Die Hüter der fünf Jahreszeiten, Band 1: The Lie in Your Kiss (Romantische Fantasy - So aufwühlend wie der Herbstwind, so unvergesslich wie ein Sommerabend.) - Kim Nina Ocker - E-Book

Die Hüter der fünf Jahreszeiten, Band 1: The Lie in Your Kiss (Romantische Fantasy - So aufwühlend wie der Herbstwind, so unvergesslich wie ein Sommerabend.) E-Book

Kim Nina Ocker

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Beschreibung

Wenn der Winter den Frühling küsst. Als Bloom zur Hüterin des Winters bestimmt wird, bricht ihr Leben zusammen. Denn obwohl sie zu einer der vier magischen Herrscherfamilien gehört, die den Kreislauf der Jahreszeiten aufrechterhalten, wollte Bloom sich aus alldem heraushalten. Doch nun muss sie das Amulett der Jahreszeiten an den Hüter des Frühlings übergeben. Sie ahnt nicht, dass diese Begegnung und ein einziger Kuss genügen, um nicht nur ihr Herz, sondern auch ihre Familie und die gesamte Welt in Gefahr zu bringen. ***Eine Szene aus "Die Hüter der fünf Jahreszeiten, Band 1*** »Darf ich bitten?« Ich sehe auf und begegne Milans braunen Augen, als ich meine Hand in seine lege. Seine Hand ist kühl und er wirkt vollkommen ruhig, keine Spur von Nervosität. »Ich habe wohl keine Wahl«, erwidere ich trocken. Ich lasse mich von ihm auf die Tanzfläche führen, muss mich allerdings gewaltig konzentrieren, um nicht über das lange Kleid zu stolpern. Nur verschwommen nehme ich die Menschen um uns herum wahr, die Dekoration und die Lichter. Sein leises Lachen entspannt mich ein wenig. »Du klingst nicht gerade begeistert.« Ich lege den Kopf schief. »Gut kombiniert.« Er zieht mich in seine Arme und ich spüre die Muskeln unter seinem Hemd. Dann führt er mich sanft in eine Drehung, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Nun, Wintermädchen«, raunt er und zieht mich kaum merklich ein wenig dichter an sich. »Diese kalte Fassade steht dir gut zu Gesicht, aber auch du bist nur eine Figur in diesem Spiel, vergiss das nicht.«

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Seitenzahl: 611

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Originalausgabe Als Ravensburger E-Book erschienen 2021 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg © 2021 Ravensburger Verlag GmbH Text © 2021 Kim Nina Ocker Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langenbuch & Weiß, Hamburg. Covergestaltung: Carolin Liepins unter Verwendung von Fotos von © Shutterstock/ninanaina, ShotPrime Studio, Inara Prusakova, Anton Watman, asharkyu, BERNATSKAIA OKSANA und kostasgr Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-473-51093-1www.ravensburger.de

Für Nadja.

Das hier ist unser Buch.

Einleitung

Einst wurde die Welt von den Göttern beherrscht. Sie lenkten den Wandel der Zeiten, ließen Blumen erblühen, Blätter fallen und Flüsse vereisen. Die Jahreszeiten, von den Göttern entworfen, sollten die Menschen an ihre eigene Vergänglichkeit erinnern und sie dem göttlichen Willen unterwerfen. Als die Götter sich jedoch in ihre Welt zurückzogen und die Erde der Herrschaft der Menschen überließen, verfiel die Welt, so wie wir sie kennen, dem Chaos. Die Natur geriet außer Kontrolle, starke Temperaturschwankungen überrollten das Land, Ernten wurden zerstört und Eis legte sich wie eine Decke über Teile der Welt.

Um dem Chaos entgegenzuwirken und die Welt vor dem Verfall zu retten, erwählten die Götter vier Familien, die den Wechsel der Jahreszeiten übernehmen und die ursprüngliche Ordnung wiederherstellen und gemeinsam aufrechterhalten sollten. Um diese Pflicht erfüllen zu können und die Sicherheit der Menschen zu bewahren, erhielten die Familien magische Kräfte, die ihren zugeteilten Jahreszeiten entsprachen.

Energetische Kräfte für die Kontrolle über den Winter, Heilkräfte als Symbol für den Frühling, körperliche Kraft und Überlegenheit für die Wächter des Sommers und degenerative Fähigkeiten als Zeichen für das Sterben der Natur im Herbst.

Die Familien wurden angewiesen, in jedem neuen Jahr, für jeden anbrechenden Kreislauf, jeweils einen Hüter aus ihren Reihen auszuwählen. Vier Hüter, stellvertretend für ihre Familien, sollen gemeinsam für das Sterben und Entstehen der vier Jahreszeiten sorgen.

Diese Aufgabe wird von Generation zu Generation weitergegeben. Auf dass sie die Familien daran erinnert, dass auch sie vergänglich sind und fallen werden. Genau wie die Blüten der ersten Blumen im Frühling, der Regen im Sommer, das Laub der Bäume im Herbst und der Schnee im Winter, wenn sich der Kreislauf dem Ende neigt.

Familie Ostara, Hüter des Frühlings.

Familie Flores, Hüter des Sommers.

Familie Chastain, Hüter des Herbstes.

Familie Kalinin, Hüter des Winters.

COLD

Fluchend steige ich über den Klamottenberg im Zimmer meines Cousins. Ich hasse es, dass Sander sich benimmt wie ein Prinz in seinem verdammten Königreich. Egal was er in der Hand hält – er lässt es einfach fallen oder stellt es ab und ist dann der Meinung, die Sachen rücken durch Zauberhand wieder zurück an ihren ursprünglichen Platz. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass Sander keine Ahnung hat, wie viele Angestellte nötig sind, um jeden Tag seinen Scheiß wegzuräumen.

Für gewöhnlich stört mich seine Selbstbezogenheit nicht. Ich bin damit aufgewachsen und habe mich irgendwie daran gewöhnt. Leider hat dieser Idiot sich mein Ladekabel ausgeliehen, und ich kann es nirgends finden. Ich habe nur noch sieben Prozent Akku, und wenn ich es noch rechtzeitig ins Kino schaffen will, muss ich in einer halben Stunde los.

Still sende ich ein paar Flüche gegen Sander in die Luft. Sollten die Götter, an die meine Familie glaubt, wirklich existieren, werden sie ihren Goldjungen zwar sicher nicht bestrafen, aber es kann auch nicht schaden.

Ich laufe durch den breiten Flur meines Elternhauses und lasse den Blick dabei über die unzähligen Gemälde an den Wänden schweifen. Vermutlich könnte ich die Gesichter aus dem Gedächtnis zeichnen, auch wenn ich kaum einen dieser Menschen persönlich getroffen habe. Jedes Bild zeigt das Gesicht eines Winterhüters – die Stars ihrer jeweiligen Generation. Mir ist klar, dass ich als Mitglied des Winterhauses ein wenig stolzer auf diese Menschen sein sollte, immerhin sind sie allesamt meine Vorfahren. Wenn Sander, meine Tante oder mein Großvater an diesen Gemälden vorbeilaufen, ist bei ihnen jedes Mal ein gewisses Maß an Ehrfurcht zu erkennen. Bei mir nicht. Ich bin kein aktiver Teil dieses ganzen Familienunternehmens und sehe damit auch nicht wirklich die Notwendigkeit, so zu tun, als würde mir all das etwas bedeuten.

Im Treppenhaus halte ich inne und lausche. Wie kann ein Haus, das so viele Menschen beherbergt, so verdammt still sein? Vielleicht sollte ich direkt nach unserer Haushälterin Märtha suchen – in der Regel weiß sie deutlich besser über das Verbleiben sämtlicher Gegenstände Bescheid als die Besitzer selbst.

»Sander?«, rufe ich und höre das Echo meiner eigenen Stimme. Ich sollte im Haus eigentlich nicht schreien. Nicht schreien, nicht rennen, nicht toben – im Grunde ist alles, was Spaß macht, verboten. Als Kind habe ich mich penibel daran gehalten, weil ich allen gefallen und dazugehören wollte. Heute ist es mir herzlich egal.

Als ich keine Antwort erhalte, stoße ich einen lauten Seufzer aus und laufe die Treppen hinunter, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Im Keller befindet sich der einzige Raum dieses Anwesens, in dem man ansatzweise Spaß haben kann. Dort stehen ein Kicker und eine Leinwand, auf der wir als Kinder oft Filme geguckt haben – vor Netflix und Co. Da Sander weder in seinem Zimmer noch in einem der Trainingsräume war, ist das mein nächstes Ziel.

Ich erschaudere kurz und schlinge die Arme um meinen Oberkörper, als ich die letzte Treppe erreiche. Der Winter mag sich dem Ende zuneigen, trotzdem ist es immer noch verdammt kalt. Für mich persönlich kann der Frühling nicht schnell genug kommen. Für meine Familie hingegen bedeutet diese Zeit im Jahr immer ein wenig Wehmut, da der Winter und dadurch unsere Herrschaft zu Ende geht. Seit unzähligen Generationen schon lenken die Kalinins die kalte Jahreszeit. Und meine Familie nimmt diese Aufgabe sehr ernst – alle, bis auf mich. Ich bin ein uneheliches Kind, was an sich noch nicht so schlimm wäre, doch mein Vater ist kein Mitglied eines Jahreszeitenhauses, was bedeutet, dass er von meiner Familie nicht akzeptiert wurde. Er ist noch vor meiner Geburt verschwunden, und ich wurde quasi geduldet, aber nie wirklich für voll genommen. Anders als all diese Jungen und Mädchen auf den Gemälden, bei denen ich immer das Gefühl habe, dass sie mich irgendwie abschätzig aus ihren Rahmen heraus beäugen.

Als ich am Fuß der hölzernen Treppe ankomme, sinkt die Temperatur noch einmal um gefühlte zehn Grad. Was seltsam ist, da die Wände dick und die Räume für gewöhnlich selbst im Keller gut beheizt sind. Vermutlich haben Sander oder meine Cousinen eines der Oberlichter offen gelassen.

Ein ungutes Gefühl steigt in mir auf. Ich kann nicht benennen, woher es kommt, doch es legt sich wie eine eiskalte Hand um mein Herz. Mitten in der Bewegung halte ich inne und sehe mich um. Außer einer kleinen Kommode, auf der eine Vase mit Blumen steht, ist nichts zu sehen. Ich bin allein. Und genauso fühle ich mich auch. Als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt oder als hätte jemand eine Glaskuppel über mich gestülpt, die mich von der Außenwelt abschirmt.

Mit zitternden Fingern strecke ich die Hand nach der Türklinke aus und versuche, die seltsamen Gedanken zu vertreiben. Das hier ist nur mein Keller. Ich habe ihn schon Tausende Male betreten, und nie ist etwas passiert. Meine Hand umschließt den Knauf und dreht ihn herum, während der Druck sich von meinem Herzen auf meine Lunge ausbreitet. Plötzlich dringt mein Atem nur noch in kleinen weißen Wolken aus meinem Mund.

Nervös lache ich auf. Ich bin an seltsame Geschehnisse in diesem Haus gewöhnt. Das bleibt einfach nicht aus, wenn die Mehrzahl der Bewohner über magische Fähigkeiten verfügt. Doch diese Ereignisse hatten nie etwas mit mir zu tun, denn ich besitze keine Fähigkeiten. Ich bin nichts Besonderes.

Ein wenig entschlossener öffne ich die Tür. Womöglich macht Sander gerade irgendwelche Experimente mit seinen Kräften.

Doch drinnen ist kein Sander zu sehen. Der Fernseher ist aus, keine Musik ist zu hören und sämtliche Lichter sind erloschen, was das Zimmer in einen einzigen seltsamen Schatten verwandelt. Nichts Außergewöhnliches also, abgesehen von der Tatsache, dass es auch hier drinnen verdammt kalt ist. Fröstelnd sehe ich mich um. Vielleicht ist mein Ladekabel trotzdem hier unten.

Ich habe erst ein paar Schritte in den Raum hineingemacht, als ich stirnrunzelnd bemerke, dass einige der Kissen nicht mehr auf der Couch liegen. Außerdem ist eines der kleinen Beistelltischchen umgeworfen worden und liegt auf dem Boden. Vorsichtig gehe ich um die Couch herum.

Und bleibe wie angewurzelt stehen.

Von einer Sekunde auf die andere rast mein Herz wie wild, mein Atem stockt und hängt als undurchsichtiger Nebel vor meinem Gesicht.

Mein Hirn scheint eine Weile zu brauchen, um die Situation zu analysieren. Als es das jedoch schafft, dringt ein markerschütternder Schrei aus meiner Kehle. Ich erkenne meine Stimme selbst kaum wieder.

Vor mir auf dem Boden, die Gliedmaßen seltsam unnatürlich abgewinkelt, liegt Sander.

Meine Knie geben unter mir nach. Ich lasse mich neben ihm auf den Boden fallen, und einen Moment lang weiß ich nicht, was ich tun soll.

»Sander«, flüstere ich und berühre mit den Fingerspitzen seine Stirn.

Wie ein elektrischer Schlag fährt die Energie von seiner Haut in meine Finger. Ruckartig zucke ich zurück. Er ist eiskalt, seine Augen blicken ins Leere. Keine Reaktion. Kein Leben. Ich könnte seinen Puls fühlen, doch aus irgendeinem Grund weiß ich einfach, dass er tot ist.

Sander ist tot.

»O mein Gott«, schluchze ich, auch wenn ich mir sicher bin, dass die Worte von meinem Herzschlag übertönt werden. Ich kann den Blick nicht von Sander lösen. Kälte ergreift von mir Besitz, immer mehr, bis ich das Gefühl habe, zu erfrieren. Ich kann kaum atmen, keinen klaren Gedanken fassen. »Hilfe!«, schreie ich, während ich mich verzweifelt umsehe. Meine Stimme hallt durch den Keller, wird von den Steinwänden um mich herum zurückgeworfen. Die Mauern sind dick, doch ich weiß, dass sie mich hören werden. Das hier ist der Tod, und meine Familie kann ihn spüren. Sie müssen spüren, dass sie einen von uns verloren haben.

Nur am Rande registriere ich Stimmen, Schritte auf der alten Holztreppe, die in meine Richtung rennen, auf Sander zustürzen und mich zur Seite schieben. Ich will etwas sagen, will die Leute anschreien und fragen, was das zu bedeuten hat. Doch ich kann nicht. Es ist, als wäre sämtliche Kraft aus meinen Muskeln gewichen und hätte mich als kleines Häufchen Elend zurückgelassen.

Sander ist tot.

Mein Cousin ist tot. Dabei war er jung und nicht krank und nicht … nicht bereit zum Sterben.

Die Erkenntnis sickert nur langsam in mein Bewusstsein, als würde sie durch dichten Nebel waten. Ich muss etwas tun. Ich muss aufstehen und … keine Ahnung.

Die Hände an meinen Seiten ballen sich zu Fäusten. Ich spüre die Energie der Menschen um mich herum, kann sie beinahe greifen, auch wenn ich nach wie vor kein Wort von dem verstehe, was sie sagen.

Als wäre mein Körper auf Autopilot, öffne ich den Mund und schreie. Ein gewaltiger Schmerz ballt sich hinter meiner Stirn zusammen, kleine Lichter tauchen in meinem Blickfeld auf, doch ich fühle mich stärker. Mächtiger. Ich schreie das Leid und den Schock aus meiner Seele heraus, die Augen fest auf Sander gerichtet. Schließlich verebbt meine Stimme, und ich atme zischend ein und wieder aus. Immer noch ist es so kalt im Raum, dass mein Atem augenblicklich kondensiert.

Zitternd sehe ich mich um und schnappe nach Luft. Um mich herum auf dem Boden liegen weitere leblose Körper. Ich erkenne die Gesichter einiger Angestellter und das meiner Cousine Zara. Sie alle haben die Augen geschlossen und rühren sich nicht.

»Was zur Hölle …?« Erschrocken springe ich auf. Die Leute, die gerade noch um mich herumgestanden und durcheinandergerufen haben, sind ohnmächtig. Ich habe so etwas schon einmal gesehen, habe miterlebt, wie einer meiner Onkel die Energie aus den Leuten gezapft hat wie Harz von einem Baum. Diese magischen Fähigkeiten sind an sich nichts Ungewöhnliches, dennoch ergibt es keinen Sinn. Denn die einzige noch aufrecht stehende Person in diesem Raum bin ich. Aber ich habe keine Kräfte, habe noch nie welche besessen. Ich kann das nicht gewesen sein, ich kann nicht …

Ich blinzle ein paarmal und stolpere ein paar Schritte rückwärts.

»Wacht auf«, flüstere ich verzweifelt. Ich habe keine Ahnung, was hier passiert ist, und mein Verstand weigert sich, seine Schlüsse zu ziehen.

Als ich aus dem Raum stürme, fällt mein Blick für den Bruchteil einer Sekunde auf die Blumen, die auf der kleinen Kommode im Flur in einer Vase stehen. Die Blumen, die noch vor ein paar Minuten leuchtend rot geblüht haben.

Jetzt sind sie tot, als hätte jemand oder etwas sämtliches Leben aus ihnen herausgesogen.

THE ENERGY OF DEATH

Zwanzig Minuten später schließe ich zitternd die Tür hinter mir und schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Keine Ahnung, wie lange ich so dastehe – ohne etwas zu sehen, ohne mich zu bewegen. Wahrscheinlich sind es höchstens ein paar Minuten, aber es kommt mir vor wie Stunden. Immer wieder taucht Sanders lebloses Gesicht vor meinem inneren Auge auf, und egal, wie sehr ich es auch versuche, ich werde es einfach nicht los. Tausend Fragen schwirren durch meinen Kopf wie ein aggressiver Bienenschwarm. Am liebsten würde ich erneut alles aus mir hinausschreien. Oder irgendetwas tun, um die Bilder und die Stimmen aus meinen Gedanken zu verbannen.

Sander ist tot. Zweifellos. Ich bin zwar kein Arzt, aber als ich sein Gesicht berührt habe, war seine Haut eiskalt, seine Augen leer. Und ich habe es gespürt. Ich habe den Tod in diesem Raum gespürt wie einen widerlichen Gestank. Genauso wie meine Familie. Niemand hat es laut ausgesprochen, aber sie alle wirkten geschockt und verunsichert.

Denn eines ist klar – mein Cousin ist nicht einfach tot umgefallen. Er ist ein mächtiges Mitglied eines Jahreszeitenhauses. Wir haben Privatärzte, und unsere Gesundheit wird vermutlich gründlicher überwacht als die der Königsfamilie. Es muss also einen triftigen Grund dafür geben, dass sein Herz aufgehört hat zu schlagen.

Ein Schaudern ergreift mich, und erneut wird mein Körper von einem Zittern geschüttelt. Meine Beine beginnen zu kribbeln und drohen unter mir nachzugeben. Ich atme einmal tief durch, versuche, mich zu beruhigen, und durchquere mein Zimmer, um mich auf meine kleine Lesebank vor dem Fenster zu setzen. Der kahle Wald, der sich um unser Anwesen erstreckt, scheint bedrohlich seine Finger nach mir auszustrecken. Normalerweise liebe ich diese Bäume, selbst wenn sie blattlos und irgendwie trist aussehen. Heute jedoch erscheinen sie mir wie dunkle Boten, die mich mit Fragen zu befeuern scheinen, auf die ich keine Antworten habe.

Sander ist tot. Immer wieder geistern diese drei Worte durch meine Gedanken, doch sie ergeben nach wie vor keinen Sinn. Mein Cousin kann nicht einfach tot in unserem Keller liegen. So etwas passiert einem nicht mal eben so an einem normalen Freitagabend. Schon gar nicht einem Jahreszeitenmitglied. Völlig unmöglich.

Genauso unmöglich wie die Tatsache, dass ein Dutzend Leute um mich herum einfach aus den Latschen gekippt ist. Meinetwegen. Energisch schiebe ich die Erinnerung daran beiseite. Wenn ich mich jetzt auch noch damit beschäftige, verliere ich vermutlich völlig den Verstand.

Ein leises Klopfen lässt mich so erschrocken zusammenfahren, als hätte jemand ohne Vorwarnung die Tür eingetreten. Mein Herz stolpert ein paarmal in meiner Brust, und ich schnappe nach Luft, während ich mich hastig ein wenig aufrechter hinsetze.

»Ja?«, rufe ich und bin überrascht, dass meine Stimme kaum zittert.

Die Tür öffnet sich; es ist meine Mom. Doch anstatt hereinzukommen, bleibt sie im Türrahmen stehen und lehnt sich mit der Schulter dagegen. Diese Geste kenne ich von ihr – für gewöhnlich folgt darauf eine Predigt darüber, dass ich meinen Kram irgendwo herumliegen gelassen habe oder etwas in der Art. Aber nicht heute.

Eine Weile mustert sie mich schweigend. »Wie geht es dir?«, fragt sie schließlich.

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wie geht es dir?«

Ein halbes Lächeln erscheint auf ihren Lippen, verschwindet aber sofort wieder. »Keine Ahnung. Dr. Sørensen ist auf dem Weg. Er wird hoffentlich ein bisschen Licht ins Dunkel bringen.«

Gedankenverloren nicke ich. Wir haben keinen eigenen Arzt auf der Insel, aber einen Vertrauten auf dem Festland. Er weiß über uns Bescheid, und ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Familie einen Haufen Geld dafür springen lässt, dass er sein Wissen nicht dem nächstbesten Reporter erzählt. Ein Besuch von Dr. Sørensen ist selten und macht nur noch deutlicher, wie ernst die Sache ist. Wieder macht mein Herz einen schmerzhaften Sprung.

»Mom«, beginne ich zögernd. »Ich habe ihn gesehen. Er sah … nicht gut aus.«

Mom hebt beide Augenbrauen und presst die Lippen aufeinander. »Das ist wohl eher untertrieben, Bloom.«

»Ich meine, er sah nicht einfach so aus, als hätte er sich den Kopf gestoßen. Ich glaube, seine Beine waren gebrochen, und seine Arme …«

»Das reicht«, unterbricht meine Mutter mich barsch und schließt einen Moment lang die Augen. Es wirkt beinahe, als wäre sie genervt. Als wäre ich ein Kind und würde mit ihr darüber diskutieren, länger wach bleiben zu dürfen. Nicht als würden wir gerade die Todesursache meines Cousins erörtern. »Es bringt uns nichts, Vermutungen anzustellen, Bloom. Wir warten auf den Arzt, der wird uns Genaueres sagen können.«

Ich will protestieren, doch dann klappe ich den Mund wieder zu, bevor auch nur ein Wort herauskommen kann. Ich misstraue meiner Mutter nicht, es gibt Zeiten, in denen ist sie meine einzige Verbündete in dieser Familie. Aber ich weiß, dass dieses Haus manchmal einer Schlangengrube gleicht. Es wird getuschelt, und an jeder Ecke gibt es Geheimnisse. Daher ist es manchmal einfach besser, zu schweigen und zu beobachten, bevor man sich einmischt.

»Okay, aber gebt mir bitte Bescheid, wenn ihr etwas Neues wisst«, sage ich und bemühe mich, einen versöhnlichen Ton anzuschlagen.

Mom nickt, während sie mich erneut mustert. »Wir reden über alles, versprochen. Wenn es so weit ist. Versuch jetzt, etwas zu schlafen, okay? Es werden ein paar anstrengende Tage. Ich schicke Märtha mit einem Tee rauf.«

Als sie die Tür hinter sich zuzieht, lehne ich müde den Kopf gegen die Wand und schließe die Augen. Der Tag und die Ereignisse der letzten Stunden stecken mir immer noch in den Knochen. Ich habe Magie eingesetzt – zum ersten Mal in meinem Leben.

Für gewöhnlich besitzen alle direkten Nachfahren des Meisters, alle Nachfahren des ersten, von den Göttern auserwählten Hüters, magische Kräfte. Sie sind ein Teil von uns, genau wie unsere Augenfarbe oder unsere Persönlichkeit. In der Regel zeigen sie sich bereits sehr früh, im Kleinkindalter oder sogar noch früher. Am Anfang sind unsere Kräfte nur schwach ausgeprägt und nicht richtig kontrollierbar. Wir lernen sie zu beherrschen, wie wir das Laufen oder Sprechen lernen. Es ist ein natürlicher Prozess.

Doch nicht so bei mir. Ich war nicht außergewöhnlich, ich habe nie auch nur den Verdacht erweckt, irgendwelche Kräfte zu besitzen.

Bis heute.

Und ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat. Noch nie habe ich von einem Menschen gehört, dessen Kräfte sich erst so spät gezeigt haben. Es liegt zwar in meinem Blut, aber ich bin immer davon ausgegangen, dass ich eine Ausnahme von der Regel darstelle. Weil mein Vater kein Mitglied der Jahreszeitenhäuser ist und daher keine Magie wirken kann. Ich bin davon ausgegangen, dass ich diese normale Seite von ihm geerbt habe.

Aber vielleicht war es ja auch nur eine einmalige Sache. Vielleicht hat sich diese winzige Seite meiner Jahreszeitenmagie nur einmal kurz gezeigt, in einer Extremsituation. Ähnlich wie Mütter, die bei großer Angst um ihr Kind plötzlich in der Lage sind, ein Auto anzuheben. Vielleicht bin ich immer noch normal.

Nach ein paar Minuten reiße ich mich selbst aus meinen Grübeleien und schleppe mich ins Badezimmer. Obwohl ich seit Stunden nichts mehr gegessen habe, verspüre ich keinerlei Appetit. Ich kann kaum klar denken, geschweige denn mir vorstellen, dass morgen oder in ein paar Tagen alles wieder normal sein wird und wir alle gemeinsam am Tisch sitzen und zusammen zu Abend essen werden. Routiniert drehe ich die Heizung ganz auf und lege ein paar Handtücher darüber, damit sie schön warm werden. Eine nicht zu vertreibende Kälte hat sich in meinen Körper gefressen – und das, obwohl ich ein Wintermädchen bin. Die Legenden sagen, dass wir mit der Kälte und dem Tod verbunden sind, ihn im Kreislauf der Jahreszeiten symbolisieren. Jede Familie steht für etwas anderes, der Frühling für das Leben, der Sommer für Kraft und Stärke, der Herbst für das Alter und den Zerfall und der Winter für den Tod. Die Ruhe nach dem Leben. Ich habe daran nie geglaubt. Tatsächlich habe ich in diesem Moment das Gefühl, als würde die Energie des Todes an meiner Haut kleben wie ein Schleier.

Nachdem ich meiner besten Freundin Emma eine kurze Nachricht geschickt und den Kinoabend abgesagt habe, ziehe ich mich aus und stelle mich unter den heißen Strahl. Sobald das Wasser auf meine verspannten Nackenmuskeln trifft, schließe ich die Augen und lasse den Kopf nach vorn fallen. Die Wärme und das monotone Prasseln beruhigen mich irgendwie. Am liebsten würde ich einfach hier bleiben. Auf ewig unter der heißen Dusche und einfach so tun, als würde all das Chaos um mich herum nicht existieren.

Als wäre ich selbst kein Teil davon.

Habe ich gestern noch gehofft, die Lage würde sich bis zum nächsten Morgen etwas beruhigen, so werde ich nun eines Besseren belehrt; es ist noch genauso chaotisch und seltsam wie am Abend zuvor. Weil niemand wirklich die Ruhe hat, sich hinzusetzen, frühstücke ich allein an der großen Tafel im Esszimmer. Zwar bin ich auch nicht wirklich bei der Sache, aber anders als die anderen habe ich anscheinend keine Aufgabe. Normalerweise verbringe ich die Sonntage erst im Bett und treffe mich dann mit Freunden, surfe an meinem Laptop oder sehe mir Serien an. Jetzt nach Oslo zu fahren und etwas zu unternehmen, erscheint mir jedoch irgendwie unpassend, und für Netflix fehlt mir einfach die Geduld.

Märtha, unsere Haushälterin, hat mir eine Portion Rømmegrøt gebracht, aber ich schmecke kaum etwas. Eine wirklich besorgniserregende Tatsache, denn der Grießbrei mit Honig ist normalerweise eines meiner Lieblingsessen. Doch der gestrige Tag steckt mir immer noch in den Knochen, und meine Gedanken kreisen unablässig um Sanders Tod. Auch in der Nacht habe ich kaum ein Auge zugetan.

Nach dem Frühstück überlege ich kurz, einfach wieder in mein Zimmer zu gehen, entscheide mich dann aber dagegen. In diesem Haus kann ich nicht denken, an manchen Tagen fällt es mir sogar schwer, zu atmen. Also schlüpfe ich stattdessen in meine Winterjacke, wickle mir einen gigantischen Schal um den Kopf und schlüpfe durch einen Nebeneingang hinaus in den kalten Morgen. Der Winter mag sich dem Ende zuneigen, aber nicht auf Kalinøya, der Insel, die meine Familie bewohnt. Hier herrscht das ganze Jahr über Winter. Zwar wird es zwischendurch ein bisschen wärmer, aber die Bäume bleiben stets kahl und die Landschaft irgendwie eisig. Trotzdem liebe ich es. Der Winter hat seinen eigenen Charme, und ich mag die nachdenkliche Stimmung, die er verbreitet.

Bevor ich mich vom Haus entferne, klopfe ich noch einmal auf meine Tasche, um zu überprüfen, ob ich das Handy dabeihabe. Ich habe meine Mutter heute nur kurz im Vorbeigehen gesehen, und sie sagte, sie würde sich melden, sobald mein Großvater Zeit hätte und wir über meine Kräfte reden könnten. Was dringend notwendig ist. Auch wenn ich immer noch hoffe, dass es nur eine einmalige Sache war.

Während ich dem schmalen Pfad folge, der um unser gigantisches Haus herumführt, schweifen meine Gedanken erneut zu Sander. Er war der amtierende Hüter des Winters. Hüter zu sein, ist eine der größten Ehren, die einem in meiner Welt zuteilwerden kann. Es ist eine Art Geburtsrecht, vergleichbar mit der Thronfolge einer Königsfamilie. Mein Ur-ur-ur-ur-ur-keine-Ahnung-wie-viel-urgroßvater war der erste Hüter unserer Familie. Der erste, der – der Legende nach – von den Göttern ausgewählt wurde, um den Winter im Kreislauf der Jahreszeiten zu beherrschen. Danach wurde dessen Sohn Hüter, danach dessen und so weiter und sofort. Mein Großvater war ebenfalls Hüter, bevor er nach dem Tod seines Vaters Meister, also der Chef unseres Hauses und der Vertreter des Winters, wurde. In meiner Generation war Sander das älteste Kind und somit der aktuelle Hüter des Winters. Er hätte später gute Chancen auf den Job des Meisters, des Familienoberhauptes, gehabt, wäre er nicht gestorben.

Unwillkürlich frage ich mich, wer nun seine Aufgabe übernehmen wird. Vermutlich Zara. Sanders jüngere Schwester ist zwar jünger als ich, aber immerhin hat sie Kräfte. Sie kann die Zukunft sehen, wenn auch nicht sehr verlässlich. Damit ist sie mir ein ganzes Stück voraus.

Als ich die steile Steinküste erreiche, die mich vor dem unruhigen Fjord schützt, bleibe ich stehen und lasse mich auf einen großen Felsen sinken, der neben mir aus dem vereisten Boden ragt. Das Wasser ist so dunkel, dass es beinahe schwarz wirkt, und peitscht hin und her, als wäre es wütend. Mein Blick wandert über die Wellen und bleibt an der undeutlichen Skyline von Oslo hängen. Die Stadt erhebt sich majestätisch aus dem Wasser, ist wegen des Nebels und des leichten Nieselregens aber kaum zu erkennen.

Mir entfährt ein sehnsüchtiges Seufzen, das sofort vom Wind davongetragen wird. Als Kind habe ich mir oft gewünscht, auf dem Festland zu wohnen, anstatt auf dieser Insel. Die Einwohner von Oslo, genau wie die Einwohner vom Rest der Welt, haben keine Ahnung von der Magie, die meine Familie und die anderen Jahreszeitenfamilien besitzen. Unsere Höfe sind auf der ganzen Welt verteilt, dennoch haben die Menschen keine Ahnung davon, dass wir ihnen jedes Jahr aufs Neue den Frühling, Sommer, Herbst und den Winter bringen. Und ein Teil von mir beneidet sie dafür. Unwissend zu sein, ihr Leben ohne weitreichende, weltverändernde Verpflichtungen zu leben. Denn obwohl ich in dieser Welt aufgewachsen bin, hatte ich durch meine fehlenden Kräfte und meinen normalen Vater nie einen wirklichen Platz darin. Also habe ich früh gelernt, zu den anderen zu gehören. Ich gehe auf eine normale Schule, habe normale Freunde und will ein normales Leben. Für mich persönlich kann der Schulabschluss nicht schnell genug kommen – und danach bin ich weg. Weg von den Geheimnissen, weg von Hütern und Meistern und weg von Magie, mit der ich mich bisher nie auseinandersetzen musste.

Erneut mustere ich die Umrisse der Stadt. Aus der Schule weiß ich, dass Oslo im Mittelalter zwei Burgen und einen Königshof hatte. Und ich habe mich schon oft gefragt, ob eines dieser Anwesen meiner Familie gehörte. Heute hat meine Familie viel Einfluss in der Stadt – uns gehören große Firmen, wir besitzen eine Menge Geld, haben Leute im Stadtrat und mischen überall mit, wo es etwas zu entscheiden gibt. Manchmal erinnert es mich an die Mafia. Es würde mich daher nicht wundern, wenn wir auch am Königshof eine Rolle gespielt hätten.

Das Vibrieren meines Handys reißt mich so abrupt aus meinen Gedanken, dass ich kurz zusammenzucke. Es ist meine Mom, die mich darüber informiert, dass sich die Familie in zehn Minuten im Salon trifft. Wortkarg versichere ich ihr, dass ich auf dem Weg bin, und springe auf. Mein Herz legt einen Gang zu, während ich zum Haus zurückrenne. Ein Teil von mir ist sich sicher gewesen, dass sie sich nicht melden würde. Ich bin so lange außen vor gelassen worden, dass ich mir kaum vorstellen konnte, warum es heute anders sein sollte.

Ein wenig außer Atem erreiche ich das Haus, streiche mir kurz die Haare hinter die Ohren und gehe dann zum Salon. Der Raum hat eher repräsentable Zwecke und wird kaum genutzt, außer für Versammlungen und Ansprachen. Die Flügeltüren sind nur angelehnt, und bereits auf dem Flur ist das Stimmengewirr zu hören, das aus dem Raum dringt. Als ich eintrete, begegne ich den Blicken von knapp dreißig Leuten – meine Familie. Enge und entfernte Verwandte, und zu keinem von ihnen habe ich ein wirklich inniges Verhältnis. Meine Tante und mein Onkel, also Sanders und Zaras Eltern, die wie alle anderen ebenfalls hier im Haus wohnen, reden kaum mit mir, weil sie sich schon vor Jahren mit meiner Mutter zerstritten haben. Meine Cousine Zara und ich gehen ständig aufeinander los und können uns einfach nicht ausstehen. Mit Sander bin ich einigermaßen klargekommen, aber auch er war definitiv nicht der Lieblingsmensch in meinem Leben.

Nach ein paar Sekunden entdecke ich meine Mom, gehe hastig zu ihr hinüber und lasse mich in einen kleinen Ohrensessel neben ihr sinken, als mein Großvater den Salon betritt. Sobald die anderen ihn bemerken, verstummen die Gespräche um mich herum, und irgendwie scheinen sich alle ein wenig zu straffen. Sie kommen mir vor wie Soldaten, die dazu angehalten werden, vor ihrem Vorgesetzten zu salutieren. Oder wie Kinder in der Schule, die ihren Lehrer begrüßen. Wie auch immer – die Macht, die mein Großvater und der Meister des Winters ausstrahlt, ist beinahe greifbar.

Er bleibt hinter einem Sessel stehen und stützt sich mit den großen Händen auf der Rückenlehne ab. Sein Blick schweift kurz durch den Raum und bleibt den Bruchteil einer Sekunde an mir hängen, bevor er sich wieder abwendet. Mein Mund wird trocken.

»Danke, dass ihr alle so schnell herkommen konntet«, sagt er mit lauter, fester Stimme und nickt ein paar Leuten zu. »Ich verspreche euch, es wird nicht lange dauern. Aber ihr alle habt ein Recht darauf, zu erfahren, was passiert ist. Meine Tochter und ihr Mann sind noch auf dem Festland, um sich um ein paar Angelegenheiten zu kümmern. Ich soll euch ausrichten, dass sie für eure Gebete und Gedanken sehr dankbar sind.« Er strafft die Schultern und sein Blick wird, wenn überhaupt möglich, noch ernster. »Ich weiß, dass ihr alle Fragen habt. Ich selbst befinde mich in tiefer Trauer, aber auch ich wollte Antworten auf den plötzlichen Tod meines Enkelsohnes. Deswegen haben wir noch gestern Abend einen Mediziner vom Festland kommen lassen, der Sanders Leichnam mitgenommen und eine Obduktion durchgeführt hat.«

Mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen. Ich hebe den Kopf und starre meinen Großvater an, der erneut eine dramatische Pause macht.

»Das Ergebnis wurde mir vor etwa zwanzig Minuten mitgeteilt, und es hat mich sehr betrübt. Sander starb an einem allergischen Schock. Sein Tod ist ebenso tragisch wie sinnlos. Die Beisetzung wird nächsten Samstag stattfinden, und ich möchte euch alle bitten …«

Seine nächsten Worte gehen in dem verwirrten Rauschen in meinem Kopf unter. Ein allergischer Schock? Ist das sein Ernst?

Wie auf Kommando beschwört mein Verstand Bilder von Sander herauf, wie er mit verdrehten Gliedmaßen vor mir auf dem Boden liegt. Wenn Sander nicht gegen irgendwelche Schläger allergisch war, ist eine Allergie mit Sicherheit nicht schuld an seinem Tod gewesen.

Aber warum sollte mein Großvater lügen?

Wie betäubt drehe ich den Kopf und sehe meine Mom an, die neben mir steht. Für den Bruchteil einer Sekunde begegnet sich unser Blick, dann wendet sie sich ab und konzentriert sich wieder auf meinen Grandpa.

LIES

Emma zieht ihren Löffel einmal durch den Milchschaum und leckt ihn dann ab, bevor sie ihn auf die kleine Untertasse neben uns legt und mich mit großen Augen ansieht. »Krass.«

Mit einem freudlosen Lächeln erwidere ich den Blick meiner besten Freundin seit der dritten Klasse. »So kann man es gut zusammenfassen.«

»Mein Beileid«, sagt sie hastig, bevor sie nachdenklich den Kopf schief legt. »Aber wirklich, Bloom, das ist unfassbar. Deine Familie lebt in einer ganz schlechten Soap, weißt du das?«

Ich zucke mit den Schultern, weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll. Denn sie hat recht. Schon für mich sind diese ganzen Dramen schwer zu verarbeiten, und ich bin damit aufgewachsen. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie es sich für sie anhören muss. Genau wie alle anderen Menschen in Oslo denkt Emma, dass wir lediglich eine Familie mit altem Geld sind. Ein langer Stammbaum, ein beeindruckender Kontostand und einflussreiche Positionen im Stadtgeschehen und in der Politik. Die Familie Kalinin gehört seit Jahrhunderten zu Oslo und ist beinahe ein Bestand des Stadtbildes, ähnlich wie der Oslofjord oder unser Königsschloss. Für Emma sind wir lediglich eine schrullige Familie, denn sie hat keine Ahnung von der Magie und der Aufgabe, die auf unseren Schultern lastet. Viel zu oft bin ich schon kurz davor gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen. Ich vertraue Emma, ich liebe sie wie eine Schwester und ich habe keine Angst, dass sie zur Presse rennt oder Ähnliches. Aber ich kenne meine Familie, und ich weiß, wie unbarmherzig sie sein kann. Sollte sie je herausfinden, dass Emma Bescheid weiß, würden sie mich einen Kopf kürzer machen. Und Emma vermutlich niemals wieder in Ruhe lassen, sie überwachen, ihr Handy anzapfen und was weiß ich noch alles. Das will ich meiner Freundin nicht antun.

»Die Ärzte sagen, es war ein allergischer Schock«, wiederhole ich die Erklärung meines Großvaters, auch wenn sich die Worte in meinem Mund wie Asche anfühlen. Nach der Versammlung gestern hat mein Großvater noch eine Pressemitteilung herausgegeben, in der er den Tod seines Enkels erklärt hat, um keine Fragen aufkommen zu lassen. Das ändert aber nichts daran, dass ich Fragen habe. »Es ist immer noch irgendwie unwirklich.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagt sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Mitgefühl. »Wusstet ihr denn, dass er eine Allergie hat?«

Widerstrebend schüttle ich den Kopf. »Ich nicht. Aber das ist auch kein Wunder, Sander hat nie etwas erwähnt, und ich habe ja auch kein wirklich kuscheliges Verhältnis zu Victoria oder Askjell.«

Emma nickt. Sie weiß, dass meine Mom, ihre Schwester und deren Mann seit Jahren kaum ein Wort miteinander wechseln, auch wenn Emma den wahren Grund dafür nicht kennt: nämlich, dass meine Mom sich mit einem normalen Menschen eingelassen und sich von ihm hatte schwängern lassen. Was natürlich ein Riesenskandal war.

»Aber egal. Wie geht es dir?«, frage ich, um das Thema in eine andere Richtung zu lenken.

Es tut gut, mit Emma zu sprechen, aber wenn ich sie zu lange anlüge, fühle ich mich schuldig, und das kann ich im Moment nicht gebrauchen. Ich brauche eine Pause. Und Emma hat bestimmt einiges zu erzählen, was mich auf andere Gedanken bringen kann. Denn wir haben uns jetzt knapp zwei Wochen nicht gesehen, weil sie die Winterferien bei ihrem Dad in Brålanda verbracht hat.

Sie stöhnt und schüttelt den Kopf, grinst mich aber über ihren Kaffee hinweg an. »Gut, die Zeit mit Dad war wirklich schön. Aber das Highlight war die Fahrt. Du weißt ja, dass meine Mom mich hingebracht hat, aber nachdem sie und Dad sich jedes Mal ankeifen, wenn sie sich sehen, habe ich beschlossen, das erste Stück mit dem Zug und den Rest mit dem Bus zurückzufahren. So.« Sie holt tief Luft. »Der erste Teil ging super, dann stand ich am Busbahnhof, der Fahrer hat mein Ticket gescannt und meinte dann zu mir, dass das Ticket nicht gültig sei. Mein Dad hat sich einfach um eine Woche im Datum geirrt! Also stand ich in Uddevalla rum – und glaub mir, niemand will in Uddevalla stranden! Also wollte ich Mom oder Dad anrufen, aber mein Akku war leer!«

Sie sieht mich so schockiert an, dass ich laut auflachen muss, woraufhin sich ein Pärchen am Nachbartisch zu mir umdreht. Hastig nehme ich einen Schluck von meinem Kaffee und höre Emma zu, die ihre Geschichte so weit ausschmückt, dass es sich wie die Zusammenfassung eines Actionfilms anhört. Die Minuten vergehen, und ich spüre, wie ich mich allmählich entspanne. Diese Wirkung hat Emma immer auf mich, genau wie die Schule oder einfach … einfach normale Dinge. Im Haus, umgeben von meiner Familie, fühle ich mich hingegen immer irgendwie unter Strom.

Mein Blick schweift nach draußen und zu den Menschen, die durch die Straßen huschen. Der Tag ist grau und kalt, die Stadt ist es jedoch nicht. Emma und ich haben uns in Grünerløkka getroffen, einem der alternativen Stadtviertel Oslos. Der Großteil der Stadt ist irgendwie traditionell und versprüht einen historischen Charme. Dieses Viertel hingegen ist das genaue Gegenteil – hier ist die Künstler- und alternative Szene zu Hause, und das kann man deutlich erkennen. Hier gibt es Galerien, kleine Secondhandläden und Flohmärkte im Park. Alles ist bunt – die Hauswände, die Dekorationen vor den Geschäften, sogar die Parkbänke sind in allen möglichen Farben lackiert. Vor allem im Herbst und Winter komme ich gern hierher, weil die Umgebung das Grau und die Trübheit vertreibt.

»Im Frühling will Dad mit mir herumfahren und sich Unis angucken«, sagt Emma und reißt mich damit aus meinen Gedanken. »Und ich dachte mir, dass du vielleicht mitkommen willst.«

Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. »Total gern. Aber Mom darf davon nichts wissen.«

Sie runzelt die Stirn, wie immer, wenn ich Kommentare in diese Richtung mache. »Erwartet sie wirklich, dass du dein Leben lang in Oslo bleibst?«

»Nicht unbedingt Oslo, nur eben beim Familienunternehmen. Holland wäre bestimmt auch okay, da habe ich auch Verwandte.« Das stimmt nicht so ganz. Die Mitglieder des Frühlingshofes sind nicht wirklich mit mir verwandt, aber Emma das zu erklären wäre deutlich zu kompliziert.

Emma schnaubt. »Du kennst diese ganzen Familienmitglieder doch gar nicht. Ich meine, versteh mich nicht falsch, es ist cool, so eine große Familie zu haben. Ich kenne nicht einmal die Cousins meiner Mutter. Aber was macht es für einen Unterschied, ob du nach Holland zu irgendwelchen Verwandten gehst oder in Stockholm studierst? Weg ist weg.«

Ich zucke mit den Schultern, weil ich nicht recht weiß, wie ich es erklären soll. Nachfahren der Meister, in meinem Fall mein Großvater, übernehmen nach der Schule in der Regel entweder Aufgaben in der Familie, in einem der vielen Unternehmen oder erledigen andere Jobs, die mit den Jahreszeiten zu tun haben. Hin und wieder werden Leute an die anderen Höfe geschickt, die überall auf der Welt verteilt sind. Man kann es als eine Art Botschaftertätigkeit bezeichnen, aber darauf bin ich nicht unbedingt scharf. Ich kenne die anderen Familien kaum, habe lediglich Geschichten gehört. Auch wenn die Jahreszeitenhöfe irgendwie zusammenarbeiten, ist das Verhältnis untereinander distanziert. Bei den Erwachsenen und den Meistern geht es vor allem um Konkurrenz – wer verfügt über die größte weltliche Macht, wer hat das meiste Geld, wessen magische Kräfte sind eindrucksvoller, welches Haus ist prachtvoller? Die jüngere Generation saugt dieses Konkurrenzdenken zwar quasi mit der Muttermilch auf, für sie sind aber in erster Linie die Fähigkeiten beeindruckend. Der Sommer verfügt zum Beispiel über außerordentliche körperliche Stärke, ähnlich wie Hercules. Der Frühling kann Wunden heilen, und einige Mitglieder des Herbstes können durch Berührungen sogar töten. Diese Fähigkeit ist zwar relativ selten, dennoch aber auch etwas Furcht einflößend. Das führt dazu, dass wir den anderen Häusern grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Davon abgesehen, würde ich mich entscheiden, nach der Schule an einen der anderen Höfe zu gehen, wäre ich wieder eine Fremde. Eine Fremde, umringt von Leuten, die teilweise wirklich gruselige Kräfte besitzen.

Aber mein Leben hier in Oslo verbringen? Auch keine wirklich reizvolle Vorstellung.

Am liebsten würde ich weggehen und studieren. Irgendetwas mit Medien oder vielleicht Journalismus. Meine Familie ist recht altmodisch, vielleicht reizt mich deswegen die Vorstellung, raus in die Welt zu gehen und mit all der Technik des 21. Jahrhunderts zu arbeiten. Die Welt zu bereisen und über sie zu berichten, ist der Inbegriff von Freiheit.

Ich möchte an einen Ort, in ein Land, das ich mir aussuche. Weil es mir gefällt oder weil ich an einer guten Uni angenommen werde, nicht weil es dort einen Jahreszeitenhof gibt. Ich will meine Zukunft selbst bestimmen, unabhängig von meiner Familie. Aber das ist nicht so einfach. Jedes Mal, wenn ich das Thema bei meiner Mom anspreche, kommt es zum Streit. Sie verbietet mir nicht direkt, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, aber sie macht ziemlich deutlich, dass ich damit gegen ihre Erwartungen handle und sie enttäuschen würde. Ich weiß, dass eine Jahreszeitenfamilie in der Lage ist, Mitglieder zu verstoßen. Dann ist man kein Teil der Familie mehr, kein Teil ihrer Welt. Und auch wenn das manchmal ziemlich verlockend für mich klingt, kann ich mir nicht vorstellen, niemals wieder mit meiner Mom zu sprechen oder sie zu besuchen. Sie ist immer noch mein Zuhause.

Egal, in welche Richtung ich mich bewege, ich habe jedes Mal das Gefühl, dass es einfach nicht die richtige ist. Bleibe ich und übernehme eine Aufgabe am Hof, werde ich mich immer wie in einer Art Käfig fühlen. Kehre ich meiner Familie und allem, was ich kenne, den Rücken, habe ich Angst, dass ich es irgendwann einmal bereuen werde. Und dann gibt es kein Zurück mehr.

Schnell schüttle ich die Gedanken ab und konzentriere mich wieder auf das Jetzt. Auf Emma. Eine Weile unterhalten wir uns noch über die Schule und den üblichen Ferien-Gossip, den wir über Instagram und Snapchat mitbekommen haben. Es tut gut, einfach abzuschalten und mich mit anderen Themen als ermordete Cousins und überraschend auftretende Kräfte zu beschäftigen.

Als wir uns voneinander verabschieden, drücke ich sie einen Moment länger als sonst an mich. Mir ist klar, dass ich sie morgen in der Schule wiedersehe, aber ein Teil von mir will sie einfach nicht gehen lassen. Am liebsten würde ich sie mit nach Hause nehmen und in meinem Schrank verstecken. Sie wäre meine persönliche Auszeit. Bei der Vorstellung muss ich ein wenig lachen, als ich mich umdrehe und Richtung Hauptstraße laufe, wo mein Fahrer auf mich wartet.

Es regnet nicht, aber ein feuchter Nebel liegt in der Luft, der über meine Haut streicht und mich erschaudern lässt. Ich ziehe mir die Kapuze meines Parkas über den Kopf und schiebe die Hände in die Hosentaschen, um sie vor der Kälte zu schützen. An den Bordsteinen und Hauswänden türmen sich immer noch die Reste des letzten Schnees, auch wenn sie inzwischen eher graubraunem Matsch ähneln. Der Winter ist eindeutig auf dem Rückzug, und das bedeutet, dass sich auch die Zeit meines Hauses dem Ende neigt. Ich mag den Winter, aber ich freue mich trotzdem auch auf den Frühling. Meine Familie ist dann zwar immer etwas wehmütig, aber irgendwie auch entspannter und ein wenig normaler, weil ihre Arbeit getan ist und sie sich eine Weile ausruhen können.

Unsere aktive Aufgabe beschränkt sich im Grunde auf Überwachung und Dokumentation. Mein Haus wird in den Geschichten als Gedächtnis der Welt beschrieben. Wir sind die Archivare und führen quasi über alles Buch. Alles, was in unserer Welt und der Welt der normalen Menschen passiert, wird aufgezeichnet und für unsere Nachfahren festgehalten. Auf Kalinøya gibt es gefühlt zehn Bibliotheken, allesamt bis zur Decke gefüllt mit Büchern. Manchmal frage ich mich, wofür das alles überhaupt gut ist. Kein einzelner Mensch wäre in der Lage, sich das alles durchzulesen. Dafür bräuchte man hundert Leben.

Abgesehen von der archivarischen Aufgabe müssen wir während des Winters auch auf die Temperaturen und das Verhalten der Natur achten und gegebenenfalls eingreifen. Dabei helfen uns natürlich auch unsere Kräfte. Mein Haus steht für den Tod und die Energie, was bedeutet, dass die Mitglieder meiner Familie teilweise in die Zukunft sehen, Kraftlinien erkennen oder manchmal sogar mit den Toten kommunizieren können. Wir können Wetterumschwünge vorhersagen, sie bis zu einem gewissen Grad verhindern oder ihnen entgegenwirken. Mit Energie lässt sich ziemlich viel bewirken, wenn man versteht, wie sie funktioniert und wie man sie lenken kann. Diese Fähigkeiten sind unterschiedlich stark ausgeprägt, allerdings habe ich persönlich noch nie jemanden getroffen, der tatsächlich mit Toten sprechen kann. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob es aktuell einen lebenden Menschen gibt, der dazu in der Lage ist. Ansonsten hätte mein Großvater ihn doch bestimmt herbestellt, um mit Sander zu kommunizieren, oder nicht? Dass er an einem allergischen Schock gestorben sein soll, kann ich beim besten Willen nicht glauben. Aber weder meine Mutter noch mein Großvater wollen darüber reden.

Nachdem ich mir ein paar feuchte Strähnen aus dem Gesicht gestrichen habe, schaue ich mich um, auf der Suche nach meinem Wagen. Doch in dem Moment vibriert das Handy in meiner Tasche. Ich hole es heraus und entsperre das Display, um die Nachricht zu öffnen, die meine Mom mir geschickt hat.

Komm in den Salon, wenn du zu Hause bist. Wir müssen reden.

Mein Herz macht einen aufgeregten Satz. Das wird sicher interessant.

Nachdem Matheo, mein Fahrer, mich eingesammelt und mit dem Boot über den Fjord nach Hause gefahren hat, renne ich schnell hoch in mein Zimmer, um mich umzuziehen. Meine Klamotten sind klamm von der Feuchtigkeit, und ich bin so durchgefroren, dass nur noch eine weiche Jogginghose und dicke Socken helfen können. Ich schlüpfe noch schnell in einen dicken Pullover, dann mache ich mich auf den Weg in den Salon. Wie immer gleicht der Weg durchs Haus einer Wanderung. Als ich vor der breiten Flügeltür stehe, atme ich einmal tief durch und frage mich, warum solche Gespräche immer im Salon oder im Büro meines Großvaters stattfinden müssen. Wir haben immerhin auch ein normales Wohnzimmer und einen Küchentisch wie normale Familien.

Meine Mom ist schon da, genau wie mein Großvater. Am meisten überrascht mich allerdings, dass auch Zara anwesend ist. Sie sitzt ziemlich steif auf einem der Sessel und sieht aus, als wäre ihr selbst nicht so ganz klar, warum sie hier ist. Als ich sie mustere, muss ich mir ein Seufzen verkneifen. Der Unterschied zwischen mir und ihr ist offensichtlich. Während ich in meinen Klamotten beinahe versinke und vermutlich wirke wie frisch aus dem Bett gestiegen, sieht sie aus wie aus dem Ei gepellt. Eine dunkle, enge Jeans, eine hellblaue Bluse und die Haare zu einem perfekten Dutt zurückgebunden. Genau wie Sander sieht man ihr ihre tadellose Erziehung und Ausbildung an.

»Was gibt’s?«, frage ich, nachdem ich einmal in die Runde gewunken und mich dann auf eine Couch gesetzt habe, die so weit wie möglich von Zara entfernt steht.

Meine Mom sieht mich streng an, dann seufzt sie. »Wir müssen uns mit deinen Kräften beschäftigen.«

Ich beiße die Zähne zusammen. Obwohl mir klar war, dass wir irgendwann darüber reden würden, hatte ich gehofft, dass dieser kleine Machtschub zwischen den anderen Ereignissen der letzten Tage einfach untergegangen ist. Ich selbst hatte vor, meine Kräfte fürs Erste zu ignorieren und einfach abzuwarten, ob sie sich überhaupt noch einmal zeigen.

»Es war nur ein einziges Mal«, bemerke ich und werfe einen Blick zu Grandpa, der mich emotionslos ansieht.

Dieser Mann hat das Pokerface wirklich perfektioniert. Mit seinen silberfarbenen Haaren, dem immer perfekt gebügelten Anzug und den grauen Augen wirkt er auf mich wie ein König, dem die Lasten seines Volkes auf den Schultern liegen. Und irgendwie passt dieser Vergleich auch. Er ist zwar kein richtiger König und wir sind nicht seine Gefolgschaft, trotzdem ist er eine Art Monarch. Ein weiser Mann, dessen Entscheidungen enormen Einfluss auf das Fortbestehen der Welt haben. Zumindest ist das die allgemein vertretene Meinung meiner Familie. Meine eigene Meinung steht auf einem anderen Blatt, das sicher keiner lesen will.

»Einmal reicht, um sich darüber Gedanken zu machen«, sagt er ruhig, steht auf und streicht sich mit den Händen übers Jackett. Meiner Meinung nach würde eine Brille seinen Look perfekt komplettieren, aber selbstverständlich sind seine Augen großartig.

»Ich habe keine Ahnung, wie ich das gemacht habe.« Automatisch setze ich mich ein wenig aufrechter hin und verschränke die Hände im Schoß. »Ich wüsste überhaupt nicht, womit ich mich beschäftigen soll.«

»Genau darum geht es«, wirft meine Mom ein. »Du kannst es nicht kontrollieren, weil du es nie gelernt hast. Daran müssen wir arbeiten, bevor du erneut etwas tust, was du nicht beherrschen kannst.«

Der Vorwurf in ihrer Stimme versetzt mir einen Stich. »Niemandem ist etwas geschehen«, verteidige ich mich. »Alle sind wieder aufgewacht.«

»Das mag sein. Trotzdem ist es zu gefährlich, wenn wir es drauf ankommen lassen. Was, wenn es in der Schule passiert?«

Ich beiße mir auf die Lippe, weil das ein Argument ist, dem ich nichts entgegenzusetzen habe. Es wäre sicher schwierig, zu erklären, falls ich aus Versehen meine Klasse in Ohnmacht fallen lasse.

»Wir fragen uns«, sagt mein Großvater mit einem kurzen Seitenblick zu Zara, »ob es nicht vielleicht am Sinnvollsten wäre, wenn wir dich zu Hause unterrichten. Zusammen mit Zara.«

Zara und ich schauen uns gleichzeitig an, und uns beiden ist deutlich anzusehen, was wir von diesem Vorschlag halten.

»Was?«, fragt sie empört und setzt sich auf.

»Nein!«, rufe ich zeitgleich. »Nein, das ist nicht nötig. Ich will zur Schule gehen.«

»Es wäre zu deinem Besten, Bloom«, versucht meine Mutter, mich zu beruhigen, allerdings ohne Erfolg. Wütend funkle ich sie an, doch sie hebt nur herausfordernd eine Augenbraue, bevor sie hinzufügt: »Es gibt einen Grund, warum du bislang auf eine öffentliche Schule gegangen bist und die anderen nicht, das weißt du. Dass du Kräfte besitzt, ändert eine Menge.«

»Falls ich Kräfte besitze«, verbessere ich sie beinahe verzweifelt. »Vielleicht war es auch nur irgendein Reflex, weil es eine Extremsituation war«, wiederhole ich die Theorie, die ich mir selbst zurechtgesponnen habe. »Vielleicht kommt es nicht noch mal vor. Wenn ich wirklich Kräfte besitzen würde wie die anderen, hätten sie sich doch schon früher zeigen müssen.«

»Das wissen wir nicht.«

»Weswegen es umso wichtiger ist, dass du trainierst«, fügt Grandpa streng hinzu.

Fassungslos sehe ich die beiden an. Dass das Thema früher oder später auf meine Fähigkeiten fällt, war mir klar. Auch wenn ich gehofft habe, dass sie es nicht ansprechen. Dass ich jedoch auch von der Schule genommen werden soll, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Das wäre das Schlimmste. Meine Freunde nicht mehr zu sehen und in diesem Haus eingesperrt zu sein, zusammen mit Zara … nein, das kann ich nicht zulassen.

»Ich trainiere nachmittags«, sage ich flehend und sehe meine Mom an. »Ich verspreche es, jeden Tag nach der Schule. Wenn es sein muss, sogar den ganzen Tag nach der Schule. Aber ich will nicht zu Hause unterrichtet werden.«

Zweifelnd mustert sie mich, dann seufzt sie leise und wendet sich an ihren Vater. »Ich denke, wir sollten es so versuchen.«

Zara schnaubt neben mir. »Ja, das solltet ihr. Sie hat so viel aufzuholen, sie würde mich nur bremsen.«

Ein Teil von mir will sich mit einem dummen Spruch revanchieren, ein anderer ist dankbar für ihre Unterstützung. Mir ist klar, dass sie das nicht für mich tut, sondern allein für sich. Zara und ich mögen uns nicht, was vor allem daran liegt, dass sie, solange ich zurückdenken kann, auf mich herabsieht. Früher haben wir noch ab und zu miteinander gespielt, aber als die Unterschiede zwischen uns deutlicher wurden, hat sich das geändert. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich als Kind an den Türen gelauscht und meinen Cousins und Cousinen beim Training zugehört habe. Wenn man in eine der Jahreszeitenfamilien hineingeboren wird, wenn man direkter Nachfahre des Oberhauptes ist, dann durchläuft man eine strenge Ausbildung. Man hat Unterricht, erfährt alles über unsere Geschichte und unsere Regeln. Man lernt, seine Kräfte zu kontrollieren und sie richtig einzusetzen. Da ich im Gegensatz zu den anderen jedoch nie Kräfte gezeigt habe, wurde ich auf eine normale Schule geschickt, während die anderen Kinder Privatunterricht hatten und am Hof unterrichtet wurden. Nur einmal in der Woche bekam ich eine Nachhilfestunde bei meiner Mom aufgebrummt, in der sie mir in Kurzfassung erzählt hat, was die letzten Jahrhunderte bei meiner Familie los war.

Heute mag ich mich bewusst abgrenzen, doch das ist nicht meine Schuld. Es ist eine Art Schutzmechanismus, den ich während meiner Kindheit aufgebaut habe. Denn ich musste auf die harte Tour lernen, dass ich nicht dazugehöre. Viel zu oft habe ich allein in meinem Zimmer gesessen und mir die Augen ausgeheult, weil die anderen so viel cooler waren als ich. Doch das ist jetzt vorbei.

Mein Großvater mustert Zara kurz, als würde er tatsächlich über ihre Worte nachdenken, dann wendet er sich mir zu. »Wir wissen noch nicht, warum deine Kräfte sich erst jetzt zeigen, Bloom. Aber egal, ob das nur eine einmalige Sache war oder nicht, ich hoffe, dass dir klar ist, dass du eine Verantwortung gegenüber dieser Familie hast.«

Am liebsten hätte ich geschnaubt, aber ich halte mich zurück. Meine Aufgabe in diesem Haus hat sich die vergangenen siebzehn Jahre darauf beschränkt, nicht zu laut zu sein und die anderen nicht bei der Arbeit zu stören. Dass ausgerechnet er von Verantwortung spricht, ist lächerlich. Sein Enkel ist tot, und es scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren, wie es dazu gekommen ist.

»Ist mir klar«, zwinge ich mich zu sagen und ignoriere Zara, die leise und freudlos lacht.

»Gut.« Grandpa nickt. »Dann darfst zu vorerst weiter zur Schule gehen. Vorerst. Wir werden sehen, wie sich die Sache entwickelt und neu entscheiden, falls sich etwas verändert.«

Erleichtert atme ich aus. Ich bin nicht wirklich scharf auf irgendeine Art von Training und schon gar nicht darauf, dass ich die kommenden Nachmittage zu Hause verbringen werde, statt etwas mit meinen Freunden zu unternehmen. Aber alles ist besser, als zu Hause unterrichtet zu werden.

Er hat sich schon abgewandt, blickt dann aber noch einmal zu uns zurück. »Ihr beide solltet lernen, miteinander auszukommen«, sagt er zu Zara und mir. »Wir sind eine Familie, und wir sollten einander unterstützen, anstatt uns gegenseitig Steine in den Weg zu legen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, dreht er sich um und marschiert aus dem Raum.

Fassungslos sehe ich ihm hinterher. Am liebsten hätte ich gelacht. Ja, wir sind eine Familie, rein biologisch betrachtet. Aber mehr ist da nicht. Ich liebe meine Mutter und ich fühle mich ihr verbunden, aber wenn ich ehrlich bin, habe ich mehr familiäre Gefühle zu unserer Haushälterin Märtha als zu meinem Großvater oder zu Zara. Wir mögen eine Familie sein, aber wir sind absolut verkorkst.

Als nur noch meine Mom, Zara und ich übrig sind, steht auch meine Cousine auf und verlässt wortlos den Salon.

Nachdenklich sehe ich hinab auf meine ineinander verschränkten Hände. »Findest du wirklich, dass das nötig ist?«, frage ich leise und nicke dann mit dem Kopf zu der Tür, durch die mein Großvater gerade verschwunden ist. »Oder sagst du das nur, weil er das denkt?«

Mom setzt sich neben mich. »Ich will nicht, dass du Schwierigkeiten bekommst. Wenn es tatsächlich eine einmalige Sache war, dann werden wir das merken und wir können mit dem Training wieder aufhören. Aber fürs Erste ist es wichtig, dass wir uns absichern, okay? Solange …« Als sie zögert, sehe ich auf. In ihren blauen Augen erkenne ich Sorge und etwas, was beinahe aussieht wie Angst.

»Solange?«, hake ich nach, als sie nicht weiterspricht.

Sie sieht mich eindringlich an, hebt eine Hand und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. »Solange wir nicht wissen, was passieren wird.«

»Mom«, sage ich, während ich versuche, ihre unheilvollen Worte zu verdauen. »Wegen Sander … Ich … ich habe seine Leiche gesehen. Das war sicher kein allergischer Schock.«

Ihr Blick wird irgendwie … unbeteiligt. Als würde sie sämtliche Gefühle und Gedanken abstellen. Sie erhebt sich langsam, scheint ihre Antwort hinauszögern zu wollen. Als sie endlich spricht, passen ihre Stimme und ihr Tonfall ziemlich gut zu ihrem Gesichtsausdruck – glatt und teilnahmslos. »Damit musst du dich nicht beschäftigen, Bloom. Das ist eine Sache, um die sich dein Großvater kümmert.«

»Ich soll also den Mund halten, obwohl ich weiß, dass ihr lügt?«

»Das will ich nicht noch einmal von dir hören«, fährt sie mich so barsch an, dass ich reflexartig ein Stück zurückweiche. Als sie meine Reaktion bemerkt, seufzt sie leise und fährt sich mit den Händen übers Gesicht. Auf einmal sieht sie unfassbar müde aus. »Ich meine das nicht böse, Bloom. Im Gegenteil. Im Moment ist so viel los, und du hast schon genug durchgemacht, als du ihn gefunden hast. Du solltest dich mit solchen Dingen nicht beschäftigen, und du brauchst dir auch keine Sorgen machen. Okay? Das ist alles, was du wissen musst.«

»Aber …«

»Nichts aber«, unterbricht sie mich, immer noch streng, aber nicht mehr ganz so barsch wie gerade eben. »In diesem Fall musst du mir einfach vertrauen. Mir und deinem Großvater.«

Am liebsten hätte ich protestiert, so lange nachgebohrt, bis sie mir endlich die Wahrheit sagt. Aber ich halte den Mund. Ich bin lange genug ein Teil dieser Familie, um zu erkennen, wann ich verloren habe. Aber eines ist sicher – blind vertrauen werde ich niemandem. Dafür geistern zu viele Geheimnisse und Lügen durch die Flure dieses Hauses.

THE CHOSEN ONE

Ich bin mir ziemlich sicher, dass man mir meinen Unmut ansehen kann, als ich am nächsten Tag nach der Schule in den Trainingsraum gehe. Während ich mir meine Sportsachen angezogen und auf dem Weg in den Trainingsraum ein paar Kjøttkaker gegessen habe, habe ich innerlich die ganze Zeit vor mich hin geschimpft. Die letzten Stunden in der Schule waren so schnell vergangen, dass ich mir inzwischen sicher bin, das Schicksal hat irgendeinen dummen Scherz mit mir vor.

Ich will das hier nicht machen. Zum einen, weil dieser ganze Aufstand verdammt peinlich wäre, sollten sich meine berüchtigten Fähigkeiten tatsächlich nicht mehr zeigen. Zara würde mich sicher auslachen. Der andere Grund, warum ich meine Zeit lieber anders verbringen würde, ist, dass ich Angst habe, meine Kräfte könnten immer noch unter der Oberfläche brodeln wie ein Vulkan, der eigentlich schläft, aber jederzeit ausbrechen kann. Und dass dieses Training meine Kräfte irgendwie triggern könnte. Sollten sie tatsächlich immer noch da sein, brauchen sie wahrscheinlich einen Auslöser. Und ich will keine magischen Fähigkeiten. Na gut, die Kräfte vielleicht schon, aber ich will nicht dazugehören, will keinen Platz in diesem Familienunternehmen erhalten. Denn das würde bedeuten, dass ich meine Zukunftspläne definitiv in die Tonne treten kann. Ich würde nicht ins Ausland gehen können, um dort etwas mit Medien oder vielleicht sogar Journalismus zu studieren. Für was auch immer ich mich entscheide, es würde meiner Familie jetzt schon nicht gefallen, wenn ich mich für eine eigene Karriere von ihr distanziere. Aber sollte sich herausstellen, dass ich wirklich Kräfte habe, dann würde meine Familie durchdrehen. Das einzig Positive, was meine Normalität mir in der Vergangenheit gebracht hat, ist, dass ich in Ruhe gelassen wurde. Und ich bin nicht scharf darauf, an diesem Zustand etwas zu ändern.

Als ich den riesigen Trainingsraum betrete, schaue ich mich einen Moment lang um. Als Kind war ich oft hier – eigentlich immer, wenn man es uns erlaubt hat. Später nicht mehr, denn dann war er von Sander und Zara und den anderen besetzt worden. Ich war seit Jahren nicht mehr hier gewesen, doch es sah immer noch so aus wie damals. Wie eine Art Halle mit hohen Decken und Parkettboden, der größtenteils mit dünnen Matten ausgelegt wurde. An den Wänden erstreckt sich eine gigantische Spiegelfläche mit einer Stange davor. Ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Vorrichtung fürs Balletttanzen gedacht ist, und frage mich, inwiefern mir das dabei helfen sollte, meine Kräfte unter Kontrolle zu bekommen.

Mein Blick fällt auf Matheo, meinen persönlichen Fahrer, Bodyguard, Babysitter und nun wohl auch Trainer, der in der Ecke steht und mich stirnrunzelnd mustert. Er scheint beinahe ein bisschen überrascht zu sein, mich hier zu sehen.

»Wusstest du nicht, dass ich komme?«, frage ich und schlendere in die Mitte des Raumes.

»Doch«, sagt er und kommt auf mich zu. Im Gegensatz zu sonst trägt er Jeans und ein T-Shirt und wirkt damit ungewohnt leger. Ich weiß, dass er auch Zara und Sander hin und wieder unterrichtet, aber irgendwie bin ich immer davon ausgegangen, dass er das im Anzug tut. Was natürlich Quatsch ist. »Aber ich wusste nicht, dass Sie in Sportkleidung kommen.«

Ich hebe eine Augenbraue und verkneife mir einen Kommentar darüber, dass er mich endlich duzen soll. »Was soll ich denn sonst zum Training anziehen?«

»Was immer Sie wollen. Aber wir werden hier keinen Sport machen.«

»Sondern?«, frage ich irritiert.

»Ihre Kräfte beruhen mit großer Wahrscheinlichkeit auf mentaler Stärke. Daher werden wir uns konzentrieren.«

Beinahe hätte ich gelacht, reiße mich aber rechtzeitig zusammen. »Wir sind hier, um uns zu konzentrieren?«

Matheo nickt. »Ja.«

Und er meint es tatsächlich ernst. Die nächsten zwei Stunden verbringen wir damit, uns zu konzentrieren. Oder wir versuchen es zumindest, meiner Einschätzung nach ohne nennenswerten Erfolg.

Matheo hat mir erklärt, dass meine Kräfte mit Energie wirken müssen, da das das Element unseres Hauses ist, also der Ursprung meiner Fähigkeiten. Der Legende zufolge hat jedes der Häuser eine Art Kategorie, in die die jeweiligen Kräfte einzuordnen sind und die irgendwie mit ihrer jeweiligen Jahreszeit zusammenhängen.

Frühling: Heilkräfte. Ähnlich wie die Natur nach dem kalten Winter sind die Mitglieder in der Lage, Energie von sich selbst auf Menschen oder andere Lebewesen zu übertragen und Schäden auszugleichen. Hilfe zur Selbsthilfe quasi.

Sommer: körperliche Stärke, weil im Sommer alles blüht, das Leben nur so sprießt und so weiter.

Herbst: degenerative Fähigkeiten. Diese Familie kann Dinge altern lassen, manchmal sogar bis zum Tod. So zumindest das Gerücht.