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FBI-Agent Amos Decker und seine Partnerin Alex Jamison werden in eine Kleinstadt in North Dakota gerufen. Dort hat ein Jäger mitten in der Prärie eine übel zugerichtete Frauenleiche entdeckt. Ist das Opfer zwischen die Fronten skrupelloser Ölfirmen, zwielichtiger Regierungsbeamter und religiöser Außenseiter geraten, die die nahegelegene Kleinstadt prägen? Als weitere Morde geschehen, braucht Decker sein perfektes Gedächtnis und die Unterstützung eines überraschenden Verbündeten ...
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Seitenzahl: 575
ZUMBUCH:
In den Badlands von North Dakota, einer Gegend, die von boomender Fracking-Industrie geprägt ist, stößt ein Jäger auf die Leiche einer verstümmelten Frau. Anscheinend wurde an dem Opfer, Irene Cramer, eine Obduktion durchgeführt. FBI-Agent Amos Decker und seine Partnerin Alex Jamison sollen den Mord aufklären und stoßen schnell auf Merkwürdigkeiten in Cramers Lebenslauf: Sie arbeitete als Lehrerin bei einer religiösen Sekte und gleichzeitig als Escort – hatte aber scheinbar keine Vergangenheit. Doch auch die Kleinstadt, in der sie lebte, ist ein merkwürdiges Pflaster: geprägt vom Öl-Boom, der zu gefährlichen Verteilungskämpfen zwischen örtlichen Familien, skrupellosen Firmen und zwielichtigen Regierungsbeamten führte. Und welche Rolle spielt die mysteriöse Religionsgemeinschaft? War Irene Cramer einem gefährlichen Geheimnis auf der Spur? Die Stadt ist ein Pulverfass. Und dann tauchen weitere Leichen auf …
ZUMAUTOR:
David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New York Times-Bestsellerliste. Mit über 150 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den weltweit beliebtesten Autoren. »Open Fire« ist nach »Memory Man«, »Last Mile«, »Exekution«, »Downfall« und »Flashback« der sechste Band seiner Bestsellerserie um Amos Decker.
DAVID BALDACCI
THRILLER
Aus dem Amerikanischen von Norbert Jakober
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel WALKTHEWIRE bei Grand Central Publishing/Hachette Book Group Inc., New York.
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Copyright © 2020 by Columbus Rose, Ltd.
Copyright © 2024 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Wolfgang Neuhaus
Herstellung: Udo Brenner
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design
unter Verwendung von
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© AdobeStock/gerasimov174
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-30672-4V001
www.heyne.de
Für Mike und Monica Rao
Es ist fabelhaft, was ihr für die Virginia Commonwealth University getan habt!
Hal Parker kam seiner Beute mit jedem Schritt ein Stück näher. Immer häufiger wurden die Blutspuren, die wie Rubine auf der dunklen Erde schimmerten. Mit wachsender Anspannung erkannte er, dass er das Tier nicht getötet, nur verwundet hatte.
Geld gab es erst, wenn er den Kadaver ablieferte. Aber das sollte kein Problem sein. Bei dem Blutverlust würde seine Beute ihm nicht entkommen, schon gar nicht in dieser drückenden Schwüle.
Langsam, mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten, pirschte Parker sich voran.
Obwohl der Herbst nicht mehr fern war, hielt der Sommer mit seiner Gluthitze das Land noch fest in den Klauen. Parker fühlte sich wie in einer verdammten Mikrowelle. Und der Winter war hier genauso brutal wie der Sommer. Wäre jetzt Winter, würde er Kälteschutzkleidung tragen und darauf achten müssen, dass er sich nicht zu schnell bewegte. Wenn man sich bei vierzig Grad minus zu sehr anstrengte, konnte es leicht passieren, dass man an Lungenblutung starb.
Aber feuchte, drückende Hitze wie an diesem späten Abend konnte nicht minder tödlich sein. Man konnte schnell an Dehydrierung sterben. Das Tückische daran war, dass man die Gefahr erst dann erkannte, wenn es zu spät war.
Parker trug eine Stirnlampe, deren Licht den schmalen Pfad taghell erleuchtete. Wahrscheinlich war er der einzige lebende Mensch im Umkreis von Dutzenden Kilometern. Ein Gewitter lag in der schwülfeuchten Luft. Hoffentlich brach es erst dann los, wenn er seinen Job erledigt hatte.
Parker schaute nach links, wo nicht weit entfernt die Grenze zu Kanada verlief. Im Süden, eine Autostunde entfernt, lag die Stadt Williston, das Zentrum des Fracking-Booms in North Dakota. Doch das Gebiet der Bakken-Formation, einer fünfzig Meter mächtigen, Mineralöl führenden geologischen Schicht, war mit anderthalb Millionen Quadratkilometern so riesig, dass auch im Boden unter Parkers Füßen ein ganzes Meer aus Erdöl und zig Milliarden Kubikmeter Erdgas schlummerten.
Vielleicht sogar mehr, dachte er. Vermutlich wissen nicht einmal die Geologen, wie viel es wirklich ist.
Parker ging in die Hocke und überlegte, wie er vorgehen sollte.
Er blickte nach vorn, versuchte, anhand der Größe der Blutspuren die Entfernung zu seiner Beute einzuschätzen, richtete sich auf und ging weiter, wobei er sich etwas schneller als zuvor bewegte. Auf dem Rücken trug er eine große Trinkblase, deren Schlauch neben seinem Mund endete. Seine Kleidung war leicht, aber widerstandsfähig, konnte jedoch nicht verhindern, dass er aus jeder Pore schwitzte. Und das, obwohl es schon dreiundzwanzig Uhr war. Am Ende behielt Mutter Natur stets die Oberhand über den Menschen, da half die beste Ausrüstung nichts.
Es war ihm ein Rätsel, wie ihm seine Beute – ein Wolf, der zwei Kühe aus der Herde seines Arbeitgebers gerissen hatte – durch die Lappen hatte gehen können. Er hatte das Biest aus etwa 350 Meter Entfernung klar und deutlich im Visier gehabt. Der Wolf hatte sich nicht von der Stelle gerührt, hatte angespannt dagestanden, zitternd, bebend, als witterte er die Gefahr. Die Kugel hatte ihn voll erwischt, sodass Parker von einem tödlichen Treffer ausgegangen war. Doch als er zu der Stelle kam, war weit und breit kein Wolf zu finden. Stattdessen war nur eine Blutspur zu sehen, die sich in der Dunkelheit verlor.
Parker befand sich in den Great Plains, die jedoch nicht so eben waren, wie der Name vermuten ließ. Teilweise war die Gegend sogar ziemlich hügelig – vor allem in den nördlichen Ausläufern der Badlands, wo Hügel und flaches Grasland nahtlos ineinander übergingen. Parker stieg eine leichte Anhöhe hinauf. Nächtlicher Nebel senkte sich herab und verschlechterte die Sicht. Obwohl er das Gelände bestens kannte, spürte er, wie das Adrenalin in seinen Adern pulsierte.
In der Ferne rumpelte ein Zug vorbei, dessen Waggons vermutlich Erdöl und Erdgas beförderten, wobei das Gas für den Transport verflüssigt wurde. Das schrille Pfeifen der Lok hallte schaurig durch die schwülheiße Nacht.
In diesem Augenblick hörte Parker ein dumpfes Grollen, das vom wetterleuchtenden Himmel kam. Wie er vorhergesehen hatte, war ein Gewitter im Anzug, und zwar schneller als erwartet. Er musste sich beeilen, wollte er nicht bis auf die Haut durchnässt oder gar vom Blitz gegrillt werden.
Parker umfasste seine Winchester fester, damit er das Nachtzielfernrohr rasch ans Auge heben und abdrücken konnte, um diesmal hoffentlich den Fangschuss anzubringen. Im nächsten Moment sah er etwa fünfzehn Meter zur Linken ein schattenhaftes Etwas in der Dunkelheit. Parker senkte den Kopf und beleuchtete die Stelle. Seltsam. Die Blutspur führte eindeutig nach rechts. Wie konnte das sein? Wölfe konnten schließlich nicht fliegen. Dennoch schien das Tier abrupt die Richtung geändert zu haben, bevor es zusammengebrochen und liegen geblieben war.
Parker näherte sich vorsichtig, um nicht in eine Falle zu tappen. Als er bis auf fünf Meter an die Stelle heran war, blieb er stehen, ging in die Hocke und ließ den hellen Lichtstrahl der Stirnlampe über das weite Gelände schweifen. Er schaute auch über die Schulter, für den Fall, dass das waidwunde Tier zur Seite ausgewichen war und sich ihm von hinten näherte. Parker hatte im Golfkrieg gekämpft und erlebt, wie unberechenbar, ja verrückt es zugehen konnte, wenn Lebewesen einander töten wollten.
Ist das jetzt auch so eine Situation?, fragte er sich.
Tief geduckt schlich er sich bis auf drei Meter heran, während das weiße Licht der Unwetterfront am Himmel flackerte.
Noch einen Meter näher.
Parkers Magen krampfte sich zusammen. Er traute seinen Augen nicht. Nahm einen hastigen Schluck aus der Wasserblase. Vielleicht war er dehydriert und hatte Halluzinationen. Nein, das Ding war immer noch da. Es war keine Einbildung. Es war …
Langsam richtete er sich auf, machte noch zwei Schritte und schaute nach unten. Das grelle Licht der Lampe beleuchtete jede Kleinigkeit des Albtraums, der sich ihm darbot.
Es war eine Frau. Glaubte er wenigstens. Ja, doch, denn nun sah er die vollen Brüste. Sie war nackt und übel zugerichtet. Dennoch war da nicht der kleinste Blutstropfen auf dem Boden.
Die Gesichtshaut war teilweise abgetrennt und nach unten gezogen, sodass sie über dem freiliegenden Knochen des Kinns hing. Der Schädel war mit einer Säge geöffnet worden; die abgetrennte Schädeldecke lag neben dem Kopf. Der Schädel war nur noch ein leerer, blutiger Hohlraum.
Wo zum Teufel ist das Gehirn?
Parker schaute auf die Brust der Toten. Wie es aussah, war sie aufgeschnitten und wieder zugenäht worden.
Er schauderte, ließ den Blick über den Bereich rund um die Leiche schweifen und runzelte die Stirn, als er die Spuren sah. Sie kamen ihm irgendwie bekannt vor. Doch er vergaß sie gleich wieder und sank auf die Knie, als ihm mit einem Mal bewusst wurde, woher er diese Nähte in der Brust der Leiche und den geöffneten Schädel kannte.
Die Hirnentnahme und den Y-förmigen Schnitt hatte er in Fernsehserien und Filmen gesehen. Auf diese Weise wurden Leichen bei einer Obduktion aufgeschnitten. Nur war er hier mitten in der unberührten Wildnis von North Dakota, weit weg vom nächsten Obduktionstisch oder einer Fernsehkamera.
Und dennoch hatte jemand diese arme Frau obduziert.
Hal Parker drehte sich zur Seite und übergab sich.
Dieser abgeschiedene Flecken Erde hatte seine Unberührtheit verloren, seine Unschuld, seine Reinheit. Hier war irgendetwas Unsägliches geschehen.
Im nächsten Augenblick öffnete der Himmel seine Schleusen.
»North Dakota«, murmelte Amos Decker.
Er saß neben Alex Jamison an Bord eines kleinen, schnittigen Embraer-Jets. Sie waren mit einem Jumbo nach Denver geflogen und dort in das viel kleinere Flugzeug umgestiegen. Es war, als würde man von einer Stretchlimousine in einen Smart-Zweisitzer wechseln.
Decker hatte das Gesicht verzogen, als er den kleinen Jet zum Gate hatte rollen sehen. Mit seinen eins fünfundneunzig und den mehr als hundertdreißig Kilo hatte er immer und überall Probleme, genügend Platz und Bewegungsfreiheit zu finden. Die kleinen Sitze in der Maschine hatten den äußeren Eindruck bestätigt. Decker fühlte sich an seinem Platz so eingezwängt, dass er überzeugt war, jede noch so heftige Turbulenz unbeschadet zu überstehen, auch ohne angeschnallt zu sein.
»Warst du schon mal da?«, fragte Jamison, Deckers Partnerin, eine attraktive Frau Anfang dreißig, die mit ihrem aparten Gesicht, der schlanken Figur und dem langen braunen Haar die Blicke der Männer auf sich zog. Die ehemalige Journalistin war auf Umwegen beim FBI gelandet und arbeitete mittlerweile als Special Agent. Sie und Decker gehörten einer Sondereinheit des Bureau an.
»In North Dakota?« Decker schüttelte den Kopf. »Nein. Aber als Spieler bin ich mal gegen die North Dakota State angetreten, als ich noch für Ohio gespielt habe. Allerdings nicht hier, sondern bei uns in Columbus.«
Unwillkürlich schweiften Deckers Gedanken in die Vergangenheit. Damals war er zweiundzwanzig Jahre jung gewesen, ein aufstrebender Collegefootballer. Er hatte für die Ohio State Buckeyes gespielt und war über die gesamte Saison hinweg der herausragende Mann auf dem Feld gewesen, sodass er anschließend zu den NFL-Profis nach Cleveland gewechselt war, wo seine Profikarriere bei den dortigen Browns jedoch schon beim ersten Spiel der Saison ein jähes Ende fand, denn Deckers Gegenspieler streckte ihn mit einem Bodycheck der brutalsten Sorte nieder. Und das war auch schon alles, woran Decker sich erinnerte.
Als er aus dem Koma erwachte, war er ein anderer Mensch geworden. Er hatte eine schwere Hirnverletzung davongetragen, von der er sich zwar wieder erholt, die jedoch bleibende Spuren hinterlassen hatte. Die Wucht des Zusammenpralls hatte Deckers Gehirn dramatisch verändert und eine sogenannte Hyperthymesie herbeigeführt – ein nahezu perfektes Erinnerungsvermögen und ein fotografisches Gedächtnis. Der neue Decker brauchte keine Notizen oder Erinnerungsstützen anderer Art. Er vergaß nichts und niemanden.
Aber das war noch nicht alles. Der Sportunfall hatte bewirkt, dass Decker Zahlen, Personen, sogar Empfindungen mit bestimmten Farben verknüpfte. Besonders hasste er das Stahlblau, das er wahrnahm, wenn er mit einer Leiche konfrontiert wurde. Solche synästhetischen Fähigkeiten schlummerten in jedem Menschen, blieben aber in der Regel ungenutzt.
»Wer hat gewonnen?«, riss Jamisons Stimme Decker aus seinen Gedanken.
Er warf ihr einen trägen Blick zu. »Machst du Witze?«
»Wieso?«
Decker verlagerte sein Gewicht auf dem engen Sitz. »Weil die North Dakota State nie eine Chance gegen uns gehabt hätte.«
»Wieso nicht?« Jamison sah ihn verständnislos an.
»Also, beim Collegefootball gibt es zwei Spielklassen, die FBS oder Bowl Subdivision, und die FCS, die Championship Subdivision. Mannschaften wie die Ohio State, Alabama, Clemson, Michigan oder die Louisiana State spielen allesamt in der FBS. Das sind die Topteams. Unis wie die North Dakota State, James Madison, Grambling oder Florida State dagegen spielen in der zweiten Liga, der FSC. Die spielen zwar auch auf hohem Niveau, aber normalerweise gewinnt ein FBS-Team haushoch, wenn es gegen eine FCS-Mannschaft antritt.«
»Warum spielen die dann überhaupt gegeneinander?«
»Für das Topteam ist es ein leichter Sieg, und dem Verlierer bringt es ein hübsches Sümmchen und kostenlose PR dank der Fernsehübertragung.«
»Aber für die Zuschauer kann das doch nicht besonders interessant sein.«
»Es gibt auch Außenseitersiege. Außerdem können beide Teams ihre jungen Spieler ausprobieren, wenn das Match ohnehin entschieden ist. So bin ich selbst in meinem ersten Jahr bei den Buckeyes zum Einsatz gekommen. Später, als ich mir einen Namen gemacht hatte, habe ich öfter ausgesetzt, damit die Jüngeren zum Zug kamen.«
»Für mich klingt es trotzdem absurd, wenn ein chancenloses Team sich als Kanonenfutter hergibt, nur für ein bisschen Geld und eine Stunde in der Glotze.«
»Na ja, es ist halt eine Möglichkeit, das Ansehen der Universität aufzupolieren. Obendrein ist es ein gewinnträchtiges Spektakel für die Erbsenzähler beim Hochschulsportverband.«
Jamison schüttelte den Kopf und schaute aus dem Fenster, während der kleine Jet die dicke Wolkendecke durchstieß, um in den Landeanflug zu gehen. »Sieht stürmisch aus da unten.«
»Oh, das ist erst der Anfang«, sagte Decker. »In den nächsten Tagen ist mit drückender Hitze und abends mit schweren Gewittern zu rechnen. Danach wird es zwar kühler, aber stürmisch – ein Vorbote der Blizzard-Saison, die bald anfängt. Dann sieht es hier aus wie in der Antarktis.«
Jamison seufzte. »Sind ja tolle Aussichten.«
»Du musst das Positive daran sehen.«
»Und das wäre?«
»Du kannst dir dein tägliches Workout sparen. Zu dieser Jahreszeit schwitzt du hier zwei Pfund runter, wenn du nur zum Auto gehst. Wenn wir erst wieder zu Hause sind, wirst du dir Speck für den Winter anfuttern müssen.«
Der Jet ging noch tiefer, während er von heftigen Turbulenzen durchgeschüttelt wurde. Jamison klammerte sich an die Armlehnen und bemühte sich, tief durchzuatmen, während ihr Magen auf und ab hüpfte. Als die Maschine endlich auf der Landebahn aufsetzte und schlingernd zum Stehen kam, ließ sie die Armlehnen los und drückte die Hand auf ihren Bauch. In der Ferne sah sie einen Blitz zucken.
»Mein lieber Schwan, das nenne ich ein Abenteuer«, stieß sie atemlos hervor und blickte zu Decker, der gelangweilt, beinahe schläfrig wirkte. »Hat dir das gar nichts ausgemacht?«
»Was?«
»Die Turbulenzen!«
»Halb so wild.«
»Hast du irgendein Geheimrezept?«, hakte sie nach. »Alle anderen haben nämlich gebetet, Flugbegleiterinnen eingeschlossen.«
»Wegen dieser Lappalie? In meiner Collegezeit habe ich mal eine Notlandung überlebt. Kurz nach dem Start war ein Triebwerk ausgefallen. Der Pilot hat zwar noch umgedreht und Treibstoff abgelassen, aber dann hat sich auch das zweite Triebwerk verabschiedet, und er musste sofort runter. Wir sind so hart aufgeprallt, dass das Fahrwerk abgerissen wurde, der Rumpf in zwei Teile brach und die Maschine in dem Moment in Flammen aufging, als der letzte Passagier sich ins Freie gerettet hatte. Nur mein Seesack mit den Klamotten hat’s nicht überlebt«, fügte er beiläufig hinzu. »Später hat sich herausgestellt, dass ein paar Vögel die Triebwerksausfälle verursacht hatten.«
»Du meine Güte.« Jamison war bleich geworden. »Dann wundert es mich noch mehr, dass du kein bisschen nervös bist.«
»Warum sollte ich? Es gibt Statistiken, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass mir so etwas noch einmal passiert. Wie es aussieht, bin ich aus dem Schneider.«
Sie stiegen aus, unterschrieben die Papiere für den Mietwagen und verließen das Flughafengebäude des Williston Basin International Airport.
Als sie ins Freie traten, wurden sie von einer so heftigen Bö erfasst, dass selbst der hünenhafte Decker sich gegen den Wind stemmen musste. »Ich glaube, ich hab nicht die richtige Kleidung eingepackt«, rief Jamison über das Brüllen des Sturms hinweg. »Ein paar Pullis hätten nicht geschadet.«
»Was brauchst du mehr als Hemd, Hose, Dienstmarke und Pistole?«
»Die achtzig Kilo, die mir zu deinem Gewicht fehlen, Decker.«
Jamison saß am Steuer, während Decker ihr Ziel ins Navi seines Handys eingab. Dann lehnte er sich zurück und schaute aus dem Fenster. Gegen achtzehn Uhr fuhren sie direkt in ein heraufziehendes Gewitter. Bedrohlich türmten sich die schwarzen Wolken vor ihnen auf, als warteten sie nur auf den richtigen Augenblick, mit Sturm und Starkregen über die Gegend herzufallen.
»Irene Cramer«, sagte Decker leise.
Jamison nickte, und ihre Miene verdüsterte sich. »Irgendwo in der Einöde tot aufgefunden von einem Mann, der einen Wolf jagte. Und obendrein fachgerecht obduziert.« Sie schaute kurz zu Decker. »So etwas ist mir noch nie untergekommen. Dir?«
»Ich habe Leichen gesehen, die übel zugerichtet waren, aber nichts, was sich mit diesen Fotos vergleichen ließe. Der Tatort war geradezu unnormal sauber – sieht man vom Mageninhalt des Typen ab, der die Tote gefunden hat.«
»Ein Serienmörder? Ob sie uns deswegen eingeschaltet haben? Bogart hat sich nicht besonders klar ausgedrückt.«
Ross Bogart, der Chef ihrer kleinen Sondereinheit, hatte sie nach einem sehr kurzen Briefing nach North Dakota geschickt.
»Schon möglich.«
»Was hattest du für einen Eindruck, als Ross mit dir geredet hat?«, hakte Jamison nach. »Für mich hat er irgendwie … seltsam geklungen.«
Decker nickte. »Es gibt da anscheinend etwas, das er uns gern gesagt hätte, aber nicht sagen durfte.«
»Wie kommst du darauf?«
»Er ist sonst immer sehr direkt, redet nie um den heißen Brei herum. Es sei denn, seine Vorgesetzten verpassen ihm einen Maulkorb.«
»Offenbar sind wir auf beiden Seiten dieses Falles mit Rätseln konfrontiert«, murrte Jamison.
»Ich glaube trotzdem nicht, dass es sich unbedingt um einen Serienkiller handeln muss.«
»Wieso nicht?«
»In den Datenbanken findet sich nichts Vergleichbares. Ich hab noch schnell eine Suche gestartet, ehe wir aufgebrochen sind.«
»Wir könnten es mit einem neuen Akteur zu tun haben.«
»Neulinge planen die Tat nicht bis ins kleinste Detail, wie dieser Täter es allem Anschein nach getan hat.«
»Vielleicht will sich da jemand hervortun«, mutmaßte Jamison.
»Das wollen sie alle«, erwiderte Decker.
»Trotzdem kann es kein gewöhnlicher Mordfall sein, sonst hätten die nicht das FBI eingeschaltet.«
»Ich denke, wir müssen uns auf das Opfer konzentrieren, um der Wahrheit näherzukommen, weniger auf den Täter.«
»Du glaubst, Irene Cramer war für die Feds aus irgendeinem Grund wichtig?«
»Ja. Das könnte auch Bogarts Verschwiegenheit erklären.«
»Wir haben es jedenfalls mit einem Täter zu tun, der weiß, wie ein Pathologe arbeitet.«
»Das trifft auf eine Menge Leute zu, auch solche auf unserer Seite«, meinte Decker.
»Ein Gerichtsmediziner, der auf die schiefe Bahn geraten ist?«, fragte Jamison.
Decker wirkte unschlüssig. »Vermutlich findet man auf Youtube schon Videos, in denen das Obduzieren einer Leiche an einer Puppe demonstriert wird. In dem Bericht heißt es jedenfalls, dass die Schnitte fachgerecht vorgenommen wurden.«
»Du meinst, der Typ hatte Übung auf dem Gebiet?«
»Ich meine gar nichts, solange wir nicht mehr wissen.«
»Sag mal, ist dir aufgefallen, dass der Highway hier eine reine Betonpiste ist?«, wechselte Jamison bei einem Blick aus dem Fenster das Thema.
»Asphalt ist anscheinend nicht widerstandsfähig genug bei den extremen Bedingungen, die hier herrschen«, meinte Decker. »Obwohl ich mir bei Beton auch nicht so sicher bin.«
Jamison schmunzelte. »Du bist ein unerschöpflicher Quell des Wissens.«
»Bedank dich bei Google.«
»Wie lange dauert es noch?«, fragte Jamison.
Decker sah auf das Handydisplay. »Angeblich fünfundundvierzig Minuten. Es ist nahe an der kanadischen Grenze.«
»Dann war das wohl der am nächsten gelegene Flughafen in der Gegend.«
»Ich glaube, es war der einzige Flughafen in der Gegend.«
Jamison seufzte. »Was für ein langer, anstrengender Tag.«
»Ich fürchte, der Abend wird nicht minder lang und anstrengend.«
»Du willst heute noch mit der Ermittlung anfangen?«, fragte sie ungläubig.
»Es kann nicht schaden, sofort loszulegen, Alex. Vor allem, wenn jemand tot ist, der noch ein langes Leben vor sich hatte.«
»Was ist das?«, fragte Jamison, als sie sich dem Ziel ihrer Reise näherten.
Sie deutete auf mehrere hohe Säulen, die am oberen Ende lichterloh brannten und wie eine gespenstische Festbeleuchtung die Dunkelheit erhellten.
»Das sind Gasfackeln«, erklärte Decker. »Hier wird nicht nur nach Erdöl gebohrt, sondern auch nach Erdgas. Aber manchmal wird das Gas, das zusammen mit dem Öl hochkommt, einfach abgefackelt, weil es den Unternehmen zu teuer ist, die nötige Infrastruktur aufzubauen, um das Gas aufzufangen.«
Jamison sah ihn erstaunt an. »Von wie viel Gas reden wir?«
»Laut einer Statistik, die ich kürzlich gelesen habe, könnte man mit dem Gas, das jeden Monat abgefackelt wird, vier Millionen Häuser heizen.«
»Vier Millionen Häuser! Im Ernst?«
»Hab ich gelesen.«
»Aber … abgesehen von der wahnsinnigen Verschwendung an Rohstoff ist es katastrophal für die Umwelt. Das Gas ist doch reines Methan, oder?«
»Da muss ich passen. Aber gut für die Umwelt ist es bestimmt nicht.«
Jamison blickte zu den brennenden Säulen. »Diese Flammen sind gespenstisch. Wie ein Fackelzug riesiger Zombies.«
»Du solltest dich daran gewöhnen. Die sieht man hier überall.«
Deckers Aussage bestätigte sich, je länger sie fuhren. Die Landschaft war wie ein gigantischer Kuchen aus Blech, auf dem Hunderte riesige Kerzen brannten.
Sie kamen an ausgedehnten Wohnwagensiedlungen vorbei, die mit Straßen, Verkehrsschildern und Spielplätzen ausgestattet waren. Die Autos – hauptsächlich schlammbedeckte Pick-ups oder bullige SUV – standen unter Carports vor den Mobilheimen.
Dann sahen sie auch die Bohrstellen mit den Gasfackeln aus der Nähe, die von hohen Sicherheitszäunen umschlossen wurden, genauso wie Metallcontainer, Förderwerkzeuge und andere Ausrüstung. Hinter den Zäunen waren behelmte Männer in feuerfesten orangefarbenen Westen mit hunderterlei Aufgaben beschäftigt. Aus der Entfernung erinnerten sie an Riesenameisen, die emsig zwischen den Bohrtürmen und lodernden Fackeln umherwimmelten.
»Das ist eine typische Fracking-Stadt«, meinte Decker. »Ohne Fracking gäbe es diesen Ort gar nicht mehr. Tausende von Arbeitern sind in diesen Teil von North Dakota eingewandert, um das Öl und Gas zu fördern, das man in der Bakken-Formation entdeckt hat. Angeblich reichen die Ölvorkommen hier noch für hundert Jahre Abbau.«
»Vom Klimawandel haben die hier wohl noch nichts gehört?«
»Hey, es ist ein Job.«
»Ja, vorerst. Bis wir keinen Planeten mehr haben, auf dem wir leben können.«
»Mich musst du nicht überzeugen. Ich verstehe aber auch die Leute, die etwas zu essen auf dem Teller haben wollen. Hier lässt sich gutes Geld verdienen. Die Gegend hier hat bessere und schlechtere Zeiten gesehen, aber derzeit scheint es hier gut zu laufen.«
»Hast du das auch gegoogelt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich bin nun mal neugierig. Außerdem arbeitet mein Schwager im Ölgeschäft. Da habe ich das eine oder andere aufgeschnappt.«
Sie kamen an einer Trucker-Raststätte vorbei, zu der nicht nur ein Restaurant, sondern auch Duschen, ein Waschsalon und ein Laden gehörten, in dem es, wie man den Schildern entnehmen konnte, außer Lebensmitteln allerlei Nützliches für die Trucker gab: Propangas, Ventilatoren, Frostschutzmittel. Ein Schild zeigte Kellnerinnen in ultrakurzen Shorts und tief ausgeschnittenen Tops, und ein Plakat verkündete, dass man hier über die umfangreichste Auswahl an DVDs für Erwachsene verfüge, die es im gesamten Bundesstaat North Dakota zu kaufen gäbe. Der Parkplatz war vollgepackt mit Sattelschleppern in allen Größen, Arten und Farben, reich verziert mit funkelnden Chromteilen, Fähnchen und aufgesprühten Bildern auf den Führerhäusern, die vorzugsweise Drachen, Schusswaffen, die amerikanische Flagge und vollbusige nackte Frauen darstellten.
»Das gibt mir einen guten Eindruck davon, was hierzulande populär ist«, meinte Jamison.
»Nicht nur hier«, konterte Decker.
Sie passierten einen rappelvollen Wohnmobilpark und ein Einkaufszentrum, das aussah wie frisch aus dem Boden gestampft. Ein Grillrestaurant versprach auf einem Schild das beste Pulled Pork im Umkreis von tausend Meilen. Der Konsumtempel enthielt außerdem ein Subway-Restaurant, ein rund um die Uhr geöffnetes Fitnessstudio und sogar eine Sushi-Bar. Auf einer elektronischen Anzeigetafel wurden die aktuellen Preise für Erdöl und Erdgas angegeben. Neben dem Einkaufszentrum stand eine große Kirche, vor der auf einem Schild in schwarzen Lettern stand: »Gott hat Himmel und Erde erschaffen, aber auch Öl und Gas. Gib etwas von dem Reichtum zurück, den der Herr uns schenkt. Überweisungen gern via Venmo Payment Service. Bibelstunde jeden Abend um neunzehn Uhr.«
Jamison sah in den Innenspiegel. »Uns klebt schon seit einer halben Stunde eine ganze Kolonne von Lkws an der Stoßstange.« Sie blickte auf den entgegenkommenden Verkehr. »Und wie du siehst, ist auch in der Gegenrichtung eine ganze Armee unterwegs. Kein Wunder, dass es höllisch nach Diesel stinkt.«
»Nun ja, die Trucks liefern ständig neue Ausrüstung und die Chemikalien, die in die Erde gepumpt werden. Hier wird anscheinend rund um die Uhr gearbeitet, sieben Tage die Woche.«
»Und die Trucks, die von hier wegfahren«, sagte Jamison, »sind die Tanklaster, die das Öl und Gas abtransportieren.«
»Richtig.« Decker deutete nach vorn. »An der nächsten Ausfahrt musst du abbiegen. Es gibt eine Umfahrung, damit die Laster nicht mitten durch die Stadt müssen.«
Jamison bog in die nächste Ausfahrt ein. Es dauerte nicht lange, bis sie in der Ferne eine Ansammlung von Lichtern sahen. »Ist das die Stadt, in die wir wollen?«, fragte sie.
Decker nickte. »Yep. London, North Dakota.«
»Wie ist der Ort zu seinem Namen gekommen?«
»Vielleicht durch einen englischen Einwanderer, der sich hier auf einem Meer aus Öl und Gas niedergelassen hat. Heute hat London fünfzehntausend Einwohner. Die Hälfte arbeitet in der Ölförderung, die andere Hälfte ist für die Versorgung der Arbeiter zuständig. Die Zahl hat sich in den letzten drei Jahren verdreifacht. Und sie wird sich in den nächsten anderthalb Jahren noch mal verdreifachen, wenn der Boom anhält.«
»Junge, Junge, du hast deine Hausaufgaben gemacht«, sagte Jamison anerkennend.
»Ich will halt wissen, womit ich es zu tun habe.«
Sie sah ihn neugierig an. »Und womit haben wir es zu tun? Ich meine, abgesehen von einer Mordermittlung?«
»Mit einer neuen Art von Wildem Westen, Alex. In gewisser Weise geht es hier zu wie beim kalifornischen Goldrausch von 1849, nur auf einem höheren Level.«
»Und was heißt das genau?«
»Dass die üblichen Regeln der Zivilisation hier nicht unbedingt gelten.«
»Das meinst du nicht im Ernst.«
»Doch. Absolut.«
Sie fuhren die Hauptstraße entlang, auf der trotz des aufziehenden Gewitters noch ganze Völkerscharen unterwegs waren. Als sie das Ende der Straße erreichten, fielen bereits die ersten kalten Regentropfen.
»Wohin jetzt?«
»Nach links«, sagte Decker.
Sie hielten vor einem Gebäude, das sich als Beerdigungsunternehmen erwies. Jamison blickte zu Decker. »Lass mich raten«, sagte sie. »Der Mann, der dieses Bestattungsinstitut betreibt, ist gleichzeitig der hiesige Gerichtsmediziner und kümmert sich nebenbei noch um das Krematorium und das Leichenschauhaus. Ein Rundumservice sozusagen. Stimmt’s?«
»Hast du das recherchiert?«, fragte Decker verwundert.
Sie lächelte verschmitzt. »Du bist nicht der einzige neugierige Mensch hier.«
»Hat er wenigstens irgendeine Ausbildung in forensischer Medizin?«
Jamison zuckte mit den Schultern. »Das will ich doch schwer hoffen.«
Als sie ausstiegen, setzte wolkenbruchartiger Regen ein, sodass sie zum Eingang des Gebäudes sprinteten, in dem eine Tote auf sie wartete.
Walt Southern, der Chef des Bestattungsinstituts, betätigte sich tatsächlich nebenbei als Gerichtsmediziner. Er war Mitte vierzig und mittelgroß, mit schütterem sandfarbenem Haar und der sehnigen Statur eines Langstreckenläufers. Southern trug eine Schildpattbrille, eine frisch gebügelte dunkle Hose und ein makelloses weißes Hemd, das im Licht der Deckenbeleuchtung strahlte.
Southern musterte sie überrascht. »Das FBI? Warum interessiert sich das Bureau für den Fall? Man hat Sie mir gar nicht angekündigt.«
»Sie haben nicht gewusst, dass wir kommen?«, fragte Jamison verwundert.
»Mir hat niemand etwas davon gesagt.«
»Dann will ich es Ihnen erklären, Mr. Southern«, sagte Decker. »Wir haben den Auftrag, in dem Mordfall zu ermitteln. Ihren Obduktionsbericht haben wir bereits gelesen. Jetzt würden wir gern die Tote sehen.«
Southern runzelte die Stirn. »Tut mir leid, so geht das nicht. Bevor ich Sie die Tote sehen lasse, muss ich wenigstens mit dem zuständigen Detective reden.«
»Dann rufen Sie ihn an«, forderte Decker ihn auf. »Am besten gleich.«
»Und wenn ich ihn nicht erreiche?«
»Dann sehen wir weiter. Versuchen Sie es erst einmal.«
Southern trat beiseite, holte sein Handy heraus und machte einen Anruf. Nach einem kurzen Wortwechsel kam er zu Decker und Jamison zurück. Er wirkte wenig begeistert.
»Ihr Feds bekommt anscheinend immer, was ihr wollt.«
»Wenn Sie wüssten«, murmelte Decker.
»Okay, dann wollen wir mal. Ich muss bis morgen noch eine Leiche für eine Erdbestattung zurechtmachen, und das kann dauern. Die Familie hat besondere Ansprüche, was Kleidung und Schminke betrifft.«
»Machen Sie hier auch im tiefsten Winter Erdbestattungen?«, fragte Decker.
»Nicht, wenn es sich vermeiden lässt. Da müssen wir uns erst mal durch den Schnee graben, und der Boden darunter ist hart wie Beton. Das ist sogar mit dem Bagger ganz schön mühsam. Und wer will schon bei fünfzig Grad minus am Grab stehen und sich von einem lieben Verstorbenen verabschieden? Sie würden sich wundern, wie schnell die Tränen trocknen und wie eilig die Leute es haben, nach Hause zu kommen, wenn ihnen Finger, Zehen und Ohren abzufrieren drohen. Aber der Trend geht sowieso weg vom klassischen Grab auf dem Friedhof. Sie wissen ja, manche mögen’s heiß.«
»Wie bitte?«, fragte Jamison.
»Einäscherung«, erklärte Southern lächelnd. »Es ist fast so, als würden die Leute sich freiwillig dafür entscheiden, in der Hölle zu brutzeln.«
»Finden Sie?« Decker warf einen verwirrten Seitenblick auf Jamison. »Okay, können wir dann jetzt die Leiche sehen?«
Southern führte sie durch einen kurzen Gang in einen Raum, in dem es nach Desinfektionsmittel, Formaldehyd und Verwesung stank.
In der Mitte des Raumes stand eine Metallbahre. Was sich unter dem Tuch abzeichnete, war der Grund ihres Hierseins. Der Leichnam konnte ihnen hoffentlich Aufschlüsse auf den Täter geben.
Jamison blickte zu Decker, der den Raum bereits in stahlblauem Licht sah, wie immer, wenn er mit dem Tod konfrontiert wurde. Dass es ihm nicht mehr so viel ausmachte wie früher, lag daran, dass er in seinem Job sehr viele Leichen zu sehen bekam. Trotzdem ließ es ihn immer noch nicht kalt.
»Es war das erste Mal, dass ich ein Opfer obduziert habe, das bereits obduziert worden war«, erklärte Southern.
»Sie haben eine entsprechende Ausbildung, nehme ich an?«, fragte Decker geradeheraus.
»Ja, alles amtlich und korrekt«, betonte Southern, der die Frage nicht als Beleidigung zu empfinden schien. »Dass es nicht mein Hauptjob ist, Leichen zu obduzieren, heißt noch lange nicht, dass ich es nicht mit Sorgfalt mache.«
»Gut zu wissen«, erwiderte Decker.
Southern zog das Tuch von der Leiche, und sie blickten auf die sterblichen Überreste von Irene Cramer.
»Todesursache und Todeszeitpunkt?«, fragte Jamison.
»Die Todesursache ist ziemlich klar.« Southern deutete auf eine Wunde in der Mitte der Brust, einige Zentimeter über dem Mittelpunkt des Y-förmigen Schnitts. »Stich ins Herz mit einem langen, gezackten Messer. Eindeutig Mord.«
»Der Täter hat … nun ja, fachgerecht zugestochen.« Jamison beugte sich vor, um sich die Wunde genauer anzusehen. »Sauber und präzise. Ein Stich, nicht mehr.«
Southern nickte. »Sehe ich auch so.«
»Und das wiederum deutet darauf hin, dass keine Emotionen im Spiel waren«, warf Decker ein. »Keine Tat im Affekt, sondern eine kühl berechnete Vorgehensweise. Vielleicht hat der Täter das Opfer gar nicht gekannt. Oder zumindest keine persönliche Beziehung zu der Frau gehabt.«
»Könnte sein«, bestätigte Southern.
»Und der Todeszeitpunkt?«, fragte Decker.
»Da kommen wir in den Bereich der Spekulation«, musste Southern zugeben. »Nach dem, was ich festgestellt habe, ist die Frau bereits eine Woche bis zehn Tage tot.«
Decker verzog das Gesicht. »Das ist ein beträchtlicher Spielraum. Geht es nicht etwas genauer?«
»Leider nein«, sagte Southern bedauernd. »Wenn es darum geht, ob ein Alibi hieb- und stichfest ist, wird mein Bericht Ihnen keine große Hilfe sein. Tut mir leid.«
»Insektenbefall?«, fragte Jamison.
»Massiv. Danach zu urteilen, muss sie schon eine Woche tot sein. Aber was solche Befunde angeht, ist es problematisch für mich. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich weiß, was ich zu tun habe, aber ich habe hier kein FBI-Labor zur Verfügung.«
»Hat die Leiche schon lange an der Fundstelle gelegen?«, wollte Jamison wissen.
»Diese Frage ist schwierig und einfach zugleich.«
»Wie meinen Sie das?«
»Allzu lange kann es nicht gewesen sein, sonst hätten irgendwelche wilden Tiere sie gefunden. Das war aber nicht der Fall.«
»Das ist der einfache Teil der Frage, nicht wahr? Und was ist der schwierige?«, hakte Decker nach. »Stimmt der Insektenbefall nicht mit dieser Feststellung überein?«
»Genau das ist der Punkt. Jede Menge Insektenbefall, aber keine Bissspuren von Wildtieren. Und noch etwas – die Totenflecke lassen erkennen, dass sie nach dem Tod auf dem Bauch gelegen haben muss.«
»Im Bericht steht, dass die Frau auf dem Rücken liegend gefunden wurde«, wandte Decker ein.
»Genau. Aber Sie sehen, dass die Totenflecke nicht damit übereinstimmen. Sobald das Herz zu schlagen aufhört, sinkt das Blut durch die Schwerkraft nach unten und sammelt sich im Gewebe. Die Verfärbung ändert sich danach nicht mehr.«
»Das heißt, sie wurde umgebracht und blieb danach in der Bauchlage. Irgendwann wurde sie auf den Rücken gedreht – so, wie sie dann auch gefunden wurde«, folgerte Jamison.
»Exakt. Nachdem die Totenflecke bereits voll ausgebildet waren.«
»Die Blutung war vermutlich minimal, weil das Herz kurz nach dem Messerstich zu schlagen aufhörte«, fügte Decker hinzu. »Trotzdem muss die Wunde eine Zeit lang geblutet haben. Tatsache aber ist, dass an der Fundstelle kein Blut war. Das heißt, die Frau wurde woanders getötet und ihre Leiche später am Fundort abgelegt. Das erklärt auch die Totenflecke.«
Southern nickte. »Normalerweise würde man bei dem starken Insektenbefall erwarten, dass auch Wildtiere die Leiche aufgespürt hätten. Bei den Viechern, die wir hier haben, kann man davon ausgehen, dass die Tote innerhalb weniger Tage bis auf die Knochen abgenagt worden wäre, hätte sie die ganze Zeit da draußen gelegen.« Er stockte einen Augenblick, ehe er hinzufügte: »Abgesehen von der tödlichen Verletzung war die Frau in ausgezeichneter Verfassung. Kerngesund. Herz, Lunge, auch die anderen Organe – alles tipptopp.«
»In ausgezeichneter Verfassung – nur eben tot«, bemerkte Decker grimmig.
»Wie professionell hat der Mörder gearbeitet, als er seine private Obduktion vornahm?«, wollte Jamison wissen.
»Die Schnitte sind absolut fachgerecht. Ich würde sagen, der Täter muss eine gewisse medizinische Vorbildung haben. Außerdem muss er über Fachwissen in Sachen Obduktion verfügen. Wie er es sich angeeignet hat, kann ich Ihnen allerdings nicht sagen.«
Decker deutete auf den Y-Schnitt. »Können Sie uns sagen, welches Werkzeug er benutzt hat? Ein gewöhnliches Messer oder ein medizinisches Spezialinstrument?«
»Ich würde sagen, er hat ein Skalpell benutzt, wie es in Krankenhäusern verwendet wird, und eine Stryker-Säge, um den Schädel zu öffnen. Und den Schnitt in der Brust hat er mit chirurgischem Faden vernäht.«
Decker begutachtete die Leiche einen Augenblick und drehte sie dann unter Mithilfe des Gerichtsmediziners um.
»Keine Tätowierungen oder sonstigen Merkmale«, konstatierte Decker.
Southern nickte. »Und keine Leberflecken oder andere Hautveränderungen. Sie war zu jung für Altersflecke, hatte aber eine sehr helle Haut. Das heißt, sie war nicht viel in der Sonne.«
Sie drehten die Tote wieder auf den Rücken, und Decker untersuchte sie erneut von oben bis unten.
Wie viele Leichen hatte er schon gesehen? Die Antwort war einfach. Viel zu viele. Aber wenn er keine Leichen mehr sehen wollte, musste er den Job wechseln.
»Haben Sie sonst noch etwas Interessantes gefunden?«, wollte Jamison wissen.
»Die Frau hatte kaum etwas im Magen, also hatte sie in ihren letzten Stunden nichts gegessen. Keine Anzeichen von Drogenmissbrauch. Keine Einstiche oder etwas in der Art. Auf den Toxikologiebericht warte ich allerdings noch.«
»Sonst noch etwas Ungewöhnliches?«, fragte Decker.
»Dass sie obduziert wurde, bevor sie bei mir gelandet ist, dürfte ungewöhnlich genug sein, oder?«, erwiderte Southern mit leisem Spott.
»Ihre Antwort ist also Nein«, hakte Decker nach.
»Ganz recht.«
»Ist die Frau aus der Gegend? Wer hat sie identifiziert?«
Southern verschränkte die Arme vor der Brust. »Nachdem ich das Gesicht wiederhergestellt hatte, so gut es ging, hat jemand vom Police Department sie erkannt.«
In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet und ein Mann trat ein. Er war etwa in Jamisons Alter, trug Jeans, ein kariertes Hemd und ein marineblaues Sportsakko. Der Fremde war knapp über eins achtzig groß, schlank und drahtig, hatte einen ausgeprägten Adamsapfel und eingefallene Wangen. Seine dichten, dunkelbraunen Haare waren zu einer Tolle gekämmt.
Der Blick des Mannes schweifte von Decker zu Jamison. »Lieutenant Joe Kelly vom London Police Department«, stellte er sich vor.
»Er ist für den Fall zuständig«, erklärte Southern.
Kelly nickte. »Ich leite die örtliche Kripo. Das klingt beeindruckend, solange man nicht weiß, dass ich der einzige Detective in der Stadt bin.«
»Also auch der einzige Beamte, der für Mord zuständig ist?«, fragte Decker.
»Für Mord, Einbruch, bewaffneten Raub, häusliche Gewalt, Menschenhandel, Drogendelikte und noch ein paar andere Sachen, die mir auf die Schnelle nicht einfallen.«
»Klingt nach einer One-Man-Show«, staunte Jamison.
»Unser Budget ist knapp. Seit dem Aufschwung wurde die Belegschaft verdoppelt, aber nicht in meiner Abteilung. Verstärkung gab’s nur bei den uniformierten Kollegen. Falls die Verantwortlichen sich endlich dazu entschließen können, einen Streifenpolizisten zum Detective zu befördern, ist der große Boom hier wahrscheinlich schon wieder vorbei, und wir alle werden entlassen.« Er schaute beeindruckt zu Decker auf. »Sind beim FBI alle so gebaut wie Sie?«
»Klar. Nur werfen sich die anderen in Schale, während ich lieber in Jeans rumlaufe.«
Kelly zeigte ihnen seinen Ausweis, und sie zückten ebenfalls die Dienstmarken. Dann wandte Kelly sich an Southern. »Sorry, dass ich nicht früher kommen konnte, Walt. Es gab mal wieder Ärger im O.K. Corral. Ich war gerade in der Nähe, als ich Lärm von drinnen hörte.«
»Eine Schlägerei?«
»Ja, das Übliche. Irgendwie kein Wunder, wenn eine Kneipe O.K. Corral heißt.« Er lachte auf. »Wyatt Earp und Doc Holliday gegen die Clanton-Brüder. Zu viel Testosteron, zu viel Macho-Gehabe und zu viel Schnaps. Und obendrein zu viel Geld. Eine miese Kombination.«
»Wir haben gehört, jemand aus Ihrem Department hat die Tote erkannt, als ihr Gesicht halbwegs wiederhergestellt war«, sagte Decker.
»Dieser Jemand war ich«, bestätigte Kelly.
Decker hob eine Augenbraue. »Woher haben Sie die Frau gekannt?«
»Als ich vorhin aufgezählt habe, wofür ich zuständig bin, habe ich eine Sache vergessen: Prostitution.«
»Heißt das, Irene Cramer war Prostituierte?«
Kelly zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir nicht sicher.«
»Lässt sich so etwas nicht ziemlich eindeutig sagen?«, wunderte sich Jamison. »Entweder, eine Frau arbeitet im horizontalen Gewerbe, oder sie tut es nicht.«
»Sollte man meinen. Der Begriff ›Strichmädchen‹ ist zwar aus der Mode gekommen, aber bei uns gibt es das noch. In bestimmten Teilen der Stadt fahren die Typen mit dem Auto vorbei und gabeln die Ladys auf. Heute verabreden sie sich aber auch online – das heißt, die Mädels müssen nicht lange an der Straße stehen und ihre Dienste anbieten.«
»Hat Cramer so gearbeitet?«, hakte Decker nach.
»Hin und wieder suche ich am PC nach Webseiten, die solche Dienstleistungen anbieten. Deshalb weiß ich, wo solche Dinge zu finden sind – zumindest das, was hier bei uns auf dieser Schiene abläuft. Eine dieser Webseiten bietet einen ›Consulting Service‹ an, vor allem für die Männer, die hier auf den Ölfeldern arbeiten. Die Anbieter geben sich einen legalen Anstrich, weil sie wissen, dass Cops wie ich nach so was Ausschau halten. Unter den Fotos auf dieser Seite war ein Gesicht, das mir bekannt vorkam. Die Frau hat zwar anders ausgesehen, war stark geschminkt, anders frisiert und gekleidet, aber ich habe sie trotzdem erkannt. Es war Irene Cramer. Ich habe sie öfter in der Stadt gesehen«, fügte er hastig hinzu. »Sie war also allem Anschein nach im Escort-Geschäft tätig. Auf der Website hat sie sich Mindy genannt.«
»Sehen Sie da einen möglichen Zusammenhang zu ihrer Ermordung?«, fragte Jamison. »Prostitution ist ein riskantes Geschäft.«
»Mag sein. Trotzdem ist Mord bei uns nichts Alltägliches. Auch nicht unter Prostituierten. Besonders schockiert hat mich, wie sie gefunden wurde.«
»Das kann ich nachvollziehen«, sagte Decker.
»Trotzdem verstehe ich nicht, was das FBI damit zu tun hat. Nach Walts Anruf habe ich mit meinem Chef geredet und erfahren, dass die Feds in Washington den Obduktionsbericht und die Polizeiberichte angefordert hatten. Okay, es ist ein bizarrer Mordfall, aber davon gibt es mehr als genug, und sie werden in den allermeisten Fällen von den Kollegen vor Ort aufgeklärt.«
»Haben Sie eine Vermutung, warum die uns hergeschickt haben?«, fragte Decker.
»Warum sollte ich?«
»Ich schätze Sie als jemanden ein, der sich über solche Dinge Gedanken macht.«
Statt einer Antwort deutete Kelly auf den Leichnam vor ihnen. »Die Frau muss in irgendwas verwickelt gewesen sein, das euch Feds interessiert. Ich würde zu gern wissen, was es war.«
»Tja, wer wüsste das nicht gern?«, murmelte Decker.
»Die Farbe in meinem Zimmer riecht noch ganz frisch, und der Teppich sieht aus, als hätten sie ihn erst heute ausgelegt«, meinte Jamison.
Sie hatten in ihr Hotel in der Hauptstraße von London eingecheckt und aßen im Restaurant neben der Lobby zu Abend. Trotz der späten Stunde war das Lokal gut gefüllt.
»Man merkt, dass die Stadt gerade einen Boom erlebt«, kommentierte Decker, während er die Speisekarte überflog. »Die haben tatsächlich Tofu hier«, stellte er staunend fest. »Im ländlichen North Dakota.«
»Warum auch nicht?«, entgegnete Jamison. »Auch hier gibt es Leute, denen ihre Gesundheit wichtig ist. Und die Tofu essen.«
»Ja, vielleicht als Beilage zu Würstchen und Speck. Oder zu Wapiti-Steak.«
Nachdem sie bestellt hatten, lehnte Decker sich mit der Flasche Corona-Bier in der Hand auf seinem Stuhl zurück, während Jamison ihren Eistee trank.
»Was hältst du von Detective Kelly?«, wollte sie wissen.
»Ich glaube, er kann seine Fähigkeiten in dieser Gegend nicht richtig zur Geltung bringen. Aber wer weiß – vielleicht ist das hier ja eine Brutstätte der Kriminalität.«
»Versoffene Machos mit zu viel Geld«, sinnierte Jamison. »Hat er selbst gesagt.«
Decker nickte gedankenverloren. »Kelly will wissen, warum wir hier sind. Ehrlich gesagt, wüsste ich das auch gern. Ich habe versucht, Bogart zu erreichen, und ihm eine Nachricht hinterlassen, aber er hat noch nicht zurückgerufen.«
»Ich auch, mit dem gleichen Ergebnis.« Sie musterte ihn intensiv. »Was denkst du jetzt, nachdem du die Leiche gesehen hast?«
»Nun ja, der Täter könnte so was wie ein irrer Forensik-Fetischist sein, der sich daran aufgeilt, Leute zu zerschneiden. Oder jemand wollte damit ganz bewusst eine Botschaft aussenden.«
»Was denn für eine Botschaft?«
»Falls Irene Cramer ermordet wurde, weil sie irgendwas wusste und andere es ebenfalls wissen, könnte es eine Warnung sein. Wer nicht dichthält, dem passiert das Gleiche wie der armen Irene.«
»Was könnte sie gewusst haben?«
»Wenn ich eine Antwort darauf hätte, könnten wir den Täter gleich nach dem Essen festnehmen und nach Hause fliegen.«
»Okay, da war ich wohl ein bisschen zu ungeduldig.«
Deckers Miene verdüsterte sich. »Ich glaube nicht, dass es sich um eine einmalige Tat handelt, Alex.«
»Wie meinst du das?«
»Du hast ja gehört, was dieser Southern gesagt hat. Der Täter hat professionelles Werkzeug benutzt. Eine Stryker-Säge kannst du nicht im nächsten Baumarkt kaufen. Außerdem wurde die Leiche nicht an der Fundstelle aufgeschnitten, sonst hätte man dort noch Blutspuren gefunden. Er muss sie mit dem Auto dorthin gebracht haben. Die Stelle hat er sorgfältig ausgesucht.«
»Das heißt, er kennt die Gegend. Oder hat sich zumindest dort umgesehen.«
Decker nickte. »Das alles setzt sorgfältige Planung voraus.« Er ließ den Blick schweifen, schaute über die Schulter und riss die Augen auf, als sähe er ein Gespenst.
»Stan?«
Der stattliche Mann, der soeben den Restaurantbereich betreten hatte, schaute herüber, als er seinen Namen hörte. Und staunte genauso wie Decker selbst.
»Amos?«
Der Mann namens Stan kam zu ihnen herüber. Decker stand auf und schüttelte ihm die Hand, während Jamison verwirrt zusah.
»Was zum Henker machst du hier?«, fragte Decker.
»Dasselbe könnte ich dich fragen«, erwiderte Stan.
Er war fast so groß und schwer wie Decker, hatte rötliche, an den Schläfen ergrauende Haare, ein gerötetes Gesicht und einen getrimmten Bart von der gleichen Farbe wie sein Haar.
Jamison erhob sich ebenfalls und hielt ihm die Hand hin. »Hi. Ich bin Alex Jamison. Ich arbeite beim FBI mit Decker zusammen.«
Decker blickte sie schuldbewusst an. »Sorry, Alex«, sagte er. »Dieser stattliche Kerl hier ist Stan Baker, mein Schwager. Er ist mit meiner Schwester Renee verheiratet. Sie leben in Kalifornien.« Er schaute wieder zu Baker. Neugier schwang in seiner Stimme mit, als er bemerkte: »Du bist ganz schön weit weg von zu Hause.«
Baker rieb sich die dicken Finger und wirkte mit einem Mal nervös. »Ich … äh, wohne jetzt hier. Und werde bald dein Ex-Schwager sein.«
»Was?«, stieß Decker fassungslos hervor.
»Hat Renee dir nichts gesagt?«
»Was soll sie mir gesagt haben?«, fragte Decker wie benommen.
»Wir lassen uns scheiden.«
Decker starrte ihn ungläubig an. »Aber … warum?«
»Aus mehreren Gründen. Die Schuld liegt auf beiden Seiten.«
»Und die Kinder?«
»Bleiben bei ihrer Mom.«
»Sind sie noch in Kalifornien?«
»Ja«, bestätigte Baker unbehaglich. »Die jüngeren gehen ja noch zur Schule. Und Renee hat einen guten Job.«
»Und du lebst jetzt in North Dakota? Wie soll das funktionieren?«
»Ich habe längere Zeit auf Ölfeldern in Alaska gearbeitet, aber da gehen die Fördermengen zurück. Du weißt ja, dass Tim dort im Management war. Er hatte mir den Job verschafft.«
»Tim war im Management, sagst du? Heißt das, er ist es jetzt nicht mehr?«
»Tim ist unser anderer Schwager«, wandte Baker sich an Jamison, als er deren fragenden Blick bemerkte. »Er ist mit Amos’ Schwester Diane verheiratet.«
»Was ist denn nun mit Tim?«, wollte Decker wissen.
»Man hat ihn gefeuert. Jetzt fährt er für Uber und macht die Buchhaltung für kleine Firmen. Kurz nach seiner Kündigung haben sie auch meinen Job gestrichen. Ich musste irgendwo neu anfangen, und hier brummt der Laden. Erfahrene Leute sind gefragt. Ich bin jetzt über ein Jahr hier. Sie zahlen wirklich gut.«
»Und die Kinder?«, wiederholte Decker seine Frage.
»Wir skypen fast täglich«, rechtfertigte sich Baker.
»Du kannst keine Umarmung skypen. Und aus tausend Meilen Entfernung kannst du deinem Sohn auch nicht zeigen, wie man einen Baseballschläger schwingt. Verdammt, als die ersten beiden geboren wurden, warst du im Krieg. Sie haben dich schon damals kaum gesehen.«
»Ich habe für mein Land gekämpft, Amos!«
»Das ist schon eine Weile her. Und Kinder brauchen ihren Dad.«
»Ich weiß. Aber es ist nun mal, wie es ist«, entgegnete Stan gereizt. »Ich bin nicht der Erste, der sich scheiden lässt. Wir haben alles versucht, aber es hat nicht geklappt. Keine Eheberatung, kein gar nichts.«
»Vielleicht hättet ihr euch mehr Mühe geben sollen«, beharrte Decker. »Es geht immerhin um die Familie, Stan. Die gibt man nicht so einfach auf.«
Bakers grüne Augen funkelten zornig. »Mir ist schon klar, worauf du anspielst. Wir alle wissen, was mit Cassie passiert ist, und … mit Molly.«
Bakers Worte erinnerten Decker schmerzhaft an die brutale Ermordung seiner Familie, die sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt hatte, doch er schwieg.
»Tut mir leid, Amos«, fuhr Baker leise fort. »Es war auch für mich das Schlimmste, was ich je erlebt habe. In meinem ganzen Leben habe ich nie so geheult wie auf ihrem Begräbnis. Aber … das ist dein Leben, nicht meins. Du kannst das nicht vergleichen. Ich wollte nicht, dass es so kommt, niemand wollte es, und trotzdem ist es jetzt so. Also muss ich damit leben.«
Decker schaute zu Jamison und senkte den Blick zu Boden. »Okay. Ich … ich sollte Renee wieder mal anrufen. Ich habe nicht so wahnsinnig viel dafür getan, die Verbindung aufrechtzuerhalten.«
»Wenn du nicht mal weißt, dass deine Schwester sich scheiden lässt und dein Schwager seinen Job verloren hat, triffst du mit dieser Feststellung voll ins Schwarze«, meinte Jamison.
»Warum bist du eigentlich hier?«, fragte Baker.
»Eine Mordermittlung.«
»Ein Mord? Hier?«
»Morde kommen überall vor, sogar in dieser Stadt«, stellte Decker mürrisch fest.
»Stimmt schon, dieses Kaff ist ein Drecksloch«, räumte Baker ein. »Hier sind hässliche Dinge vorgefallen – Schlägereien mit tödlichem Ausgang und Kämpfe zwischen rivalisierenden Gangs, die hier ihre Drogen verticken. Meth, Koks und Heroin kriegst du hier an jeder Ecke. Wer wurde denn ermordet?«
»Darüber können wir im Moment nicht reden«, warf Jamison rasch ein. »Aber Sie werden es bestimmt bald in den Nachrichten hören.«
»Verdammt. Und die haben deswegen das FBI eingeschaltet? Warum kann das nicht die örtliche Polizei übernehmen?«
»Wir gehen, wohin man uns schickt«, stellte Decker klar.
»Möchten Sie vielleicht mit uns essen?«, bot Jamison an.
Bakers Reaktion war seltsam. Er wurde blass, machte einen Schritt zurück und sah Decker an. »Äh, nein, vielen Dank. Ich hab schon gegessen.«
»Warum bist du dann hier?«, fragte Decker, den Bakers Unbehagen neugierig machte. »Du wohnst doch sicher nicht hier im Hotel, wenn du schon ein Jahr in der Stadt bist.«
»Nein, nein, ich habe eine kleine Wohnung. Ich bin hier, weil ich mich mit … äh, mit jemandem treffe«, murmelte Baker.
Decker musterte ihn scharf. »Mit wem?«
In diesem Moment rief eine Stimme: »Stan?«
Sie drehten sich um und sahen eine attraktive Frau Anfang dreißig hereinkommen. Ihr Erscheinen zog die Blicke der meisten Männer auf sich, auch jener, die in weiblicher Begleitung waren, wie Decker aus den Augenwinkeln bemerkte.
»Hallo, Caroline«, sagte Baker steif und warf Decker einen nervösen Blick zu. »Das ist Caroline Dawson«, stellte er die Frau vor.
»Verstehe«, sagte Decker und musterte seinen zukünftigen Ex-Schwager herablassend. »Alles klar.«
»Äh … Caroline, das ist Amos Decker, und das ist seine Kollegin Alex Jamison. Amos ist …«
»Ich bin Stans Freund«, warf Decker rasch ein. »Wir haben uns zufällig getroffen. Der eine wusste vom anderen nicht, dass er in der Stadt ist.«
Caroline lächelte. »Was für eine nette Überraschung.«
»Wohnen Sie hier in London?«, fragte Decker.
Sie lächelte. »Wie sich das anhört, nicht wahr? Ja, ich wohne hier. Das Hotel hier gehört meinem Dad, aber es ist nicht seine einzige Einkommensquelle in dieser Stadt. Ich helfe ihm, alles zu managen. Er wohnt in einer Villa ein Stück außerhalb. Manchmal bleibe ich eine Zeit lang dort, aber ich habe auch ein Apartment in der Innenstadt.« Sie wandte sich Baker zu. »Bist du so weit?«, fragte sie ihn, ehe sie zu Jamison blickte. »Haben Sie Lust auf ein bisschen Clubbing? Falls ja, begleiten Sie uns doch.«
»Es gibt Nachtclubs hier?«, staunte Jamison.
Caroline lächelte und verdrehte die Augen. »Ich weiß, man mag es nicht glauben, aber es gibt hier tatsächlich drei ganz annehmbare Schuppen. Es sind zwar keine richtigen Nachtclubs, aber dort spielt man wenigstens nicht den ganzen Abend Countrymusic. Ich kann das Gedudel nicht mehr hören, auch wenn Stan es liebt.«
»Danke für die Einladung«, sagte Decker. »Aber wir sind erst heute angekommen und ziemlich groggy.«
»Verstehe. Nun ja, aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«
»Stimmt.«
Caroline nahm Baker an der Hand. »Gehen wir. Erste Station, O.K. Corral Saloon.« Sie zwinkerte Decker und Jamison zu. »Bis dann.«
Beide beobachteten, wie das Paar das Hotelrestaurant verließ.
Jamison schaute Decker an. »Zufälle gibt’s.«
Decker setzte sich und starrte düster auf die Tischplatte.
»Tut mir leid für deine Schwester«, sagte Jamison.
»Sie hätte mich anrufen sollen«, murmelte Decker betroffen.
»Vielleicht hat sie es ja versucht.«
Decker wirkte mit einem Mal schuldbewusst. »Ja, möglich. Kann sein, dass da ein, zwei Nachrichten waren, die ich vergessen habe zu beantworten.«
»Schon seltsam, wenn man bedenkt, dass du nie etwas vergisst.«
»Ich weiß«, sagte er zerknirscht. »Ich bin in solchen Dingen ein ziemlicher Versager.«
»Du musst mit ihr reden. Aber lass sie ihre Geschichte erzählen, ohne gleich über sie zu urteilen. So hilfst du ihr am besten.«
»Es will mir nicht in den Kopf, dass die beiden ihre Probleme nicht in den Griff gekriegt haben. Tja, wir können’s nicht ändern. Und Stan hat ja schon eine neue Partnerin.«
»Fragt sich nur, ob es von Dauer ist. Mir kommt es eher so vor, als hätten sich da zwei gefunden, die nur ein bisschen Spaß miteinander haben wollen.«
Als das Essen kam, brachte Decker nur mit Mühe ein paar Bissen hinunter. »Sorry«, murmelte er, als er Jamisons fragenden Blick bemerkte. »Mir ist der Appetit vergangen. Wir sehen uns morgen früh, Alex.«
Ohne ein weiteres Wort ging er hinaus.
Der O.K. Corral Saloon.
Laut, schrill und allem Anschein nach total angesagt.
Decker stand vor der Tür und spürte die Feuchtigkeit auf der Haut, die nach dem Gewitter schon wieder in der Luft hing. Die Fenster waren hell erleuchtet, und er hörte die Musik bis hinaus auf die Straße dröhnen – Country & Western mit einem Schuss Rock ’n’ Roll, zumindest nach seiner Einschätzung. Es donnerte wie eine Schallkanone.
Der Türsteher, der die Ausweise kontrollierte, winkte ihn durch, und Decker tauchte in die Hitze und die penetrante Geruchsmischung aus Schweiß und verschüttetem Alkohol ein. Entweder hatten sie hier keine Klimaanlage, oder das Ding kam einfach nicht gegen die feuchte Hitze an, die die wogende Masse der Besucher abstrahlte. Soweit Decker erkennen konnte, war er der einzige nüchterne Gast in der Kneipe.
Er schob sich an einer Gruppe junger Leute vorbei, die sich gegenseitig zu stützen schienen, obwohl es noch nicht einmal zehn Uhr abends war. Er wollte gar nicht wissen, wie es hier um Mitternacht zuging.
Die Musik kam von einer Liveband, die aus vier Jungs und einer Leadsängerin bestand. Sie ließ ihre Dolly-Parton-Mähne wehen, während sie zu dem dröhnenden Sound tanzte und gekonnt eine Faith-Hill-Ballade sang. Die vier männlichen Bandmitglieder standen hölzern hinter ihr, während sie sich auf der Bühne abrackerte. Sie begann mit dem nächsten Song; soweit Decker es verstehen konnte, ging es um Jungs, Mädchen, Hunde und Waffen, und auch ein Chevy Pick-up kam irgendwie vor. An den Wänden waren vier 90-Zoll-Fernseher montiert, alle auf verschiedene Sportkanäle eingestellt. In einer Ecke stand hinter einer hüfthohen Trennwand ein mechanischer Stier, der allerdings nicht in Betrieb war. Er stand einfach nur da und glotzte ziemlich sauer drein.
Decker zog sich in den hinteren Bereich des Lokals zurück und nahm sich Zeit, das Terrain zu sondieren. An einer Wand hing ein Schild, auf dem in riesigen Buchstaben geschrieben stand:
Hausordnung: Wer Ärger macht, stänkert oder eine Schlägerei anfängt, fliegt raus und darf nie wieder rein. Einmal draußen, immer draußen. Null Toleranz. Viel Spaß.
Es dauerte nicht lange, bis Decker die beiden auf der Tanzfläche entdeckte. Caroline flatterte um den hölzern dastehenden Baker herum wie ein Schmetterling um eine große steife Blume. Oder eher um einen Kaktus. Baker bewegte seine Füße keine fünf Zentimeter hin und her und hob die Hände in die Luft, als würde er sich prächtig amüsieren.
Warum ist sie mit ihm zusammen?
Jemand stieß Decker an. Es war ein Berg von einem Mann, noch größer und kräftiger als er selbst. Leise, aber mit drohendem Unterton sagte der Hüne: »Hör mal, Kumpel, wenn du hierbleiben willst, musst du was trinken oder futtern, am besten beides.« Der Mann wog gut hundertfünfzig Kilo, war so kahl wie eine Billardkugel und seine beträchtliche Wampe wurde nur von den megabreiten Schultern übertroffen. »Wenn nicht, Buddy – da ist die Tür. Irgendjemand muss ja dafür aufkommen, dass hier das Licht brennt, die Musik spielt und das Bier fließt.«
Decker erwiderte nichts. Er ging zur Theke, die sich über eine ganze Wand erstreckte. Sämtliche Barhocker waren besetzt. Er zwängte sich neben ein junges Pärchen, das seine Lippen nur voneinander löste, um einen Schluck Bier hinunterzukippen. Auf der anderen Seite stand eine gut gekleidete Frau Anfang vierzig, die einen Cocktail mit ungefähr einem Pfund Früchten in der Hand hielt.
Es gab an die hundert Biersorten zur Auswahl, vom Fass ebenso wie in der Flasche. Manche Namen hatte Decker nie zuvor gehört. Er ließ sich eine Dose Budweiser geben, für die er fünf Dollar hinblätterte, und stellte sich mit dem Rücken zur Theke, damit er beobachten konnte, wie sein Schwager sich zum Trottel machte.
Mein zukünftiger Ex-Schwager, korrigierte er sich.
Caroline hatte die Arme um Baker geschlungen, blickte träumerisch zu ihm auf und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Decker musste an seine Schwester Renee und ihre vier Kinder denken und blickte zur Seite, um seinen aufkommenden Zorn zu unterdrücken. Ach, egal, sagte er sich dann. Was geht mich das überhaupt an? Warum bin ich überhaupt hier?
»Sie sind der Mann vom FBI, nicht wahr?«, riss eine Frauenstimme ihn aus seinen Gedanken.
Decker drehte sich nach links. Es war die Lady mit dem vielen Obst im Drink, die ihn angesprochen hatte. Sie war schlank und athletisch; unter dem eng sitzenden Stoff ihrer Bluse zeichnete sich der Trizeps ab. Sie trug einen Ehering und einen goldenen Ring am kleinen Finger. Ihr schulterlanges hellbraunes Haar war mit blonden Strähnen durchsetzt. Dazu trug sie Jade-Ohrringe in Gestalt kleiner buddhistischer Tempel. Mit ihren fein geschnittenen Gesichtszügen und ihren blauen Augen war sie eine sehr attraktive Erscheinung.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Decker.
»Ich bin Liz Southern. Mein Mann Walt hat die Obduktion der Toten vorgenommen, wegen der Sie hier sind.«
»Wie haben Sie mich unter all den Leuten hier erkannt?«
»Walt hat mir gesagt, wenn du einen Kerl in den Vierzigern siehst, der aussieht wie ein Ex-Footballspieler, ist er es. Außerdem …«
»Das trifft auf mindestens zehn andere Leute hier zu«, fiel Decker ihr ins Wort.
»Sie haben mich nicht ausreden lassen. Walt hat außerdem gesagt, Sie hätten etwas Grüblerisches an sich, einen intelligenten, aber schwer einzuschätzenden Ausdruck. Da finden Sie dann keine zehn Leute mehr hier drin, auf die das zutrifft.«
Er hielt ihr die Hand hin. »Amos Decker.«
»Amos? Diesen Namen hört man auch nicht mehr oft.« Liz Southern schüttelte ihm die Hand.
»Hat Ihr Mann Ihnen etwas über den Fall erzählt?«
»Er hat sein Amtsgeheimnis nicht verletzt, falls Sie das meinen. Aber ich führe die Geschäfte des Bestattungsinstituts, da bekommt man natürlich das eine oder andere mit. Sie können sich aber darauf verlassen, dass von mir niemand etwas vom dem erfährt, was ich möglicherweise aufgeschnappt habe.«
Decker nahm einen Schluck Bier und blickte zu dem mechanischen Bullen, der unbeachtet an seinem Platz stand. »Warum sehe ich niemanden reiten? Ich dachte, die Leute hier stehen auf so was.«
»Tun sie auch. Das war ja das Problem.«
»Problem? Inwiefern?«
»Es gab laufend juristischen Ärger, weil es immer wieder vorkam, dass ein Fracker abgeworfen wurde und sich den Arm oder das Bein brach, was eine Klage seitens seiner Familie oder seiner Firma nach sich zog, die ihn draußen auf dem Ölfeld gebraucht hätte. Aber das Ding gehört mittlerweile zum Inventar und hat sogar eine gewisse lokale Berühmtheit, also lassen sie es stehen. Hin und wieder bewerfen es die Gäste mit Dosen und Flaschen, um ihren Frust loszuwerden.«
Kaum hatte sie es ausgesprochen, schleuderte ein betrunkener junger Mann mit Cowboyhut sein leeres Bierglas auf den Bullen. Es gab einen Knall, und die Scherben regneten auf den Haufen, der sich bereits um den mechanischen Stier herum gebildet hatte. Der junge Kerl klatschte mit seinen Kumpels ab.
»Sehen Sie? Die Angestellten kehren die Scherben jede Nacht weg, und am nächsten Abend sieht es wieder genauso aus wie jetzt. Die Leute lassen ihre Aggressionen an dem armen Bullen aus. Aber das ist immer noch besser, als wenn sie sich gegenseitig den Schädel einschlagen würden.« Sie lächelte. »So funktioniert Stressabbau in North Dakota.«
Decker nickte. »Haben Sie die Tote gekannt?«
»Nein. Aber Detective Kelly von der hiesigen Polizei kannte sie anscheinend.«
»Sind Sie mit Kelly näher bekannt?«
»Wie man sich halt kennt in einer kleinen Stadt. Obwohl es heute nicht mehr so ist wie früher. Seit der Fracking-Boom eingesetzt hat, kommen Leute von überall her, sogar aus dem Ausland. Da kennt keiner mehr den anderen. Vorige Woche habe ich im Lebensmittelladen zwei Leute Russisch sprechen gehört.« Sie hielt einen Augenblick inne, ehe sie hinzufügte: »Wir haben aber auch andere Zeiten erlebt. Während der letzten Krise waren mein Mann und ich nahe daran, unser Bestattungsunternehmen aufzugeben.«
»Aber Leute sterben doch immer, ob Krise oder Boom.«
»Das schon. Manche haben in ihrer Verzweiflung sogar selbst nachgeholfen, nachdem sie alles verloren hatten. Nur hatten ihre Angehörigen dann oft kein Geld für die Beerdigung. Manche wollten mit Naturalien bezahlen, und wir sind ihnen entgegengekommen, soweit es ging, aber auch wir müssen unsere Rechnungen begleichen. Na ja, irgendwie haben wir durchgehalten und heute läuft es wieder gut. Zumindest vorläufig. Wer weiß, was morgen sein wird.« Sie schaute sich um. »Ist Ihre Partnerin nicht hier? Walt hat mir erzählt, dass Sie zu zweit ermitteln.«
»Sie ist im Hotel geblieben. Es war ein langer Tag.«
»Schickt das FBI noch mehr Agenten?«
Decker nahm einen Schluck Bier und schwieg. Auf der Tanzfläche hielt sich Caroline Dawson mit beiden Händen an Baker fest und benutzte ihn wie eine Poledance-Stange.
»Kennen Sie die beiden?«, fragte Liz, als sie bemerkte, dass Decker das Paar beobachtete.
»Könnte man sagen.«
»Und haben Sie schon eine Spur?«
»Darüber kann ich nicht reden.«
»Das klingt nach einem Nein.«
Decker musterte sie einen Augenblick. »Haben Sie eine Vermutung, wer dahinterstecken könnte?«