Optimum - Purpurnes Wasser - Veronika Bicker - E-Book

Optimum - Purpurnes Wasser E-Book

Veronika Bicker

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Beschreibung

Das Warten hat ein Ende. Endlich ist es so weit. Nur für euch gibt es jetzt den dritten und letzten Band der mörderspannenden "Optimum"-Trilogie von Veronika Bicker exklusiv als E-Book. || Wird es Rica gelingen, das Geheimnis der Daniel-Nathans-Akademie zu lüften? Bei der Suche nach der Wahrheit kommen Dinge ans Tageslicht, die Rica an ihrer eigenen Identität zweifeln lassen. || Ein furioses Finale der mitreißenden Thriller-Trilogie über skrupellose Genforscher, das den Leser erschauern lässt!

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Seitenzahl: 448

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Inhalt

Titel

Widmung

Kapitel eins – Zurück

Kapitel zwei – Pläne

Kapitel drei – Blut

Kapitel vier – Rätsel

Kapitel fünf – Neue Gefahren

Kapitel sechs – Antworten

Kapitel sieben – Ertappt

Kapitel acht – Eingesperrt

Kapitel neun – Flüchtling

Kapitel zehn – Aufbruch

Kapitel elf – Maulwurf

Kapitel zwölf – Halbwahrheiten

Kapitel dreizehn – Allein

Kapitel vierzehn – Psycho

Kapitel fünfzehn – Insider

Kapitel sechzehn – Das Institut

Kapitel siebzehn – Infiltration

Kapitel achtzehn – Festgesetzt

Kapitel neunzehn – Vergebliche Flucht

Kapitel zwanzig – Ausgeliefert

Kapitel einundzwanzig – Ende gut?

Epilog

Danksagungen

Über die Autorin

Impressum

Für Conny, meine tatkräftige Muse

Kapitel eins

Zurück

Robins Mutter hatte verboten gute Laune, als sie das Auto die Auffahrt der Daniel-Nathans-Akademie hinauf lenkte. Als könnte sie es nicht erwarten, uns endlich los zu werden. Rica saß auf dem Rücksitz und starrte aus dem Fenster. Sie fühlte sich fatal an den Tag im letzten September erinnert, an dem sie zum ersten Mal an diese Schule gekommen war. Auch wenn sie dieses Mal wusste, was sie erwartete, fühlte sie sich nicht besser.

»Ihr seid sicher erleichtert, wenn ihr wieder unter euch seid«, zwitscherte Frau Wittich in dem übertrieben hohen Tonfall, den sie die ganze Woche über angeschlagen hatte. Rica wusste immer noch nicht, wie sie darauf reagieren sollte, aber er ging ihr dermaßen auf die Nerven, dass sie tatsächlich froh war, wieder zur Schule zurückzukehren. Sie wünschte, sie könnte ein paar Worte mit Robin wechseln, doch der saß vorne neben seiner Mutter und starrte ebenfalls aus dem Fenster.

Die Woche bei den Wittichs hatte Entspannung sein sollen. Rica hatte sich darauf gefreut, ein paar Tage nur mit Robin verbringen zu können. Über all das nachdenken, was passiert war. Neue Energie tanken. Und nicht zuletzt wollte sie Robin mal ganz für sich allein haben. Ohne andere Schüler, ohne nervtötende Lehrer, ja sogar ohne ihre beste Freundin um sich.

Aber der Plan war gründlich fehlgeschlagen. Nicht nur, dass Simon am ersten Tag am laufenden Band rumgenervt hatte, nein, die ganze Zeit war Frau Wittich um Rica und Robin herumgewuselt und hatte sie behandelt, als wären sie das nächste königliche Ehepaar. Kaum eine Minute hatten sie miteinander allein sein können. Und dabei hatte Rica nicht mal das Gefühl, dass Robins Mutter sie besonders mochte. Wenn sie glaubte, dass Rica nicht aufpasste, warf sie ihr immer wieder höchst skeptische Blicke zu.

Ich bin nicht gut genug für ihren Sohn, das ist klar. Und dass ich ihr liebes Schätzchen Simon in Schwierigkeiten gebracht habe, macht es nicht besser.

Robins kleiner Bruder Simon war am zweiten Tag gemeinsam mit ihrem Vater zu einem »Spezialisten« gefahren, und danach nicht wieder aufgetaucht. Rica hatte das Gefühl, dass Frau Wittich ihr die Schuld daran gab.

Alles in allem war es nicht gerade der Urlaub gewesen, den Rica sich gewünscht hatte, und so war es ihr auch nicht gelungen, ihre Gedanken zu ordnen.

»Ah, da sind wir schon«, sagte Frau Wittich. Sie lenkte den Wagen um die letzte Kurve und hielt nur kurz an, um darauf zu warten, dass das Tor zurückgerollt wurde. Rica hatte das starke Bedürfnis, einfach aus dem Wagen zu springen und davonzulaufen.

Wenn ich erst einmal wieder hier drin bin, lassen sie mich vielleicht nicht mehr fort.

Robin auf dem Vordersitz drehte sich um und schüttelte beinah unmerklich den Kopf. Rica konnte seine Stimme fast hören: »Alles wird gut. Mach dir keine Gedanken.« Das war die ganze Woche über sein Mantra gewesen. Rica wusste, dass er es gut meinte, aber allmählich konnte sie es nicht mehr hören. Dennoch schenkte sie Robin ein schwaches Lächeln. Sofort runzelte er die Stirn. Er kannte sie zu gut und wusste, wenn sie ihm etwas vorspielte. Rica verdrehte die Augen und winkte ab. Sie konnten später darüber reden.

Kies knirschte unter den Reifen des Autos, als Frau Wittich es schwungvoll in Richtung der Schülerunterkünfte lenkte und auf dem Parkplatz anhielt. Im nächsten Augenblick war sie auch schon draußen und begann, Gepäck auszuladen.

Vermutlich hat sie nicht vor, mich bis vor die Haustür zu bringen. Mit steifen Beinen kletterte Rica aus dem Auto, und streckte sich. Die Fahrt war lang gewesen. Sie hätte es vorgezogen, mit der Bahn zu fahren, doch Robins Mutter hatte darauf bestanden, sie den ganzen Weg im Auto zu bringen. Rica hatte das Gefühl, ihre Gelenke müssten quietschen und knacken. Sie dehnte sich und blinzelte ins Sonnenlicht, das nach der langen Fahrt mit getönten Scheiben schrecklich grell wirkte.

Das Schulgelände lag friedlich da. Sonntagnachmittag war die Zeit, die die meisten Schüler dazu nutzten, ihre eigenen Wege zu gehen, und selbst der Park war verwaist. Die Stille ließ die Umgebung nur noch unheimlicher wirken, und obwohl die Sonne schien, schauderte Rica.

»Alles klar?«

Rica zuckte zusammen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, aber natürlich war es nur Robin.

Sie zuckte mit den Schultern und warf einen bedeutsamen Blick zu seiner Mutter hinüber, die begonnen hatte, Reisetaschen in Richtung Eingang zu schleppen.

»Ich hätte nur gedacht, dass hier vielleicht eine Art Empfangskomitee auf uns warten würde«, murmelte sie halblaut. »Ich meine, nach der Geschichte in der Skihütte. Aber das scheint hier niemanden zu interessieren.«

»Sei doch froh!«, flüsterte er zurück.

»Bin ich ja. Seltsam ist es trotzdem.«

Robin legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie ein Stück zu sich heran. »Du bist nur so nervös, weil du dir den ganzen Urlaub über Gedanken gemacht hast. Vermutlich hast du geglaubt, die denken auch an nichts anderes. Aber vielleicht ist das gar nicht so. Vielleicht sind sie gar nicht so scharf darauf, dich zum Schweigen zu bringen.«

Vielleicht bin ich auch einfach nicht wichtig genug, um ernstgenommen zu werden, dachte Rica mit einem lächerlichen Anflug von Bitterkeit. Robin hatte recht: Sie sollte froh sein, dass sich keiner um sie kümmerte.

»Dafür finde ich es aber schon ziemlich merkwürdig, dass sie zweimal versucht haben, mich auszuschalten«, grummelte sie. »Erst Andrea und dann dieser Patrick.«

Robin zuckte mit den Schultern. »Andrea war ein bisschen durchgeknallt«, gab er zurück. »Und der andere Kerl war ein Psychopath.«

Nein, er hat nur so getan. Rica hütete sich davor, den Gedanken laut auszusprechen. Manchmal kam es ihr so vor, als würde Robin am liebsten den ganzen Skiurlaub, und was dabei passiert war, vergessen. Kein Wunder, immerhin war sein kleiner Bruder für einen Großteil der unheimlichen Vorfälle verantwortlich gewesen. Und so wütend Robin auch auf ihn war, offensichtlich wog die Tatsache, dass Simon sein Bruder war, immer noch schwerer.

Rica wusste allerdings auch, dass es sinnlos war, ihn darauf anzusprechen. Am besten ging man dem Thema weitläufig aus dem Weg, bis er bereit war, darüber zu reden. Rica wollte ihn nicht hetzen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sehr er unter der Vorstellung leiden musste, dass sein kleiner Bruder beinah für ihren Tod verantwortlich gewesen wäre. Sie musste ihm Zeit geben, das alles zu verarbeiten. Und überhaupt: Vielleicht war es ja auch besser, sich eine Scheibe von seiner Gelassenheit abzuschneiden. So drückte sie nur kurz ihr Gesicht an seine Schulter und atmete seinen warmen Geruch ein.

»Ich mache mich dann mal auf den Weg!«, zwitscherte Robins Mutter direkt neben Ricas Ohr, und Rica zuckte zusammen. Robin löste seine Umarmung und schenkte seiner Mutter einen ärgerlichen Blick.

»Verschwinde schon«, murmelte er, allerdings so leise, dass nur Rica es hören konnte. Sie musste grinsen. Mit voller Absicht schlang sie noch einmal die Arme um Robins Hals und küsste ihn direkt auf den Mund, noch bevor sich seine Mutter ganz abgewendet hatte. Den ärgerlichen Blick hätte sie gern für die Ewigkeit festgehalten.

»Ich mache mich mal auf zu meiner Ma«, sagte sie und löste sich widerstrebend von Robin.

Auf einmal schien der Urlaub, der ihr eben noch so verpatzt vorgekommen war, die letzte Zeit des Friedens gewesen zu sein, eine Atempause vor dem großen Sturm. Und ich habe ihn damit verbracht, mich über Frau Wittich aufzuregen, dachte Rica ärgerlich und drückte Robin zum dritten Mal so fest, dass ihm fast die Luft wegblieb. Dann wandte sie sich ab, schnappte sich ihren Rucksack und rannte zu dem Weg, der nach Hause führte. »Ich hole den restlichen Kram nachher ab«, rief sie über ihre Schulter zurück. »Lass ihn einfach in der Einganghalle stehen. Wird schon nichts wegkommen.«

An der Mündung des Fußpfades drehte sie sich noch mal um. Robin stand immer noch da und sah ihr hinterher. Für einen Augenblick hatte sie das starke Bedürfnis, wieder zu ihm zu laufen und sich in seine Arme zu werfen. Wieder war da das Gefühl, dass ihre ruhigen Stunden gezählt waren. Stattdessen winkte sie nur noch einmal, und wandte sich endgültig ab.

Der Pfad verlief im Schatten einer Hecke. Da die Sonne bereits unterging, warfen die Zweige unruhige Schatten auf den Kies vor Ricas Füßen. An den Ästen begann sich gerade das erste Grün des Jahres zu zeigen, und ein frischer, süßer Duft hing in der Luft. Ein Stück entfernt zwitscherten ein paar Meisen in den Zweigen, aber sonst war alles ruhig. Menschenleer. Als seien die Schüler der Daniel-Nathans-Akademie von einem Tag auf den anderen alle verschwunden. Ricas Herz schlug unwillkürlich schneller, und sie warf immer wieder einen Blick über ihre Schulter. Dieser dämliche Skiurlaub hatte sie mit einer gründlichen Paranoia zurückgelassen. Jeden Moment rechnete sie damit, überfallen zu werden.

Reiß dich zusammen, Rica! Sie zwang sich, nur noch nach vorn zu sehen. Nicht rennen! Mach dich doch nicht lächerlich!

Hastige Schritte knirschten hinter ihr auf dem Kies, und sofort begann Ricas Herz zu rasen. Sie wirbelte herum, schon halb in Abwehrstellung, als sie im nächsten Moment fast von den Beinen gerissen wurde. Eine Wolke aus rotem Haar und Shampooduft hüllte sie ein.

»Eliza!« Rica wusste nicht recht, ob sie lachen oder einen Herzkasper bekommen sollte. »Spinnst du? Du hast mich zu Tode erschreckt!«

»Sorry.« Eliza löste sich von Rica, und trat einen Schritt zurück. Ihre Wangen waren gerötet vom Laufen, und in ihren grünen Augen glitzerte etwas, das verdächtig nach Schalk aussah. Rica glaubte nicht, dass sie ihre Freundin jemals so überschwänglich gesehen hatte. »Ich hab gerade erst Robin entdeckt und messerscharf geschlussfolgert, dass du noch nicht weit weg sein kannst.« Sie legte den Kopf schief und schenkte Rica ein breites Lächeln. »Ich hätte gedacht, dass ihr beiden ein wenig länger braucht, um euch voneinander zu verabschieden. Was ist los? Hast du nach einer Woche schon genug von ihm?« Sie zwinkerte, aber Rica konnte auch die Sorge in ihren Augen sehen.

Rica schüttelte den Kopf. »Nein. Seine Ma ist nur ständig um uns rumgeschwänzelt, das habe ich nicht länger ausgehalten. Ich glaube, ich hätte mehr von Robin, wenn ich mit ihm im Unterricht säße. Die Lehrer können gar nicht so gut aufpassen wie Frau Wittich.«

Eliza lachte, doch es klang eher ein wenig abwesend. Offensichtlich war sie mit ihren Gedanken schon wieder ganz woanders. Rica grinste und boxte sie freundschaftlich in die Seite. »Komm schon, nun sag mir endlich, was du auf dem Herzen hast! Du bist mir doch nicht nachgelaufen, weil du nicht bis morgen warten kannst, mich zu begrüßen.« Sie machte eine kurze Pause, bevor sie weiter fragte: »Geht’s dir besser?« Als sie Eliza das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie immer noch recht hohes Fieber gehabt.

Eliza winkte ab. »Alles gut.« Es war offensichtlich nicht das Thema, über das sie sprechen wollte. Verlegen kaute sie auf ihrer Unterlippe herum.

»Wir haben einen Plan!«, platzte sie schließlich heraus. »Also, eigentlich mehrere Pläne. Wir wollten noch warten, was du dazu sagst, bevor wir etwas machen.«

Rica runzelte die Stirn. »Wer wir?«

Wieder kaute Eliza auf ihrer Unterlippe herum. »Nathan«, gab sie dann vorsichtig zu. »Nathan und ich. Wir haben ziemlich viel gechattet, während du und Robin bei seinen Eltern wart. Bei mir zu Hause gab’s eh nicht viel anderes zu tun, und um ehrlich zu sein, hatte ich auf meine Eltern keinen großen Bock.«

Nathan und ich. Rica verspürte einen leichten Stich der Eifersucht bei dieser so selbstverständlich freundschaftlichen Formulierung. Ich war zuerst mit Nathan befreundet. Doch dann rief sie sich zurecht. Eliza und Nathan passten zusammen, und sie selbst hatte Robin. Wer war sie denn, zwei ihrer besten Freunde ihr Glück nicht zu gönnen.

Pläne. Sie runzelte die Stirn und sah sich um. Die Sonne stand inzwischen tief über dem Horizont, und der Schatten der Hecke war lang und kühl. Die Vögel hatten zu singen aufgehört, und die Stille schien komplett. Dennoch fühlte Rica sich nicht wohl dabei, diese Angelegenheit hier zu besprechen. Sie hatte immer noch das Gefühl, beobachtet zu werden. Doch Eliza platzte offensichtlich geradezu vor Aufregung, endlich ihre Neuigkeiten mitteilen zu dürfen.

»Okay«, meinte Rica. »Lass uns reden, aber nicht hier.« Sie griff den Arm ihrer Freundin und zog sie die Hecke entlang hinter sich her, während sie fieberhaft überlegte, wohin sie gehen konnten. Ihre Wohnung? Da würde Ricas Mutter mithören. Die Schule fiel erst recht aus. Der Park war ihr zu unübersichtlich – man konnte nie wissen, ob nicht irgendjemand hinter einem Busch stand. Und hinter die Musikhalle hatte Rica sich seit der Sache mit Jo nicht mehr getraut. Also wohin?

Als ihr die Lösung einfiel, war diese so einfach und gleichzeitig so unheimlich, dass Rica schauderte. Aber es war die einzige Möglichkeit, die ihr in den Sinn kam.

Eliza lief ruhig hinter ihr her, bis sie merkte, wie Rica den Pfad hügelab einschlug, der zum Ponyhof führte. Dann blieb sie abrupt stehen. »Das ist nicht dein Ernst, oder?«

Rica zuckte mit den Schultern. »Ich bin mir sehr sicher, dass dort niemand ist, der uns zuhört. Und dass sich niemand die Mühe gemacht hat, da irgendwelche Überwachungsgeräte anzubringen.«

»Du bist paranoid«, murmelte Eliza und rührte sich weiterhin nicht vom Fleck.

»Ich habe allen Grund dazu«, erwiderte Rica. »Komm schon. Ist ja nicht so, als ob es ein Spukschloss wäre.«

Widerstrebend setzte sich Eliza wieder in Bewegung. »Ich hoffe wirklich, du weißt, was du tust«, sagte sie.

Kapitel zwei

Pläne

Rica musste zugeben, dass sie selbst ein mulmiges Gefühl in der Magengegend hatte, als sie den Hof des verlassenen Gebäudes betraten. Sie blickte sich um, und erwartete halb, dass im nächsten Moment Odi um die Mauer schlawenzelt kam. Aber alles blieb still. Kein Schäferhund und auch sonst niemand hielt sich hier auf. Das Haus lag still und dunkel da, der Hof davor war von der tiefstehenden Sonne in rötliches Licht getaucht. Rica musste an Blut denken und schüttelte sich unwillkürlich.

»Lass uns das schnell hinter uns bringen«, murmelte sie. »Hier gibt es Gespenster.«

Eliza lachte, es klang ein wenig künstlich. »Okay. Hier auf dem Hof?«

Rica schüttelte den Kopf und deutete auf die Eingangstür. »Hier draußen kann uns jeder sehen.«

»Spinnst du? Es ist überhaupt niemand hier!« Eliza verschränkte die Arme vor der Brust und schenkte Rica einen finsteren Blick. »Ich setz da nie wieder einen Fuß rein.«

Rica seufzte. Sie hatte auch keine besondere Lust, in Lars’ und Andreas Haus zurückzukehren, aber hier draußen fühlte sie sich nicht sicher. Konnte sein, dass das paranoid war, doch nach ihren letzten Erfahrungen wollte sie lieber auf Nummer sicher gehen. Sie legte Eliza sanft eine Hand auf den Arm. »Es dauert ja nicht lange«, versprach sie. »Und ich bin mir sicher, dass uns da drin nichts passieren wird. Wer soll denn da sein? Andrea?«

»Man weiß nie. Gefasst hat man sie jedenfalls noch nicht«, gab Eliza zurück. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Na gut.«

Rica ging zum Eingangstor und drückte die Klinke hinunter. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass das Tor abgeschlossen sein würde, doch zu ihrer Überraschung schwang es leicht und lautlos auf. Die Halle dahinter war dunkel und erschien endlos.

»Warum ist nicht abgeschlossen?«, fragte Eliza nervös.

»Wahrscheinlich gibt es einfach nichts in der Halle, was sich zu stehlen lohnt«, meinte Rica. »Ich wette mit dir, dass die Tür zur eigentlichen Wohnung verschlossen ist.«

»Das müssen wir aber nicht auch noch ausprobieren, oder? Hier drin sind wir doch nun wirklich sicher genug.«

»Klar.« Rica wagte es nicht, zuzugeben, dass auch sie ein schlechtes Gefühl bei der Sache hatte. Ihre Erklärung, warum nicht abgeschlossen war, war mehr als dürftig.

Ich bin schon einmal entkommen, sagte sie sich. Und im Moment gibt es keinen Grund, zu vermuten, dass ich das noch mal muss.

Entschlossen tat sie den ersten Schritt in die dämmrige Halle.

Nichts.

Natürlich passierte nichts. Rica schüttelte den Kopf über ihre eigene Angst und tastete sich in die Mitte der Halle vor, wo sie tatsächlich immer noch die kleine Sitzgruppe neben dem Grill vorfand, die Lars und Andrea hier aufgestellt hatten. Mit einem Aufseufzen ließ Rica den Rucksack von den Schultern gleiten und setzte sich in einen der hölzernen Gartenstühle. Das Holz quietschte leicht unter ihrem Gewicht, und als sie sich zurücklehnte und die Augen schloss, redete sie sich beruhigend ein, gemütlich bei einer Gartenparty zu sitzen. Die Vorstellung half. Ein Großteil ihrer Angst schwand. Gleich darauf quietschte der Stuhl neben ihr. Rica konnte Elizas Shampoo riechen. Auch das vermittelte ihr ein beruhigendes Gefühl, und langsam gelang es ihr, sich zu entspannen.

»Was sind das nun für Pläne, die Nathan und du ausgeheckt habt?«, fragte sie, ohne die Augen zu öffnen. So lange sie nichts sah, hielten sich die schlimmen Erinnerungen in Grenzen.

Sie konnte hören, wie sich Eliza in ihrem Stuhl zurechtsetzte. Das leise Rascheln von Stoff erklang doppelt so laut in der Stille des Hauses, und wieder musste Rica an Geister denken.

»Also, Nathan möchte ein für alle Mal herausfinden, was es mit dem Institut und seinen Experimenten auf sich hat«, begann Eliza.

Damit ist er nicht allein, dachte Rica. »Nur Nathan?«, fragte sie laut. »Und du?«

Eliza zögerte nur eine Sekunde, bevor sie antwortete, aber das reichte Rica, um sich darüber klar zu werden, dass ihre Freundin immer noch nicht so begeistert von der Vorstellung war, die Wahrheit herauszufinden. Kein Wunder. Sie war es schließlich, die sich dem Ganzen stellen musste.

»Ich auch«, sagte Eliza schließlich leise. »Es hilft ja nicht, wenn ich meinen Kopf in den Sand stecke. Das hat Nathan auch gesagt.«

Rica musste lachen.

»Hör auf zu lachen!«, schnappte Eliza sofort. »Da ist nichts zwischen uns.«

Rica zuckte mit den Schultern, ohne die Augen zu öffnen.

»Okay, weiter!«, forderte sie Eliza auf.

»Wir haben uns Gedanken gemacht, wie man das Ganze angehen könnte. Wir wissen ja nicht besonders viel. Nur dass sie uns Schüler beobachten und offensichtlich irgendwie auf die Probe stellen wollten mit dem Skiurlaub. Außerdem wissen wir, dass sie manche Schüler abholen und andere wiederum nicht.«

»Ganz zu schweigen davon, dass manche ausrasten oder den Druck nicht mehr ertragen können, wie … wie Jonas«, ergänzte Rica. Sie hatte eigentlich einen anderen Namen nennen wollen, aber sie konnte jetzt nicht über Jo nachdenken. »Und dann ist da die Sache mit den Pheromonen, von denen … mein Vater gesprochen hat.« Auch diese Worte kamen ihr nur schwer über die Lippen. Sie war es nicht gewohnt, über ihren Vater zu sprechen. »Und das, was du auch immer in diesem Ordner gefunden hast.« Nun blinzelte sie doch und warf Eliza einen Blick zu. »Möchtest du jetzt darüber sprechen?«

Eliza war blass geworden. »Irgendwann vielleicht«, murmelte sie. »Wenn du es unbedingt mit einbeziehen willst, vielleicht reicht es dann, wenn ich dir sage, dass auch ich so ein Wunschkind war wie Jo. Und dass das Institut da seine Finger mit im Spiel hatte. Bei der … bei meiner …« Sie brach ab, und zuckte mit den Schultern. »Bei meiner Erzeugung, könnte man sagen.«

Rica schwieg. Was konnte man auch darauf schon antworten? Schließlich beugte sie sich zu Elizas Stuhl hinüber und legte ihre Hand ganz sanft auf Elizas. Die Finger ihrer Freundin fühlten sich unnatürlich kalt an, aber nach einem kurzen Moment entspannte sie sich ein bisschen und schenkte Rica ein trauriges Lächeln.

»Also, wir wissen nicht viel«, griff sie ihren Faden wieder auf, als wäre nichts gewesen. »Wir müssen mehr herausfinden. Und wir haben uns überlegt, wie.« Sie atmete tief durch. »Folgendes: Torben war schon mal in diesem Institut. Er hat offensichtlich mit deinem Vater gesprochen, als er noch für diese Leute gearbeitet hat. Er weiß zumindest ein bisschen mehr als wir. Also werden wir ihn uns schnappen und ausquetschen. Und dieses Mal lassen wir ihn sich nicht einfach so herauswinden.«

»Klingt gut«, stimmte Rica zu, auch wenn sie nicht sicher war, wie sie Torben zum Reden bringen sollten. Das hatte schon beim letzten Mal nicht besonders gut geklappt.

»Gibt es einen Plan B?«, fragte sie.

Eliza sah ein wenig verlegen aus. »Schon. Aber der wird dir, glaube ich, nicht gefallen.« Sie sah betreten aus.

»Komm schon, raus damit! Kann nicht schlimmer sein, als hier zu sitzen«, witzelte Rica, doch das schien Eliza nur noch verlegener zu machen.

»Tatsächlich«, begann sie gedehnt, »ist es gar nicht so weit davon entfernt. Andrea hat Nathan eine E-Mail geschrieben.«

»Was?« Rica fuhr senkrecht in ihrem Sitz auf. »Warum das denn? Was sagt sie? Habt ihr der Polizei Bescheid gegeben?« Sie schüttelte den Kopf. »Woher hat sie überhaupt Nathans E-Mail-Adresse?«

Eliza machte eine beschwichtigende Geste, als müsse sie ein nervöses Pferd beruhigen. »Nathan hat sich mal umgehört. Relativ unverbindlich, hat mit ein paar Leuten in seiner Einrichtung gesprochen, ein paar Schülern und Betreuern, denen er vertraut. Er hat auch einen anonymen Aufruf ans Schwarze Brett gehängt, natürlich nicht unter seinem eigenen Namen und mit einer neuen E-Mail-Adresse. Wir vermuten, dass Andrea irgendwie noch Kontakt zum Institut hat und das mitbekommen hat.« Sie zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls hat ihm Andrea kurz darauf eine Mail geschrieben. Sie will mit ihm sprechen, ihm verraten, was sie weiß und so, aber sie möchte auch etwas als Gegenleistung.«

Rica schüttelte den Kopf. »Und was?«

»Hat sie nicht gesagt. So weit sind wir noch nicht. Nathan meinte, bevor wir irgendetwas ausmachen, sollten wir mit dir sprechen.« Wieder lächelte Eliza unsicher. »Schließlich hat sie dir mehr angetan als uns beiden. Wenn du also lieber zur Polizei gehen willst …« Sie ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen.

Rica kaute auf ihrer Unterlippe herum. Die Polizei zu informieren wäre nur gut und richtig gewesen. Andrea war eine gesuchte Mörderin, und beinah hätte sie auch Rica und Eliza umgebracht. Rica schauderte noch immer, wenn sie an die Nacht dachte, in der sie vor Andrea geflohen war. Noch nie zuvor in ihrem Leben hatte sie solche Angst gehabt. Wenn sie jetzt sogar einen Verdacht hatten, wo sie sich aufhielt, dann war es eigentlich ihre Pflicht, das zu melden.

Doch Andrea hatte auch für das Institut gearbeitet. Andrea kannte Frau Jansen und wusste vielleicht, was diese mit der Sache zu tun hatte. Andrea konnte ihnen sagen, was wirklich vorging.

Rica atmete tief durch. Sie war sich nicht sicher, ob sie nicht gerade einen schrecklichen Fehler beging.

»Okay. Wir können mit ihr reden. Aber Nathan soll auf gar keinen Fall unsere Namen nennen, verstehst du?«

»Würde er nie«, gab Eliza zurück. Sie wirkte erleichtert. »Du hast also nichts dagegen?«

»Ich habe eine ganze Menge dagegen«, meinte Rica. »Ich sehe allerdings auch, dass es sinnvoll sein könnte. Und schließlich wollte ich mehr wissen, nicht wahr?« Sie seufzte. »Noch irgendwas?«

Eliza schüttelte den Kopf. »Das ist erst einmal alles«, antwortete sie. »Bisschen wenig, ich weiß. Aber uns ist nichts mehr eingefallen.« Sie lächelte verlegen. »Außerdem haben wir noch über so viel anderes gequatscht, da ist ein bisschen was untergegangen, schätze ich.«

»Das kann ich mir vorstellen«, erwiderte Rica, und Eliza wurde sofort feuerrot im Gesicht. »Ganz so ist es auch nicht. Nathan hat ständig versucht, dich zu erreichen, aber dein Handy war aus, und auf die E-Mails hast du auch nicht geantwortet.«

Rica nickte schuldbewusst. »Ich wollte meine Ruhe haben. Ein bisschen mit Robin allein sein. Sorry. Ich hätte mich melden sollen, aber …«

»Schon gut.« Eliza legte Rica die Hand auf den Arm. »Ich verstehe dich ja. Nur dann darfst du uns auch keine Vorwürfe machen, dass wir alles allein besprochen haben, okay?«

Wieder spürte Rica einen Anflug von schlechtem Gewissen. »Sorry«, wiederholte sie. »Ich bin einfach etwas angespannt.«

»Du bist immer angespannt«, murmelte Eliza und stand ruckartig auf. »Lass uns von hier verschwinden. Dieser Ort macht mich ganz kribbelig. Ich werde das Gefühl einfach nicht los, dass uns jemand beobachtet.«

»Du träumst«, wehrte Rica ab, obwohl das gleiche Gefühl sie selbst auch plagte. Betont langsam erhob sie sich, wie um sich zu beweisen, dass sie keine Angst hatte. Aber als sie gemeinsam mit Eliza in Richtung Tür ging, glaubte sie immer noch, Blicke in ihrem Rücken zu spüren.

Als sie die Tür erreichten, drehte Rica sich noch einmal um. Die Halle lag vollkommen im Dämmerlicht, und es war unmöglich, etwas zu erkennen, aber dennoch war sie einen Augenblick lang der Meinung, eine Bewegung am anderen Ende der Halle wahrgenommen zu haben. Ein Huschen, ein leichtes Flackern der Schatten, als ob sich die Eingangstür zu Andreas und Lars’ Wohnung bewegt hätte. Rica kniff die Augen zusammen und starrte so intensiv in die Dunkelheit, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Da war nichts. Die Tür war zu.

Mit einem Schaudern wandte sich Rica ab und folgte Eliza.

Ricas Mutter saß am Küchentisch, trank Kaffee und schien in ein Buch vertieft, als Rica die Tür zur Wohnung aufstieß. Sie sah von ihrer Lektüre auf und lächelte Rica an. »Ich dachte, du kommst gar nicht mehr. Wie war der Urlaub?« Sie gab sich große Mühe, einen unbeschwerten Tonfall anzuschlagen, aber in ihren Augen lag ein Ausdruck, den Rica nur zu gut kannte.

Mit einem Seufzen ließ sie ihren Rucksack von der Schulter gleiten, ging zur Küchenzeile hinüber und goss sich ebenfalls eine Tasse Kaffee ein. Zusammen mit einer Packung Milch trug sie sie zum Küchentisch und ließ sich gegenüber ihrer Mutter nieder.

»Was ist los, Ma?«

Ihre Mutter tat so, als ob Ricas Frage sie vollkommen überraschte. Doch als sie Ricas Gesichtsausdruck sah, lächelte sie schuldbewusst, schlug ihr Buch zu und richtete sich auf.

»Dir kann man auch nichts mehr vormachen, oder?« Sie nahm einen Schluck Kaffee. Von dem Becher stieg kein Dampf mehr auf. Rica fragte sich, wie lange ihre Mutter schon hier saß und so tat, als ob sie lese.

»Du nicht«, erwiderte Rica. Sie schüttete großzügig Milch in ihre Tasse und nahm selbst einen Schluck. Der weiche, milchig-nussige Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus, und bereitete ihr ein vertrautes, wohliges Gefühl.

Ihre Mutter seufzte und malte mit dem Zeigefinger unsichtbare Kringel auf den Küchentisch. Sie sah verloren aus und seltsam jung. Sie gab keine Antwort.

»Ist es wegen Robin und mir?«, vermutete Rica. »Wenn es das ist, kann ich dich beruhigen, ich habe nicht vor …« Doch sie brachte ihren Satz nicht zu Ende. Im Grunde wusste sie genau, dass es das nicht sein konnte. Ihre Mutter vertraute ihr, was ihre Entscheidungen in Bezug auf Jungs anging. Rica hatte sie deswegen noch nie besorgt gesehen.

Wieder seufzte ihre Mutter. Dann gab sie sich einen Ruck. Sie hob den Blick und sah Rica direkt ins Gesicht. »Ich denke darüber nach, den Job hier an den Nagel zu hängen«, platzte sie heraus.

Rica zuckte mit den Schultern. »Ist doch kein Problem. Ich meine, du wolltest doch ohnehin nur ein Jahr bleiben«, erwiderte sie in ihrem besten Plauderton.

»Das meine ich nicht«, antwortete ihre Mutter. »Ich spreche davon, den Job jetzt aufzugeben. Wir könnten zurück in unsere alte Wohnung ziehen. Sie ist noch frei. Ich habe mit Frau Lehmann telefoniert.«

Wieder lief etwas wie Eiswasser durch Ricas Adern. »Jetzt? Mitten im Schuljahr?«

Ihre Mutter nickte nur.

»Das geht doch gar nicht!« Rica bekam es jetzt mit der Angst zu tun. Von hier weg? Gerne. Aber Eliza und ihre anderen Freunde dafür im Stich lassen? Das konnte sie nicht. Sie musste doch herausfinden, was hier gespielt wurde. »Warum?«

Ihre Mutter antwortete zunächst nicht, sondern malte nur weiter Kringel auf die Tischplatte. »Dieser Ort ist nicht gut für uns«, sagte sie schließlich. »Besonders für dich nicht. Ich habe gehört, was du für Fragen stellst.« Sie blickte Rica direkt in die Augen. »Du musst damit aufhören, Rica!«

Rica umschloss mit ihren Händen die Kaffeetasse, doch das warme Porzellan konnte die Kälte nicht aus ihren Fingern vertreiben. Einen Moment lang zog sie in Betracht, alles abzustreiten. So genau konnte ihre Mutter überhaupt nicht Bescheid wissen. Aber sie war noch nie besonders gut darin gewesen, sie anzulügen.

»Dann sag mir, warum wir hergekommen sind! Das war kein Zufall, oder? Du bist doch auf der gleichen Spur wie ich, nicht wahr? Diese seltsamen Kinder. Das Institut. Die Experimente.« Rica fiel es auf einmal wie Schuppen von den Augen. Wie hatte sie das vorher nicht sehen können? Sie hatte nie mit ihrer Mutter über diese Dinge gesprochen, hatte immer ihre eigenen Nachforschungen sorgfältig geheim gehalten, weil sie wusste, dass ihre Mutter sie nicht gutheißen würde. Bis heute war ihr nie bewusst geworden, dass diese auf der gleichen Spur sein könnte. Zumindest hatte sie diesen Gedanken nie zu Ende gedacht. Es war einfach zu seltsam, daran zu glauben, obwohl es – wenn sie darüber nachdachte – die einzige sinnvolle Erklärung war. »Deswegen bist du hierher gekommen«, beantwortete sie sich ihre Frage selbst.

Ihre Mutter schüttelte den Kopf, nahm einen Schluck Kaffee und verzog das Gesicht, als hätte sie eben erst bemerkt, wie widerlich der mittlerweile schmeckte. Kurz entschlossen stand sie auf, ging zur Spüle hinüber und schüttete die Kaffeereste weg.

»Selbst wenn«, sagte sie, den Rücken Rica zugewandt. »Selbst wenn du recht hast, ist das immer noch kein Grund, dass du dich in Gefahr begibst. Ich hätte wissen müssen, dass du viel zu neugierig bist. Und viel zu schlau.« Sie seufzte wieder. »Ich hätte dich bei Frau Lehmann lassen sollen.«

Rica schwieg. Frau Lehmann, ihre Nachbarin und die Mutter ihrer früheren besten Freundin Lena. Noch im letzten Jahr hätte Rica sich vor Begeisterung bei dem Gedanken, ein Jahr bei Lena wohnen zu dürfen, überschlagen. Aber natürlich hatte ihre Mutter diese Möglichkeit nie zur Sprache gebracht.

»Was passiert hier?«, fragte Rica. »Wie bist du den Leuten hier auf die Spur gekommen? Was willst du von ihnen? Was weißt du schon?« Noch während sie die Worte aussprach, fiel ihr die Antwort ein. »Das hat mit Pa zu tun, oder nicht? Weil er in die Sache verwickelt ist.«

Ihre Mutter schwieg, aber ihr Schweigen war Antwort genug. Auf einmal stieg Zorn in Rica auf. »Du hast die ganze Zeit darauf hingearbeitet. Du spionierst ihm hinterher. Und mir hast du gar nichts davon gesagt?« Sie biss sich so fest auf die Unterlippe, dass es dieses Mal richtig wehtat. »Er ist doch mein Vater. Wenn etwas mit ihm nicht stimmt, dann habe ich ein Recht darauf, das zu erfahren!«

Mit einem Ruck drehte sich ihre Mutter zu Rica um, und funkelte sie an. Alle Unsicherheit war aus ihrer Miene verschwunden. »Du sollst dich da nicht einmischen! Verstanden?«

Rica presste die Lippen aufeinander und starrte zurück. »Er ist mein Vater«, wiederholte sie. »Ich will das jetzt wissen.«

Ihre Mutter schnaubte verächtlich. »Es hat dich doch früher nie interessiert«, sagte sie. »Warum jetzt?«

Weil ich ihn jetzt kennengelernt habe. Weil er mir das Leben gerettet hat. Weil er nicht so ein Arsch ist, wie ich mir das immer vorgestellt habe. Aber in dem langen Telefonat, dass sie nach dem Skiurlaub mit ihrer Mutter geführt hatte, hatte sie das Auftauchen ihres Vaters bisher verschwiegen, wie sie überhaupt ziemlich vage geblieben war, was ihre Erlebnisse auf der Skihütte anging. »Du suchst nach ihm«, antwortete sie stattdessen. »Du musst doch auch einen Grund dafür haben. Und der ist nicht, dass ihr beide euch vollkommen zerstritten habt, stimmt’s?«

Ihre Mutter schwieg einen Augenblick lang. Dann seufzte sie. »Ich erkläre dir alles. Aber nicht jetzt, nicht heute. Das ist zu gefährlich.«

»Ich glaube ja, es ist gefährlicher, wenn ich überhaupt nicht Bescheid weiß«, gab Rica zurück.

»Genug jetzt!« Ihre Mutter drehte sich wieder zur Spüle um und begann, Wasser in die Tasse laufen zu lassen. »Ich bin dafür, du gehst jetzt in dein Zimmer und bereitest dich auf die Schule vor. Du hast einiges verpasst, während du in Skiferien warst.«

»Ich denke, wir gehen sowieso hier weg. Warum soll ich mich da noch anstrengen?« Rica war sich bewusst, dass sie sich anhörte wie ein trotziges Kind, aber sie konnte nicht anders. In ihr brodelte die Wut. Warum wollte ihre Mutter sie nicht einweihen? Immerhin hatte sie einiges durchgemacht, nur um immer und immer wieder vor verschlossenen Türen zu stehen. Sie vertraut mir nicht, schoss es Rica durch den Kopf.

»Wir diskutieren darüber jetzt nicht weiter.« Die Stimme ihrer Mutter war verdächtig ruhig. So ruhig, dass Rica wusste, wie ernst es ihr war. »Geh in dein Zimmer! Und morgen gehst du wieder in die Schule. Wenn wir hier weggehen, wirst du das noch früh genug erfahren.« Ricas Mutter ließ einen Spüllappen so heftig ins Wasser fallen, dass es spritzte. »Ich will nicht, dass du dich einmischst. Du bist zu jung. Du bringst dich in Gefahr. Und ich könnte es nicht verkraften, wenn dir etwas zustieße, bloß weil …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende. Stattdessen fing sie an, ihre Kaffeetasse zu schrubben. »Wir bleiben hier«, sagte sie schließlich.

Rica starrte den Rücken ihrer Mutter an. Gerade noch hatte sie so entschlossen geklungen. Rica war fast schon überzeugt gewesen, dass sie in den nächsten Tagen ihre Koffer packen würden. Jetzt schien ihr Kampfgeist wieder zurückgekehrt zu sein.

War es das, warum sie sich mit mir besprechen wollte? Um ihren eigenen Entschluss zu stärken?

Sie blieb noch einen Moment lang stehen, wartete auf etwas, eine Erklärung oder eine Zurechtweisung, aber ihre Mutter blieb nur ruhig an der Spüle stehen und plätscherte gedankenverloren im Wasser herum. Ihre Schultern zuckten leicht.

Sie weint.

Das Bedürfnis, zu ihr zu gehen und ihr eine Hand auf die Schulter zu legen, war beinah übermächtig. Aber Ricas Zorn war noch nicht ganz verraucht, und außerdem verstand sie immer noch nicht ganz, was hier eigentlich lief. Ich habe meine eigenen Probleme, dachte sie.

Dennoch hatte sie das Gefühl, ihre Mutter im Stich zu lassen, als sie sich umdrehte und in ihrem Zimmer verschwand.

Kapitel drei

Blut

»Ich muss mich bei dir entschuldigen.«

Rica rieb sich den Schlaf aus den Augen und richtete sich mühsam im Bett auf. Im Sonnenlicht, das durch ihr Fenster flutete, konnte sie die Silhouette ihrer Mutter in der Tür ausmachen.

»Was?« Ihr Gehirn schien noch nicht ganz wach zu sein.

»Es tut mir leid.« Ihre Mutter trat zögernd ins Zimmer und kam auf Ricas Bett zu. Sie machte Anstalten, sich auf die Bettkante zu setzen, überlegte es sich dann jedoch anders. »Es ist nicht fair, dich mit einem Haufen Fragen ins Bett gehen zu lassen. Du hast ein Recht auf diese Antworten«, meinte sie.

Rica blinzelte verwirrt. Wenn sie nicht genau gesehen hätte, dass ihre Mutter vor ihr stand, hätte sie das hier für den Beweis der Existenz von Körperfressern gehalten.

»Willst du mir damit sagen, dass du mir jetzt endlich alles erklärst?«

Ricas Mutter lachte leise. »Das kann ich wirklich nicht. Auch wenn es mir leidtut.«

»Du vertraust mir nicht.«

»Das ist es nicht. Ich vertraue dir«, widersprach ihre Mutter. »Ich halte dich für ein kluges Mädchen, und ich weiß, dass du mir nicht schaden würdest.«

»Aber?« Rica konnte das Wort geradezu in der Luft schweben sehen.

Wieder lachte ihre Mutter. »Aber du bist jung. Und du bist vorschnell. Ich habe Angst, dass du dich verplappern könntest. Ich habe Angst, dass jemand herausfinden könnte, was ich dir erzählt habe, und dich dann unter Druck setzt. Und ich habe Angst, dass dir etwas zustoßen könnte.«

»Mit anderen Worten: Du vertraust mir nicht.« Doch die Worte waren bei Weitem nicht so bitter wie eben. Es klang seltsam, aber Rica begann zu verstehen, was ihre Mutter meinte.

»Wir setzen uns zusammen und reden. Heute Abend. Ich verspreche dir, ich überlege mir, was ich dir anvertrauen kann.«

»Super Versprechen«, grummelte Rica, aber sie meinte es nicht böse. Sie fühlte sich sogar ein bisschen geschmeichelt, dass ihre Mutter sie anscheinend für reif genug hielt, auch wenn sie gleichzeitig ein bisschen eingeschnappt war. »Ich muss zur Schule«, lenkte sie ab. »Ich will nicht zu spät kommen.«

»Heute Abend«, versprach ihre Mutter noch einmal, bevor sie sich umdrehte und das Zimmer verließ.

Schwimmunterricht.

Normalerweise hatte Rica nichts gegen Sport, nicht einmal gegen Schwimmen. Die Schwimmhalle auf dem Gelände der Daniel-Nathans-Akademie war riesig und sehr gut ausgestattet, wie so ziemlich alles hier. Aber als Rica mit ihrer Sporttasche über der Schulter bei der Halle ankam, stand fast ihre gesamte Klasse abwartend vor dem Gebäude.

»Was ist los?«, wollte Rica wissen und ließ ihre Tasche neben Eliza auf den Boden fallen. »Ist abgeschlossen?«

Eliza schüttelte den Kopf. »Wir schwimmen heute draußen«, sagte sie und warf einen missmutigen Blick zum Himmel hinauf. Es war wolkenverhangen und grau, zwar nicht richtig kalt, aber trotzdem kühl.

»Ernsthaft?« Rica studierte ebenfalls die Wolkendecke. »Es kann jeden Moment anfangen zu regnen, und wir werden uns den Arsch abfrieren.«

Eliza hob die Schultern. »Kann man nicht ändern. Ab und zu haben sie einfach solche Schnapsideen.« Sie warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand ihnen direkt zuhörte. Dann beugte sie sich noch ein Stück zu Rica hin und flüsterte: »Wir haben es getan. Gestern Abend noch.«

»Getan?« Rica hatte den Faden verloren.

»Wir haben Andrea geschrieben. Also Nathan. Er hat ihr gestern Abend eine Mail geschickt.« Eliza wurde schon wieder ein bisschen rot, aber Rica wusste nicht, ob das war, weil sie an Nathan denken musste oder vor Aufregung. Ihr eigener Magen krampfte sich leicht zusammen. Andrea. Sie versuchte, ihr Unbehagen zu überspielen, und ganz cool zu bleiben.

»Habt ihr schon eine Ahnung, wann sie antworten wird?«

Eliza zuckte wieder mit den Schultern. »Bisher war sie immer recht fix. Aber dieses Mal kann es ja anders sein. Sie muss sich überlegen, was sie genau von uns möchte.«

Rica presste die Lippen aufeinander. »Uns loswerden«, lag ihr auf der Zunge, aber sie sprach es nicht aus. Es gab keinen Grund, Eliza zu verunsichern. Andrea wusste hoffentlich nicht, wer hinter der Mail steckte. Und sie würde es auch nie rausfinden, wenn es nach Rica ging.

»So, Herrschaften!« Frau Gerritsen, die Schwimmlehrerin, war mal wieder urplötzlich zwischen den Schülern aufgetaucht. Sie war klein und zierlich, und da sie meistens Jeans und locker sitzende Hemden trug, konnte sie ganz gut in der Menge der Schüler untertauchen. Dabei sollte man sich von ihrem Aussehen nicht täuschen lassen. Die Frau hatte einen eisernen Willen, den sie auch meistens durchsetzen konnte. »Auf zum See!«

»See?« Ricas Frage an Eliza war wohl nicht ganz so leise gewesen, wie sie es beabsichtigt hatte, denn es drehten sich gleich mehrere Schüler nach ihr um. In einigen Gesichtern las sie unverhohlenen Spott.

»Hast du hier schon mal ein Freibad gesehen?«, ätzte Sarah. »Schlaukopf. Wir gehen zum Baggersee in den Ort.«

Rica verdrehte die Augen. Da ging die Hoffnung dahin, wenigstens ein paar Bahnen in Wasser drehen zu können, das eine halbwegs vertretbare Temperatur hatte.

»Halb so schlimm, Rica«, meinte Frau Gerritsen, die ihren Gesichtsausdruck offensichtlich lesen konnte wie ein Buch. »Ihr schwimmt euch warm. Und danach gibt’s einen Kaffee im Strandcafé. Ich zahle.«

Rica erlaubte sich ein schwaches Grinsen. Kaffee. Eine der Schwächen, die sie mit ihrer Schwimmlehrerin teilte.

»Wenn wir bis dahin nicht zu Eis erstarrt sind«, murmelte sie, schwang sich die Sporttasche über die Schulter und schloss sich widerstrebend der Reihe von Schülern an, die sich jetzt talabwärts bewegten. Für den Sportunterricht wurden meistens zwei Klassen zusammengelegt, damit die Gruppengröße wenigstens halbwegs stimmte. An diesem Tag würden sie sich den See mit den Mädchen aus Robins und Torbens Klasse teilen.

»Robin darf inzwischen in der schönen, warmen Halle Fußball spielen«, knurrte Rica und kickte einen Stein zur Seite. Er hüpfte ein Stück den Weg hinunter – und traf Sarah an der Wade.

»Spinnst du?« Sarah wirbelte herum und funkelte Rica wütend an. »Pass gefälligst auf!«

Rica runzelte die Stirn und fragte sich, warum Sarah so aggressiv war. Klar, sie hatten im Skiurlaub einige Differenzen gehabt, aber das Meiste davon war doch auf Simons und Jasmins Manipulation zurückzuführen gewesen. Rica hatte gedacht, dass sie jetzt wieder zu einem einigermaßen freundschaftlichen Verhältnis zurückkehren konnten, wenn auch vielleicht nicht ganz dem, das sie vor dem Urlaub gehabt hatten. Aber der Blick, mit dem Sarah sie nun musterte, war schon feindselig zu nennen.

»Sorry«, meinte Rica. »War doch nicht absichtlich.«

Sarah verdrehte nur die Augen. »Wenn du nicht die ganze Zeit mit deiner Lesbo-Freundin turteln würdest, wäre das sicher nicht passiert«, meinte sie und drehte sich mit hochmütigem Gesicht wieder um.

»Lesbo-Freundin?« Rica und Eliza sahen sich an. Beinah zeitgleich begannen sie zu kichern. Als der Anfall vorbei war, hielt Rica wieder nach Sarah Ausschau. Sie ging ein Stück vor ihnen her, und neben ihr leuchtete ein bekannter, grellblonder Haarschopf im dämmrigen Licht des Waldes.

»Deswegen also«, murmelte Rica. »Sie hat sich mit Janina angefreundet. Na, da haben sich zwei gefunden.«

»Lass sie«, meinte Eliza. »Sarah war schon immer eine Idiotin. Ist dir früher nur nicht aufgefallen.«

»Seit wann bist du denn so frech? Färbt Nathan etwa auf dich ab?« Rica boxte Eliza freundschaftlich in die Seite.

»Quatsch«, meinte Eliza, lief aber trotzdem rot an. »Ich bin vor dir am See!«, rief sie dann und rannte los, in halsbrecherischem Tempo den Waldweg hinunter.

»Du lenkst ab!«, schrie Rica ihr hinterher, aber sie setzte sich trotzdem in Bewegung.

Als sie am See ankamen, waren beide so erhitzt vom Rennen, dass Rica die Vorstellung eines kühlen Bades sogar begrüßte. Der Weg war weiter gewesen, als gedacht, und sie wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal so halsbrecherisch gerannt war. Sie hatten ihre Klassenkameradinnen weit hinter sich gelassen, niemand hatte sich ihrem kindischen Wettrennen anschließen wollen.

»Wenigstens kann uns jetzt keiner was abgucken«, sagte Rica, während sie hastig den Badeanzug überstreifte.

»Du kannst auch in die Umkleiden gehen«, erwiderte Eliza und deutete auf eine Reihe ziemlich versifft aussehender Holzunterstände in der Nähe. Sie sahen so aus, als könne man sie nicht mal abschließen.

»Nein danke!« Rica schüttelte sich, warf ihre Klamotten achtlos in die Tasche und lief Richtung Wasser. Der Boden war weich, und Schlamm quoll zwischen ihren Zehen hervor, noch bevor sie überhaupt das Wasser erreicht hatte.

Wie zu erwarten gewesen war, erwies sich der See als eisig. Nach den ersten paar Schritten blieb Eliza fröstelnd stehen und schlang die Arme um den Oberkörper. »Wir sollten auf die anderen warten«, fand sie.

»Feigling!« Rica hatte nicht viel mehr Lust, als Eliza, sich in das kalte Wasser zu begeben, doch irgendwie saß ihr Sarahs Spott immer noch quer. Ihr war klar, dass es in den Augen des anderen Mädchens überhaupt keinen Unterschied machen würde, wie schnell Rica im Wasser war, aber trotzdem trieb ihr Stolz sie weiter in den See hinein.

Es war saukalt. Rica konnte die Gänsehaut ihre Beine hochkriechen spüren. Wären Eisschollen auf dem Wasser geschwommen, hätte sie das nicht besonders verwundert. »Mistidee«, murmelte sie zu sich selbst, dann holte sie tief Luft und tauchte kopfüber in den See ein.

Eisige Kälte schlug über ihr zusammen, und Rica musste sich zurückhalten, um nicht vor Schreck nach Luft zu schnappen. Sie presste die Lippen aufeinander und machte ein paar kräftige Schwimmzüge unter Wasser, bevor sie wieder an die Oberfläche tauchte. Wasser spritzte nach allen Seiten, als sie den Kopf schüttelte. Sie blickte zurück. Eliza stand immer noch in Ufernähe im Wasser und betrachtete sie mit einem Blick, der zwischen Ehrfurcht und Besorgnis schwankte. Am Ufer tauchten jetzt die ersten Mädchen aus ihrer Gruppe auf und starrten ebenfalls leicht schockiert auf den See. Rica hob die Hand aus dem Wasser und winkte gezwungen fröhlich.

»Es ist ganz warm!«, rief sie, bevor sie sich wieder umdrehte und weiterschwamm. Sie musste in Bewegung bleiben.

»Nicht zu weit raus!«, hörte sie Frau Gerritsen rufen. »Bis zum Steg da drüben und dann wieder zurück, ja?« Von welchem Steg redete sie? Rica kniff die Augen zusammen und ließ ihren Blick über die Wasseroberfläche wandern. Erst als sie nach rechts am Ufer entlang sah, entdeckte sie, was Frau Gerritsen meinte: ein kleines Bootshaus und daneben ein schmaler Steg, der weit ins Wasser hinein ragte. Es war nicht besonders weit. Nur einmal über eine kleine Bucht, hin und zurück vielleicht zweihundert Meter. Aber das reichte, um warm zu werden.

Abermals hob Rica den Arm aus dem Wasser, Daumen nach oben, um Frau Gerritsen zu zeigen, dass sie verstanden hatte. Dann wandte sie sich nach rechts und begann zu kraulen. Hinter sich hörte sie das Gekreisch und Geschimpfe ihrer Mitschülerinnen, aber sie achtete nicht darauf. Jetzt, da sie sich erst einmal einigermaßen an die Wassertemperatur gewöhnt hatte, tat ihr das Schwimmen gut. Die Kälte schien ihre Gedanken zu klären, und die Bewegung lockerte ihre Muskeln.

Mit weichen, flüssigen Bewegungen kraulte sie zum Steg und war schon auf dem Rückweg, als die ersten Mädchen zögernd ins Wasser gingen. Nur Eliza hatte es inzwischen geschafft, sie schwamm langsam im Bruststil, und als Rica an ihr vorbei zog, lächelte sie schwach.

»Ich wünschte, ich wäre so gut im Sport wie du«, meinte sie.

»Ich wünschte, ich wäre in allem anderen so gut wie du«, erwiderte Rica, lächelte aufmunternd und kraulte in Richtung Ufer. Inzwischen spürte sie die Kälte des Wassers gar nicht mehr richtig. Es war fast angenehm.

»Komm raus, bevor du dich unterkühlst!«, rief ihr Frau Gerritsen entgegen, als Rica im flachen Wasser ankam. Rica warf einen Blick auf den inzwischen leergefegten Strand. Wenn sie jetzt rausging, würde sie erst recht frieren.

»Kann ich noch eine Runde? Ich hole die anderen bestimmt ein!«, antwortete sie und sah über ihre Schulter zurück. Zwei Mädchen hatten ungefähr drei Viertel des Wegs zum Steg zurückgelegt, aber die meisten anderen waren weit hinter ihnen.

Frau Gerritsen folgte ihrem Blick. »Meinetwegen«, meinte sie dann. »Aber danach gibt’s ein paar Übungen an Land, damit ihr wieder warm werdet. Schließlich sind wir nicht an dieser Schule, um euch umzubringen.«

Da bin ich mir manchmal gar nicht so sicher, dachte Rica, als sie erneut umdrehte, um wieder ins Wasser zu tauchen. Mindestens zwei Schüler habt ihr schon auf dem Gewissen.

Wieder fiel sie ins Kraulen, doch als sie ungefähr die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, merkte Rica, dass ihr allmählich die Puste ausging. Vielleicht hatte sie sich doch überschätzt, so kurz nach dem Skiurlaub, der ihrem Körper zuletzt das Höchste abverlangt hatte. Sie wurde langsamer, fiel vom Kraulen ins Brustschwimmen, und ließ es zu, dass ein paar Mädchen, die sie gerade noch überholt hatte, wieder an ihr vorbeizogen.

Umso besser. Dann habe ich mehr Zeit für mich selbst, dachte sie, als sie die Rücken der Davonschwimmenden betrachtete. Sie schloss die Augen und schwamm für eine Weile blind. Sie hatte keine große Angst, die Richtung zu verlieren, sie konnte immer noch die Stimmen der anderen vor sich hören.

Ich muss mir langsam überlegen, was ich tun soll. Eliza hat Pläne gemacht und sie auch schon in Gang gesetzt, aber was tue ich? Ma hat versprochen, mit mir zu reden. Und mein Vater … Sie konnte die Gefühle, die bei diesem Gedanken in ihr aufstiegen, nicht ganz einordnen. Ihr Vater. Sie konnte es nicht über sich bringen, ihn »Papa« zu nennen, oder »Pa«, oder sonst wie. Trotzdem brachte der Gedanke an ihn so etwas wie Wärme in ihren fröstelnden Körper zurück. Ihr Vater. Der ihr das Leben gerettet hatte. Und ihr doch nichts sagen wollte, oder vielleicht doch, denn er hatte versprochen, mit ihr zu reden. Irgendwann. Nicht jetzt.

Das ist nicht gut genug, dachte sie, ich muss jetzt etwas herausfinden, nicht irgendwann. Sie schlug die Augen wieder auf und merkte, dass sie ein wenig abgedriftet war. Das Bootshaus und der Steg lagen rechts von ihr, sie war schon fast bis ans Ufer der Bucht geschwommen. Die meisten anderen Schüler hatten nichts bemerkt oder taten jedenfalls so, sie waren schon auf dem Rückweg. In der Nähe des Stegs war kein einziger Kopf mehr im Wasser zu entdecken.

Blöde Leistungstiere. Denen werde ich es zeigen. Rica hätte jetzt umdrehen können, die entsprechende Strecke hatte sie allemal geschafft, aber sie wollte es, wenn schon, richtig machen.

Noch einmal mobilisierte sie ihre Reserven und kraulte zum Bootshaus. Das Wasser lag still und ein wenig trübe da, nicht einmal eine verirrte Ente war im Wasser. Klar, denen ist es heute auch zu kalt. Ist ja nicht jeder so bescheuert wie du, Rica.

Sie schwamm bis zum Steg und hielt sich an einem der glitschigen, mit schleimigen Algen bewachsenen Pfosten fest. Sie war ganz schön aus der Puste. Ihr Atem ging schwer, und Rica meinte, ein leichtes Rasseln darin zu hören.

Du hast es ja nicht anders gewollt. Sie musste sich ein wenig ausruhen. Langsam tastete sie sich an den Pfosten nach vorne, bis sie in so flaches Wasser kam, dass sie sich auf den Steg hinaufziehen konnte. Das Holz war nass, kalt und rau unter ihrem Körper, und ein kühler Wind richtete die Härchen an Ricas Körper auf, aber wenigstens konnte sie sich einen Moment lang ausstrecken. Wieder schloss Rica die Augen. Nur kurz ausruhen, bis ihre Puste wieder zurück war. Sie konnte schnell kraulen. Zumindest die letzten ihrer Mitschüler würde sie schon einholen. Irgendwo knarrten und quietschten Holzbohlen. Vielleicht das Bootshaus, das sich ein wenig im aufkommenden Wind bewegte. Sonst war es still. Angenehm still. Keine Vögel, keine Tierlaute, nichts.

Als sie die leisen Schritte auf dem Steg hörte, war es schon zu spät. Rica riss die Augen auf, aber das Einzige, was sie sehen konnte, war eine dunkle Silhouette, die sich vor dem grauen Himmel abhob. Eine Silhouette mit etwas Langem in der Hand.

Ein Baseballschläger?

Im nächsten Moment traf sie der Blitz. Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Kopf, sodass sie glaubte, ihr Schädel müsse brechen. Vor ihren Augen flammte es weiß, dann rot, bevor um sie herum alles schwarz wurde. Eine angenehme, samtige Schwärze, in die Rica sich nur zu gerne hineinsinken ließ.

Schlafen.

Leise Schritte entfernten sich wieder, und irgendwo erklang eine Stimme, danach hörte Rica nichts mehr.

* * *

Eliza war dermaßen mit Frieren beschäftigt, dass sie Ricas Fehlen erst bemerkte, als sie sich wieder anzog. Die ersten ihrer Mitschülerinnen trotteten schon in Richtung des kleinen Cafés, um ihren versprochenen Kaffee abzuholen, doch Eliza blieb stehen und sah sich um.

»Wo ist Rica?«

Frau Gerritsen wurde schlagartig blass, und sie sah sich selbst um. Eliza hatte die Lehrerin noch nie so erschrocken gesehen.

»Sie wollte noch mal zum Steg schwimmen«, sagte sie. »Bist du ihr nicht begegnet?«

Eliza nickte. Sie erinnerte sich, wie erschöpft Rica gewirkt hatte. Warum hatte sie sie nicht dazu überredet, mit ihr zusammen zurückzuschwimmen?

Frau Gerritsen starrte aufs Wasser hinaus. Der See lag still da, nirgendwo war noch eine Gestalt zu erkennen. Eliza konnte ihren Gedankengang geradezu sehen. Wenn Rica etwas zugestoßen sein sollte, dann war es Frau Gerritsen, der man die Schuld geben würde.

Nicht ganz zu Unrecht, dachte Eliza. Immerhin hat sie uns in diesen scheißkalten See gescheucht. Aber die bitteren Gedanken verflogen beinah sofort wieder und machten einer wachsenden Sorge um Rica Platz.

»Ich glaube nicht, dass ihr was passiert ist«, sagte sie, fast mehr, um sich selbst zu beruhigen als Frau Gerritsen. »Sie schwimmt gut. Bestimmt ist ihr nur die Puste ausgegangen, und sie ist auf dem Steg geblieben.«

Frau Gerritsen starrte immer noch aufs Wasser hinaus, in Richtung des Bootshauses. Dann sah sie den übrigen Schülern hinterher, von denen nun einige stehen geblieben waren und fragend über ihre Schultern zurückblickten.

Eliza folgte ihrem Blick, und wieder war ihr klar, was die Lehrerin denken musste. Da waren noch andere Schüler, die sie nicht allein lassen durfte. Nicht, nachdem sie jetzt schon Schwierigkeiten hatte.

»Ich laufe zum Bootshaus!«, sagte Eliza kurz entschlossen. Wenn sie hier noch weiter untätig herum standen, würde sie noch wahnsinnig werden.

»Ich glaube nicht …«

Doch Eliza band ihren Turnschuh zu und sprintete los, ohne auf irgendwas zu achten, was die Lehrerin noch zu sagen hatte. Sie wurde nicht aufgehalten.

Eliza rannte. Sie war keine schlechte Sportlerin, wenn auch nicht ganz so trainiert wie Rica, aber der Weg um die Bucht herum war weit. Viel weiter, als direkt hinüber zu schwimmen. Außerdem war das Ufer tückisch: teils überwuchert bis zum Wasser, teils loser Kies, der unter ihren hämmernden Schritten nach allen Seiten spritzte. Scheinbar nur Sekunden, nachdem sie losgelaufen war, ging Elizas Atem schwer, und das Herz hämmerte ihr in der Brust.

Rica.

Ich muss sie finden.

Eliza wagte nicht, zu überlegen, was wäre, wenn sie Rica nicht am Bootshaus fand. Wenn sie irgendwo auf dem See schlappgemacht hatte. Eine hinterhältige Stimme in ihrem Kopf flüsterte etwas von Wadenkrämpfen und Unfällen, die immer passieren konnten. Eliza verdrängte sie. Ihr Fuß rutschte auf dem lockeren Kies, Eliza verlor das Gleichgewicht und schlug hin. Winzige Kiesel bohrten sich in ihre Handflächen, und sofort quoll Blut aus den aufgeschürften Stellen. Es tat höllisch weh. Nachlässig wischte Eliza die Handflächen an ihrer Jeans ab und startete wieder durch. Sie hatte mehr als die Hälfte der Strecke zum Bootshaus zurückgelegt, ihre Seite schmerzte wie Feuer, ihr Herz raste, und ihre Augen waren verschleiert vor Tränen. Eliza wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, zuckte zusammen, als etwas von der salzigen Flüssigkeit in die langen Kratzer auf ihren Händen geriet und rannte weiter.

Rannte.

Plötzlich stieg der Boden unter ihren Füßen an, und erst in diesem Moment merkte sie, dass sie das Bootshaus fast erreicht hatte. Ein schmaler Fußpfad führte einen flachen Hang hinauf, dann waren es nur noch wenige Schritte bis zu dem großen, doppelflügligen Eingangstor. Eliza blieb stehen und starrte hinauf. Niemand schien sich um das alte Gebäude zu kümmern, das Holz war verwittert, und ein Torflügel hing ein wenig schief, weil eine der Angeln gebrochen war. Vom See her war das leise Klatschen von Wasser an den Steg zu hören, sonst war alles still.

Totenstill.

»Rica!« Eliza erschrak selbst über den Klang ihrer Stimme. Sie war schrill und laut und überschlug sich beinah vor Angst. »Rica! Bist du hier?«

Nichts. Stille. Schwappendes Wasser.