Sollte ich diesen Auftrag annehmen, bekommst du keinen Cent von mir.«
Sein Grinsen verrutscht nicht einen Millimeter. »Das diskutieren wir dann noch mal, Schwesterherz. Mir reicht schon die Referenz. Ich sage Catherine, dass sie das klären soll, und gebe dir Bescheid, okay? Wann hast du Zeit, mit den Newtons zu sprechen?«
Ich bin zugegebenermaßen überfordert. Ja, das Angebot ist der Wahnsinn, sollte es tatsächlich echt sein. Aber abgesehen von dem Geld und der Berufserfahrung würde dieser Job auch bedeuten, dass ich für ein Jahr nach Miami ziehen müsste. In eine Stadt, in der ich niemanden kenne. Ich würde mich als recht spontan beschreiben, doch so eine Entscheidung trifft man nicht einfach zwischen Tür und Angel. Ich zumindest nicht.
»Klärt das erst mal mit dieser Eliza Newton«, antworte ich ausweichend und stehe ächzend auf. Ich habe seit zwei Tagen Muskelkater in den Beinen, und das Training heute war sicher nicht hilfreich. Den Ausdruck falte ich sorgfältig zusammen und schiebe ihn in meine Hosentasche. »Ich lasse es mir durch den Kopf gehen, in Ordnung?«
»Was gibt es da zu überlegen?«, ruft Jude mir hinterher, als ich die Tür öffne.
»Du bekommst keinen Anteil!«
»Du wärst dämlich, wenn du das ausschla–«
Ich knalle die Tür hinter mir zu und schneide ihm damit das Wort ab. Ich liebe meinen Bruder, aber er kann verdammt nerven. Auch wenn er es meistens nur gut meint, ist er immer der festen Überzeugung, zu wissen, was für alle anderen das Beste ist. Seine Meinung ist die einzig richtige, und für gewöhnlich setzt er die auch durch.
In Gedanken immer noch bei dem Angebot schultere ich meinen Rucksack und gehe über den kleinen Schotterweg hinüber zu dem Parkplatz, den sich das Büro von Judes Sicherheitsdienst mit einer Zahnarztpraxis und einem Pfandleihhaus teilt. Diese Gegend ist ziemlich schäbig, aber darüber mache ich mir selten Gedanken. Sollte hier jemand auf dumme Gedanken kommen, dann wird er wohl kaum in einer Agentur für Sicherheitspersonal und einem Kampfsportstudio einbrechen.
Ich kneife die Augen zusammen, als das Licht der Abendsonne mich blendet. Wir haben Anfang Juli, und die Hitze ist beinahe unerträglich. Ich spüre den leichten Schweißfilm auf meiner Haut kaum noch, nur an die Helligkeit werde ich mich vermutlich niemals gewöhnen.
Als ich meinen alten Ford aufschließe, brennt mir das Angebot beinahe ein Loch in die Hosentasche. Ich setze mich auf den Fahrersitz, starte den Motor und stelle die Klimaanlage ein, dann ziehe ich den Zettel erneut heraus und überfliege ihn.
Das muss ein Fehler sein. Diese Familie Newton mag ja reich sein und sich all das leisten können. Aber reiche Leute neigen dazu, ihren Reichtum behalten zu wollen, statt ihn für eine Personenschützerin aus dem Fenster zu schmeißen, die kaum Berufserfahrung hat.
Dennoch … Als ich den Zettel auf den Beifahrersitz werfe und rückwärts aus der Parklücke fahre, gehe ich in Gedanken bereits meine Sachen durch, um zu entscheiden, was nach Miami mitkommt und was nicht.
Zu Hause empfängt mich das schrille Kreischen von Garfield, der auffordernd an seinen Käfigstäben nagt und dabei schreit, als würde er gerade abgestochen. Dieser Papagei hat bereits zwei Polizeibesuche verursacht, und ich bin kurz davor, aus Versehen das Fenster offen stehen zu lassen und ihm ein gutes Leben in Freiheit zu wünschen. Aber der Vogel gehört meinem Mitbewohner, und aus irgendeinem mir nicht ganz ersichtlichen Grund liebt er dieses Viech mehr als mich.
Trotzdem gehe ich hinüber zu der gigantischen Voliere und öffne die vordere Klappe, um ihn herauszulassen. Sofort hüpft er auf den kleinen Ast, der davor angebracht ist, und starrt mich auffordernd an, bis ich zur Seite trete. Dann flattert er davon – wahrscheinlich, um auf Deandres Bett zu scheißen oder meine Schnürsenkel durchzunagen. Zwei seiner Lieblingsbeschäftigungen.
Ich werfe einen kurzen Blick in die winzige Küche und Deandres Schlafzimmer und stelle fest, dass ich allein bin. Deandre arbeitet als Barkeeper und ist oftmals schon weg, wenn ich nach Hause komme. Wir sehen uns wenig, verstehen uns aber gut. Er räumt seinen Kram weg, hält sich an den Putzplan und guckt mit mir zusammen die Horrorfilme, die ich mir nicht alleine angucken kann. Er ist der perfekte Mitbewohner, wenn auch nicht mehr lange.
Unsere Wohnung ist klein, aber gemütlich. Sie hat Persönlichkeit, zumindest rede ich mir das immer ein. Das Wohnzimmer und die offene Küche sind durch einen schmalen Tresen voneinander getrennt, der eigentlich nur aus zwei zersägten Europaletten und einem großen Brett besteht, das ich vor einem Jahr vorm Haus gefunden habe. Die Wände waren einmal dunkelgrün, sind inzwischen jedoch so ausgeblichen, dass die Farbe eher einem Braunton gleicht. Unsere Couch hat Deandre aus einem Club, in dem er für kurze Zeit gearbeitet hat, und wir haben uns darauf geeinigt, die undefinierbaren Flecken auf dem Polster mithilfe eines Überwurfs zu ignorieren.
Routiniert werfe ich meine Trainingsklamotten in den Wäschekorb und stelle mich dann unter die Dusche, um den Schweiß und den Stress des Tages loszuwerden. Ich mag meinen Job, aber er ist vor allem bei der Hitze verdammt anstrengend. Die Klimaanlage im Studio muss dringend ausgetauscht werden, denn sie schafft es nicht mehr, die Räume zuverlässig runterzukühlen. Je später es wird, desto wärmer wird der Trainingsraum, und weil ich meine Safespace-Kundinnen nur abends unterrichte, habe ich jedes Mal das Gefühl, einem Hitzschlag gefährlich nahe zu kommen.
Nach der Dusche schlüpfe ich in meine bequemsten Sachen und lasse mich auf die Couch fallen. Mir tut alles weh. Wirklich alles. Die ganze letzte Woche über habe ich Doppelschichten im Studio geschoben, und das macht sich allmählich bemerkbar. Deandre hat seinen Mietvertrag zum Ende des Monats gekündigt, und meine neue Mitbewohnerin zieht erst im September ein. Das bedeutet, dass ich einen Monat lang die Miete alleine stemmen muss, um die Wohnung nicht zu verlieren. Aber im Moment sieht es nicht so aus, als würde ich das hinbekommen – selbst mit Doppelschichten.
Die Alternative wäre, wieder zu Jude und seiner Familie zu ziehen, doch das ist die allerletzte Notlösung, wenn überhaupt. Diese Wohnung ist ein Lottogewinn – Altbau, hohe Decken, akzeptable Zimmergröße, Duschbadewanne, eigener Parkplatz und Klimaanlage in jedem Raum. Ja, das Haus ist alt, hier und da renovierungsbedürftig, und in der Wohnung unter uns lebt ein wirklich schlechter Schlagzeuger, der sich weigert, seine Musikkarriere aufzugeben. Trotzdem würde man für etwas Vergleichbares an jedem anderen Ort vermutlich das Doppelte bezahlen. Meine Theorie ist, dass der Vermieter hier Drogen bunkert oder ein illegales Bordell beherbergt und die Miete deswegen so niedrig ist. Anders kann ich mir das nicht erklären.
Ich ziehe mein Handy aus der Hosentasche und schicke Selin eine Nachricht, dass sie mich anrufen soll, sobald sie Zeit hat. Ich brauche jemanden zum Reden. Jemanden mit ein wenig Abstand zu der Situation, der mir sagt, ob ich übertreibe. Jemanden, der mir aus einer neutralen Position heraus sagen kann, was er von der ganzen Sache hält.
Hinter mir ertönt ein Flattern. Kaum zwei Sekunden später fliegt Garfield über meinen Kopf hinweg und landet ein wenig unsanft mir gegenüber auf dem Couchtisch. Wieder starrt er mich an, wie immer, wenn er irgendwas will.
»Was?«, frage ich leise.
Der Vogel antwortet nicht. Natürlich nicht.
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, öffne ich ein kleines Einmachglas, das auf einem Beistelltisch neben der Couch steht, und greife hinein. Das ist Garfields Leckerlie-Glas, und auch wenn Deandre mich mehr als einmal daran erinnert hat, dass Garfield dieses Zeug nur dann bekommen soll, wenn er irgendetwas richtig gemacht hat, benutze ich das Futter viel zu oft als Bestechung. Ich werfe ihm ein paar der kleinen Körnerbällchen hin, und der Vogel hüpft zum Glück außer Reichweite. Garfield ist irgendwie charmant, aber ein Teil von mir ist sich sicher, dass er mir die Augen auspicken würde, sollte ich jetzt an einem Herzinfarkt sterben.
Ich ziehe die Beine auf die Couch und drehe den Kopf, bis mein Nacken knackt. Wieder wandern meine Gedanken zu dem Angebot, das inzwischen auf dem Küchentresen liegt. Ich muss es mir nicht noch einmal durchlesen, ich kenne die Details. Und gegen meinen Willen fange ich an, es mir vorzustellen: Eine Anstellung bei diesen Leuten würde finanziell eine verdammt große Entlastung bedeuten. Ich könnte die Wohnung kündigen, nach Miami ziehen und hätte ein Jahr lang Zeit, mir zu überlegen, wie es danach weitergehen soll. Dann hätte ich ein finanzielles Polster, vielleicht sogar ein paar Kontakte in Miami, um mir dort eine eigene Bleibe zu suchen. Denn die traurige Tatsache ist, dass mich hier in Chelmsford kaum etwas hält. Ich liebe meinen Bruder, meine Schwägerin und meine Nichte, aber ich muss nicht zwangsläufig in ihrer Nähe wohnen. Miami ist keine Weltreise entfernt, ich könnte sie besuchen. Vor ein paar Jahren, nach dem Tod unseres Vaters und dem Zusammenbruch meiner Mom, habe ich Jude gebraucht, aber mittlerweile bin ich dreiundzwanzig Jahre alt. Es ist Zeit, mein eigenes Leben zu leben … Vielleicht in Miami. Die Entscheidung für den Job als selbstständige Kampfsportlehrerin war mein erster Schritt in Richtung Unabhängigkeit. Das hier könnte mein zweiter sein.
Ich greife nach dem Tablet, das neben Garfield auf dem Couchtisch liegt, und gebe Deandres Passwort ein, bevor ich Google öffne. Einen Moment lang verharrt mein Finger ein wenig unschlüssig über dem Eingabefeld, dann tippe ich den Namen meiner möglichen Auftraggeber ein.
Es dauert den Bruchteil einer Sekunde, bis die Ergebnisse sich aufbauen. Sofort werde ich von Schlagzeilen, Erwähnungen und Werbeanzeigen geradezu erschlagen. Ich pfeife leise durch die Zähne. Jude hat nicht übertrieben, als er meinte, die Newtons seien eine große Nummer in Miami.
Das erste Ergebnis ist ein Artikel von einer Tageszeitung, in dem von einem Charity-Event berichtet wird, das die Newtons ausgerichtet haben. Ich scrolle weiter und klicke auf die Website einer Firma namens Diamond Cove Corp.
Stirnrunzelnd lese ich mir die Beschreibung durch. Die Firma baut und vertreibt Luxusyachten, ausschließlich maßgefertigte Einzelstücke. Ich klicke auf das Impressum, und jep, die Newtons sind als Inhaber aufgeführt. Ich folge ein paar Links und lande dann auf der Website von Newton Logistics, der Reederei, die Jude erwähnt hat. Sie scheint das Schlachtschiff – Wortwitz! – des Familienunternehmens zu sein, die Yachtwerft lediglich eine Tochterfirma. Die Haupteinnahmequelle der Newtons ist offenbar das Reedereigeschäft: die Verwaltung und der Betrieb von Fracht- und Containerschiffen. Ich beginne, mir die Firmenbeschreibung und das Aufgabenfeld durchzulesen, doch nach ein paar Sätzen brummt mir bereits der Schädel, und ich gebe es auf.
Okay, die Newtons sind offensichtlich eine große Nummer im Schifffahrtsgeschäft. Dass man mit Luxusyachten eine Menge Geld verdienen kann, überrascht mich nicht. Auf der Website werden noch ein ganzer Haufen andere Links aufgeführt, die zu verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen, Stiftungen und Firmenseiten führen, die offensichtlich unter dem Namen der Newtons laufen.
Diese Familie herrscht über ein ganzes Imperium.
Damit ist zumindest die Frage geklärt, ob sie es sich leisten können, mich nicht nur fürstlich zu bezahlen, sondern zusätzlich die Kosten für meine Unterkunft in Miami zu übernehmen. Bei dem Budget hätten sie locker eine ehemalige FBI- oder CSI-Agentin engagieren, vielleicht sogar jemanden aus dem aktiven Dienst abwerben können.
Gerade als Garfield mich erneut auffordernd anschreit, geht hinter mir die Wohnungstür auf. Ich drehe mich um und winke Deandre zu, der mit grimmiger Miene und vor sich hin fluchend hereinkommt.
»Was machst du hier?«, frage ich verwirrt und drehe mich auf der Couch um, damit ich ihn besser sehen kann. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. »Solltest du nicht erst gegen zwölf hier sein?«
»Ich habe heute frei«, antwortet er wütend.
»Ist ja ätzend.« Ich versuche, seinen Tonfall zu imitieren, so richtig gelingen will es mir allerdings nicht. »Wie konnten sie es wagen, dir freizugeben?«
»Klappe«, fährt er mich an, kommt dann aber zu mir herüber und drückt mir einen Kuss auf den Scheitel. »Ich weiß deine Bemühungen zu schätzen, aber ich habe den schlimmsten Tag meines Lebens hinter mir, und ich bin noch nicht bereit, mich von dir aufheitern zu lassen.«
Stirnrunzelnd sehe ich ihm dabei zu, wie er seinen Rucksack auf den Küchentresen wirft und den Kühlschrank aufreißt. »Ist etwas passiert?«
Er antwortet nicht sofort, sondern richtet sich mit einer Dose Bier in der Hand auf und lehnt sich mit dem Hintern gegen die Arbeitsplatte, bevor er mich mustert. »Nein«, sagt er schließlich und seufzt. »Ich hatte ein Date, und das lief scheiße.«
Mitfühlend verziehe ich das Gesicht. »Mit wem? Dieser Zahnarzthelferin? Eileen?«
Er schüttelt den Kopf. »Mit einem wirklich, wirklich heißen Typen namens Tim. Leider war er innerlich hässlich.«
Ich frage gar nicht weiter nach. Deandre ist ein guter Kerl, aber er ist ein verdammter Player und geht nicht immer fair mit seinen Bettgeschichten um. Dass ich von diesem Tim noch nie etwas gehört habe, überrascht mich überhaupt nicht.
»Setz dich zu mir«, sage ich und lenke ganz bewusst vom Thema ab. Mit der freien Hand klopfe ich aufs Sofa. »Ich brauche deine Meinung.«
Kommentarlos kommt er zu mir herüber und lässt sich neben mich fallen. Als er sein Tablet auf meinem Schoß bemerkt, verengt er die Augen, sagt jedoch nichts dazu. »Schieß los.«
»Jude hat heute ein Jobangebot für mich bekommen.«
»Für dich?«, hakt Deandre verwirrt nach. »Hast du dich jetzt doch von ihm einstellen lassen?«
Ich verdrehe die Augen. »Nein.« Diese Diskussion führen Jude und ich inzwischen seit beinahe zwei Jahren. Als ich mein Englisch-Studium abgebrochen habe, hat er darauf bestanden, mich zur Personenschützerin auszubilden, und wollte danach, dass ich für ihn arbeite. Aber ich habe mich geweigert. Nicht, weil ich den Job nicht machen, sondern weil ich nicht mehr als nötig von meinem Bruder abhängig sein wollte. Nachdem meine Mom die Kontrolle über ihr Leben verloren hatte und Jude und seine Frau mich bei sich aufgenommen haben, habe ich ihn gebraucht. Aber ab einem bestimmten Zeitpunkt wollte ich das nicht mehr. Ich wollte unabhängig sein, mein eigenes Ding machen. Zwar nutze ich seine Räumlichkeiten für meine Selbstverteidigungskurse, aber ich bin meine eigene Chefin. Das ist mir wichtig, allerdings fällt es Jude noch immer verdammt schwer, das zu akzeptieren.
»Warte kurz«, sage ich, drücke ihm das Tablet in die Hand und stehe auf, um den Ausdruck des Angebots zu holen. Als ich mich wieder neben ihn setze, hockt Garfield auf seinem angewinkelten Knie und mustert mich mit misstrauischem Blick. Ich setze mich neben die beiden, glätte das Papier und halte es Deandre hin.
Gerade als ich loslegen will, geht hinter uns erneut die Tür auf, und Selin steckt den Kopf herein. »Klopf, klopf.«
Ich werfe Deandre einen wütenden Blick zu. Er schließt nie ab, was mich wahnsinnig macht. Dann sehe ich Selin an. »Was machst du hier?«
»Ich war in der Nähe, als ich deine Nachricht gelesen habe«, sagt sie und kommt ganz herein, bevor sie die Tür hinter sich schließt. Sie hebt kurz die Hand und winkt Deandre zu, der sofort rot wird. Er hat offensichtlich eine Schwäche für Selin, auch wenn er das noch nie offen zugegeben hat. »Du hast keine Emojis benutzt oder so, also bin ich natürlich davon ausgegangen, dass du sauer auf mich bist und wir keine Freunde mehr sind. Wollte kurz sichergehen, dass ich das nicht falsch deute.«
Ich verdrehe die Augen. »Ich wollt’s gerade Deandre erzählen. Wenn du Zeit hast, nimm dir was zu trinken und setz dich.« Als sie kurz salutiert und sich dann in den freien Sessel fallen lässt, muss ich grinsen. »Fühlt sich an, als würde ich vor einer Jury sitzen.«
»Du klingst auch gerade so, als hättest du einen Mord begangen«, meint Deandre.
Selin lacht. »Und als würdest du uns gleich bitten, die Leiche für dich zu beseitigen.«
Ich halte wieder den Ausdruck hoch und versuche, mich auf die Fakten zu konzentrieren. Als wäre meine potenzielle neue Zukunft ein Referat für die Schule. »Das ist ein Angebot von einer Familie aus Miami, die mehr Geld besitzt, als sie vermutlich in ihrem Leben ausgeben kann. Ich habe sie gegoogelt, die haben mehrere Firmen, blabla. Die wollen, dass ich für sie arbeite.« Ich sehe Selin an. »Das haben sie Jude geschickt.«
»Als was sollst du arbeiten?«, fragt Deandre skeptisch.
»Personenschützerin«, erwidere ich achselzuckend. »Ich bin auf Judes Website gelistet. Zwar nicht als Bodyguard, aber vielleicht haben sie sich vertan oder mich mit jemandem verwechselt. Allerdings war das Angebot zumindest namentlich an mich gerichtet.«
Die beiden schweigen ein paar Minuten, während sie sich nacheinander den Ausdruck durchlesen. Ich strecke die Hand aus und streichle Garfield mit dem Zeigefinger über den Kopf. Er lässt es sich gefallen, sieht aber nicht gerade glücklich aus.
»Und?«, frage ich, als Deandre aufsieht. »Was denkt ihr?«
»Dass ich an deiner Stelle schon längst auf dem Weg nach Miami wäre«, sagt er trocken.
»Ja, oder?« Ich beiße mir auf die Lippe und überfliege den Text zum hundertsten Mal. »Das klingt alles zu gut, um wahr zu sein. Ich habe Jude gebeten, sich das noch mal bestätigen zu lassen.«
Stirnrunzelnd sieht er mich an. »Wozu?«
Ich schnaube. »Weil ich da nicht aufschlagen will, wenn wirklich jemand nur einen Fehler gemacht hat. Stell dir vor, sie wollten eigentlich Hudson oder Glenn beauftragen und schicken mich wieder nach Hause, sobald ich aus dem Taxi steige.«
Deandre deutet mit dem Finger auf einen Absatz. »Hier steht eindeutig, dass sie eine weibliche Personenschützerin suchen. Du bist die einzige in Judes Firma, oder nicht?«
»Ja«, gebe ich zähneknirschend zu. »Schlimm genug.«
»Dann würde ich meine Sachen packen, Süße«, sagt er schulterzuckend. »Keine Ahnung, warum du überhaupt zögerst.«
Ich sehe mich ein wenig überfordert um. »Die Miete für diesen Monat ist bezahlt, ich müsste mich um den August kümmern, bevor die Neue einzieht. Und um einen Nachmieter. Ich glaube nicht, dass sie sich die Miete alleine leisten kann.«
Er winkt so energisch ab, dass Garfield protestierend aufschreit und davonflattert. Deandre schaut ihm kurz ein wenig besorgt nach, dann konzentriert er sich wieder auf mich. »Zerdenk das nicht, Charlotte. Wenn du wirklich das bekommst, was diese Newtons dir hier anbieten, kannst du den August bezahlen und dann fristgerecht kündigen. Ich klinge vielleicht wie ein Arschloch, aber die Nachmieterin sollte jetzt wirklich dein kleinstes Problem sein.«
Vorsichtig sehe ich Selin an, die immer noch nichts gesagt hat. Sie hat unsere Unterhaltung stumm verfolgt, doch ich kann den Vorwurf in ihrem Blick geradezu körperlich spüren.
»Du willst ernsthaft nach Miami ziehen?«, fragt sie schließlich. »Einfach so?«
Ich zucke mit den Schultern. »Es ist ein gutes Angebot.«
»Zu wann?«, wirft Deandre ein.
Unwillkürlich beiße ich mir auf die Lippe, weil ich weiß, dass Selin meine Antwort nicht gefallen wird. »Sie suchen jemanden ab sofort.«
»Aber was ist mit deiner Arbeit und deiner Wohnung …«, beginnt sie, bricht dann aber ab, hebt die Hände und lässt sie zurück auf ihre Oberschenkel fallen. »Was ist mit deinem Leben?«
Keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll. Denn die ehrliche Antwort klingt selbst in meinem Kopf verdammt traurig: Außer meinen Freunden und meiner Familie habe ich in Chelmsford nichts, was mich hält. Meine Wohnung ist zwar schön, hat für mich jedoch keinen emotionalen Wert, meinen Job als Lehrerin für Selbstverteidigung kann ich von überall aus machen.
»Ich bin ja nicht aus der Welt«, sage ich schließlich. Mir fällt selbst auf, dass ich ein wenig flehend klinge. Ich werfe Deandre einen hilflosen Blick zu, aber der zuckt nur mit den Schultern. »Mit dem Auto sind es drei Stunden, mit dem Flugzeug noch weniger. Wir können uns immer noch sehen.«
»Was ist mit meinen Kursen?«
Damit trifft sie einen wunden Punkt, und das weiß sie. Ich winde mich innerlich, als das schlechte Gewissen in mein Herz sticht wie die Klinge eines Dolches. Denn auch wenn ich mir einzureden versuche, dass mich nichts in dieser Stadt hält, habe ich dennoch das Gefühl, Selin und die anderen Frauen im Stich zu lassen.
»Darüber werde ich mit Jude reden«, verspreche ich hastig. »Er soll jemanden suchen, der die Kurse übernimmt. Eine Frau. Es würde eine Pause geben, aber sobald er jemanden gefunden hat, geht es weiter.«
»Das ist nicht das Gleiche.«
»Mach ihr doch kein schlechtes Gewissen«, sagt Deandre überraschend schneidend und wendet sich dann mir zu. »Das ist eine einmalige Chance, Charlie. Die solltest du nicht verpassen.«
Kopfschüttelnd nehme ich ihm den Zettel mit dem Angebot aus der Hand. »Ich wette, es gibt einen Haken.«
»Für wessen Schutz wärst du verantwortlich?«, fragt Selin, die jetzt ein bisschen sachlicher klingt. »Da steht nichts von deinen Aufgaben.«
»Sie haben eine Tochter. Vierzehn oder fünfzehn, glaube ich. Die wurde in einem Artikel erwähnt. Ich nehme an, es geht um sie.«
Deandre verzieht das Gesicht zu einem beinahe schadenfrohen Grinsen und pfeift durch die Zähne. »Da hast du deinen Haken!«
»Was meinst du?«
»Eine verwöhnte, reiche Teenagerin? Girl, das ist jeden Penny wert, den sie dir zahlen wollen.«
Lachend schüttele ich den Kopf. »Ich wette, sie ist ein ganz höfliches, wohlerzogenes Mädchen.«
»Red dir das ruhig ein.« Er klopft mit einer Hand auf sein Knie. »Ich gehe jetzt duschen, und dann werde ich mich betrinken. Sagt Bescheid, falls ihr euch mir anschließen wollt.«
Ich sehe nicht auf, als er sich auf den Weg ins Bad macht. Mein Blick ist noch immer auf das Angebot gerichtet und die Zahl mit den lächerlich vielen Nullen.
»Tut mir leid«, sagt Selin, sobald Deandre verschwunden ist. Als ich aufsehe, lächelt sie, wenn auch ein bisschen traurig. »Ich wollte dir das nicht miesmachen. Aber du kannst auch nicht erwarten, dass ich mich freue, wenn du gehst.«
»Vielleicht bin ich in einem Jahr wieder da.« Ich beiße mir auf die Unterlippe. »Ich bin mir nicht sicher, ob das nur eine Art Probezeit ist oder wirklich auf ein Jahr begrenzt.«
Selin flucht. Das ist eigentlich nicht ihr Ding, doch offensichtlich ist das hier einer der wenigen Momente, in denen Kraftausdrücke angebracht sind. »Ich hasse dich ein bisschen dafür. Ich freue mich für dich, aber ich hasse dich auch.«
Unwillkürlich muss ich lachen. Selin und ich sind schon seit Jahren befreundet, waren aber nie … kuschelig. Keine Umarmungen oder Küsschen zur Begrüßung. Trotzdem weiß ich, wie viel ich ihr bedeute, und es tut weh, zu wissen, dass sie mich vermissen wird. Genau wie ich sie.
»Ich gehe jetzt ins Bett«, sage ich mit seltsam brüchiger Stimme. »Willst du noch bleiben und zugucken, wie Deandre sich die Kante gibt?«
Sie lacht über meinen müden Witz. »Verlockende Vorstellung, aber ich denke, ich gehe.«
»Ist vielleicht besser so«, erwidere ich grinsend, dann stehe ich auf und warte darauf, dass sie es ebenfalls tut. Ohne zu zögern, ziehe ich sie in meine Arme und halte sie ein paar Minuten lang fest. Wir sind beide erwachsen, und Selin hatte ohnehin vor, demnächst wegzuziehen. Trotzdem spüre ich, wie meine Augen zu brennen beginnen. Als würde ich mich nicht nur von ihr, sondern stellvertretend von meinem Leben hier verabschieden.
Gleichzeitig breitet sich ein Prickeln in meiner Magengegend aus – eine Mischung aus Angst, Vorfreude und purer Aufregung.
Bislang war mein Leben nicht gerade von Glück geprägt. Vielleicht ist das hier die Entschuldigung des Universums. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt, zu dem sich all das auszahlt.
Ich streiche über meine Bluse und versuche die unsichtbaren Falten zu glätten.
Jude wirft mir einen genervten Blick zu. »Hör auf, so rumzuzappeln!«
Unruhig sehe ich zur Wanduhr. Noch fünf Minuten bis zu meinem Termin mit den Newtons. Heute Morgen hat Jude mich angerufen und mir mitgeteilt, dass Catherine das Angebot verifiziert hat. Sie hat mit einer Assistentin der Newtons gesprochen, die ihr versicherte, dass es tatsächlich um mich geht. Dass sie mich einstellen wollen. Jude hat daraufhin einen Termin über Zoom vereinbart, und hier sind wir nun. Ich sitze in seinem Büro vor seinem Schreibtisch, weil er darauf bestanden hat, dieses Gespräch in einem professionellen Umfeld zu führen, und außerdem wollte er dabei sein. Ich habe nicht protestiert – immerhin halten die Newtons mich für seine Angestellte. Trotzdem machen mich seine Anwesenheit und der prüfende Blick, den er mir alle zehn Sekunden zuwirft, nervös.
»Drei Minuten«, sage ich, straffe die Schultern und sehe Jude an. »Wie sehe ich aus?«
»Immer noch gut«, antwortet er in einem etwas nachsichtigeren Ton. »Weißt du noch, was du sagen sollst?«
»Wir haben vor fünf Minuten darüber gesprochen, Jude. Entspann dich, ich schaffe das.«
»Du denkst selbst, dass du die Falsche für den Job bist«, erwidert er gereizt. »Aber wenn du die Chance nutzen willst, musst du vor denen überzeugend so tun, als wärst du dir deiner Sache absolut sicher, Charlie. Schaffst du das oder nicht?«
»Ich werde mit ihnen reden, Jude«, sage ich energisch. Dieses Gespräch haben wir heute Morgen am Telefon schon geführt, und ich habe wirklich keine Lust, das Thema noch einmal durchzukauen. »Es ist total bescheuert, wenn du mit ihnen sprichst. Du bist nicht mein Zuhälter.«
Er verzieht das Gesicht. »Ist ja gut. Sorry, ich bin nervös.«
»Ich auch.«
Mit einem nicht gerade beruhigenden Seufzen atmet er einmal tief ein und wieder aus, dann lässt er sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs fallen. »Du machst das schon. Sei einfach du selbst. Nur ein bisschen professioneller.«
»Dein Vertrauen in mich ist rührend.«
Der babyblaue Bildschirm vor mir verändert sich, und sofort beginnt mein Magen vor Aufregung zu kribbeln. Ich habe mich beinahe eine Viertelstunde zu früh eingeloggt und war in einer Art digitalem Wartezimmer, jetzt wird das Bild von mir selbst kleiner, und ein Ladebalken erscheint. Ich reiße demonstrativ die Augen auf und sehe Jude an, der sich reflexartig aufsetzt.
Der Bildschirm wird kurz schwarz, dann wird mein eigenes Gesicht in die obere rechte Ecke verbannt, und die Verbindung baut sich auf.
»Warten Sie einen kleinen Moment«, ertönt eine laute, dunkle Stimme. Ich fahre zusammen. »Ich habe meine Kamera ausgeschaltet. Eine Sekunde nur … Ich hab’s. Hallo.«
Plötzlich sitzt ein Mann mittleren Alters vor mir. Er hat die Stirn gerunzelt und scheint auf seinem Bildschirm irgendetwas zu suchen, dann hellt sein Gesicht sich auf, und er schaut direkt in die Kamera. Mir rutscht das Herz in die Hose.
»Miss Blossom, nehme ich an.«
»Ja, Sir«, erwidere ich in bemüht leichtfertigem Ton. »Wie geht es Ihnen? Vielen Dank für dieses Gespräch.«
»Mir geht es ganz wunderbar«, erwidert er lächelnd. Er hat scharfkantige Gesichtszüge, einen durchdringenden Blick und trägt eine dunkle Brille, die sein gesamtes Erscheinungsbild noch härter wirken lässt. Aber immerhin guckt er freundlich. »Ich danke Ihnen für die schnelle Antwort. Meine Frau und ich waren überrascht, dass Ihr Büro sich so zeitnah gemeldet hat.«
Ich werfe einen raschen Blick zu Jude, der eindeutig selbstgefällig aussieht, dann konzentriere ich mich wieder auf den Mann. »Sie sind Mr Newton, nehme ich an.«
»Oh ja, natürlich. Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt.«
Immer noch lächelnd mache ich eine abwehrende Handbewegung. »Machen Sie sich keine Gedanken. Ich habe es ja auch so herausgefunden.«
Jude gibt irgendeinen Laut von sich, aber ich ignoriere ihn.
»Mein Name ist Valentine Newton. Junior.« Er schmunzelt. »Auch wenn ich nicht danach aussehe.«
Ich stimme in sein Lachen ein. Ehrlich gesagt bin ich ein bisschen überrascht. Nach allem, was ich über die Newtons gelesen habe, habe ich einen verschlossenen, vielleicht arroganten Mann ohne jeglichen Sinn für Humor erwartet. Der Mensch, der mir gerade im weitesten Sinne gegenübersitzt, ist sympathisch und beinahe herzlich.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Mr Newton. Meinen Lebenslauf kennen Sie ja bereits, nehme ich an.«
Er lacht. »Ja, wir haben uns mit Ihnen beschäftigt, Miss Blossom.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Jude das Gesicht verzieht, und ich würde es ihm gerne nachtun. Mr Newtons Ton ist noch immer freundlich, trotzdem würde dieser Satz aus dem Kontext gerissen ein wenig unheimlich klingen.
»Das kann ich mir vorstellen«, erwidere ich höflich. »Ich bin mir sicher, dass Sie potenzielles Personal, das so nahe an Ihrer Familie arbeitet, sorgfältig auswählen.«
»Mit der Annahme liegen Sie richtig. Daher war es uns wichtig, im Vorfeld dieses Gespräch mit Ihnen …« Er unterbricht sich und richtet seinen Blick auf etwas außerhalb des Aufnahmebereichs der Kamera. »Meine Frau ist gerade eingetroffen, Miss Blossom. Es geht sofort weiter.«
Ich antworte nicht, sondern lächle einfach unermüdlich, während Mr Newton aufsteht und es so aussieht, als würde ein weiterer Stuhl neben seinen gestellt. Einen Moment später setzt er sich wieder, dann nimmt eine Frau Platz, die so ziemlich jedes Klischee einer Millionärsgattin mittleren Alters erfüllt. Während ihr Mann in seinem braunen Sweater beinahe leger wirkt, trägt sie ein elegantes Kostüm – rosafarbener Rock, passender Blazer mit goldenen Knöpfen, Perlenkette und streng hochgesteckte Haare. Sie lächelt, doch anders als bei Mr Newton scheint es ihre Augen nicht zu erreichen.
Die Nervosität in meiner Magengegend explodiert regelrecht, und meine Handflächen in meinem Schoß werden feucht.
»Miss Blossom«, sagt die Frau mit melodischer, heller Stimme. »Es ist nett, Sie persönlich kennenzulernen. Nun ja, beinahe zumindest.«
»Die Freude ist ganz meinerseits«, antworte ich vielleicht ein wenig zu schnell. »Ich habe mich bereits bei Ihrem Ehemann für die Chance bedankt.«
»Es ist vielleicht ein bisschen früh, von einer Chance zu sprechen.« Sie lacht leise, und Mr Newton grinst. »Zuerst müssen wir uns sicher sein, dass Sie die Richtige für unsere Familie sind, Miss Blossom.«
»Selbstverständlich.« Unter dem Tisch schlage ich die Beine übereinander. »Ich bin gerne bereit, Ihnen sämtliche Fragen zu beantworten.«
»Wunderbar«, sagt Mr Newton. Er schaut nach unten, vielleicht auf seine Notizen. »Erzählen Sie uns von sich. Wir wollen Sie kennenlernen.«
Unwillkürlich huscht mein Blick zu Jude. Er sieht nicht gerade glücklich aus, was ich ihm nicht verdenken kann. Ich schäme mich nicht für meine Vergangenheit oder meine Eltern, aber diese Menschen hier sind vermutlich in jeglicher Lebenslage Perfektion gewöhnt. Davon war mein Leben bislang leider weit entfernt.
»Ich komme gebürtig aus Washington, D. C.«, beginne ich, verzweifelt bemüht, die Geschichte so nah an der Wahrheit und gleichzeitig so verwaschen wie möglich zu halten. »Mein Vater ist dort geboren und aufgewachsen. Er arbeitete als Fernfahrer für einen Kühlmittelhersteller, meine Mutter als Beamtin beim MPDC, dem Metropolitan Police Department. Leider starb mein Vater vor ein paar Jahren an den Folgen eines schweren Schlaganfalls, und ich zog hierher nach Chelmsford. Meinem Bruder gehört diese Securityfirma, und er hat mich ausgebildet.«
Mrs Newtons Gesicht zeigt absolut keine Regung. Würde ihr Mann sich nicht hin und wieder bewegen, würde ich annehmen, das Bild sei eingefroren.
»Ihre Mutter ist Polizistin?«, hakt er interessiert nach.
Mein Lächeln wirkt mit Sicherheit gezwungen, aber ich bin mir relativ sicher, dass sie das über das leicht körnige Bild der Kamera nicht erkennen können.
»Das war sie, ja«, verbessere ich ihn höflich. »Sie ist aus gesundheitlichen Gründen seit 2014 außer Dienst.«
Er hebt kaum merklich die Augenbrauen. »Wie interessant.«
»Und wie lange arbeiten Sie bereits im Bereich Personenschutz?«, übernimmt Mrs Newton wieder das Gespräch. »In Ihrem Steckbrief stand, dass Sie sich speziell auf Selbstverteidigung für Frauen konzentrieren.«
»Das ist korrekt. Ich biete sogenannte Safespace-Kurse an. Diese finden überwiegend abends und in Form von Einzelunterricht statt, um Frauen, die aus bestimmten Gründen nicht an Gruppenkursen teilnehmen wollen oder können, die Möglichkeit zu bieten, das Angebot zu nutzen.«
»Und welche Gründe sind das?«
Ich richte mich auf. Über dieses Thema zu sprechen, fällt mir deutlich leichter. »Einige Frauen beispielsweise fühlen sich in einer größeren Gruppe nicht sicher, haben Traumafolgen oder sonstige Ängste, die einfacher zu zweit bewältigt werden können. Andere entscheiden sich aus religiösen Gründen für diesen Kurs. Die Nachfrage ist offensichtlich größer als das Angebot, denn gewöhnliche Privatstunden bei Trainerinnen sind oftmals zu teuer für das Durchschnittseinkommen.«
Mr Newton schaut erneut nach unten. Inzwischen vermute ich, dass er sich dort ein paar Fragen notiert hat. Das lässt ihn weniger roboterartig wirken als seine Frau. »Sie haben also Erfahrung in Sachen Selbstverteidigung und Kampfsport. Beherrschen Sie auch Techniken zum Schutz anderer?«
»Ich beherrsche beides, Sir.« Ein kleines Lächeln umspielt meine Mundwinkel. »Ich weiß mich durchzusetzen.«
»Daran habe ich keinerlei Zweifel, Miss Blossom.« Er lächelt, und sogar seine Frau guckt ein klein wenig freundlicher und weniger, als würde sie das ganze Gespräch über an einer Zitrone lutschen.
»Wenn Ihre Geschäfte so gut laufen, können Sie sich dann überhaupt vorstellen, Ihre Zelte abzubrechen und nach Miami zu ziehen?«, fragt sie.
»Ja, Ma’am. Ich bin bereit für etwas Neues.«
»Für mich klingt das alles gut«, bemerkt Mr Newton. »Sie sind eine aufgeweckte junge Frau, die sich zu wehren weiß und offensichtlich Erfahrung hat. Sie entsprechen unserem Profil.«
»Das freut mich, Sir.«
Vorsichtig sehe ich Mrs Newton an. Sie schaut immer noch höflich, wirkt jedoch nicht halb so begeistert wie ihr Mann. Vielleicht ist sie aber auch einfach nicht in der Lage, Emotionen zu zeigen, die über ein Schmunzeln hinausgehen. Sie muss mindestens fünfzig Jahre alt sein, und dafür wirkt ihre Stirn irritierend glatt.
»Ich habe noch eine Frage, Miss Blossom.«
»Selbstverständlich.«
»Sie sagten, Sie seien nach dem Tod Ihres Vaters zu Ihrem Bruder gezogen.«
Ich nicke.
»Stehen Sie noch in Kontakt mit Ihrer Mutter?«
Meine Gedanken überschlagen sich in dem Bruchteil einer Sekunde, in dem ich über meine Antwort nachdenke. »Nein, Ma’am«, antworte ich schließlich wahrheitsgemäß. »Wir sprechen aktuell nicht miteinander.«
Vielleicht täusche ich mich, aber sie sieht irgendwie zufrieden aus.
»Wunderbar. Dann schlage ich vor, dass ich Ihrem Büro alle nötigen Informationen und Unterlagen zukommen lasse, und den Rest besprechen Sie mit unserer Assistentin«, übernimmt Mr Newton wieder. »Vielen Dank, dass Sie sich Zeit genommen haben, Miss Blossom.«
»Ich danke Ihnen«, antworte ich ein wenig perplex von dem plötzlichen Umschwung. Mein Gesicht wird heiß. »Vielen Dank. Es hat mich sehr gefreut.«
Dann wird der Bildschirm dunkel, und eine kleine Mitteilung verkündet, dass die Sitzung beendet wurde.
Geräuschvoll atme ich aus, bevor ich den Laptop zuklappe und mich in meinen Stuhl zurücksinken lasse. Ich bin schweißgebadet.
»Was war das denn?«, fragt Jude und klingt dabei beinahe hysterisch.
Ich sehe ihn an. Er ringt die Hände. »Was?«
»Du hast keine einzige Frage gestellt, Charlie! Nichts zu deinen Aufgaben in dieser Familie, deinen Arbeitszeiten, den Verträgen, der Unterkunft … Nichts!«
Verwirrt sehe ich ihn an, dann wird mir bewusst, was er da gerade gesagt hat. Entnervt stöhne ich auf. Ich war so nervös, dass es in meinem Gehirn zu einer Art Kurzschluss gekommen sein muss. Anders kann ich es mir nicht erklären.
»Meinst du, ich kann noch mal anrufen?«, frage ich halbherzig, obwohl ich die Antwort auf diese Frage bereits kenne.
»Nein.« Jude hebt die Hand und fährt sich damit durch die Haare. »Das wäre unprofessionell.«
Ich ziehe die Augenbrauen hoch, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass ich weiß, was er denkt. »Ich kann nicht auf gut Glück dahinfahren, Jude. Das wäre der totale Blindflug.«
»Ganz genau.« Seine ratlose Miene verzieht sich zu einem leicht spöttischen Grinsen. »Ansonsten hast du dich wirklich gut geschlagen. Ich schätze also, du musst einfach auf das Beste hoffen.«
Schnaubend stehe ich auf und strecke mich, weil sich zwischen meinen Schulterblättern ein ziemlich hartnäckiger Schmerz einnistet. »Auf keinen Fall. Was, wenn ich diesen Newton im Schlafzimmer bewachen soll? Die haben vielleicht Geld, aber ich kenne diese Menschen nicht und du auch nicht.«
»Komm schon«, sagt er, greift nach seiner Kaffeetasse und leert sie mit einem großen Schluck. »Du wirst dir das nicht entgehen lassen, und das wissen wir beide. Mr Newton war nett, und die Ehefrau hat einfach nur einen Stock im Arsch. Den du wahrscheinlich auch haben musst, wenn du in dieser Branche und diesen Kreisen überleben willst. Ich habe gelesen, dass sie die Zügel in der Hand hält. Es ist ihre Firma. Sie muss so auftreten.«
Ich würde ihm gerne widersprechen, aber er hat recht. Wenn Mrs Newton tatsächlich eine solche Größe unter der High Society Miamis ist, dann muss sie ein verdammt dickes Fell haben. Die Welt wird immer noch viel zu oft von Männern regiert und degradiert erfolgreiche Frauen zu exotischen Zootieren.
»Bis wann muss ich mich entscheiden?«, frage ich Jude. Er ist nicht mein Chef, ich habe keinen Vertrag mit ihm. Trotzdem ist mir klar, dass er in dieser Sache das letzte Wort hat. Die Anfrage kam über sein Büro, und ich bin mir ziemlich sicher, dass auch die Verhandlungen mit den Newtons über ihn laufen werden.
»Heute Abend sollten wir ihnen antworten, denke ich. Es klang so, als würden sie lieber gestern als morgen jemanden einstellen. Und du bist sicher nicht die einzige Kandidatin.«
Das stimmt. Ich fühle mich wahnsinnig naiv, aber darüber habe ich tatsächlich nicht nachgedacht. Wahrscheinlich sitzt jetzt gerade irgendeine andere angehende Personenschützerin vor ihrem Laptop und versucht, die Newtons von sich zu überzeugen.
»Denkst du, ich habe sie mit der Sache mit Mom verschreckt?«
»Sie wären dämlich, wenn sie sich davon verschrecken lassen würden.« Sein Blick wird eine Spur weicher – mehr großer Bruder und weniger knallharter Personalchef. »Du hast das toll gemacht, Charlie. Sie haben keine Chance, jemand Besseren zu finden.«
»Danke.« Ich seufze und greife dann nach meinem Handy, das neben dem Laptop liegt. »Man könnte fast meinen, dass du mich loswerden willst.«
Er zuckt mit den Schultern. »Ich will nicht, dass du dir die Chance entgehen lässt.«
»Du willst die Provision.«
»Ich meine es ernst, Charlie.« Jude steht auf und kommt auf mich zu. Ein wenig zu nahe vor mir bleibt er stehen und legt mir eine Hand auf die Schulter. »Es wird Zeit, dass du einen Schritt vorwärts machst.«
Auf einmal habe ich einen Kloß im Hals. Gestern Abend habe ich selbst etwas Ähnliches gedacht, es von Jude zu hören, ist allerdings eine ganz andere Sache. Es klingt, als wäre ich ein armseliges Anhängsel, das sein Leben nicht im Griff hat und schon viel zu lange auf seiner Gästecouch im Keller schläft. Und irgendwie ist es auch so – im übertragenen Sinne. Damals hat er mich aufgenommen, und seitdem passt er auf mich auf, ob ich das will oder nicht.
Jude hat recht. Ich habe mich lange genug hinter meiner schlimmen Vergangenheit und der Vernachlässigung meiner Mutter versteckt. Habe lange genug versucht, mich zu finden.
Es ist Zeit für einen Blindflug.
Ich versuche wirklich, meinen Zorn im Zaum zu halten. Meine Gesichtsmuskeln zu arrangieren, meine Stimme auf einem akzeptablen Lautstärkelevel zu halten und grundsätzlich alles zu vermeiden, was meine Mutter auf die Palme bringt.
Aber es fällt mir ziemlich schwer.
»Erklär es mir noch mal«, sage ich durch zusammengebissene Zähne und ernte dafür prompt einen schneidenden Blick. »Ich versuche wirklich, es zu verstehen. Aber ich schaffe es nicht.«
Eliza Newton legt die Gabel sorgsam zur Seite und schaut zu mir hoch. Sie sitzt auf ihrem Stuhl wie auf einem Thron. Vermutlich macht der Kontakt ihres Hinterns zu diesem Möbelstück ihn tatsächlich zu einem solchen. Sie selbst ist auf jeden Fall der Meinung, dass ihre Anwesenheit jedem Raum eine gewisse Würde verleiht, da bin ich mir sicher.
»Wir brauchen jemanden, Gideon. Das weißt du.«
»Ich kenne deine Meinung«, räume ich ein. »Das heißt nicht, dass ich sie teilen muss. Wir haben Saeedi, wir haben O’Brian, wir haben Winston. Wozu brauchen wir jemand Zusätzliches?«
Sie schweigt einen Moment, dann dreht sie sich zu mir um. Ihr Blick durchbohrt mich beinahe. »Worum geht es dir wirklich? Doch nicht etwa darum, dass sie eine Frau ist.«
Als ich nicht sofort antworte, schürzt sie die Lippen. »Ich glaube es nicht, Gideon. Ich dachte ehrlich, ich hätte dich anders erzogen.«
»Darum geht es nicht.« Ich ziehe mir einen zweiten Stuhl heran und setze mich neben sie. Ich habe das Frühstück heute ausfallen lassen, genau wie alle anderen Mitglieder meiner Familie – mit Ausnahme meiner Mutter. Das hat die Hauswirtschafterin jedoch offensichtlich nicht davon abgehalten, ein vollwertiges Büfett aufzubauen. »Ich frage mich lediglich, warum du ausgerechnet eine Frau im Team haben willst. Warum diese explizite Anforderung? Was spricht gegen das Personal, das wir bereits haben?«
Sie zuckt mit den Schultern – eine äußerst seltene Geste. Zu normal, zu belanglos. »Das geht dich nichts an. Es wundert mich, dass du bei dieser Entscheidung so leidenschaftlich bist, Gideon. Für gewöhnlich hast du kein besonderes Interesse an meinen Plänen, die das Personal betreffen.«
»Lass das. Tu nicht so, als würdest du meinen Standpunkt nicht verstehen. Es passt nicht zu dir, die Naive zu spielen oder Strohmannargumente ins Feld zu führen.«
Bevor sie darauf etwas antworten – oder mich auf mein Zimmer schicken – kann, geht die dunkle Flügeltür am Ende des Esszimmers auf, und mein Vater kommt herein. Meine Augenbrauen wandern ganz automatisch in die Höhe, als ich seinen dunkelblauen Anzug, das gestärkte schneeweiße Hemd und das passende Einstecktuch bemerke.
»Wo warst du?«, frage ich irritiert. »Es ist gerade mal zehn.«