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Vom ersten Tag in der Daniel-Nathans-Akademie an spürt Rica, dass hier etwas Seltsames vor sich geht. Alle Schüler stehen unter strenger Aufsicht. Die meisten von ihnen sind ungewöhnlich begabt. Einige Jugendliche neigen ohne erkennbaren Grund zu Gewaltausbrüchen, manche scheinen die Gefühle und Gedanken anderer beeinflussen zu können. Was geht hier vor sich? Als im Rosengarten ein Mädchen tot aufgefunden wird, beginnt Rica, Nachforschungen über die Eliteschule anzustellen, und bringt sich damit selbst in größte Gefahr ...
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Seitenzahl: 474
Titel
Widmung
Kapitel eins - Am Ende der Welt
Kapitel zwei - Unruhe
Kapitel drei - Frau Jansen
Kapitel vier - Geheime Gespräche
Kapitel fünf - Veränderungen
Kapitel sechs - Haltlos
Kapitel sieben - Spurlos
Kapitel acht - Verdächtigungen
Kapitel neun - Geheimnisse
Kapitel zehn - Verhöre
Kapitel elf - Torben
Kapitel zwölf - Frontalangriff
Kapitel dreizehn - Einbruch
Kapitel vierzehn - Erwischt
Kapitel fünfzehn - Streit
Kapitel sechzehn - Überfall
Kapitel siebzehn - Erkenntnisse
Kapitel achtzehn - Geständnisse
Kapitel neunzehn - Mörder
Kapitel zwanzig - Flucht
Epilog
Über die Autorin
Impressum
Für Jael
Kapitel eins
Am Ende der Welt
Komm schon, so schlimm ist es auch wieder nicht!«
Rica starrte aus dem Seitenfenster und fragte sich, was bitte schön nicht so schlimm sein sollte. Weit und breit war nichts zu sehen, außer Bäumen, und Bäumen und Bäumen. Und – ach ja – ein riesiges Metallgittertor, das die Einfahrt zu einem Gebäude versperrte. Rica hasste Bäume. Gut, eigentlich nicht Bäume im Speziellen, so im Stadtpark waren sie ganz okay, aber diese Bäume hier waren etwas ganz anderes. Weil es außer ihnen hier so rein gar nichts zu geben schien.
Ihre Mutter lächelte nervös, bremste den Wagen vor dem Tor und ließ ihr Fenster herunter. Aus einem kleinen Häuschen neben dem Tor trat ein Mann in Uniform an das Auto heran. Er lächelte breit. Rica verzog das Gesicht und wandte sich demonstrativ von ihm ab.
»Guten Tag. Ich nehme an, Sie sind Frau Lentz?« Er machte eine Pause, als wartete er auf eine Reaktion. Als keine kam, räusperte er sich. »Und Ihre Tochter Ricarda?« An seinem Tonfall hörte Rica, dass er versuchte, Blickkontakt zu ihr aufzunehmen, doch sie sah stur aus dem Fenster.
»Ich habe vorhin angerufen.« Ihre Mutter klang ein bisschen atemlos und nicht halb so optimistisch wie noch vor ein paar Stunden, als sie Rica weismachen wollte, wie toll hier alles werden würde. »Es hieß, wir können heute schon in die Wohnung? Das wäre wirklich wunderbar, da Rica doch morgen schon in die Schule soll, und andernfalls wäre alles ein wenig hektisch.« Rica konnte das Lächeln in der Stimme ihrer Mutter hören. Ein unschuldiges Mädchenlächeln, das sie gern aufsetzte, wenn sie Männern das Gefühl geben wollte, dass sie ihr überlegen waren. Und die meisten Männer fuhren auch noch voll darauf ab.
»Klar geht das. Der Schlüssel ist hier für Sie hinterlegt worden. Wenn Sie mir noch Ihren Ausweis zeigen würden …«
Papierrascheln, das Klimpern von Kleingeld in den Tiefen der Handtasche, ein paar gemurmelte Worte ihrer Mutter, dann fand offensichtlich die Schlüsselübergabe statt. Rica tat weiterhin so, als würde sie ignorieren, was sich neben ihr abspielte, auch wenn die Aussicht auf die Bäume auf ihrer Seite allmählich etwas langweilig wurde. Ein rotes Eichhörnchen hüpfte im Unterholz herum, richtete sich einmal kurz auf und sah neugierig zum Auto herüber, bevor es mit großen Sprüngen auf dem nächsten Baum verschwand. Gegen ihren Willen entlockte das Tierchen Rica ein halbes Lächeln.
»Sie wissen, wohin?« Die Stimme des Wachmannes holte Rica wieder in die Gegenwart zurück.
»Ich habe mir die Wohnung schon angesehen, danke.« Jetzt, da alles zu ihrer Zufriedenheit verlaufen war, hörte sich der Ton ihrer Mutter wieder selbstbewusst und professionell an. Keine Spur mehr von dem kleinen, unsicheren Mädchen, das sich verlaufen hat und dringend Hilfe benötigt. Wieder musste Rica lächeln. Meine Mutter ist ein Biest, dachte sie.
Der Wagen setzte sich in Bewegung. Das Metalltor war beiseitegeglitten, ohne einen Laut von sich zu geben, unter den Reifen knirschten ein paar Krümel Kies, die vom Seitenstreifen auf den Asphalt gekullert waren. Einige Augenblicke lang waren wieder nur Bäume zu sehen, dann jedoch tauchte das Auto aus dem Schatten des Wäldchens, und Rica musste einen überraschten Ausruf unterdrücken.
Die Auffahrt wand sich einen grasbewachsenen Hügel hinauf, auf dessen Kuppe ein Schloss thronte. Zumindest sah es im ersten Moment aus wie ein Schloss. Die weiß getünchte Fassade schimmerte im Sonnenlicht, und rechts und links gab es kleine Türmchen, die sich in einen mit watteweißen Wolken übersäten Himmel streckten. Ein paar gepflegte alte Kastanien und Beete voller bunter Sommerblumen zierten die Vorderseite gleich neben einem modernen und gar nicht so übel aussehenden Skateplatz und einer wirklich beeindruckenden Kletterwand. Ein paar Jugendliche lungerten am Rand des Platzes herum und sahen einem Skater bei seiner Performance zu. Rica wandte den Kopf, um besser sehen zu können, doch da bog ihre Mutter auch schon auf einen Seitenweg ab, der von dem Gebäude fort und – wieder einmal – auf einen kleinen Wald zu führte.
»Gefällt’s dir?« Ricas Mutter hatte mitbekommen, wie Rica ihren Hals verdrehte, um noch einmal einen Blick auf das kleine Schloss und die Skater davor zu werfen. Ein so ungewöhnliches Bild, dass sie sich wünschte, ihre Kamera zur Hand zu haben. Doch die lag gut verstaut auf dem Boden ihres Rucksacks.
Ertappt drehte Rica sich nach vorn, sie konnte das Grinsen auf dem Gesicht ihrer Mutter nur zu gut sehen.
»Es gefällt dir«, stellte diese fest. »Siehst du, alles gar nicht so schlimm. Ich bin mir sicher, wir leben uns hier gut ein.«
»Trotzdem«, murmelte Rica, merkte, dass sie sich anhörte wie ein trotziges Kleinkind, und seufzte. »Ich wünschte nur, es wäre nicht so weit weg von … allem.« Von Yannik, hatte sie sagen wollen. Von Yannick und Lena und Claire und all den anderen. Aber das hatte sie nun wirklich schon oft genug zum Besten gegeben, und ihre Mutter würde genauso wenig darauf eingehen wie die Dutzend Male zuvor.
»Ist ja erst mal nur ein Schuljahr. Du kommst schon früh genug zurück zu deinen Freundinnen.« Ricas Mutter versuchte ein aufmunterndes Lächeln, doch ganz gelang ihr das nicht. Sie wusste selbst, was sich in einem Jahr alles verändern konnte. Ob Yannik auf mich wartet, wie er versprochen hat?
»Schon okay«, brummte Rica. Sie konnte es sowieso nicht ändern, warum also nicht versuchen, Frieden zu schließen?
Wieder bog der Wagen um eine scharfe Kurve, und erneut tauchte ein Gebäude vor ihnen auf. Dieses war viel moderner als das Schlösschen, ein mehrstöckiger Kasten mit roten Klinkersteinen an der Fassade, einigen Garagen und einem kleinen Parkplatz daneben. Rica fand, das Haus sah so aus, als sei es aus einer Großstadt hierherversetzt worden. So wie ich.
Ihre Mutter lenkte das Auto auf einen der Parkplätze und stellte den Motor aus. Dann wandte sie sich mit erwartungsvollem Gesicht Rica zu.
»Wollen wir uns die Wohnung ansehen?«
Mit einem Seufzen griff Rica nach ihrem kleinen Rucksack und öffnete die Wagentür. Ein Schwall warmer Luft schlug ihr entgegen.
Gleichzeitig strömten Geräusche und Gerüche auf sie ein, als hätte sie sich aus einer Isolationskammer unvermittelt in die Wirklichkeit begeben. Die Luft roch nach warmem Asphalt und gemähtem Gras, und natürlich nach Bäumen. Ein harziger, nicht unangenehmer Duft, und Rica konnte nicht anders, als einmal tief durchzuatmen. Von irgendwoher war das Geschrei von jüngeren Kindern zu hören, und in den dichten Zweigen der Bäume zwitscherten ein paar Vögel.
Vielleicht ist es auf dem Land doch gar nicht so schlimm, dachte Rica und schob den Gurt des Rucksacks über ihre Schulter.
»Ma?«
»Was ist?« Ihre Mutter beugte sich hinter dem Auto hervor. Sie hatte schon den Kofferraum geöffnet und war gerade dabei, Reisetaschen auszuladen. Die wenigen Möbel, die sie mitgenommen hatten, würden später mit einem Kleintransporter nachgeliefert werden, vielleicht morgen. Wichtig war das nicht, denn die Apartments, die hier für Lehrer und Erzieher gestellt wurden, waren ohnehin möbliert.
»Ich will mich ein bisschen umsehen.« Rica schlüpfte in den zweiten Rucksackgurt.
»Aber wir haben noch gar nicht ausgepackt. Und die Wohnung –«
»Ich bekomme die Wohnung schon noch früh genug zu sehen.« Ricas Tonfall war patziger, als sie beabsichtigt hatte. Sie versuchte, es durch ein Lächeln auszugleichen, und machte mit der Rechten eine weit ausholende Bewegung, die die ganze Umgebung einschloss. »Das Licht ist jetzt gut. Ich würde gern ein paar Bilder machen. Ich muss unbedingt Lena zeigen, wie es hier aussieht.« Sie verlegte sich auf ihren Hundeblick. »Bitte, Ma, ich hab versprochen, dass ich ihr gleich schreibe, wenn ich hier bin. Und dass ich Fotos mache.« Nichts dergleichen hatte sie getan, doch ihrer Mutter lag zu viel an Ricas »Sozialleben«, wie sie es nannte, um sich dem Argument zu widersetzen.
»Also gut. Aber sei bald wieder da, ja? Du solltest dich für morgen vorbereiten. Immerhin ist das dein erster Tag hier an der neuen Schule.«
Als ob es da viel vorzubereiten gab. Rica würde ja ohnehin mit einer neuen Klasse, einem neuen Schuljahr und vermutlich auch ganz neuen Fächern hier anfangen. Wer wusste schon, was sie in diesem Elitebunker so lehrten. Vermutlich Wirtschaftsinformatik oder so einen Müll. Dennoch blieb Rica noch einen Moment stehen, um ihrer Mutter die Gelegenheit zu geben, ihre üblichen Sprüche zu ergänzen. »Bleib nicht zu lange weg! Pass auf, mit wem du redest! Ruf an, wenn du später heimkommst!« Aber Rica wartete vergebens. Ihre Mutter lächelte nur und nickte ihr zu.
»Nun geh schon!«
Und da verstand sie. Es gab keinen Grund, sie hier zur Vorsicht zu ermahnen. Das hier war nicht die Großstadt. Hier war Rica umgeben von einem hohen Metallzaun, der alle potenziellen Gewalttäter draußen halten würde, und es gab auch keinen Ort, wohin sie gehen und dann zu lange wegbleiben konnte. Ich bin in einem hübschen Käfig gelandet, und ihr ist das nur recht, dachte Rica. Sie will nicht, dass ich auch noch verschwinde.
Sie seufzte und wandte sich ab. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte, sie kannte sich hier überhaupt nicht aus. Schließlich entschloss sie sich für die Richtung, aus der sie die Kinderstimmen hörte. Wer weiß, vielleicht gab es dort einen Sportplatz oder so was. Zumindest gab es da Menschen, die jünger als zwanzig waren. Viel jünger, so wie es sich anhörte. Aber gut, man konnte nicht alles haben.
Ein grasiger Pfad führte von dem Klinkergebäude weg den Hang hinunter. Er war überschattet von einem Gewirr dichter Zweige und wirkte ein wenig wie ein grüner Tunnel. Rica blieb an seiner Mündung stehen und betrachtete ihn einen Moment lang versonnen. Sie überlegte, ob sie ihre geliebte Kamera hervorkramen und ein Bild von diesem unwirklichen Tunnel schießen sollte. Ein Tor in die Anderswelt, dachte sie. Doch sie entschied sich gegen die Kamera. Sie war noch ein ganzes Jahr lang hier, mindestens. Der grüne Tunnel konnte eine Weile warten, bis er fotografiert wurde.
Sie folgte dem Pfad bergab, und die Kinderstimmen wurden lauter. Jetzt vernahm Rica auch die eine oder andere tiefere Stimme, keine Lehrer oder sonstige Erwachsene. Jugendliche. Vielleicht Trainer, vielleicht auch einfach ein paar ältere, die die Kids vom Sportplatz vertreiben wollten. Rica beschleunigte ihre Schritte.
Der Pfad öffnete sich auf einen seichten Grashang, der leicht abfiel, bis er in eine ebene Fläche überging, auf der sich tatsächlich hübsch aufgereiht vier Tennisplätze, ein Fußballfeld und eine Aschebahn befanden. Rica hielt inne, um sich die ganze Szenerie in Ruhe anzusehen. Das Fußballfeld war übersät mit Kindern – Unterstufler, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt –, die lautstark und ausgelassen Völkerball spielten. Zwei der Tennisplätze waren ebenfalls besetzt, einer von zwei unfassbar hübschen Mädchen mit langen Beinen unter ihren Tennisröckchen und unwahrscheinlich blonden Haaren, der andere von einem gemischten Paar. Eine Gruppe Jugendlicher hatte zwei Bänke zwischen den beiden Plätzen in Beschlag genommen, und sie taten so, als ob sie das Spiel des gemischten Pärchens beobachteten. Dabei warfen zumindest die Jungen immer wieder sehnsüchtige Blicke zu den blonden Mädchen hinüber. Typisch.
Rica grinste.
Die drei Jungs hockten dicht beieinander, kumpelhaft, scheinbar tief ins Gespräch vertieft. Ein Stück weiter die beiden Mädchen, die nicht so richtig dazuzugehören schienen, aber auch nicht vollkommen ausgeschlossen waren. Sie saßen auf der Lehne der zweiten Bank, hielten ihren Blick fest auf das Spielfeld mit dem gemischten Pärchen gerichtet und warfen den Jungs ab und zu eine Bemerkung zu.
Rica setzte sich wieder in Bewegung, den Hang hinunter und direkt auf die Gruppe zu. Eines der Mädchen entdeckte sie als Erste. Sie hatte lange, auffällig rote Haare, die ihr in einer weichen Mähne den Rücken hinunterfielen, und trug Jeans und eine geblümte Bluse. Ein bisschen zu brav für Ricas Geschmack. Die andere war deutlich auffälliger. Sie hatte eine pechschwarze Igelfrisur. Wahrscheinlich gefärbt. Mit Gel waren ihre kurzen Haare zu kleinen Spitzen gezupft, und sie hatte zu ihrer Jeans ein leuchtend pinkfarbenes, eng anliegendes T-Shirt angezogen. Nicht ganz der Aufzug, in dem sich Rica hätte sehen lassen wollen, aber immerhin nahe genug dran.
Die Rothaarige stieß der Pinkfarbenen einen Ellbogen in die Seite und deutete auf Rica. Gemeinsam starrten ihr die beiden Mädchen entgegen, als wäre sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt. Na ja, vielleicht war das für diese Landeier ja auch so. Reiß dich zusammen, Rica, du weißt doch gar nicht, woher sie stammen. Nur weil sie auf diese Schule gehen. Und außerdem: Du klingst wie eine arrogante Zicke, falls du es noch nicht bemerkt hast.
»Hey«, begrüßte die Rothaarige Rica. Sie lächelte schüchtern. »Bist du neu hier?« In ihrer Stimme lag ein ganz leichter Akzent, den Rica nicht einordnen konnte. Jedenfalls glaubte sie nicht, dass er hier in den Schwarzwald gehörte.
Rica zuckte mit den Schultern, legte den Kopf schief und sah die Mädchen so lange fragend an, bis diese verstanden und ein Stück auf der Lehne beiseiterutschten, sodass Rica sich zu ihnen setzen konnte. Sie hockte sich neben die Rothaarige und konnte einen leichten, süßen Duft wahrnehmen, der von ihr ausging. Irgendein besonderes Shampoo wahrscheinlich. Es war Rica zu blumig, aber sie musste gestehen, dass es zu diesem Mädchen passte.
»Meine Ma wird hier unterrichten«, beantwortete sie die Frage. »Da musste ich wohl mit.«
»Ah.« Offensichtlich waren der Rothaarigen die Worte ausgegangen. Sie blickte auf ihre Füße und wand ihre Finger umeinander, als hätte Rica ihr eine schwierige Prüfungsfrage gestellt, auf die sie keine Antwort wusste.
Die Schwarzhaarige beugte sich vor und streckte Rica ihre Hand hin. »Ich bin Jo. Das ist Eliza.« Sie sprach beides englisch aus.
»Rica«, sagte Rica und griff nach Jos Hand. Am Handgelenk des Mädchens konnte sie einige schmale Linien erkennen. Blasse Narben, quer zum Arm verlaufend. Allerdings waren die Narben dünn und kaum noch zu sehen. Alte Wunden. Ob sie deswegen hier ist? Ob ihre Eltern sie unter Aufsicht haben wollten?
Rica hob ihren Blick und sah Jo ins Gesicht. Es wirkte hart und ein bisschen kantig, aber vielleicht war das auch nur ihr wild entschlossener Ausdruck. Im Gegensatz zu Eliza, die in Ricas Alter sein mochte, war Jo schon älter. Vielleicht bereits volljährig.
»Willkommen im Irrenhaus, Rica«, sagte Jo und lachte. Eliza guckte vollkommen entsetzt und boxte ihr wieder mit dem Ellbogen in die Seite.
»Sag so was doch nicht!«, murmelte sie. Gleichzeitig warf sie einen Blick über die Schulter zurück, als erwarte sie, dass dort gleich jemand auftauchte und sie zur Rede stellte.
»Wieso? Wir haben sogar unsere eigene Therapeutin.« Jo malte mit den Fingerspitzen Anführungszeichen in die Luft, als sie das letzte Wort sagte. Sehr überzeugt sah sie nicht aus.
Rica brauchte einen Moment, bevor ihr etwas darauf einfiel. »Da müsst ihr ja ziemlich irre sein, hier«, erwiderte sie. Sie hatte gehofft, es genau so locker hinwerfen zu können wie Jo, aber so richtig gelang ihr das nicht. Ihre Stimme hörte sich in ihren Ohren verzerrt und falsch an. Wohin bin ich hier nur geraten?
Jo zuckte mit den Schultern.
»Nicht alle von uns so irre wie Josefine«, entgegnete Eliza leise, aber bestimmt. Sie zog den Namen extra in die Länge, um ihn noch lächerlicher klingen zu lassen. Jo schnitt eine Grimasse, schwieg aber und wandte sich wieder dem Spielfeld zu. Die drei Jungs auf der anderen Bank taten so, als hätten sie überhaupt nicht bemerkt, dass sich noch ein Mädchen zu den beiden anderen auf der Bank gesellt hatte. Sie hatten die Köpfe zu den beiden Blondinen umgedreht und raunten sich gegenseitig halblaute Kommentare zu. Wahrscheinlich über die Form der Hintern.
»Wie ist es hier denn so?«, fragte Rica Eliza.
Eliza zuckte mit den Schultern. »Wenn du im Vergleich zu anderen Schulen meinst – keine Ahnung. Bin schon so lange hier, wie ich denken kann. Mein Pa ist total oft zu Hause in England, und meine Ma begleitet ihn dann. Schätze, darum haben sie keine Zeit, sich um mich zu kümmern. Deswegen bin ich hier.«
England. Das erklärte den Namen und den leichten Akzent. Doch bevor Rica etwas sagen konnte, unterbrach Jo sie.
»Du bist hier, weil du ein verdammtes Genie bist, Liz. So wie wir alle.«
Eliza zuckte leicht zusammen. »Ach was«, murmelte sie. »Ich bin kein Genie.«
»Nein? Geh mal an eine normale Schule und frag herum, wie viele Leute in deinem Alter fließend Latein, Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch und Japanisch sprechen!«, fuhr Jo sie an. »Oder frag nach ihren Mathenoten. Oder danach, ob sie die Börsenkurse erklären und sinnvoll interpretieren können.«
Eliza lächelte entschuldigend, sagte aber nichts. Rica schluckte.
»Muss man hier so viele Sprachen sprechen können?«, wollte sie wissen. Sie hatte eigentlich geglaubt, dass sie mit ihrem Englisch und Französisch schon ganz gut dabei war. Ein paar Mitschüler an ihrer alten Schule konnten nicht mal richtig Englisch sprechen und verstehen.
Eliza schüttelte den Kopf. »Nur wenn du magst«, erwiderte sie. »Ich interessiere mich eben für Sprachen. Da habe ich ein paar Extrakurse belegt.«
»Ein paar?« Jo schnaubte so laut, dass die drei Jungs nun doch herübersahen. Sie taten so, als hätten sie Rica gerade erst entdeckt, und grinsten, halb anerkennend, halb anzüglich.
»He, Ringelblume!«, rief einer von ihnen. »Wo haben sie dich denn gepflückt?«
Rica warf nur einen kurzen Blick auf ihre pink-schwarz geringelten Leggings, bevor sie sich vorbeugte und dem Kerl ins Gesicht grinste. »Könnte ich dir sagen«, gab sie zurück, »aber ich will dir keinen Schock versetzen. Ich hab gelernt, man soll den Eingeborenen nicht die eigene Kultur aufzwingen.«
Jo lachte, und selbst Eliza grinste schüchtern. Der Junge – ein großer Kerl mit mittelbraunem, kunstvoll zerzaustem Haar – schien zu überlegen, ob er sauer sein sollte oder nicht. Schließlich zuckte er mit den Schultern und entschloss sich, ebenfalls zu lachen.
»Torben«, rief er ihr zu, offensichtlich der Überzeugung, dass das reichte. Dann zeigte er auf die beiden links und rechts von sich. »Robin und Kai.«
Rica war kurz versucht, die drei einfach nicht weiter zu beachten, doch dann nickte sie Torben zu.
»Ich bin Rica.«
Über den scheinbar unüberbrückbaren Abgrund zwischen den zwei Sitzbänken hinweg sahen sie sich an. Jeder versuchte, den anderen einzuschätzen. Rica wusste nicht, zu welchem Schluss die Jungs kamen, sie jedenfalls war ganz zufrieden. Die drei wirkten in Ordnung. Nicht halb solche Snobs, wie sie es von dieser Schule erwartet hätte. Der Junge rechts von Torben – Robin? – sah sogar ganz gut aus mit seinem karamellfarbenen Haar und den verstreuten Sommersprossen um die Nase herum. Nicht dass sie das zu interessieren hatte, immerhin wartete zu Hause noch Yannik auf sie, aber trotzdem … Man durfte ja wohl ein bisschen gucken. Das konnte ihr doch keiner übel nehmen.
Nach der langen gegenseitigen Musterung richteten sowohl Rica als auch die Jungs ihre Aufmerksamkeit wieder aufs Spielfeld, wo sich das Pärchen inzwischen über das Netz hinweg die Hand schüttelte. Rica sah ihnen dabei zu, als sei es das Spannendste, was ihr in der letzten Zeit untergekommen war.
»Was meintest du damit – ihr seid hier alle Genies?«, fragte sie Jo.
»Sind wir halt.« Jo legte den Kopf schief und grinste, aber es sah nicht sehr echt aus. »Glaubst du mir etwa nicht?« Sie klang auf einmal irgendwie aggressiv. Unwillkürlich rückte Rica ein Stück auf der Bank nach außen und wäre beinah von der Kante gerutscht.
»Hab ich damit nicht sagen wollen«, patzte sie zurück, um ihre plötzliche Unsicherheit zu überspielen. »Aber das klingt schon ein bisschen seltsam und –«
»Josefine?« Eine Erwachsenenstimme unterbrach die Unterhaltung.
Alle Blicke schnellten in dieselbe Richtung, sogar die beiden Tennisspieler sahen auf. Eine Frau näherte sich auf dem gepflasterten Fußweg, der zwischen den Tennisplätzen entlanglief. Sie trug ein elegantes cremefarbenes Kostüm mit einer blauen Bluse und hatte das dunkelbraune Haar hochgesteckt. Ihre Haut wies eine perfekte Bräunung auf, und ihr Gang war so selbstbewusst, als könne ihr die Welt nichts anhaben. Rica hatte noch nie jemanden gesehen, der mehr Selbstsicherheit ausstrahlte. Und auch noch nie jemanden, der sie auf Anhieb so eingeschüchtert hätte.
»Josefine«, wiederholte die Frau und blieb vor der Bank stehen. Sie betrachtete die Füße der drei Mädchen auf der Sitzfläche argwöhnisch und zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Sie wollte offensichtlich gerade etwas dazu sagen und blickte auf, doch da entdeckte sie Rica – und ihr Gesicht schien zu erstarren. Anders konnte Rica es gar nicht beschreiben. Der Ausdruck auf den Zügen der Fremden wurde steif und noch unechter als zuvor. Rica kam es so vor, als wolle die Frau sie mit ihren Augen durchleuchten.
»Ja, Frau Jansen?« Jo klang nun noch rebellischer und ein klein wenig ärgerlich.
Die Frau reagierte allerdings überhaupt nicht darauf. Es war, als habe sie Jo gar nicht gehört. Sie starrte weiterhin Rica an, als sei diese eine Erscheinung von einem anderen Planeten. Rica wusste nicht recht, was sie tun sollte. Verlegen sah sie zur Seite, dann kam ihr das unhöflich vor, und sie wandte sich wieder dem Gesicht der Frau zu. Noch immer schien diese völlig fassungslos zu sein.
»Ähm … Guten Tag«, versuchte Rica es schließlich, damit wenigstens irgendjemand etwas sagte. Selbst die Jungs blickten inzwischen zu ihnen herüber, und Eliza hatte sich neben Rica so klein gemacht, als wolle sie am liebsten im Erdboden versinken.
»Ich bin neu hier an der Schule«, fuhr Rica fort, um ihre Anwesenheit zu erklären. »Meine Mutter hat eine Stelle hier angenommen. Vielleicht haben Sie von ihr gehört. Frau Lentz.«
Die Frau schluckte und schien sich allmählich wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Natürlich. Du musst Ricarda sein. Ricarda … Lentz.« Sie machte eine seltsam lange Pause vor Ricas Nachnamen, als könne sie nicht recht glauben, dass dieser zu ihr gehörte.
»Genau.« Rica bemühte sich, ihrer Stimme so etwas wie unbeschwerte Fröhlichkeit zu verleihen, und sie strahlte die fremde Frau an. Wenn die nur endlich verschwinden würde. Sie hatte doch ohnehin zu Jo gewollt, oder?
»Ricarda Lentz«, wiederholte die Frau etwas leiser. »Sag mal, Ricarda, kennst du einen Thomas Rausner?«
Verwirrt schüttelte Rica den Kopf. Den Namen hatte sie noch nie gehört. Worauf wollte diese Frau hinaus?
»Bist du dir sicher? Hat deine Mutter ihn nicht vielleicht mal erwähnt?« Etwas Röte hatte sich in die Wangen der Frau geschlichen, und in ihren Augen lag nun ein fiebriger Glanz.
Rica schüttelte erneut den Kopf. »Sollte ich?«, fügte sie hinzu.
Die Frau schien zu überlegen. Dann atmete sie tief durch, und ein leichtes Lächeln stahl sich auf ihre Züge. »Nein … Nein, nicht unbedingt. Vielleicht habe ich mich auch geirrt. Es tut mir leid, wenn ich dich irgendwie verwirrt haben sollte, Ricarda. Aber ich bin mir sicher, wir sehen uns dann bald, wenn du unsere Schule besuchst. Vielleicht möchtest du ja mal auf einen Kaffee vorbeikommen oder so etwas.«
Rica hatte nicht die geringste Lust, mit einer Lehrerin Kaffee zu trinken, aber das konnte sie ihr natürlich nicht ins Gesicht sagen. So machte sie nur eine unbestimmte Kopfbewegung, die zwischen einem Nicken, einem Kopfschütteln und einem Schulterzucken alles bedeuten konnte, und lächelte zurück.
Endlich wandte die Frau sich von ihr ab und wieder Jo zu. »Wir hatten einen Termin, Josefine, hast du ihn vergessen?«, fragte sie streng.
Jo verzog das Gesicht. »Mir geht es gut, ich brauche keine Sitzung, ehrlich.«
»Ich glaube nicht, dass du beurteilen kannst, was für dich am besten ist, Josefine«, erwiderte die Frau und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich habe jetzt Zeit. Wenn du also bitte mitkommen möchtest in mein Büro …«
Jo sah so aus, als hätte sie so ziemlich alles lieber getan als das, aber nach einem hilflosen Blick zu Eliza und Rica beschloss sie wohl, dass sie hier keine Hilfe zu erwarten hatte. Sie seufzte, stand auf und sprang von der Bank. »Bringen wir’s hinter uns, Frau Doktor«, schnaubte sie und drehte sich so rasch von den anderen weg, dass Rica beinah nicht aufgefallen wäre, wie seltsam ihre Augen glänzten. Sie blinzelte. Weinte Jo etwa? Doch im nächsten Moment stapfte Jo schon mit Riesenschritten den Weg entlang, und Frau Jansen beeilte sich, ihr zu folgen.
Rica schnappte nach Luft. »Wer war das denn?«, fragte sie.
Eliza schenkte ihr einen unergründlichen Blick. »Das war Frau Jansen«, meinte sie leise. »Die Schultherapeutin.«
Und was in aller Welt wollte sie von mir? Rica hütete sich allerdings, diese Frage laut auszusprechen.
Kapitel zwei
Unruhe
Mein erster Schultag.
Rica schob die Kamera zurecht, die über ihrer Schulter hing, und sah sich in der großen Eingangshalle um. Schüler strömten in einer dichten Masse durch die Eingangstür und teilten sich dann in kleine einzelne Grüppchen auf, die langsam, aber zielstrebig auf ihre Klassenzimmer zugingen. Rica schien die Einzige zu sein, die sich die Zeit nahm, stehen zu bleiben und sich umzusehen. Alle anderen hatten es geradezu unverschämt eilig, in den Unterricht zu kommen. Oder sie wollten sich nicht allzu lange in dem riesigen Foyer aufhalten.
Rica kribbelte es in den Fingern, nach dem Fotoapparat zu greifen und die Szene aufzunehmen, aber sie konnte sich gerade noch bremsen. Es ist eine ganz normale Schulszene, verflixt noch mal, ermahnte Rica sich, aber gleichzeitig ahnte sie, dass das nicht stimmte. Es war völlig anders als an ihrer letzten Schule. Erstens benahmen sich die Schüler hier viel gesitteter. Und dann lag etwas in ihren Bewegungen, in der Art, wie sie sich hielten und wie sie einander musterten, das sie von allen Schülern unterschied, die Rica bisher kennengelernt hatte. Als würden sie insgeheim auf alle anderen herabsehen. Und als versuchten sie ständig, den anderen einzuschätzen, abzuwägen, was er leisten konnte, ob er eine Konkurrenz darstellte und wie man diese Konkurrenz am besten ausschalten konnte.
Rica schüttelte den Kopf, das war doch Quatsch. Natürlich war das hier ein Internat, aber das hieß noch lange nicht, dass alle Schüler hier überhebliche Snobs waren. Oder? Sie bildete sich das bestimmt nur ein.
Wieder ließ sie den Blick über die Schülerschar schweifen. Man konnte jedoch nicht leugnen, dass alle hier besser angezogen waren, sich aufrechter hielten und die Nasen ein wenig höher trugen als bei ihr zu Hause. Rica guckte an sich herunter, auf das enge T-Shirt, die kurzen Hosen und Leggings – ihr Markenzeichen –, heute gelb und rot geringelt. Sie passte nicht hierher. Diese Welt von gut angezogenen und wohlerzogenen Mädchen und Jungen war nicht ihre. Einen Augenblick lang fühlte sie sich furchtbar einsam.
Doch dann entdeckte sie eine rote Mähne in der Menge. Eliza ging mit gesenktem Kopf an ihr vorbei, ohne sie zu sehen, den Blick auf den Boden gerichtet, die Schultern ein wenig hochgezogen, eine Pose, als erwartete sie im nächsten Moment Schläge. Rica zögerte nur einen Augenblick, bevor sie Eliza hinterherrannte.
»Hey, Eliza!«
Das andere Mädchen zuckte zusammen und blieb stehen. Sehr langsam drehte sie sich zu Rica um. Auf ihrem Gesicht lag solches Misstrauen, dass Rica ein wenig zurückwich. Aber jetzt hatte sie die andere schon auf sich aufmerksam gemacht.
»Sorry, ich hatte keine Ahnung, wo ich hinmuss«, stieß sie hervor. Eliza musterte Rica eindringlich. Warum ist sie denn so misstrauisch? Ich habe ihr doch gar nichts getan.
Plötzlich spielte ein leichtes Lächeln um Elizas Mundwinkel. »Zeig mal deinen Stundenplan!«, forderte sie Rica auf.
Rica zog ihn aus ihrem Rucksack heraus, strich ihn glatt und streckte ihn Eliza hin.
Eliza studierte den Zettel, als wären dort irgendwelche Staatsgeheimnisse verzeichnet. »Bio und Physik«, murmelte sie. Sie grinste. »Du bist in meiner Klasse, kannst einfach mitkommen.« Sie machte eine einladende Geste in die Richtung, in die sie gerade unterwegs gewesen war. Es sah so ungewöhnlich aus, dass Rica sich ein Lachen verkneifen musste.
»Cool. Machen wir so.«
Eliza wirkte seltsam erleichtert, als hätte sie eine andere Antwort erwartet. Sie nickte und wandte sich dann ab, um weiterzugehen. Sie schwieg, und irgendwie war dieses Schweigen so unangenehm, dass Rica begann, einfach loszuplappern, ohne richtig darauf zu achten, was sie eigentlich sagte. Eliza war einfach nur sehr ruhig und wirkte gefasst, und Rica kam sich fast wie ein kleines Kind vor, aber trotzdem konnte sie nicht aufhören zu reden, es war beinah wie ein Zwang.
Sie durchquerten die Eingangshalle – ein monströses Gebilde mit holzgetäfelten Wänden und einem Marmorfußboden, der mehr an ein altes Schloss als an eine Schule erinnerte. Dann bogen sie in einen Gang ab, der in den neueren Teil des Gebäudes führte. Der Unterschied war gravierend, fast als wären sie in eine neue Welt eingetaucht. Marmorboden und Holz an den Wänden machten glattem blauem Linoleum und einer gläsernen Fensterfront Platz, die den Blick auf einen winzigen Innenhof freigab. Ein paar verwilderte Büsche und dichtes Unkraut wucherten bis kurz vor die Glasscheiben und machten den Korridor trotz all der Fenster seltsam dunkel.
Dann bogen sie um eine Ecke – und fanden sich unter Wasser wieder. Zumindest war das der erste Eindruck, der sich Rica aufdrängte. Alles um sie herum war blau.
Sie blinzelte, sah etwas genauer hin. Der Gang, den sie jetzt betreten hatten, war komplett blau ausgeleuchtet. Das dunkle Licht erzeugte eine künstliche Dämmerung, die die Schüler im Gang nur verschwommen in Erscheinung treten ließ. Der Unterwassereffekt wurde noch verstärkt von verschlungenen blauen und grünen Linien, die sich über die ganze Seitenwand dahinzogen.
Neben sich hörte Rica Eliza leise lachen und drehte sich zu ihr um.
»Willkommen im Aquarium«, sagte Eliza und machte eine weit ausholende Geste, als gehöre ihr der ganze Trakt.
»Warum ist es so … blau?«, wollte Rica wissen.
Eliza zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich hat sich irgendjemand irgendetwas wahnsinnig Pädagogisches dabei gedacht. Genau weiß das niemand. Allerdings nervt es wohl auch nicht genug, um die Beleuchtung einfach auszutauschen. Und so ist es halt unser Aquarium.«
Rica kniff die Augen zusammen und ließ ihren Blick über Decken und Wände wandern. »Wenn das hier keine Schule, sondern ein Geheimlabor oder so etwas wäre, würde ich sagen, sie wollen mit diesem Licht irgendwas verbergen.« Der Gedanke gefiel ihr über alle Maßen, und sie musste grinsen. »Wer weiß, vielleicht sind hier überall Kameras versteckt, die uns heimlich filmen.«
Zu ihrer Überraschung wurde Eliza feuerrot und sah sich erschrocken um, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden.
»Quatsch«, sagte sie ziemlich ruppig. »Warum sollte jemand das tun. Ich meine, wer ist schon an heimlicher Knutscherei auf den Gängen interessiert?«
»Ich«, antwortete eine fröhliche Stimme hinter ihnen.
Elizas Gesichtsfarbe verfärbte sich noch mehr. Rica drehte sich um. Zwei Jungen standen direkt hinter ihnen. Zwei der drei Jungs vom Sportplatz gestern, Torben und Robin. Torbens Blick flog zwischen Eliza und Rica hin und her, blieb aber einen Moment länger an Eliza hängen. Robin tat unbeteiligt, während Eliza jetzt den Fußboden anstarrte, als wolle sie darin versinken. Ach verflixt, auffälliger kann sie es nicht machen? Wenn Rica jetzt nicht gleich etwas unternahm, würde Eliza sicher vor Scham sterben.
»Och, ich habe auch nichts gegen Knutscherei auf dem Flur«, sagte Rica so unbekümmert wie möglich. »Aber ich glaube nicht, dass du der Richtige dafür bist.«
»Warten wir’s ab, Rica Ringelblume«, entgegnete Torben, drängte sich an ihnen vorbei und zwinkerte dabei schelmisch. Eliza würdigte er keines weiteren Blickes, aber er streifte sie im Vorbeigehen wie zufällig.
Robin blieb noch einen Augenblick stehen und betrachtete Rica, plötzlich viel interessierter, als er es eben noch gewesen war. Rica wurde ein wenig warm, und sie spürte, wie auch ihr die Röte ins Gesicht zu steigen begann. Noch nie hatte jemand sie auf diese Weise angesehen – interessiert und gleichzeitig irgendwie bewundernd. Sie musste sich sehr zusammenreißen, um ihn nicht anzulächeln. Yannick, dachte sie. Ich werde dir nicht gleich am ersten Tag untreu werden. Dann musste sie doch grinsen. Vielleicht später? Du bist schon eine Nummer, Rica.
Aber bevor sie irgendwas zu Robin sagen konnte, schob er sich ebenfalls an ihnen vorbei und folgte Torben. Eliza sah den beiden mit einem sehnsüchtigen Ausdruck hinterher. Als sie sich wieder zu Rica umwandte, runzelte sie unsicher die Stirn.
In einem plötzlichen Anfall von Hellsicht wurde Rica klar, was in Elizas Kopf vorgehen musste. »Keine Angst«, sagte sie.
»Was?« Elizas Augen formten sich zu Schlitzen.
»Keine Angst. Ich hab schon einen Freund. Außerdem …« Rica nickte in die Richtung, in die Torben verschwunden war. »Ist er gar nicht mein Typ.« Sie grinste, und Eliza musste nun auch schmunzeln.
Robin dagegen … Nein, nicht mal daran denken!
»Bin ich so leicht zu durchschauen?« Die Röte war noch nicht ganz aus Elizas Wangen gewichen.
»Darling, deine Augen sprechen Bände.« Rica zwinkerte ihr zu und gab ihr einen leichten Stups gegen den Oberarm. »Warum geht ihr nicht mal zusammen weg? Oder macht man das hier nicht? Dürft ihr überhaupt runter vom Gelände?« Sie sah sich um und verdrehte gespielt dramatisch die Augen, in der Hoffnung, Eliza damit zum Lachen zu bringen.
Doch die sah fast schon wieder etwas ängstlich aus. »Das ist doch kein Gefängnis«, antwortete sie und begann, eine kleine Treppe auf der linken Seite des Ganges hinaufzusteigen. »Es ist nur ein Internat.«
»Ich war halt noch nie auf einem Internat.« Rica nahm immer zwei Stufen auf einmal. »Alles, was ich kenne, ist eine kleine, schmuddelige Stadtschule und lauter Leute, mit denen ihr hier bestimmt nicht tot gesehen werden wollt.« Sie bemühte sich immer noch um einen lockeren Tonfall, um Eliza wenigstens ein bisschen aus der Reserve zu locken. Aber die sah immer noch verschlossen und ein wenig eingeschüchtert aus.
»Nach der Hausaufgabenzeit haben wir Freizeit bis zum Abendessen«, sagte sie sachlich und ein wenig kühl. »Selbstverständlich dürfen wir dann auch in die Stadt gehen. Allerdings müssen wir uns vorher abmelden. Und es müssen immer mindestens zwei zusammen gehen.«
Rica verzog das Gesicht. »Ist ja ätzend. Und eine Stadt kann man das Kaff hier ja wohl auch nicht nennen.«
»Kommt drauf an, woher man kommt.« Eliza schob die Tür am oberen Ende der Treppe auf, und sie betraten einen modern aussehenden Vorlesungssaal, der mit allem ausgestattet war, was sich ein Forscherherz wohl nur wünschen konnte. Während Eliza sich völlig selbstverständlich einen Platz recht weit hinten aussuchte und ihren Sitz aufklappte, schaute Rica sich erst mal staunend um.
Auf mehreren Tischen am unteren Ende des Saales waren Experimente aufgebaut worden – größtenteils geräumige Terrarien mit irgendwelchen Viechern darin, milde ausgeleuchtet von einem ruhigen grünen Licht. Unter einer großen Glasglocke befand sich sogar ein vollständiger Ameisenhaufen, auf dem in regelmäßigen Abständen kleine graue Klumpen verteilt lagen, die selbst von hier hinten verdächtig nach toten Mäusen aussahen.
An der Frontseite des Raumes waren mehrere Plasmabildschirme eingelassen, momentan zwar alle ausgeschaltet, aber sichtlich bereit, Wissen in die leeren Köpfe der Schüler zu übertragen. Auf dem Lehrerpult standen einige Laptoptaschen, und noch während Rica hinsah, ging eine blonde Schülerin darauf zu und nahm sich eine von ihnen. Andere Schüler holten ihre eigenen Notebooks aus den Schultaschen und klappten sie auf.
Was für eine Luxusanstalt! Rica ließ sich auf den Platz neben Eliza fallen und pfiff leise durch die Zähne. »Die Ausstattung ist schon mal nicht schlecht«, murmelte sie Eliza zu. »Viel besser als bei uns zu Hause, muss ich schon sagen.«
Eliza schaute auf, und sie sah überrascht aus. Rasch ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen, als fragte sie sich, was Rica wohl meinen mochte. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Magst du Bio …«, begann sie, wurde jedoch unterbrochen, weil eine kleine Frau mit rabenschwarzen kurzen Haaren in den Raum trat. Die gemurmelten Gespräche verstummten sofort. Rica zog verwundert die Augenbrauen hoch. So eine Reaktion auf den Eintritt eines Lehrers war ihr noch nie untergekommen. Sie warf Eliza einen Seitenblick zu, doch die war gerade dabei, ebenfalls ein Laptop aus ihrem Rucksack zu holen. Rica drehte sich wieder nach vorn und betrachtete die Lehrerin. Sie sah cool aus, soweit man das überhaupt von einer Lehrerin sagen konnte. Rica war gespannt, wie sie den Unterricht angehen würde. Sie setzte sich auf ihrem Stuhl zurecht und holte ihren Collegeblock aus der Schultasche. Dann wollen wir mal sehen.
»Sag mal, Jo hat nicht übertrieben, oder? Du bist wirklich ein Genie.« Rica trottete neben Eliza her in Richtung Mensa. Sechs scheinbar unendliche Unterrichtsstunden lang hatte sie treu neben Eliza ausgeharrt und ausreichend Gelegenheit gehabt, ihre Leistungen zu bewundern. Es war beinah schon unheimlich, wie leicht Eliza alles zu fallen schien. Rica war sich geradezu dämlich vorgekommen. Und dabei hatte sie bisher eigentlich immer gedacht, dass sie gar nicht so dumm wäre. Sie hätte sogar richtig gut in der Schule sein können, wenn sie nicht so stinkfaul gewesen wäre.
»Ich bin kein Genie.« Eliza schüttelte den Kopf. »Lernen fällt mir nur nicht schwer.«
»Und wo ist da jetzt der Unterschied?«, erwiderte Rica. »Gibt es eigentlich ein Fach, in dem du schlechter bist als Eins minus?« Sie hatte einen unauffälligen Blick auf Elizas Hausarbeiten werfen können, die sie über die Ferien angefertigt hatte.
Eliza biss sich auf die Unterlippe. »Sport«, sagte sie. »Da habe ich eine Zwei. Und Management. Darin bin ich ganz schlecht.«
»Management?« Rica zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Das ist ein Schulfach?«
»Ein Wahlfach«, murmelte Eliza. »Man kann es besuchen, muss man aber nicht. Es soll einen auf eine spätere Karriere in leitenden Positionen vorbereiten.«
»Und warum nimmst du es, wenn du nicht gut darin bist?«
Eliza machte ein verlegenes Gesicht. »Es ist eine der Bedingungen für mein Stipendium. Eigentlich können sich meine Eltern das Schulgeld hier überhaupt nicht leisten, aber ich habe ein Stipendium erhalten. Es gibt halt ein paar Bedingungen, die daran geknüpft sind. Management-Kurse, mindestens drei Fremdsprachen …«
Wusste ich doch, dass hier etwas nicht ganz richtig ist. Was für ein elitärer Haufen aber auch, dachte Rica.»Sie schreiben dir Kurse vor, die dir überhaupt nicht liegen? Ist das nicht blödsinnig? Stipendien sind doch dafür da, deine Stärken zu fördern.«
»Ach, Sprachen sind gar nicht so schlimm.« Eliza zuckte wieder mit den Schultern und packte dann Ricas Arm. »Komm schon, wenn wir nicht rechtzeitig beim Essen sind, bekommen wir nichts mehr und müssen bis zum Abend warten. Und ich habe total Hunger.«
Auf dem restlichen Weg zur Mensa sah Eliza Rica nicht mehr an, und Rica verkniff sich jeden weiteren Kommentar. Aber ihre Gedanken überschlugen sich weiter, Eliza schien nämlich durchaus nicht die Einzige zu sein, die hier außergewöhnlich gute Noten hatte. Ob das alles nur daran liegt, dass es ein Internat ist?
»Ihr seid schon eine ziemlich seltsame Schule, wisst ihr das?«, meinte Rica schließlich, als Eliza die Tür zur Mensa aufschob und ihnen ein Schwall Essensduft entgegenschlug. Rica vergaß ihre Frage und sah sich verwundert im Raum um. Die Mensa war groß und sehr hell, drei der Wände in kräftigen bunten Farben gestrichen, die vierte eine Fensterfront, die direkt auf den Park hinausführte. Überall gab es riesige Topfpflanzen, und die Tische und Stühle standen in gemütlichen, kleinen Sitzgruppen zusammen. Es wirkte mehr wie ein Restaurant als eine Kantine. Und von dem langen Tresen an der linken Seite schwebte ein verführerischer Duft nach gegrilltem Fleisch zu ihnen herüber.
Rica sog den Essensgeruch ein wie ein hungriger Schäferhund. »Riecht gut«. Sie spürte, wie sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln ausbreitete. Das war mal ein guter Service.
Eliza lachte. »Warte es ab. Wenn du zum hundertsten Mal Cordon Bleu hattest, wirst du anders darüber denken. Der Speisesplan wiederholt sich alle paar Wochen.«
Rica runzelte die Stirn. »Klingt jetzt nicht so schlimm.«
»Das habe ich am Anfang auch gesagt.« Eliza grinste, dann griff sie nach Ricas Arm und zog sie zu dem langen Tresen. Rica folgte ihr gehorsam, konnte aber nicht umhin, sich dabei im Raum umzusehen. Sie suchte Robins Gesicht in der Menge, oder vielleicht wenigstens Jo, irgendjemand Bekanntes eben. Aber es waren zu viele Schüler anwesend, sie konnte niemanden unter ihnen ausmachen.
Eliza schnappte ein Tablett von einem Stapel und drückte es Rica in die Hand, bevor sie sich selbst auch eins nahm. Dann schob sie Rica sanft in Richtung Essensausgabe. Rica gab es auf, den Raum nach Robin abzusuchen, und stellte sich folgsam in die Schlange. Vor ihnen in der Reihe stand ein Haufen kichernder Unterstufler, die sich unbeschwert über irgendwelche Pokémon-Karten austauschten. Eliza betrachtete sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck, als beneidete sie die Kinder. Als wünschte sie sich, auch noch einmal so jung und unbeschwert zu sein. Da passierte es.
Rica konnte später nicht genau sagen, wie es eigentlich angefangen hatte. Sie wollte gerade Eliza ansprechen, als irgendwo neben ihr etwas mit einem ohrenbetäubenden Klirren auf dem Boden aufschlug. Das allein wäre noch nicht besonders auffällig gewesen – sie waren in der Kantine einer Schule, Rica erwartete, dass hier das ein oder andere zu Bruch ging. Doch dem Klirren folgte ein wildes Geschrei, das Rica zusammenzucken ließ.
Eigentlich war es eher ein Aufheulen wie von einem wilden Tier, das jemand bis aufs Blut gereizt hatte. Rica wirbelte herum, genauso wie Dutzende andere Schüler. Ein Stück weiter vorn hatte sich ein Knäuel von Schülern um etwas – oder jemanden – versammelt, das Rica nicht erkennen konnte.
Und das Geschrei drang mitten aus dem Knäuel. Irgendjemand brüllte etwas, Worte, die über den hysterischen Tonfall überhaupt nicht zu verstehen waren. Rica konnte aus den Augenwinkeln die ersten Kantinenmitarbeiter sehen, die versuchten, von hinter der Theke an den Ort des Geschehens zu kommen.
Einen kurzen Augenblick lang fühlte sie sich wie gelähmt, konnte keinen Finger bewegen, doch dann schoss sie vorwärts, geradewegs auf die Gruppe von Schülern zu. Sie achtete nicht einmal darauf, ob Eliza ihr folgte, so sehr war sie auf die Schüler vor ihr fixiert. Da bringen sich welche um, war der Gedanke, der ihr durch den Kopf ging. Sie hasste Prügeleien. Sie hasste Gewalt, aber wann immer sie sie verhindern wollte, schien sie in Schlägereien zu geraten. Manche Lehrer hatten ihr deswegen unnötige Aggression unterstellt.
Das Geschrei wurde lauter. Ohne Rücksicht auf die Umstehenden drängte Rica sich durch die Menge und scheute sich nicht, dabei auch ihre Ellbogen einzusetzen. Als sich ihr ein besonders großer, massiger Schüler in den Weg stellte, funkelte Rica ihn nur von unten herauf an, packte dann seinen Pullover auf der Vorderseite und zog den Kerl einfach aus dem Weg. Er war so verblüfft, dass er sich nicht einmal wehrte.
»Sofort aufhören!« Rica schrie schon los, bevor sie überhaupt einen Überblick darüber hatte, was vor sich ging. Dann nahm sie sich kurz die Zeit, die Situation zu durchschauen.
Eine Oberstuflerin – groß, trainiert und mit langen blonden Haaren – hatte sich einen der Unterstufler geschnappt und in den Schwitzkasten genommen. Nein, nicht nur in den Schwitzkasten, sie drückte ihm ihren Unterarm so fest über den Hals, dass der Junge schon bläulich angelaufen war und sichtbar nach Luft schnappte. Das Mädchen schrie und heulte in einem fort, aber es waren keine Worte zu verstehen. Als hätten Wut und Schmerz sie aller menschlichen Sinne beraubt, kreischte sie einfach vor sich hin. Ihr Gesicht hatte sich zu einer Grimasse aus Wut verzogen. Rote Spritzer überzogen ihre blütenweiße Jeans. Scheiße, Blut!
Aber urplötzlich entdeckte Rica noch etwas: Ein Tablett lag umgekippt auf dem Fliesenboden, umgeben von Essensresten, Scherben und einer dunkelroten Flüssigkeit. Traubensaft. Sie spürte ein hysterisches Kichern in sich aufsteigen und schluckte es hinunter. Niemand war verletzt worden. Noch nicht.
Rica sprang vorwärts.
* * *
Eliza war wie erstarrt. Sie wollte nicht hinsehen, aber gleichzeitig gelang es ihr nicht, den Blick abzuwenden. Janina. Kais Janina … Was tut sie denn da nur? Noch nie hatte sie Janina so wütend gesehen. Um genau zu sein, auch sonst niemanden. Janinas Augen funkelten, und es fehlte gerade noch, dass sie Schaum vorm Mund hatte wie ein tollwütiger Hund.
Ich müsste etwas tun, aber ich kann nicht. Ich kann nicht. Ich bin genauso unfähig wie alle anderen hier.
Rica sprang wie ein Kobold um das viel größere Mädchen herum und versuchte verzweifelt, es zu packen zu bekommen. Dabei schrie sie immer wieder »Aufhören!«. Doch Janina reagierte überhaupt nicht. Auch nicht, als schließlich ein zweiter Oberstufler dazutrat und probierte, sie von dem kleinen Jungen wegzuziehen. Das Kind hing inzwischen schlaff in Janinas Armen, und seine Tritte wurden immer schwächer. Der Anblick löste irgendetwas in Elizas Innerem aus. Wärme durchflutete sie, und einen Moment lang fühlte sie sich richtig mutig.
»Janina!« Noch bevor sie überlegen konnte, noch bevor sie irgendeine bewusste Entscheidung treffen konnte, war Eliza an der Seite der Kämpfenden. Rica hatte inzwischen ihren wilden Tanz aufgegeben und stand lauernd da, wie eine Katze, die bereit war zu springen, wenn die Beute in ihre Reichweite kam.
»Janina! Aufhören!« Elizas Stimme ging in dem allgemeinen Tumult unter. Sie war noch nie jemand gewesen, der besonders gut schreien konnte. »Janina!« Sie begann, sich langsam dem kämpfenden Pärchen zu nähern, doch das war gar nicht so einfach, denn Janina drehte sich unaufhörlich von einer Seite zur anderen, gewillt, den Unterstufler zwischen sich und die übrigen Schüler zu halten, und trat aus, wenn man ihr zu nahe kam.
»Halt sie fest!«, schrie Rica dem Oberstufenschüler zu. »Halt sie doch einfach fest!« Doch auch er konnte nichts ausrichten. Janina schien Riesenkräfte entwickelt zu haben und schüttelte seinen Griff ab, wie ein Pferd eine lästige Fliege wegzuckt. Immer noch schrie sie so laut, dass Eliza die Ohren wehtaten.
Also gut, also gut. Ich muss etwas tun. Ich muss, auch wenn es mir nicht gefällt, aber …
Nein, jetzt war keine Zeit, lange zu überlegen. Eliza schloss die Augen und atmete zwei, drei Mal tief ein und aus. Ihre Hände zitterten, ob vor Aufregung oder vor Angst, wusste sie nicht. Sie konzentrierte sich, fühlte nach der richtigen Stimmung. Es brachte nichts, wenn sie Angst hatte. Angst würde Janina nur noch mehr verunsichern. Ruhe, das war es, was sie ihr vermitteln musste. Ruhe, Ausgeglichenheit, Vernunft.
Himmel, ich habe doch so etwas noch nie gemacht. Zumindest nicht bewusst. Eine kleine, leise, verzweifelte Stimme in ihren Gedanken. Doch eine andere, kräftigere antwortete sofort: Aber du musst. Jetzt musst du. Sie biss sich auf die Unterlippe und stellte sich die Stimmung vor. Ruhe. Ein Wald voller Sommerduft nach trockenem Laub und feuchtem Moos. Fliegen, die in goldenen Sonnenstrahlen tanzten. Vögel in den Ästen, die unsichtbar durch das Laubwerk huschten und ab und zu einen hellen Ruf ausstießen. Das Summen der Insekten, ein träumerisch dahinwanderndes Reh in einiger Entfernung. Ein leichter Lufthauch, der die Farne streichelte, und immer wieder der Geruch, der Geruch nach Sicherheit und Wärme und Sommer. Eine Erinnerung an Elizas Kindheit, die ihr immer wieder Ruhe und Frieden vermittelte. Hoffentlich würde es auch bei Janina wirken.
Noch ein tiefer Atemzug, dann öffnete Eliza die Augen und machte rasch zwei Schritte vorwärts, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Sie hatte Glück. Oder vielleicht hatte Janina sie nicht als ernsthafte Gegnerin wahrgenommen, jedenfalls reagierte sie erst viel zu spät auf Elizas Bewegung. Sie versuchte noch, den Schüler zwischen sie beide zu bringen, war aber nicht schnell genug. Schon hatte Eliza die Hand nach Janinas Arm ausgestreckt und ihn berührt. Nur ein leichtes Streifen mit den Fingerspitzen über den weichen Stoff ihres T-Shirts, eine ganz flüchtige Berührung, die das größere Mädchen eigentlich überhaupt nicht spüren konnte.
»Janina, beruhige dich!«, flüsterte sie. Sie wusste nicht, ob die Worte notwendig waren, aber sie halfen ihr selbst, sich darauf zu besinnen, was sie eigentlich vermitteln wollte. »Ganz ruhig, Janina.« Als wäre sie ein krankes Pferd oder ein wilder Hund, den es zu beruhigen galt.
Es funktionierte nicht. Jedenfalls nicht so, wie Eliza sich das vorgestellt hatte. Janina stockte kurz, ihre Augen wurden weit, und ihre Muskeln entspannten sich, dann jedoch kehrten die Wut und die Panik in ihre Züge zurück, und sie verstärkte ihren Griff um den Hals des Unterstuflers wieder.
Doch der winzige Augenblick, in dem sie nachgelassen hatte, reichte Rica. Kaum hatte sie gesehen, dass Janina unaufmerksam wurde, schoss sie nach vorn und sprang das Mädchen an. Sie klammerte sich an ihre Schultern und riss sie mit ihrem ganzen Gewicht und Schwung rückwärts. Janina keuchte, taumelte ein paar Schritte nach hinten und hörte endlich auf, wie am Spieß zu brüllen. Sie ließ den Unterstufler fallen und rang mit wild rudernden Armen um ihr Gleichgewicht, bevor sie endgültig umkippte und Rica dabei unter sich begrub.
Der kleine Junge fiel vorwärts, und Eliza gelang es gerade noch, vorzuspringen und ihn festzuhalten, bevor er auf dem Boden aufschlug. Zuerst schien er nicht mal bei Bewusstsein zu sein, und Eliza fürchtete, dass er wirklich tot war, doch dann merkte sie, wie sich seine schmale Brust unter ihren Fingern leicht hob und senkte. Gleich darauf schlug er die Augen auf und begann, fürchterlich zu husten. Über seine Wangen rannen Ströme von Tränen, seine Nase lief, und vor lauter Schluchzen brachte er kein Wort hervor. Eliza konnte nichts anderes tun, als auf dem Boden zu kauern, ihn fest in ihren Armen zu halten und zu beruhigen. Ganz unbewusst kamen ihr dabei wieder die Waldbilder in den Sinn, die Stille und der Sonnenschein über den trockenen Blättern und der Geruch nach Herbst.
»Alles wird gut, alles wird gut«, wiederholte sie immer wieder und strich beinah mechanisch über seine kurzen Haare. Am Rande ihres Bewusstseins nahm sie wahr, wie sich die Klassenkameraden des Jungen um sie scharten, hörte ihre hellen, aufgeregten Stimmen, bemerkte, wie Janina und Rica sich auf die Beine kämpften und gegenseitig wütend anfunkelten, hörte eilige Schritte näher kommen – aber all das konnte sie gar nicht richtig berühren. Sie saß da, dachte an den Wald, hielt den Jungen fest und konzentrierte sich darauf, seinen Atem zu kontrollieren und seine Tränen zum Versiegen zu bringen.
* * *
»Was ist hier los?«
Die Stimme drang nur wie durch Watte an Ricas Ohren, und einen Moment lang glaubte sie, nicht antworten zu müssen. Gleich darauf blickte sie auf, direkt in das Gesicht von Frau Jansen, die vor ihr und dem älteren Mädchen aufragte wie ein Riese. Hastig rappelte Rica sich auf, klopfte sich Dreck von der Hose und warf einen schnellen Blick auf ihre Sparringpartnerin und auf Eliza, die noch immer mit dem Jungen auf dem Boden kauerte. Sie hatte einen seltsam abwesenden Gesichtsausdruck angenommen, als sei sie zusammen mit dem Jungen in einer Seifenblase eingeschlossen, die nichts von der Außenwelt an sie heranließ.
»Dieses Mädchen hat mich angegriffen!« Die Oberstufenschülerin hatte sich ebenfalls erhoben und zeigte nun anklagend auf Rica. Ihre Unterlippe war aufgesprungen, und Blut lief in einem feinen Faden ihr Kinn hinunter, aber sie beachtete es gar nicht. Es ließ sie sehr wild aussehen.
»Ich habe gar nichts gemacht, nur diesem Jungen da geholfen«, protestierte Rica und zeigte auf Eliza und den Unterstufler. Die beiden schienen noch immer nichts von all dem Krach um sie herum mitzubekommen. Eliza strich dem Jungen übers Haar, als streichele sie einen Hund oder ein sehr kleines Kind. Der Junge hustete ab und zu, sah aber längst nicht mehr so panisch aus wie zuvor. Er kauerte vor Eliza, hatte den Blick fest auf sie gerichtet und wirkte, als sei er vollkommen auf sie konzentriert. Er sieht aus wie unter Drogen.
»Er hat angefangen. Hat mir das Tablett aus der Hand –« Doch Rica achtete nicht mehr auf die Worte der Oberstuflerin. Sie betrachtete Eliza. Was um Himmels willen tat die da mit dem Jungen? Wie hatte sie ihn so ruhig bekommen? Und wie hatte sie vorhin die Oberstuflerin abgelenkt? Denn Rica hätte sie niemals überraschen können, wenn sie nicht unaufmerksam gewesen wäre, da war sie sich sicher. Irgendetwas Seltsames ging hier vor sich. Und egal, was es war, Rica fand es verdammt unheimlich …
Eine harsche Stimme unterbrach ihre Gedanken. »Tom, geh zum Schularzt. Philipp wird dich hinbringen! Eliza …« Frau Jansen brachte den Satz nicht zu Ende, doch Eliza blickte zum ersten Mal auf, als sei sie gerade erst erwacht.
Auch Rica sah nun wieder zu Frau Jansen. Die Therapeutin hatte mit einer Hand Janinas Arm gepackt und trat nun auch auf Rica zu. Sie wollte zurückweichen, doch Frau Jansen war schneller. Wie ein Schraubstock schloss sich ihre Hand um Ricas Oberarm. Der Griff war so fest, dass ihr Tränen in die Augen traten, aber sie schluckte sie hinunter und bemühte sich um eine unbeteiligte Miene. Niemand hier sollte sie weinen sehen. Seltsam war nur, dass Janina im Griff der Therapeutin hing wie eine leblose Puppe. Aller Kampfgeist war aus ihr gewichen, und sie sah nicht einmal auf. Es war kaum zu glauben, dass es sich um das gleiche Mädchen handelte, das gerade beinah einen Schüler umgebracht hätte.
»Mit dir werde ich später noch reden, Eliza. Gut gemacht!«, sagte Frau Jansen etwas sanfter, dann sah sie wieder von Janina zu Rica. »Mit den beiden Damen hier werde ich mich jetzt sofort unterhalten.« Und damit drehte sie sich um und zog die beiden Mädchen aus der Kantine. Das Letzte, was Rica sah, war Robins Gesicht in der Menge der zusehenden Schüler.
Kapitel drei
Frau Jansen
Während Frau Jansen sie den Flur entlangzerrte, verfluchte Rica sich im Stillen. Am ersten Schultag schon in Schwierigkeiten zu geraten! Ihre Mutter würde ausrasten, wenn sie davon hörte. Aber was hätte Rica denn tun sollen? Zusehen, wie Janina vor ihren Augen einen Jungen umbrachte? Alle anderen schienen das für die richtige Reaktion gehalten zu haben. Niemand außer ihr, diesem einen Jungen und Eliza hatte sich getraut, einzugreifen.
Eliza …
Rica konnte immer noch nicht genau sagen, was da eben passiert war, sie war zu sehr darauf konzentriert gewesen, Janina unter Kontrolle zu bekommen. Aber wie hatte Eliza es nur geschafft, zu Janina durchzudringen, wo diese doch so offensichtlich von Sinnen war?
»Lassen Sie mich bitte los. Ich laufe schon nicht davon.« Langsam begann der Griff von Frau Jansen um ihren Oberarm richtig wehzutun. Rica wurde nicht gern durch die Gänge geschleift wie ein ungezogenes Kleinkind.
Frau Jansen schenkte ihr einen abschätzigen Blick, doch dann lockerte sie ihren Griff tatsächlich so weit, dass Rica sich losmachen konnte. Rica verzog das Gesicht und massierte vorsichtig die Stelle, an der sie Frau Jansen gepackt hatte. Wetten, dass sie da einen blauen Fleck bekam? Sie sah vermutlich jetzt schon aus wie ein jugendliches Vergewaltigungsopfer.
Rica bemerkte, dass Frau Jansen Janina nicht losließ. Vielleicht hätte das Mädchen ohne ihre Hilfe aber auch gar nicht mehr stehen können. Seit dem Ende des Kampfes schien alle Energie aus ihr gewichen zu sein, und sie setzte teilnahmslos einen Fuß vor den anderen wie ein Roboter.
»Mein Büro ist ganz oben«, sagte Frau Jansen. »Hier entlang!« Sie führte Rica durch die pompöse Eingangshalle zu einer altmodisch erscheinenden Fahrstuhlkabine, komplett mit einem faltbaren Gitterrost, den man hinter sich zuziehen konnte. Rica starrte die Konstruktion verblüfft und ein wenig misstrauisch an. Sie kannte solche Dinger nur aus amerikanischen Filmen, und in denen neigten sie mit schöner Regelmäßigkeit dazu, abzustürzen, auszufallen oder sonst etwas zu tun. Manchmal verbargen sich auch Monster in ihren dunklen Schächten. Monster, die nur darauf lauerten, dass sich jemand in die Kabinen wagte. Allein der Anblick des Fahrstuhls ließ Ricas Brust eng werden, und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
»Ich gehe lieber zu Fuß«, murmelte sie und wich einen Schritt von der Kabine zurück. Frau Jansens Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und Rica glaubte schon, dass sie ihr befehlen würde, zu ihr und der Zombie-Janina in die Kabine zu steigen, doch dann nickte sie.
»Ganz oben«, wiederholte sie. »Zimmer 527. Und wenn du nicht auftauchst, werde ich deiner Mutter und dem Direktor Bescheid geben.«
Rica zuckte mit den Schultern. Sie hatte ohnehin nicht vorgehabt abzuhauen. Was würde das schon bringen? Und besser, sie erhielt ihre Standpauke von einer Therapeutin als vom Direktor, oder? So wurde immerhin ihre Mutter erst mal außen vor gelassen.
»Bis gleich dann«, sagte sie, während Frau Jansen das Gitter zuzog. Sie bekam keine Antwort. Sie wartete ab, bis sich die Fahrstuhlkabine ruckelnd aufwärtsbewegte, dann wandte sie sich der breiten Treppe neben dem Schacht zu und machte sich an den Aufstieg.
Die Schule wirkte hier wie ausgestorben, die meisten Schüler waren jetzt wahrscheinlich beim Essen, oder der alte Teil der Schule war nur Lehrern und Betreuern vorbehalten.
Die Treppe bestand aus altem dunklem Holz, das mit irgendwas poliert worden war, das es noch älter riechen ließ. Ob man Holzpolitur extra mit diesem antiken Geruch ausstattete, um alles, was man damit behandelte, ehrwürdiger wirken zu lassen? Die Stufen quietschten leise unter Ricas Füßen, und das Geländer war so glatt und abgewetzt, als hätten Hunderte, wenn nicht Tausende von Händen es täglich immer wieder berührt. Wahrscheinlich bauen sie solche Treppen nur, um die Schüler einzuschüchtern, die hier zu ihren therapeutischen Sitzungen gehen müssen, dachte Rica, während sie eine Stufe nach der anderen emporstieg. Sie fühlte sich furchtbar erschöpft, als hätte sie gerade einen Marathonlauf hinter sich gebracht.
Bilder säumten den Treppenaufgang. Zuerst beachtete Rica sie gar nicht, es waren die üblichen Klassenfotos von vergangenen Jahrgängen dieser Schule. Doch als sie sich zum zweiten Stockwerk hochgearbeitet hatte, war die Monotonie des Treppensteigens so unerträglich geworden, dass sie beinah, ohne es zu merken, die Fotos zu studieren begann.
»Daniel-Nathans-Akademie, Abschlussjahrgang2005, Abschlussjahrgang2004, Abschlussjahrgang 2003 …