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Wenn der Kreislauf der Jahreszeiten zerbricht ... Blooms Welt ist aus den Fugen geraten. Denn die fünfte Jahreszeit, der Vanitas, erhebt sich und verlangt seinen Platz im Kreislauf zurück. Nun muss Bloom an der Seite der Rebellen kämpfen – vor allem, weil sie den zu langen Winter beenden will, aber auch, weil die Gefühle zwischen ihr und Kevo immer stärker werden. Doch in einer Welt voller Intrigen kann sie niemandem vertrauen. Ihre eigene Familie nimmt sie gefangen, und Kevo tut etwas Unverzeihliches: Er verrät Bloom. Und das nicht nur einmal. ***Eine Szene aus Band 2 von DIE HÜTER DER JAHRESZEITEN*** In der Ferne höre ich Sirenen, als Kevo mich in eine Seitengasse zieht. Beinahe wäre ich zurückgewichen, denn am Ende der Gasse kämpfen mindestens zwei Dutzend Menschen. »Wie ist das möglich?«, frage ich und sehe Kevo an, der plötzlich blasser wirkt. »Vielleicht haben sie Verstärkung gerufen, aber …« Er beendet den Satz nicht, denn ich weiß, was er denkt. Das hier ist kein Kampf. Das ist der Krieg. Auf einmal dreht er mich zu sich herum und schlingt mir die Arme um die Taille. Er nimmt mein Gesicht in die Hände und küsst mich. Dieses Mal ist es kein romantischer Kuss. Dieser Kuss ist so verzweifelt, als wäre es unser letzter. Mein Herz zieht sich zusammen. Ich will, dass er mich nie wieder loslässt. In diesem Moment lege ich alle Gefühle und alle Gedanken in diesen einen Kuss und hoffe, dass Kevo es versteht.
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Seitenzahl: 676
Originalausgabe Als Ravensburger E-Book erschienen 2022 Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg © 2022 Ravensburger Verlag GmbH Text © 2022 Kim Nina Ocker Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Langenbuch & Weiß, Hamburg. Covergestaltung: Carolin Liepins unter Verwendung von Fotos von © Shutterstock/ninanaina, ShotPrime Studio, Inara Prusakova, LiliGraphie, Keiko Takamatsu, Anton Watman, BERNATSKAIA OKSANA,Ortis und kritskaya Lektorat: Tamara Reisinger (www.tamara-reisinger.de) Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-473-51101-3www.ravensburger.de
Für Gesa, Kristina und Mathilda
(Ihr seid wie Charlies Engel … nur belesener!)
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KEVO
Als unsere Blicke sich treffen, fährt mir ein Schmerz durch den Körper – durch meine Haut, hinein in meine Knochen und einmal mitten ins Herz. Wie ein spitzer Pfeil durchschneidet er Fleisch und Nerven und lässt mich einen Moment lang nach Luft schnappen.
Ihr Gesicht zu sehen, ihr wunderschönes Gesicht, löst so viele unterschiedliche Gefühle in mir aus, dass ich im ersten Moment keine Ahnung habe, wie ich damit umgehen soll. Meine Augen verengen sich ein wenig, als ich versuche, ihre Gesichtszüge genauer zu erkennen. Ihre Haut ist schmutzig – rußverschmiert – und Blut klebt ihr an der Stirn und an der rechten Wange. Automatisch ballen sich meine Hände zu Fäusten. Ich will wissen, was ihr zugestoßen ist, und gleichzeitig will ich es auch nicht wissen. Die Wut in meinem Bauch ist ohnehin gewaltig. Allein die Vorstellung, dass es jemand gewagt hat, Bloom wehzutun, könnte das Fass zum Überlaufen bringen. Bereits jetzt will ich die Knochen desjenigen brechen, der es auch nur gewagt hat, in ihre Richtung zu atmen oder sie anzufassen. Und dabei ist es mir völlig egal, um wen es sich handelt oder auf wessen Seit derjenige steht.
Der Blick, den Bloom mir zuwirft, ist mörderisch. Hätte ich mich auch nur eine Sekunde lang gefragt, wie sie zu mir steht, würde der Hass in ihren Augen diese Frage ziemlich eindeutig beantworten. Erneut versuche ich, in ihre Gedanken vorzudringen, ihr die Worte entgegenzuschleudern, die so dringend gesagt werden müssen. Aber sie lässt es nicht zu – sperrt mich aus wie einen ungebetenen Gast. Verdammte Scheiße.
Neben mir lacht Will hustend. Seite an Seite stehen wir dem Winterhaus gegenüber, bereit, jeden Einzelnen von ihnen aus dem Weg zu räumen, um an unser Ziel zu kommen – Bloom, die Hüterin des Winters. Zumindest ist es das, was ich Will, Joseph und seinen Leuten weismache. Oder es versuche. Im Prinzip war mir jede Möglichkeit recht, die mich auf die Insel in Blooms Nähe bringt.
»Die Kleine sieht beschissen aus«, stößt Will verächtlich aus. Allein der Laut seiner Stimme löst in mir einen Würgereiz aus.
Inzwischen schneiden mir meine eigenen Fingernägel in die Handfläche, so sehr balle ich die Hand zur Faust, um mich davon abzuhalten, sie in Wills Gesicht zu schlagen. In Gedanken höre ich bereits das widerliche Knacken seiner Nase, die unter meinem Schlag bricht – und allein die Vorstellung verschafft mir Genugtuung.
»Sie hat einiges durchgemacht«, presse ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ohne den Blick von Bloom abzuwenden. Seit ich sie in der Menge entdeckt habe, bin ich nicht in der Lage, woanders hinzusehen. Ich habe Angst, dass sie einfach verschwindet, sollte ich auch nur blinzeln. Das Risiko kann ich nicht eingehen.
Will schnaubt. »Sie hat dich um den Finger gewickelt, Peric. Ich befürchte, du hast deine Aufgabe als bester Kumpel ein bisschen zu ernst genommen. Und sie hat dich noch nicht einmal rangelassen, oder?«
Ich will ihn schlagen. Nein, ich will ihn umbringen. Langsam und qualvoll. Ihm jeden einzelnen Knochen brechen, einen nach dem anderen. Als ich trotzdem in sein dreckiges Lachen einstimme, würde ich mir am liebsten selbst ein paar Knochen brechen. Ich muss dieses Spiel mitspielen, ansonsten habe ich vermutlich schneller ein Messer im Rücken, als ich gucken kann. Und damit wäre weder mir noch Bloom geholfen.
Beinahe gewaltsam reiße ich den Blick von Bloom los und schaue mich um. Der Park des Winterhofes sieht aus, als hätte jemand eine Linie hindurchgezogen und uns alle auf unsere jeweilige Seite sortiert. Das Chaos und die Kämpfe, die bei unserer Ankunft willkürlich ausgebrochen sind, ebben allmählich ab, auch wenn die Folgen unserer Ankunft deutlich sichtbar sind: Viele bluten, einige halten sich den Arm oder ein Bein, manche lehnen an einer Mauer und andere liegen bewusstlos auf dem Boden. Oder tot.
Inzwischen formieren sich alle hinter ihrem Anführer – die Mitglieder des Winterhauses hinter dem Meister, die Rebellen hinter Joseph, Blooms Vater. Spannung hängt in der Luft wie stickiger Nebel und lässt meinen Atem rasseln. Jeder einzelne Mensch auf dieser Insel strahlt Magie aus, die sich als dichter Rauch zu sammeln scheint.
»Hört mir zu!«, dröhnt plötzlich eine tiefe Stimme über den Hof. Sie übertönt die Schreie der Leute, das Rauschen des Windes und sogar das Dröhnen in meinem Kopf. Sie übertönt alles.
Blooms Vater tritt vor. Wieder schaue ich zu Bloom, und wieder ist es, als hätte mir jemand einen Eimer Eiswasser in die Venen gekippt. Ihre Augen sind nicht länger auf mich gerichtet. Stattdessen starrt sie ihren Vater an, und in ihrem Blick liegen mindestens so viel Abscheu und Hass wie gerade eben, als sie mich angesehen hat.
Was die Sache nicht unbedingt besser macht. Blooms Vater ist ein Arschloch, einer der widerlichsten Menschen, denen ich in meinem Leben begegnet bin. Dass Bloom mich scheinbar mit ihm auf eine Ebene stellt, passt mir gar nicht. Ich mache ihr keinen Vorwurf. Trotzdem hätte ich mir gewünscht, dass sie mir genug vertraut, um mit mir darüber zu reden. Um mir eine Chance zu geben, ihr die Sache zu erklären.
»Wir wollen keine unnötigen Toten«, brüllt Joseph und sieht sich verheißungsvoll um. »Wir sind nicht hier, um ein Massaker zu veranstalten!«
Am liebsten hätte ich geschnaubt, aber ich reiße mich zusammen. Ich muss den Schein wahren. Ich muss mitmachen, zumindest so lange, bis ich einen Plan habe. Einen Plan, der weder meinen noch Blooms Tod beinhaltet.
»Dafür ist es zu spät«, antwortet Blooms Großvater, der Meister des Winters. Auch er ist kein netter Mensch, das weiß ich. Er steht auf der falschen Seite. Dennoch ist seine Stimme sanfter und irgendwie beruhigender als Josephs. »Es sind bereits Menschen gestorben.«
Bei seinen Worten zuckt Bloom zusammen. Reflexartig mache ich einen Schritt nach vorn. Wer ist gestorben? Ich sehe mich um, habe aber keine Ahnung, wonach ich suche. Ich habe keine Ahnung von ihrem Leben, kenne weder ihre Freunde noch ihre Familie persönlich. Mir würde also nicht auffallen, wer fehlt.
Es braucht all meine Willenskraft, um stehen zu bleiben und nicht zu ihr zu laufen. Wen auch immer sie verloren hat, ich will an ihrer Seite stehen. Neben ihr, hinter ihr. Alles, nur nicht ihr gegenüber, auf der anderen Seite der Schlachtlinie. Das ist nicht richtig.
»Daran tragen wir beide gleichermaßen Schuld«, erwidert Joseph, leiser jetzt. Es ist nicht mehr nötig zu schreien. Die Geräusche um uns herum sind verstummt, als würde die Welt selbst den Atem anhalten. »Niemand hätte verletzt werden müssen, hättet ihr uns von Anfang an gegeben, was uns zusteht.«
Selbst aus der Entfernung sehe ich, wie der Wintermeister die grauen Augenbrauen hebt. »Was euch zusteht? Wenn ich mich recht erinnere, bist du im Haus des Herbstes geboren, Joseph. Mir scheint, du führst die falsche Armee in den Krieg.«
Josephs höhnisches Lachen hallt über den Platz und scheint von den steinernen Wänden des Winterhofes zurückgeworfen zu werden. »Meine Herkunft spielt keine Rolle, alter Mann. Niemandes Herkunft. Hier geht es um Gerechtigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Du und deinesgleichen seid dafür verantwortlich, dass ein ganzes Volk heimatlos ist. Dass ihnen die Macht abgesprochen wird, die ihnen die Götter verliehen haben. Die vier Häuser haben sich über den Willen der Götter gestellt, und dafür müsst ihr bezahlen.« Er breitet die Arme aus. »Wenn diese Menschen eine Stimme brauchen, um das zurückzubekommen, was ihr ihnen genommen habt, dann bin ich gern bereit, ihnen meine zu leihen.«
Will neben mir beginnt zu brüllen und reckt die Hand in die Luft. Das hier ist der reinste Witz. Ein gefährlicher Witz, aber dennoch lächerlich. Mit einem unguten Gefühl im Magen schaue ich mich um, als die Rebellen Wills Geste kopieren und die Menge sich in eine einzige grölende Masse verwandelt. Mir ist schon lange klar, dass es in diesem Krieg nicht mehr nur zwei Seiten gibt. Es sind mindestens drei: die konservativen Jahreszeitenmitglieder, die alles tun, um das Entstehen des Vanitas zu verhindern. Die »bösen« Rebellen, denen es lediglich um Macht geht und die bereit sind, diese Macht mit allen Mitteln einzusetzen. Und die »guten« Rebellen. Diejenigen, die lediglich um ihren rechtmäßigen Platz im Kreislauf kämpfen und dafür, die verdammte Welt vor einem von uns herbeigeführten Weltuntergang zu bewahren. Diejenigen, die auf eine friedliche Lösung hoffen und nur im Notfall dazu bereit sind, drastische Schritte zu gehen.
Wenn ich mich hier allerdings so umschaue, glaube ich nicht, dass die Leute, auf deren Seite ich zu stehen vorgebe, zu der letzten Sorte gehören. Hie und da entdecke ich verwirrte Gesichter, Menschen, die sich genauso ratlos umsehen und die nicht in Wills Jubel mit eingestiegen sind. Der Großteil jedoch brüllt sich in Rage und lehnt sich ungeduldig nach vorn, als wollten sie am liebsten sofort losstürmen.
Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf die Szene vor mir und mustere Bloom erneut. Ihre Haut ist blass, wodurch sich das Blut in ihrem Gesicht nur umso deutlicher hervorhebt. Es ist leuchtend rot, es muss also frisch sein. Tatsächlich blutet sie in genau diesem Moment aus einer Wunde am Kopf, und ich kann es kaum ertragen, tatenlos hier herumzustehen.
»Du führst einen Krieg, den du nicht gewinnen kannst«, erwidert Kalinin, der Wintermeister, als der Jubel der Rebellen abgeklungen ist. »Wir sind zu viele für euch. Wir sind zu mächtig für euch.«
Joseph lässt sich davon allerdings nicht beeindrucken, was ich aber auch nicht erwartet habe. »Ich bin gern bereit, es darauf ankommen zu lassen.«
Der Meister des Winters legt den Kopf schief, als würde er nach einer versteckten Bedeutung in den Worten des Rebellenanführers suchen. »Was wollt ihr?«, fragt er schließlich herausfordernd. »Wenn ihr nicht gekommen seid, um zu töten.«
Joseph grinst hämisch, hebt den Arm und deutet auf die Wintermitglieder. Im ersten Moment könnte man glauben, er würde auf Kalinin zeigen, doch tatsächlich deutet er auf Bloom, die neben ihrem Großvater steht.
Ich sehe sie an. Als ihr klar wird, was Joseph will, wird ihr blasses Gesicht noch bleicher, auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass das überhaupt noch möglich wäre. Unwillkürlich macht sie einen Schritt zurück. Als sie dabei ins Straucheln gerät, zucke ich erneut nach vorn. Alles in mir, jeder Nerv, jeder Muskel und jede Faser meines Körpers will zu ihr rennen, ich will sie mir über die Schulter werfen und weit, weit wegbringen. Scheiß auf die Rebellion, scheiß auf den Krieg und scheiß auf den Weltuntergang. Hauptsache, sie ist in Sicherheit.
»Sie«, sagt Joseph düster und nickt nun auch noch mit dem Kopf in Blooms Richtung. »Ich will die Hüterin. Gebt sie uns, und ich gebe dir mein Wort, dass ihr nichts geschehen wird. Wir leiten den Vanitas ein, und dieser ganze Zirkus hat ein Ende.«
Ich beiße die Zähne zusammen, so sehr, dass es schmerzt, bevor ich zu Kalinin sehe. Seine Miene ist vollkommen ausdruckslos, als hätte er keines von Josephs Worten verstanden. Er rührt sich keinen Millimeter, während Bloom immer weiter zurückweicht. Auf ihrem Gesicht spiegeln sich derselbe Schmerz und dieselbe Angst, wie ich sie im Moment fühle.
Schließlich hebt ihr Großvater das Kinn und stellt sich kaum merklich ein wenig aufrechter hin. Ich atme tief ein und halte unwillkürlich die Luft an. Seine Antwort wird entscheidend sein, und das weiß er. Natürlich will ich nicht, dass Joseph Bloom in die Finger kriegt. Er soll nie wieder auch nur in ihre Nähe kommen. Trotzdem bete ich im Stillen, dass Kalinin den Deal eingeht. Dann könnte ich Bloom beschützen, dann wäre sie in meiner Reichweite, und ich könnte zusammen mit ihr verschwinden.
Aber so viel Glück habe ich nicht.
»Ihr werdet sie nicht bekommen«, sagt Kalinin. Seine Stimme ist leise, unaufgeregt, aber dadurch nicht weniger machtvoll. Seine Worte scheinen durch die Rebellenreihen zu kriechen wie Nebel und die Luft zu vergiften.
»Das ist bedauerlich«, antwortet Joseph beunruhigend ruhig. »Du hast gerade das Schicksal deines erbärmlichen Hauses besiegelt, alter Mann.«
Und dann stürmen sie los. Erst die Rebellen, doch nur einen Sekundenbruchteil später auch die Mitglieder des Winterhauses. Sie alle brüllen, sie alle sammeln ihre Kräfte, sie alle sind bereit, für das, an das sie glauben, zu sterben. Und viele von ihnen werden genau das tun – sterben.
Verzweifelt suche ich in der Menge nach Bloom. Als Will und die anderen neben mir losgestürmt sind, habe ich sie aus den Augen verloren. Aber nur über meine Leiche würde ich zulassen, dass ich sie hier verliere. Nicht nach allem, was wir durchgemacht haben.
Ich ramme jeden, der mir den Weg versperrt, vollkommen egal, ob es Rebellen oder Hofmitglieder sind, die ich zur Seite stoße. Sie alle sind nebensächlich. Sie alle sind Teil dieses Krieges und nicht zu einer friedlichen Lösung bereit. Nicht dass ich selbst gerade in besonders friedvoller Stimmung wäre, aber ich habe meine Gründe.
Mit angehaltenem Atem überquere ich die unsichtbare Schlachtlinie und renne geradewegs auf die Armee des Winterhofes zu, hinein ins Getümmel. Die Magie in meinem Inneren strömt nach draußen, so kraftvoll, als wäre sie erleichtert, endlich wirken zu dürfen. Wie ein unbändiger Sturm drückt sie gegen die Leute um mich herum, gegen ihre Kräfte und bildet eine Art Schild um mich herum. Hier sind zu viele Menschen, als dass ich sie alle blockieren könnte. Dafür reicht meine Macht nicht aus. Aber es genügt, um direkte Angriffe auf mich einfach abzuwehren.
Als ich die Stelle erreiche, an der Bloom und ihr Großvater noch vor wenigen Sekunden gestanden haben, bleibe ich stolpernd stehen. Mein Herz rast so schnell in meiner Brust, als wollte es aus ihr herausspringen.
Nein, nein, nein. Scheiße, nein, ich kann Bloom nicht verloren haben!
Ich schaue mich um, scanne die Gesichter um mich herum, aber keines kommt mir bekannt vor.
»Bloom!«, brülle ich beinahe verzweifelt. Meine vorgetäuschte Rolle ist mir inzwischen egal. Es ist nicht mehr wichtig, was die anderen Rebellen, was Will oder was Joseph von mir halten. Irgendwo zwischen diesen Kämpfenden ist Bloom, und ich will mir nicht einmal vorstellen, was ihr alles passieren könnte. Wieder drehe ich mich im Kreis, lasse meinen Blick über die Menge schweifen auf der Suche nach ihren hellblonden Haaren.
Plötzlich nehme ich eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es auszuweichen; schon fliegt ein Ball aus Energie an mir vorbei und trifft einen anderen Typen an der Schulter. Mit einem Schrei geht der Kerl zu Boden, aber damit kann ich mich im Moment nicht beschäftigen. Hastig drehe ich mich um und quetsche mich weiter zwischen den Leuten durch. Hin und wieder wehre ich einen Angriff ab, bekomme aber kaum etwas mit.
Als ich Bloom endlich entdecke, hätte ich am liebsten vor Erleichterung geschrien. Ihre hellblonden Locken heben sich deutlich von den anderen ab und leuchten mir entgegen wie eine Art Signalfeuer.
Meine Erleichterung währt jedoch nur kurz, denn kaum eine Sekunde später trifft eine Faust sie hart in den Magen. Ein wütendes Knurren entringt sich meiner Kehle, als ich nach vorn springe und auf Bloom und die Frau zurenne, die sich gerade einen erbitterten Zweikampf liefern. Ich erkenne die Rebellin nicht, gegen die Bloom kämpft, aber es ist mir auch scheißegal, wer sie ist.
Ich bekomme ihren Arm zu fassen, genau in dem Moment, in dem sie erneut ausholt und auf Bloom zielt. »Oh, ganz sicher nicht«, knurre ich und reiße sie so kräftig zurück, dass sie einen guten Meter durch die Luft fliegt und auf dem Rücken landet. Sie beginnt heftig zu husten, aber ich beachte sie nicht weiter.
Mein Blick hängt an Bloom. Wenn sie gerade eben schon schlimm ausgesehen hat, ist es in den vergangenen Minuten deutlich mit ihr bergab gegangen. Das Blut auf ihrem Gesicht ist nach wie vor da, ihre Haut ist immer noch blass, und sie hält den Arm unnatürlich steif an ihren Körper gepresst.
»Du bist verletzt«, zwinge ich mich, ruhig zu sagen, und mustere ihr Gesicht. »Wo bist du überall verletzt?«
Sie starrt mich an, und erneut spiegelt sich eine Mischung aus Hass, Unglaube und Schmerz in ihren hellgrauen Augen. »Bist du lebensmüde?«, spuckt sie mir entgegen. Sie hebt die Hand und fährt sich mit dem Handrücken über den Mundwinkel, an dem ebenfalls Blut klebt.
Erneut droht mir die Wut in meiner Brust die Sicht zu vernebeln, aber ich reiße mich zusammen. Ich muss mich konzentrieren. »Hierherzukommen und mit dir zu sprechen?« Ich hebe die Hände, als wollte ich mich ergeben. Und irgendwie will ich das auch. »Hör mir zu.«
»Wage es nicht, mir zu sagen, was ich tun soll und was nicht«, brüllt sie. »Das habe ich schon viel zu oft gemacht. Ich habe mich viel zu oft und viel zu lange von dir verarschen lassen.«
»Ich habe dich nicht …«
Weiter komme ich nicht, denn im nächsten Moment springt sie vor, direkt auf mich zu, die Hand vorgestreckt. Mir ist klar, was sie vorhat. Ich kenne ihre Kräfte, und ich kenne sie. Mit einer einzigen Berührung wäre sie in der Lage, sämtliche Energie aus meinem Körper zu ziehen. Genug, um mich handlungsunfähig zu machen. Oder um mich zu töten, was bei dem mörderischen Funkeln in ihren Augen keine allzu abwegige Befürchtung ist. Hastig weiche ich aus, und sie stolpert ein paar Schritte an mir vorbei, bevor sie sich wieder fängt. Mit gerunzelter Stirn beobachte ich, wie sie sich erneut kampfbereit macht. Sie muss ihre Kräfte bereits eingesetzt haben, denn sie wirkt langsamer als sonst und erschöpft.
»Bloom«, sage ich eindringlich, während ich versuche, gleichzeitig sie und die Kämpfenden um uns herum im Auge zu behalten. »Du musst …«
Mit einem wütenden Schrei holt sie erneut aus. Blitzschnell zielt sie auf meinen ausgestreckten Arm. Wieder will ich zur Seite springen, doch dieses Mal bin ich nicht schnell genug. Sie folgt meiner Bewegung, und im nächsten Moment landet ihre geballte Faust krachend an meiner Schläfe. Einen Augenblick lang sehe ich tatsächlich Sterne, und Zorn explodiert in meinem Bauch. Sie hat mich geschlagen. Bloom hat mich tatsächlich geschlagen, sie hat …
»Verschwinde, Kevo«, knurrt sie wütend und massiert sich die Hand, die wahrscheinlich mindestens so sehr schmerzt wie mein Gesicht. »Verschwinde, bevor ich mit dir dasselbe mache wie mit Elia.«
»Was …?« Ihre Worte dringen nur langsam in mein Bewusstsein, so zähflüssig wie Honig. »Was ist passiert?«
Sie lacht kalt und bitter. Ein Laut, den ich wahrscheinlich nie wieder vergessen werde. »Ich habe ihn getötet«, sagt sie. »Ich habe ihm sämtliche Energie aus dem Körper gezogen wie ein beschissener Vampir. Gleich nachdem er meine Mom umgebracht hat.«
Mir wird schlecht. Unwillkürlich strecke ich den Arm aus und mache einen Schritt auf sie zu, um … ja, was eigentlich? Ich will sie in den Arm nehmen, sie hochheben und weit wegbringen. Weg von all dem, weg von dem Krieg und weg von dem Schmerz. Auch wenn mir klar ist, dass manche Schmerzen zu tief reichen, um ihnen entkommen zu können.
Aber natürlich lässt sie nichts davon zu. Sie weicht zurück, als stünde eine unsichtbare Barriere zwischen uns.
»Bleib fern von mir.«
»Es tut mir …«
»Es ist deine Schuld!«, schreit sie mir entgegen. Tränen rollen über ihre Wangen. »Du bist hier aufgetaucht und hast mich dazu gebracht, mit dir zu kommen. Du hast mich dazu gebracht, dir zu vertrauen und meine Familie zu verraten. Wäre ich hiergeblieben, bei meiner Mom … Wäre ich hiergeblieben, hätte ich … Ich hätte …« Ihre Stimme bricht, geht unter in einem herzzerreißenden Schluchzen.
Der Klang schneidet tief in mein Herz, so tief, dass sicher eine Narbe zurückbleiben wird. »Du hättest nichts tun können. Es ist nicht deine Schuld.«
Bloom schluckt. »Ich weiß. Es ist deine.«
Ohne Warnung springt sie vor, und dieses Mal erwischt sie mich am Handgelenk. Ihre Finger schließen sich um meine Haut, und im selben Moment spüre ich, wie die Energie meinen Körper verlässt und in ihren fließt. Verdammte Scheiße, sie ist stark. Viel stärker als bei unserem Training, viel stärker, als ich es bislang erlebt habe. Ich könnte zwar versuchen, ihre Kräfte zu blockieren, aber damit würde ich sie nur in Gefahr bringen. Lieber ließe ich mir sämtliche Energie von ihr aus dem Leib saugen, als sie wehrlos zu machen.
»Bloom!« Meine Lippen fühlen sich seltsam an, beinahe taub. Auch meine Beine beginnen zu kribbeln, als würde ich jeden Moment ohnmächtig werden.
In der nächsten Sekunde geht ein Ruck durch ihren Körper, und sie wird von mir weggerissen. Der Kontakt bricht ab, und ich höre Bloom schreien, als Will mit einem selbstgefälligen Lächeln zwischen uns tritt.
MY TURN TO ROLL
BLOOM
Meine Gedanken klären sich nur langsam. Ich fühle mich wie betrunken. Vielleicht bin ich das sogar. Noch nie zuvor habe ich so viel Energie in so kurzer Zeit gechannelt. Mir ist schwindelig, ich fühle mich überdreht und müde zur gleichen Zeit. Gut möglich, dass mein Körper gerade die letzten Kraftreserven anzapft, und ich will mir lieber nicht ausmalen, was passiert, wenn diese aufgebraucht sind. Für gewöhnlich fühle ich mich jedes Mal, wenn ich meine Kräfte einsetze, danach wie erschlagen. Heute halte ich deutlich länger durch als sonst, also ist es sehr wahrscheinlich, dass die Erschöpfung dafür auch umso größer sein wird.
Mein Blick huscht von Will zu Kevo und wieder zurück, unsicher, wen ich im Auge behalten soll. Ich hasse sie beide, Angst habe ich aber mehr vor Will.
Oder? Verwirrt schüttle ich den Kopf. Ich habe keine Ahnung, was ich denken soll.
Kevos Auftauchen verwirrt mich mehr, als es sollte. Kevo, der Rebell, der mich erst benutzt hat, um mir das Amulett zu stehlen, und mich dann in eine Falle gelockt hat, nur um mir dann unzählige Male das Leben zu retten, mich zu küssen und mein Herz zu stehlen, bevor er sich erneut als Verräter herausgestellt hat. Kevo, der gemeinsame Sache mit meinem Vater macht – dem Mann, der die Armee anführt, die für den Tod meiner Mom verantwortlich ist. Und obwohl er von meinem Vater und seiner Rolle in dieser Rebellion wusste, hat er mir kein Wort davon gesagt. Kevo hat sich meine Erzählungen über meinen verschollenen, unbekannten Vater angehört, dabei wusste er die ganze Zeit, dass dieser in Wahrheit an der Spitze der Vanitasrebellion steht. Er hat mich hintergangen und belogen. All das ist meinem Verstand absolut klar, meinem Herzen aber leider nicht. Gefühle lassen sich nicht abstellen, nur weil es das Vernünftige, das Naheliegende ist. Bescheuertes Herz.
»Sieh mal einer an«, sagt Will und wirft Kevo einen kurzen Blick zu, bevor er sich mir zuwendet. »Was für ein seltsames Bild. Ich dachte, ihr zwei wärt ein Herz und eine Seele.«
»Halt den Mund«, knurre ich und versuche, das Gewicht ein wenig zu verlagern. Mein Arm schmerzt höllisch, und auch mein rechter Fuß hat einiges abbekommen, als ich vorhin gegen diese Rebellin gekämpft habe. Am liebsten würde ich mich kurz irgendwo hinsetzen, allerdings befürchte ich, dass das aktuell eher schwierig wird.
Will schnalzt ein paarmal mit der Zunge, als wäre ich ein Kind, das sich danebenbenimmt. »Du tust mir unrecht, Bloom. Ich bin nicht der Böse. Immerhin habe ich dich nie belogen, oder?«
Da hat er tatsächlich recht. Will war von Anfang an ein Mistkerl. Im Gegensatz zu Kevo.
Reflexartig wandert mein Blick erneut zu ihm, auch wenn er meine Aufmerksamkeit nicht verdient hat. Er keucht angestrengt und sieht ziemlich blass aus, steht aber noch aufrecht, was mich fast ein wenig beeindruckt. Allein die Tatsache, dass Kevo hier ist, setzt mir zu. Ich will ihn nicht sehen, ich will nicht an ihn denken. Aber vor allem will ich nicht daran erinnert werden, wie sehr er mich benutzt hat. Ich habe ihn … gemocht. Ich war davon überzeugt, dass ich ihm vertrauen kann.
Ich war so dumm.
»Und jetzt?«, frage ich die beiden, ohne auf Wills Frage einzugehen. Ich versuche, gelassen zu klingen, aber die immer größer werdende Angst lässt meine Stimme gefährlich zittern. Mir ist klar, dass ich es nicht mit beiden gleichzeitig aufnehmen kann. Ich bin zwar mächtig und an einem anderen Tag hätte ich es vielleicht auch geschafft. Aber die Kraft verlässt bereits zu schnell meinen Körper, und ich befürchte, mich nicht mehr lange auf den Beinen halten zu können. Kevo kann jederzeit meine Kräfte blockieren, und in einem direkten Kampf habe ich nicht die geringste Chance.
»Jetzt«, beginnt Will beinahe feierlich und dreht sich halb zu Kevo um, bevor er wieder mich mustert, »sind wir brave Rebellen und nehmen dich mit. Dein Daddy wird sehr stolz auf uns sein.«
Hastig weiche ich einen Schritt zurück, auch wenn ich weiß, dass das nichts bringen wird. Ich kann unmöglich vor ihnen wegrennen.
Als Kevo jedoch nichts sagt, dreht Will sich erneut zu ihm um und hebt demonstrativ beide Augenbrauen. »Willst du das nicht übernehmen?«
Kevos Blick wird, wenn überhaupt möglich, noch kälter. »Ich habe das hier im Griff. Du kannst gehen.«
Will lacht ungläubig. »Sie hätte dich gerade beinahe umgebracht. Du hast es mir zu verdanken, dass du überhaupt noch aufrecht stehst. Denkst du wirklich, ich überlasse dir die Lorbeeren?«
Da hat Will nicht ganz unrecht, auch wenn ich es nicht gern zugebe. Hätte er mich nicht davon abgehalten, könnte Kevo sich garantiert nicht mehr auf den Beinen halten.
Kevo verschränkt die Arme vor der Brust und macht einen Schritt vorwärts, sodass er ungefähr auf gleicher Höhe wie Will steht. »Ich sage es nicht noch einmal. Du kannst jetzt gehen.«
Wills Lächeln verrutscht ein wenig, bevor etwas hinter Kevo seine Aufmerksamkeit erregt. Ich folge seinem Blick und entdecke eine Gruppe von Rebellen, die auf uns zukommt. Als Kevo sich ebenfalls umdreht, beginnen seine Kiefermuskeln zu arbeiten.
»Halt sie fest«, fordert Will ihn auf. Seine Stimme ist kalt und wütend, die gespielte Lässigkeit ist komplett daraus verschwunden. »Sofort! Oder ich muss davon ausgehen, dass deine Loyalität vielleicht doch den Falschen gehört.«
Kevo starrt ihn eine Sekunde lang an, dann wendet er sich mir zu. Kopfschüttelnd weiche ich zurück, komme aber nicht weit. Hinter mir auf dem Boden liegt ein junger Mann, das Gesicht nach unten und absolut regungslos. Beinahe wäre ich über ihn gestolpert, aber ich kann mich gerade noch fangen.
Das war es jetzt. Gegen sie alle komme ich nicht an. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, außer um mein Leben zu flehen. Und das werde ich sicher nicht tun.
Kevo kommt langsam auf mich zu, und ich balle die Hände an meinen Seiten zu Fäusten. Mag sein, dass ich letzten Endes verlieren werde. Aber nicht, ohne einem von ihnen wehzutun.
Als Kevo ein paar Schritte vor Will ist, verändert sich kaum merklich sein Gesichtsausdruck. Ich erkenne die Veränderung nur einen Sekundenbruchteil, bevor er herumwirbelt, den Arm ausstreckt und Will die Handkante mit voller Wucht gegen den Kehlkopf schlägt. Ein widerliches Gurgeln ist zu hören, und ich verziehe reflexartig das Gesicht, dann sehe ich Kevo an.
»Lauf!«, schreit er mich an. Hinter ihm nehme ich verschwommen die anderen Rebellen wahr, die auf uns zustürzen. »Lauf, Bloom! Ich finde dich, du musst mir vertrauen!«
In meinem Kopf herrscht das reinste Chaos. Ich kann nicht denken, kann nicht beurteilen, was all das zu bedeuten hat. Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen, aber ich bin zu langsam. Bevor ich mich umdrehen und ein letztes Mal auf Kevo hören kann, haben die anderen Rebellen uns bereits erreicht. Ich erkenne keinen von ihnen wieder, aber im Grunde spielt es auch keine Rolle. Im selben Moment brüllt Kevo auf und wirbelt herum, wobei er einem der Rebellen die Beine wegtritt, sodass dieser zu Boden geht. Beinahe gleichzeitig spüre ich die Barriere, die Kevo heraufbeschwört. Etwas drückt gegen mich wie eine unsichtbare Wand. Mir ist sofort klar, was er tut. Er blockiert die Magie der Rebellen, verhindert, dass sie ihre Kräfte aufrufen und gegen uns einsetzen können.
Eine Million Fragezeichen geistern mir durch den Kopf, aber ich habe weder die Zeit noch die Kraft, ihnen Beachtung zu schenken. Stattdessen springe ich ebenfalls vor und versetze einem der Typen einen Tritt gegen die Brust.
Doch ich habe mich überschätzt. Statt zurückzustolpern und auf dem Boden zu landen, hustet der Typ nur einmal, bevor er nach meinem Knöchel greift und ihn festhält. Ich schreie auf, versuche verzweifelt, das Gleichgewicht zu halten und mich zu befreien, aber keine Chance. Stattdessen dreht der Kerl meinen Fuß so weit herum, dass mir ein stechender Schmerz durch den Knöchel fährt und ich scharf die Luft einziehe. Ich kann gerade noch verhindern, dass ich falle, auch wenn ich mich kaum noch aufrecht halten kann.
»Das war ein Fehler«, höre ich Kevo knurren, ehe er auf uns zurennt.
Wie aus dem Nichts legt sich eine Hand auf meine Schulter und zieht mich ruckartig zurück. Die Finger des Rebellen gleiten von meiner Haut, und ich hüpfe ein Stück zur Seite, bevor ich mein Gleichgewicht wiederfinde. Panisch blicke ich mich um und atme erleichtert aus, als ich neben mir meinen Großvater entdecke. Er sieht ziemlich mitgenommen aus, und auf seiner Wange bildet sich gerade ein dunkler Bluterguss, aber sein Blick ist eisig. »Geh zurück, Bloom.«
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Keuchend stolpere ich nach hinten, ohne auf den Schmerz in meinem Fuß, in meiner Schulter und sonst wo zu achten.
Was als Nächstes passiert, brennt sich wie heißes Eisen in meine Erinnerung, obwohl es so schnell geht, dass ich es kaum richtig begreifen kann. Während ich noch zurückweiche und versuche, die ganze Situation zu überblicken, hebt mein Großvater den Arm. In seiner Hand liegt eine glänzende Waffe, die er genau auf die Brust des Rebellen richtet, der gerade noch meinen Fuß umklammert hat.
»Was …?« Meine Worte gehen in einem ohrenbetäubenden Knall unter. Im nächsten Moment sackt der Rebell zu Boden. Dann noch ein Knall, dicht gefolgt von einer weiteren leblosen Gestalt zu unseren Füßen.
Meine Gedanken überschlagen sich. Mein Großvater besitzt keine Waffe. Er ist Pazifist. Er kann nicht hier stehen und Leute erschießen! Er kann nicht …
Wie durch dicken Nebel dringt die Szene, die sich nun vor mir abspielt, zu mir durch – mein Großvater, der sich langsam zu Kevo herumdreht.
»Nein!«, schreie ich. Ich erkenne meine Stimme selbst kaum wieder, ich habe keinerlei Kontrolle mehr über meinen Körper. Als hätten meine Muskeln ein Eigenleben entwickelt, springe ich vor und stelle mich genau vor Kevo. Zwischen ihn und eine Waffe.
Die Augen meines Großvaters weiten sich ungläubig. »Bloom. Verschwinde.«
Die Angst frisst sich in mein Innerstes, während das Adrenalin durch meine Venen pumpt. Ich weiß, dass ich mich dumm verhalte. Ich weiß, dass ich auf der falschen Seite stehe. Trotzdem kann ich mich keinen Zentimeter von der Stelle rühren.
»Nicht er«, krächze ich.
Hinter mir atmet Kevo scharf ein, aber ich kann darauf im Moment nicht reagieren, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich spüre, dass er in meinen Kopf vordringen will, und versuche verzweifelt, die Mauer aufrechtzuerhalten, die ihn aus meinen Gedanken aussperrt.
»Was?«, fragt mein Großvater ungläubig. So viele Gefühle spiegeln sich in seinem Gesicht. So viele, dass ich sie kaum auseinanderhalten kann. »Er ist einer von ihnen, Bloom. Er hat …«
»Er hat mir das Leben gerettet«, sage ich mit überraschend fester Stimme. »Mehr als einmal. Ich bin ihm seines schuldig.«
Bevor er etwas darauf erwidern kann, ertönt ein gewaltiger Knall aus Richtung des Hofes, gefolgt von Rufen und gebrüllten Anweisungen. Mein Großvater wirbelt herum, und ich folge seinem Blick. Aus dem Inneren des Hofes stürmen unzählige Menschen – erst Rebellen, dann Leute, die mir vage bekannt vorkommen. Ganz vorn erkenne ich einen Mann, der ziemlich sicher der Berater des Meisters des Frühlings ist. Die Kavallerie ist da. Wir kriegen Verstärkung.
Und das scheint auch den Rebellen klar zu werden. Denn einer nach dem anderen tritt den Rückzug an und flüchtet Richtung Küste.
Mein Großvater steht immer noch mit dem Rücken zu uns, während meine Erschöpfung von Sekunde zu Sekunde größer wird. Als Kevo um mich herumtritt und mein Gesicht in seine Hände nimmt, habe ich kaum die Kraft, mich dagegen zu wehren.
Ich werde zurückkommen. Seine Stimme hallt durch meinen Kopf, erst leise und undeutlich wie ein verstelltes Radio, dann so laut wie ein Donnerschlag. Ich habe nichts von dem hier gewollt, Wintermädchen. Ich werde zurückkommen und dich holen.
Kevo beugt sich vor, und als Nächstes liegen seine Lippen auf meinen.
Ich habe keine Ahnung, ob es der Schock ist oder die Erschöpfung, so oder so lasse ich es zu. Ich lasse es zu, dass er mich küsst. Ich lasse zu, dass er zurückweicht, und ich lasse es zu, dass er sich Schritt für Schritt von mir entfernt.
Kevo wirft einen letzten verzweifelten Blick in meine Richtung, bevor er ganz herumwirbelt und mit den anderen Rebellen Richtung Fjord davonstürmt.
Eine Stunde später sitze ich auf einem kleinen Stück Mauer, das den Kampf wie durch ein Wunder überlebt zu haben scheint. Als hätte es sich einfach geweigert, zerstört zu werden. Vielleicht sind auch zwei Stunden vergangen, seit die Rebellen von der Insel geflohen sind, vielleicht auch drei. Mein Zeitgefühl hat mich zusammen mit meinem Kampfgeist und meiner Rachlust verlassen.
Um mich herum herrscht das reinste Chaos. Am Boden türmen sich Geröllberge – Steine, die aus den Mauern des Winterhofes gesprengt wurden, Überreste verschiedener Waffen und anderer Kram, der nach einer Schlacht zurückbleibt. Immer wieder laufen Menschen an mir vorbei, die Verletzte ins Innere des Hofes bringen oder Leichen wegschaffen. Ich kneife die Augen zusammen und widerstehe dem Drang, mir auch noch die Ohren zuzuhalten. Ich will das nicht sehen. All das Leid, all den Tod. Jedes leblose Gesicht, ob vertraut oder nicht, erinnert mich an meine Mom. Und damit kann ich im Moment nicht umgehen. Ich habe keine Ahnung, wo sie sie hingebracht haben. Als ich vorhin auf dem Weg in mein Zimmer die Eingangshalle durchquert habe, war sie nicht mehr dort. Wahrscheinlich hat mein Großvater sich um sie gekümmert.
Mein Körper wird von einem Schluchzer geschüttelt, und ich schlinge die Arme fester um meinen Oberkörper, als könnte ich mich so selbst davor bewahren, auseinanderzubrechen. Denn genauso fühlt es sich an. Ich habe gedacht, der Schmerz, den Kevo mir zugefügt hat, wäre unerträglich gewesen. Aber ich hatte ja keine Ahnung. Denn der Schmerz, den ich jetzt fühle, sobald ich an meine Mom denke, zerreißt mich beinahe in Tausend Stücke. Mein Herz ist nicht mehr als ein Scherbenhaufen, und ich bin mir sicher, dass ich die Einzelteile nicht wieder werde zusammensetzen können.
Ich habe getötet, bin zur Mörderin geworden – und trotzdem konnte ich sie nicht retten. Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich abwechselnd das leblose Gesicht meiner Mom und das von Elia vor mir. Auch wenn die Gefühle, die ich diesen beiden Menschen gegenüber empfinde, nicht unterschiedlicher sein könnten, zerreißen sie mir dennoch beide das Herz. Logisch betrachtet ist mir klar, dass Elia vermutlich auch mich getötet hätte, wenn ich ihn nicht aufgehalten hätte. Trotzdem war er vor ein paar Stunden noch ein lebender Mensch, ein Mensch mit einer Zukunft und einer Familie, und ich habe dafür gesorgt, dass nichts mehr von alledem übrig ist. Ein ganzes Leben, von einer Sekunde auf die andere ausgelöscht, durch meine Hand. Das ist einfach nicht richtig.
Widerstrebend hebe ich den Kopf und sehe den Mann und die Frau an, die neben mir stehen. Sie halten höflichen Sicherheitsabstand und beachten mich nicht, aber ich weiß, dass sie wegen mir da sind. Nicht, um mich zu beschützen. Sondern, um mich zu beaufsichtigen und dafür zu sorgen, dass ich keine Intrigen spinne oder meinem Großvater ein Messer in den Rücken jage.
Sobald die Rebellen verschwunden waren, haben sich alle gesammelt und begonnen, die Schäden zu beseitigen – die materiellen und die personellen. Da ich mit niemandem reden wollte, bin ich direkt in mein Zimmer gegangen, habe es dort aber kaum fünf Minuten ausgehalten. Bilder meiner Mom sind in meinem Kopf aufgestiegen und haben sich zu einem giftigen Nebel materialisiert, der mich beinahe zu ersticken drohte. Also bin ich wieder nach unten gegangen und sofort von diesen Babysittern in Empfang genommen worden, die mir nicht mehr von der Seite weichen.
Niemand hat seitdem mit mir gesprochen, aber das ist auch nicht nötig. Ich habe mich auf die falsche Seite gestellt, indem ich Kevo beschützt habe. Die falsche Seite aus der Sicht meines Großvaters, natürlich. Selbst mir fällt es inzwischen schwer, die Guten von den Bösen zu unterscheiden. Eine Zeit lang habe ich meine Familie für die Opfer in dieser ganzen Sache gehalten, dann haben die Rebellen mich vom Gegenteil überzeugt, und ich habe an ihrer Seite gekämpft. Bevor sie mich verraten, meinen Hof angegriffen und unschuldige Menschen getötet haben. Ich bin zurückgekommen, in der Hoffnung, zusammen mit meinem Großvater eine vernünftige, friedliche Lösung zu finden. Der Gewalt endlich ein Ende zu setzen, wenn auch viel zu spät. Aber in dem Moment, als mein Großvater die Waffe gegen die Rebellen gerichtet hat, ist jeglicher Rest Glauben an ein friedliches Ende wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen. Mein Großvater hat gemordet, um seinen Willen durchzusetzen. Und wegen meines dummen Herzens stehe ich in seinen Augen nun auf der Seite des Feindes. Jetzt bin ich selbst eine dieser Feinde, die es zu bewachen gilt.
Seufzend vergrabe ich das Gesicht in den Händen. Allein bei dem Versuch, dieses ganze Chaos in meinem Kopf aufzudröseln, entsteht ein pochender Schmerz hinter meiner Stirn. In Filmen, Büchern und Geschichten ist das alles immer ganz einfach – es gibt Schwarz und Weiß, Gut und Böse. In meiner Geschichte wirkt alles irgendwie grau.
Ich kann es immer noch nicht fassen. Mein Verstand ist völlig überfordert mit der Aufgabe, alle Geschehnisse der letzten Stunden zu verarbeiten. Einerseits will ich mich unter einer Decke verkriechen und um meine Mom trauern, andererseits muss ich mir über Kevo Gedanken machen. Etwas passt nicht zusammen. Nicht dass Kevo jemals einfach zu durchschauen oder seine Handlungen nachvollziehbar gewesen wären, aber das hier ist etwas anderes.
Ich bin davon ausgegangen, dass er mir den Freund nur vorgespielt hat, um mich gefügig zu machen. Um mich unter Kontrolle zu bringen und mich davon abzuhalten, dass ich abhaue oder etwas auf eigene Faust unternehme. Was auch hervorragend funktioniert hat.
Aber warum dieses Spiel heute? Warum dieser Kuss und sein Versprechen, für mich zurückzukommen? Er hat mein Vertrauen verspielt, und ich halte ihn nicht für so dumm, sich Hoffnungen zu machen, mich noch einmal mit netten Worten auf seine Seite ziehen zu können. Heute ist er mit Joseph, Will und den anderen rachedurstigen Rebellen in mein Zuhause eingebrochen, hat meine Familie und Freunde umgebracht. Selbst wenn er selbst niemandem das Leben genommen hat, klebt ihr Blut dennoch auch an seinen Händen. Wir stehen auf unterschiedlichen Seiten – buchstäblich. Bis vor ein paar Stunden bin ich der unumstößlichen Meinung gewesen, die Fronten zwischen uns wären geklärt. Und dann küsst er mich und beschwört erneut all die Gefühle für ihn herauf, die ich zu unterdrücken versuche. Wenn er ohnehin zurückkommen und mich holen will, warum hat er Will dann aufgehalten? Und die anderen Rebellen? Was hat ihm das gebracht? Es hätte doch auch in Kevos Sinne sein müssen, mich gefangen zu nehmen oder mich Will zu überlassen.
Ohne mein Zutun regt sich ein kleiner Hoffnungsschimmer in meinem Herzen, den ich jedoch sofort wieder beiseitedränge. Heute mag Kevo mich gerettet haben, aber davor hat er mich verraten. Er arbeitet mit Joseph zusammen, hat es die ganze Zeit über getan – das ist Beweis genug, dass er keiner von den Guten ist.
Ein stechender Schmerz fährt mir durch den Kopf, und erneut kneife ich die Augen zusammen. Vielleicht erleide ich einen Nervenzusammenbruch. Wundern würde es mich nicht. Ich könnte meinem Körper wirklich keinen Vorwurf machen, wenn er einfach aufgeben würde.
Ich habe keine Ahnung, wie lange ich auf der Mauer sitze und versuche, die Geschehnisse um mich herum auszublenden. Ich will aufstehen und woanders hingehen, weg von alledem. Aber wo soll ich schon hin? Mein Zimmer ertrage ich aktuell nicht, das Schlafzimmer meiner Mutter schon gar nicht. Und in den Wald darf ich mit Sicherheit nicht, wenn es nach meinen Aufpassern geht. Im Moment stehen sie zwar nur da und beobachten mich, aber ich lebe lange genug am Winterhof und bin Teil dieser Familie, um zu wissen, was ihre Anwesenheit zu bedeuten hat. Früher habe ich die Jahreszeitenhöfe gern mit der Mafia verglichen – und das nicht ohne Grund. Wenn jemand Mist baut, der die Familie oder unser Geheimnis bedroht, sind die Strafen unbarmherzig. Man wird gnadenlos vom Hof verbannt, einem wird jegliche Lebensgrundlage genommen. Und bis dahin steht man unter Hausarrest, wird von mächtigen Familienmitgliedern bewacht. Keine Ahnung, was mein Großvater mit mir vorhat. Aber diese beiden Aufpasser sind sicher nicht zu meiner eigenen Sicherheit an meiner Seite.
Also bleibt mir nicht viel übrig, außer hier sitzen zu bleiben und zu hoffen, die rissigen Steine unter meinen Füßen würden sich auftun und mich einfach in sich aufnehmen.
Ein Schaudern durchfährt mich. Ich bin so unfassbar erschöpft. Noch nie zuvor habe ich mich und meine Macht so verausgabt, und die Anstrengung fordert nun langsam doch ihren Tribut. Immer wieder wird mir kurz schwarz vor Augen, aber ich reiße mich zusammen und kämpfe dagegen an. Vielleicht sollte ich es einfach geschehen lassen. Einfach ohnmächtig werden und hoffen, dass ich nicht mehr aufwache. Oder erst, wenn all das hier vorbei ist. Was natürlich ein dummer Gedanke ist.
Erneut erscheint das Bild meiner Mom vor meinem inneren Auge, und ich schluchze leise auf. Sie ist tot. Mein Kopf weiß das, mein Herz weigert sich allerdings, das zu akzeptieren. Ich will es nicht hinnehmen, will nicht darüber nachdenken, dass ich sie nie mehr wiedersehen werde. Dass ich niemals mit ihr über meinen Vater reden, ihr nie all die Fragen stellen kann, die ich zurückgehalten habe. Ich dachte, mir bliebe noch ewig Zeit, mich mit ihr zu unterhalten. Als ich nach meiner Flucht aus dem Versteck in Göteborg nach Hause gekommen bin, war ich zu beleidigt und zu stolz, um richtig mir ihr zu sprechen. Hätte ich vor so vielen Stunden am Hafen, als sie mich empfangen hat, gewusst, dass uns nur noch Stunden bleiben, hätte ich jede Sekunde genutzt.
Ich spüre meinen Großvater, bevor ich ihn sehe. Mein Kopf ist nach vorn gesunken, und ich habe die Stirn auf die Knie gelegt, trotzdem weiß ich sofort, dass er da ist. Meine Begleiter räuspern sich, und eine Sekunde später höre ich auch schon ihre Schritte, die sich eilig entfernen.
Angestrengt atme ich einmal tief durch, dann sehe ich auf.
Beinahe hätte ich ihn gar nicht wiedererkannt. Der adrette, strenge Mann, den ich mein Leben lang kenne, ist verschwunden. An seiner Stelle steht ein gebrochener Mensch mit einem Bluterguss im Gesicht, müden Augen und Haaren, die an einer Seite aussehen, als wären sie verkohlt. Er muss sich umgezogen haben, denn seine Kleidung ist sauber und faltenfrei, was den Gesamteindruck aber kaum bessert.
»Bloom«, sagt er seltsam distanziert und blickt auf mich herab. Ich wünschte, er würde sich neben mich setzen. Aber selbst, wenn er wollte, böte der kleine Abschnitt der Mauer kaum genug Platz für uns beide. »Was machst du hier?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
Erneut mustert er mich eine Weile. Keine Ahnung, was er denkt, und es ist mir auch egal. Alles ist mir egal. Ich habe in den vergangenen Wochen mehr als einmal versucht, in die Geschichte der Jahreszeiten einzugreifen. Ich habe versucht, meinen Beitrag zu leisten, zu helfen, eine Rolle in dieser Sache zu spielen. Und was hat es mir gebracht? Nichts außer Kummer, Schmerz und Tod. Es ist eine Schande, dass der Vanitas seit Jahrtausenden aus dem Kreislauf der Jahreszeiten ausgeschlossen wird. Ich weiß, dass das Unrecht ist und dass es das Richtige ist, für das Recht der verlorenen fünften Jahreszeit zu kämpfen. Die Rebellen wollen lediglich das, was ihnen zusteht. Trotzdem frage ich mich allmählich, ob dieser Kampf all dieses Leid wirklich wert ist.
»Komm mit«, sagt mein Großvater schließlich und dreht sich um, ohne auf eine Antwort oder überhaupt eine Reaktion zu warten.
Kurz zögere ich, dann stemme ich mich mühsam hoch. Es bringt nichts, mich zu weigern. Schlimmstenfalls verbannt er mich vom Winterhof, und dann habe ich keine Ahnung, wohin ich gehen soll. Mein Leben lang wollte ich nichts lieber, als diesem goldenen Käfig zu entkommen. Trotzdem ist es das einzige Zuhause, das ich kenne.
Sobald ich aufrecht stehe, schlägt ein Schwindelanfall so heftig zu, dass ich einen kurzen Moment lang befürchte, einfach aus den Latschen zu kippen. Mit zusammengebissenen Zähnen schließe ich die Augen, stütze mich an der Mauer ab und warte, dass das widerliche Gefühl nachlässt.
Als ich sie wieder öffne, begegne ich dem Blick meines Großvaters.
»Soll ich jemanden holen, der dich stützt?«
Ich schlucke. Auch ohne dass er es direkt ausspricht, weiß ich, was er mit diesen Worten eigentlich sagen will – er wird mir nicht helfen. Energisch schüttle ich den Kopf. »Geht schon.«
Mein Großvater nickt knapp. »Dann komm. Wir müssen uns unterhalten.«
OUTCAST
Ich kann ein erleichtertes Stöhnen nicht unterdrücken, als ich mich in den Besuchersessel im Büro meines Großvaters fallen lasse. Zu viele Stellen meines Körpers tun weh, als dass ich sie alle aufzählen könnte, und mein Kopf fühlt sich inzwischen so wattig an, als hätte ich eine Überdosis Beruhigungsmittel geschluckt.
Sobald mein Grandpa gegenüber von mir Platz nimmt, verschränke ich die Finger im Schoß, damit er nicht sieht, wie sehr meine Hände zittern. Das letzte Mal, als ich hier war, hat meine Mom hinter mir gestanden.
Jetzt bin ich allein.
»Wer war der Rebell?«, kommt Grandpa ohne Umschweife zum Punkt und sieht mich so schneidend an, dass ich beinahe zurückgewichen wäre. »Der, vor den du dich gestellt hast.«
Das ist eine verdammt gute Frage. Nicht dass ich sie nicht beantworten könnte. Ich will es nicht. Zumindest nicht wahrheitsgemäß. »Ich kenne seinen Namen nicht«, antworte ich so glatt, dass es mich selbst überrascht. Eine Nebenwirkung der vergangenen Wochen ist offensichtlich, dass mir das Lügen deutlich leichter fällt als vorher. Auch wenn es mir gerade vermutlich den Hintern rettet, weiß ich nicht, ob das eine positive Entwicklung ist.
»Du hast einem Rebellen das Leben gerettet, dessen Namen du nicht einmal kennst?«, fragt Grandpa tonlos, und ich beiße mir auf die Lippen. Er hat recht, das klingt nicht gerade glaubwürdig, auch wenn mein Großvater den Kuss zum Glück nicht gesehen hat.
Ich atme tief durch und blinzle ein paarmal schnell hintereinander, um die Müdigkeit aus meinem Kopf zu vertreiben – ohne Erfolg. »Du verstehst das nicht.«
»Ach nein?« Er lacht herablassend. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass du diejenige bist, die nicht ansatzweise versteht, was …«
»Nein«, unterbreche ich ihn und ignoriere den scharfen Schmerz in meinem Kopf. »Nein, das höre ich mir nicht mehr an. Es mag durchaus sein, dass es da einige Lücken bei mir gibt, was die Jahreszeitenpolitik und unsere Geschichte angeht. Aber das ist nicht meine Schuld, falls ich dich daran erinnern darf. Ihr seid diejenigen, die Geheimnisse haben und sich bewusst dafür entscheiden, diese Geheimnisse totzuschweigen. Aber darum geht es hier nicht. Dieser Krieg liegt schon lange nicht mehr in eurer Hand, ist euch schon lange über den Kopf gewachsen. Und vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn ihr euch dessen allmählich mal klar werdet und dementsprechend handelt.«
»Was soll das heißen?«
Ich ringe die Hände und klemme sie mir anschließend unter die Oberschenkel. »Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß in diesem Krieg. Es gibt nicht nur zwei Seiten, die sich gegenüberstehen. Der Rebell, den du töten wolltest, ist keiner von den Bösen. Er will niemanden töten, er will niemandem schaden. Er will nur sein Recht, Grandpa. Er will das zurückhaben, was wir seiner Familie vor Ewigkeiten genommen haben.«
Alles in mir schreit danach, meine Worte zurückzunehmen und Kevo zu verteufeln, aber das kann ich nicht. Was auch immer er mir angetan hat, er ist nicht die Ausgeburt der Hölle. Ja, er hat mich für seine Zwecke benutzt, mich belogen, betrogen und mir das Herz gebrochen. Trotzdem glaube ich immer noch daran, dass er die friedliche Lösung bevorzugen würde, wenn er die Wahl dazu hätte. Er hat es zumindest nicht verdient zu sterben.
»Offensichtlich ist er bereit zu töten, um dieses Ziel zu erreichen«, sagt Grandpa kalt und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. »Deine Mutter ist für dieses Ziel gestorben.«
Der Schmerz, der sich innerhalb weniger Sekunden in meinem Herzen ausbreitet, ist so gewaltig, dass er mir für einen Moment die Luft raubt. Tränen verschleiern mir die Sicht, aber ich blinzle sie hastig weg. Ich kann jetzt nicht zusammenbrechen. Nicht hier, nicht jetzt. Zum Trauern ist später noch genug Zeit.
»Er hat sie nicht getötet.« Meine Stimme zittert kaum hörbar, als ich seinen Blick erwidere. »Das war ein anderer. Und den habe ich getötet.«
Die Augen meines Großvaters weiten sich. »Du hast was?«
»Ja«, sage ich bemüht gleichgültig. »Du scheinst überrascht zu sein.«
Mein Großvater legt die Fingerspitzen aneinander. »Ich bin überrascht, dass du zu einem Mord fähig bist.«
Ich zucke innerlich zusammen. Ich habe Elia tatsächlich umgebracht, und normalerweise würden mich die Schuldgefühle sicher quälen, doch im Moment lässt mein Unterbewusstsein diesen Gedanken nicht zu. Elia war immerhin einer von den Bösen.
Schnell setze ich eine neutrale Miene auf. »Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr mich unterschätzt. Oder?«
Nach ein paar Sekunden, in denen er mich betrachtet, als wäre ich ein besonders skurriles Forschungsobjekt, steht er auf und kommt um seinen Schreibtisch herum. Wortlos lehnt er sich gegen die Tischplatte und verschränkt die Arme. Sein Blick ist eiskalt und scheint mich regelrecht zu durchbohren. Mir war immer klar, dass mein Großvater mächtig ist. Doch zum ersten Mal wird mir bewusst, dass er auch gefährlich sein kann. Das hier ist keine großväterliche Strenge, keine familiäre Sorge. Nicht der leiseste Hauch von Freundlichkeit liegt in seinen Augen.
»Du wirst dieses Haus nicht mehr verlassen«, sagt er schließlich, und der Ton in seiner Stimme passt zu dem stechenden Blick, mit dem er mich bedenkt. »Du wirst unter Aufsicht stehen und mit niemandem außerhalb des Hofes Kontakt haben. Bis das hier vorbei ist, lassen wir dich nicht mehr aus den Augen.«
»Was?«, frage ich in der irrationalen Hoffnung, mich verhört zu haben. »Du sperrst mich hier ein?«
»Du hast dich für sie entschieden«, sagt er leise, so leise, dass ich ihn kaum verstehe. »Als du mit ihnen gegangen bist, hast du dich gegen uns entschieden. Als du wieder nach Hause gekommen bist, habe ich gehofft, du hättest deinen Fehler eingesehen. Deine Mutter hat gehofft …« Er unterbricht sich, und einen Moment lang bin ich mir sicher, denselben Schmerz in seinem Gesicht zu sehen wie den, der sich für immer in meinem Herzen festgesetzt hat. »Aber als du dich hättest beweisen können, hast du dich zwischen mich und den Feind gestellt. Hast ihn beschützt und dafür gesorgt, dass einer mehr von ihnen entkommen konnte. Ich werde nicht zulassen, dass du alles, was ich aufgebaut habe, alles, wofür deine Familie seit Jahrhunderten arbeitet, zerstörst. Du bist jung und naiv, aber das ist keine Entschuldigung für Fahrlässigkeit.«
»Ihr braucht mich«, erinnere ich ihn mit brüchiger Stimme. »Ihr braucht mich, um die Sache in Ordnung zu bringen. Ohne mich könnt ihr den Winter nicht beenden, selbst wenn ihr das Amulett und den Winterkristall findet.«
Er zuckt nicht einmal mit der Wimper. »Noch ein Grund mehr, dass du hierbleibst, wo ich dich in Sicherheit weiß. Du warst da draußen und hast gesehen, wie es um die Welt steht. Ich rechne dir ausreichend Vernunft zu, um die richtige Entscheidung zu treffen, wenn es so weit ist.«
Ich atme tief durch, während sich die Finger unter meinen Oberschenkeln in das dicke Polster bohren. »Was würde mit mir geschehen, wenn ich nicht die Hüterin wäre?«, frage ich zögernd.
»Was meinst du?«
»Ihr braucht mich«, wiederhole ich. »Was würdest du mit mir machen, wenn das nicht der Fall wäre?«
Ein paar Herzschläge lang mustert er mich. Mir ist klar, dass er meine Frage verstanden hat und dass er in diesem Moment darüber nachdenkt, ob er mich anlügen soll oder nicht. Und er entscheidet sich offenbar dagegen. »Wenn du uns nicht von Nutzen wärst, hättest du keinen Fuß mehr in dieses Haus gesetzt. Du wärst mit den Rebellen verschwunden oder mit ihnen gestorben.«
Ich schnappe nach Luft. Einem Teil von mir war das schon vor seiner Antwort klar, es tatsächlich ausgesprochen zu hören, versetzt mir dennoch einen Schlag.
Das hier ist nicht länger meine Familie. Meine Mom ist tot, mein Zuhause gleicht einem Gefängnis, mehr denn je. Und die Menschen, die mich unterstützen sollten und denen ich vertrauen sollte, sind … Sie sind meine Kerkermeister. All das wird mir klar, während mein Großvater sich umdreht und einen Knopf an der Gegensprechanlage auf seinem Schreibtisch drückt.
Und noch etwas dringt durch das Durcheinander meiner Gedanken langsam in meinen Verstand vor: Mein Großvater braucht mich. Mehr, als ich bislang geglaubt habe. Die Rebellen waren sich nicht sicher gewesen, ob mein Großvater nicht auch selbst in der Lage wäre, den Winter zu beenden und das Ritual durchzuführen. Aber seine Worte haben deutlich gemacht, dass das keine Option ist.
Sie brauchen mich. Mein Haus ebenso wie die Rebellen.
Und das ist die einzige Waffe, die ich im Moment zur Verfügung habe.
Drei Tage sind vergangen, seit die Rebellen den Hof überfallen haben. Drei Tage, seit meine Mom auf den Fliesen in der Eingangshalle gestorben ist, ich Elia getötet habe und in meinem Zimmer eingesperrt wurde. Drei Tage sind vergangen, seit meine eigene kleine Welt vollkommen aus den Fugen geraten ist.
Meinem Verstand ist bewusst, dass der Mord an Elia keine rationale Handlung war. Dass ich nicht zurechnungsfähig war, als ich ihn getötet habe, und dass er vermutlich dasselbe mit mir getan hätte, hätte ich ihm die Gelegenheit gegeben. Unterm Strich hieß es er oder ich. Trotzdem, wenn ich mit meinen Gedanken allein bin, erreichen diese logischen, abgeklärten Argumente mein Herz nicht. Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass ich zu einem Mord fähig bin. Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass ich danach mit mir selbst würde leben können. Aber das muss ich, auch wenn sein Gesicht mich in meinen Albträumen heimsucht und ich mich immer wieder dabei erwische, wie ich an seine Familie denke und an all die Menschen, die um ihn trauern.
Zum gefühlt hundertsten Mal dränge ich die Gedanken an Elia und meine Schuldgefühle in den Hintergrund, gehe hinüber zum Fenster und drücke die Stirn gegen die eiskalte Scheibe. Der Winter hat diese Insel immer fest im Griff, aber heute ist es schlimmer als sonst. Mein Zuhause … nein, mein ehemaliges Zuhause, der Winterhof, steht auf einer privaten Insel im Oslo-Fjord und ist selbst im Sommer irgendwie eisig. Die Magie des Winters, die hier überall herrscht, lässt es nicht zu, dass Blumen erblühen oder es je wirklich warm wird.
Doch seit die Zeit des Winters verstrichen und das empfindliche Gleichgewicht der Natur durcheinandergeraten ist, herrscht eine richtige Eiszeit. Und das nicht nur hier auf unserer Insel. Als ich das letzte Mal die Nachrichten gesehen habe, damals in Göteborg, lagen manche Städte unter einer meterhohen Schnee- und Eisschicht begraben, es gab Erdbeben, Überflutungen und was weiß ich noch alles. Das alles ist in den letzten Tagen vermutlich noch schlimmer geworden. Die Welt steht buchstäblich davor unterzugehen – und das nur, weil ein paar machtbesessene Männer sich vor ein paar Jahrtausenden darüber gestritten haben, wer von ihnen die größte Nummer ist.
Die Welt folgt einem einfachen Ablauf: Frühling, Sommer, Herbst, Winter und Vanitas. So war es zumindest von den Göttern vorgesehen, die uns die Kontrolle über die Jahreszeiten übergeben haben. Vanitas, die fünfte Jahreszeit, wurde irgendwann von den anderen Jahreszeiten als nutzlos angesehen, die Mitglieder des Vanitas wurden gestürzt und ermordet und die Zeit des Vanitas unter den Anführern des Aufstandes aufgeteilt: Sommer und Winter. All das ist Jahrtausende her, und bis vor ein paar Wochen habe ich nicht einmal gewusst, dass diese verlorene Jahreszeit je existiert hat. Niemand hat mehr darüber gesprochen, der Aufstand und die Entmachtung des Vanitas wurden wie ein unschöner Fleck auf der Familiengeschichte einfach ausradiert und ignoriert.
Und nun stecke ich mitten in den Auswirkungen dieses furchtbaren Fehlers. Denn was die machtbesessenen Meister der Jahreszeitenfamilien nicht miteinkalkuliert haben, sind die Nebenwirkungen, die das Aussetzen der Jahreszeit mit sich bringt. Naturkatastrophen häufen sich, der Klimawandel wird zum Problem und Rohstoffe werden immer knapper. Was von Wissenschaftlern und Medien als menschengemachte oder auch natürliche Entwicklung dargestellt wird, sind in Wahrheit direkte Auswirkungen der Zerstörung des Vanitas. Wenn auch nur sehr langsame Auswirkungen.
Als sich jedoch vor ein paar Wochen die Rebellen erhoben und den Wechsel vom Winter zum Frühling verhinderten, um Vanitas erneut erstehen zu lassen, ging alles so richtig den Bach runter.
Und hier sind wir nun. Mitten in einer verdammten Apokalypse.
Seufzend drehe ich den Kopf und presse die Wange gegen die Scheibe. Mir ist heiß und kalt zugleich. Ich bin unruhig und will zur selben Zeit den ganzen Tag einfach nur im Bett bleiben. Vielleicht entwickle ich eine Depression. Oder einen Lagerkoller. Denn auch wenn das hier mein Zimmer, mein Zuhause ist, fühlt sich die Zeit, die ich hier eingesperrt bin, viel schlimmer an als die, in der die Rebellen mich gefangen gehalten haben. Dort wusste ich, wer die Bösen waren. Dort hatte ich ein Feindbild, auf das ich mich konzentrieren konnte. Und ich hatte … ich hatte Kevo. Es ist dumm, zu leugnen, dass er damals eine Art Licht in der Dunkelheit gewesen ist. Er hat sich um mich gekümmert und war nett zu mir – auch wenn diese Nettigkeit und Fürsorge nur vorgetäuscht waren.
Oder?
Ich schüttle den Gedanken ab und versuche, die Zweifel, die erneut in mir laut werden, zur Seite zu schieben. Ein weiterer negativer Nebeneffekt meiner Einzelhaft ist die viele Zeit. Mein Handy ist irgendwo verloren gegangen, und mit dem Laptop kann ich keine Internetverbindung mehr herstellen. Die Filme, die ich auf meiner Festplatte oder über Streamingdienste downgeloadet habe, habe ich mittlerweile alle schon mehrfach gesehen. Und nun habe ich viel zu viel Zeit zum Nachdenken, was mir wirklich nicht guttut. Neben meiner Mom und meinem Großvater ist Kevo nämlich derjenige, der meine Gedanken im Moment am meisten beherrscht. Immer wieder gehe ich seine Worte durch, die er auf dem Schlachtfeld zu mir gesagt hat: Ichwerdezurückkommenunddichholen.Ichhabenichts von dem hier gewollt. Ich gehe jede einzelne Sekunde durch, die wir miteinander verbracht haben. Und werde trotzdem nicht schlauer. Warum ist er hergekommen? Vermutlich aus demselben Grund wie die anderen Rebellen, die von meinem Vater angeführt werden: um ihnen zu helfen, mich zu holen. Mich zu dem Übergangsritual zu zwingen, das den Vanitas einleitet. Oberflächlich betrachtet ergibt das sogar Sinn.
Aber warum hat er mich dann vor den Rebellen beschützt? Vor Will und seinen Freunden? Warum hat er sich geweigert, mich festzuhalten? Warum hat er nicht zugelassen, dass sie mich mitnehmen? Er hätte mich sich auch selbst über die Schulter werfen und einfach davontragen können. In der Lage wäre er dazu auf jeden Fall gewesen. Ich war geschwächt von dem Verlust meiner Mom und dem Kampf davor. Ich habe mich nicht richtig konzentriert. Und ich weiß, wie mächtig Kevo ist. Ich habe es schon mal am eigenen Leib erfahren. Es wäre ein Leichtes für ihn gewesen, mich zu überwältigen. Meine Kräfte zu blockieren.
Hat er aber nicht. Er hat zugelassen, dass ich hierbleibe und die Rebellen mit leeren Händen von der Insel fliehen mussten.
Ich kneife die Augen zusammen, und ein seltsam frustriertes Knurren entweicht meinen Lippen. Ich habe diese Gedanken schon so oft durchgekaut, ohne wirklich zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen. Kevo ergibt einfach keinen Sinn. Damit muss ich mich vielleicht einfach abfinden.
Verzweiflung macht sich in mir breit und lässt mich einen Moment lang nach Atem ringen. Wie konnte das alles nur geschehen? Wie konnte es so weit kommen? Ein Teil meines Verstandes weigert sich schlicht und ergreifend, all das zu akzeptieren und zu verarbeiten.