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Jody hat sich mit ihrem Mann Mats den Traum vom Landleben erfüllt. Gemeinsam haben sie den alten Hof von Mats Eltern zu einem Ferienbauernhof ausgebaut. Die Idylle scheint vollkommen – bis auf die noch offene Kinderfrage. Da taucht überraschend Jodys sprunghafte Schwester Charlie auf und zieht kurzerhand bei ihnen ein. Die quirlige Charlie sprüht vor neuen Ideen für den Hof und schon bald kommt es zu Reibereien. Zu allem Überfluss macht die Konkurrenz vom neuen benachbarten "Wellness-Hof" Jody und Mats zunehmend zu schaffen. Als sich Charlie dann auch noch Hals über Kopf in dessen Besitzer, den gutaussehenden Thomas Hannich, verliebt, scheint das Chaos perfekt ...
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Seitenzahl: 389
Kurzbeschreibung:
Jody hat sich mit ihrem Mann Mats den Traum vom Landleben erfüllt. Gemeinsam haben sie den alten Hof von Mats Eltern zu einem Ferienbauernhof ausgebaut. Die Idylle scheint vollkommen – bis auf die noch offene Kinderfrage. Da taucht überraschend Jodys sprunghafte Schwester Charlie auf und zieht kurzerhand bei ihnen ein. Die quirlige Charlie sprüht vor neuen Ideen für den Hof und schon bald kommt es zu Reibereien. Zu allem Überfluss macht die Konkurrenz vom neuen benachbarten "Wellness-Hof" Jody und Mats zunehmend zu schaffen. Als sich Charlie dann auch noch Hals über Kopf in dessen Besitzer, den gutaussehenden Thomas Hannich, verliebt, scheint das Chaos perfekt ...
Veronika Bicker
Das Glück liegt hinterm Hühnerstall
Roman
Edel Elements
Edel Elements
Ein Verlag der Edel Germany GmbH
© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
Copyright © 2019 by Veronika Bicker
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Langenbuch & Weiß Literaturagentur
Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart Media Design
Lektorat: Philipp Bobrowski
Konvertierung: Datagrafix
Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.
ISBN: 978-3-96215-252-9
www.facebook.com/EdelElements/
www.edelelements.de/
Sommermittag
Überraschungsgast
Vorstellungsgespräch
Schafe und Schokolade
Dorfrundgang
Die liebe Familie
Investoren und andere Misslichkeiten
Familienbesuch
Spionage
Unternehmen Dachboden
Blinder Passagier
Sturm
Die Ruhe nach dem Sturm
Scherben bringen Glück
In der Klemme
Verschwunden
Suche
Bootsfahrt
Aussprache
Scheue Pferde
Vorbereitungen
Ertappt
Schwamm drüber
„Das Schleifgerät vibrierte in Jodys Hand. Sie konnte die Schwingungen bis hinauf in die Schulter spüren und hatte manchmal das Gefühl, der kleine Schleifer wollte sich losreißen. Beinahe, als hätte sie etwas Lebendiges in der Hand.
Manche Leute mochten das Geräusch eines Schwingschleifers auf Holz nicht. Jody hatte schon alle Vergleiche gehört, von „kreischende Katze“ bis zu „verärgerter Hornissenschwarm“. Sie selbst allerdings nahm es mehr als einen Rhythmus wahr. Eine perfekte Begleitung zu ihrer Arbeit. Mit weichen, gleitenden Bewegungen ließ sie den Schleifer über das Birkenholz flitzen. Feiner Staub sammelte sich in kleinen Wellen wie Rippel im Sand am Meer. Jody summte leise, eine beinahe tonlose Melodie. Für einen kurzen Augenblick wurde die Harmonie unterbrochen. Draußen rief jemand. Jody horchte kurz auf, doch im nächsten Moment war sie wieder ganz von ihrer Arbeit gefangen.
Sie beschrieb mit dem Schleifgerät kleine Kreise über die Tischplatte und ließ dabei ihre Gedanken schweifen. Das abgeschliffene Holz fühlte sich weich unter ihren Fingern an, glatt und geschmeidig. Sie müsste eine passende Farbe für das Holz finden, etwas Sanftes, Helles, das dennoch zu der Wuchtigkeit des Tisches passte. Nichts zu Blasses wie Fichte, nicht zu dunkel wie Nussbaum … vielleicht ein Goldbraun. Eibe oder Lärche …
„Hey, du.“ Eine Hand legte sich auf ihre Schulter, und Jody zuckte kurz zusammen. Sie schaltete den Schleifer aus und wandte sich zu Mats um. Er lächelte auf sie herunter. „Hast du mich gar nicht rufen gehört?“
Jody merkte, wie ihr das Blut ein wenig ins Gesicht stieg. „Ich war so in Gedanken. Da muss ich das irgendwie ausgeblendet haben.“ Sie zupfte etwas verlegen an ihrem alten Arbeitshemd herum und gestattete sich einen kurzen Blick auf ihre Werkstattuhr. Die Zeiger der uralten Minnie-Maus-Kinderzimmeruhr standen auf halb zwölf. Wohin war nur die Zeit verschwunden? War sie nicht eben erst vom Frühstück aufgestanden?
Mats berührte beinahe ehrfurchtsvoll die Tischplatte. „Es war nichts Wichtiges“, versicherte er. „Die Reisers sind zu einer Wandertour aufgebrochen und wissen nicht genau, ob sie es bis zum T-Shirt-Kurs heute Abend zurückschaffen. Pia war ein bisschen traurig, aber ich habe ihr gesagt, dass du ihr das mit den Shirts sicher auch mal zwischendrin zeigen kannst. Und die Thalmanns haben angerufen. Sie stecken im Stau und kommen ein bisschen später.“ Seine Finger fuhren die Maserung im Holz nach. „Du hast also noch ein bisschen Zeit für den Tisch.“
Auch Jody legte nun einmal mehr ihre Hand auf die Platte. Es kam ihr so vor, als ströme Wärme aus dem Holz in ihren Körper. Ihre Fingerspitzen pochten leicht wie vor Erwartung. Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe schon viel zu lange hier in der Werkstatt gestanden. Ich habe die Zeit vergessen.“ Sie betrachtete den glatten, schönen Tisch neben sich und seufzte. Am Liebsten hätte sie gleich daran weitergearbeitet, aber für heute musste sie ihn wohl so stehen lassen.
Mats schlang seine Arme um sie und zog sie zu sich heran. Jody rieb ihre Nase an seinem Shirt, sog den warmen Geruch nach Heuboden und Sonne ein und schloss die Augen. Wärme umgab sie, durchflutete sie. Mats’ Ruhe und Kraft schienen direkt auf sie überzugehen, sie zu füllen.
„Ich finde es toll, wenn du auch mal etwas für dich tust“, murmelte Mats in ihre Haare. „Du halst dir schon viel zu viel auf. Eigentlich solltest du viel öfter mal die Zeit vergessen.“
Das sollte ich tatsächlich, war Jodys erster Gedanke, doch es siegte wieder mal ihre Vernunft. „Das können wir uns nicht leisten“, murmelte sie bedauernd.
Mats fragte nicht nach. Er hielt sie nur weiter fest im Arm, gab ihr den Halt, den sie brauchte, bis sie sich widerstrebend von ihm löste. „Ich mache mich dann mal daran, die Handwerker abzutelefonieren. Ich hoffe, ich erreiche jetzt überhaupt noch jemanden.“
Mats fuhr sich mit ausgestreckten Fingern durchs Haar. „Gut. Ich werde mir das Fundament für das Gartenhaus vornehmen, denke ich. Mittagessen mache ich dann ein bisschen später, okay?“
Jody lächelte dankbar. „Okay.“ Beinahe zärtlich berührte sie ein letztes Mal das Holz der Tischplatte.
„Bist du sicher, dass du nicht lieber doch noch hier weitermachen willst?“, fragte Mats, der ihre Geste bemerkt hatte.
„Es geht nicht.“ Jody seufzte. „Zu viel anderes zu tun. Sie fasste nach Mats’ Hand und verließ mit ihm zusammen die Werkstatt.
Mats war in Richtung seines Gartenhauses abgebogen, und Jody schlenderte langsam über den Hof in Richtung Haustür. Oben warteten ihr Schreibtisch und das Telefonverzeichnis auf sie, doch für einen Moment wollte sie einfach noch die Wärme und den Geruch des Hofes genießen. Die Sonne stand beinahe senkrecht über dem Dach des Ponystalls, neben dem Holzschuppen döste Balu – ihr schokoladenbrauner Labrador – auf den Pflastersteinen. Sie musste nachher unbedingt noch eine Runde mit ihm drehen, doch im Moment schien die Hitze selbst seine unbändige Energie zu zügeln.
Jodys Blick fiel auf den Berg von ungehacktem Holz neben dem Schuppen, und wanderte weiter zu dem alten Zaun, der gleich daneben den Kräutergarten vom Rest des Gartengeländes trennte. Die Farbe daran war alt und nach vielen Jahren in Sonne und Wind rissig und blättrig geworden. Irgendwann in diesem Sommer fände sie bestimmt die Zeit, den Zaun neu zu streichen. Und das Kaminholz sollte auch gespalten werden, um bis zum Winter richtig durchzutrocknen. Jody sah noch einmal zur hoch stehenden Sonne hinauf. Man musste schon mehr als ein bisschen verrückt sein, um zu dieser Tageszeit Holz zu spalten, wenn man auch drinnen im Büro sitzen konnte, wo es einigermaßen kühl war. Und ihre Anrufe waren auch wirklich dringend.
Mit einem Lächeln auf den Lippen schlenderte Jody zu dem Holzhaufen hinüber und wuchtete das erste Stück auf den Hackklotz.
Die Pflastersteine schienen zu glühen, und Jody meinte, ihre Wärme sogar durch die Sohlen ihrer Sandalen zu spüren. Die Sonne brannte ihr auf Nacken und Schultern, doch die Schwüle machte ihr nicht das Geringste aus. Sie war wie eine Eidechse, die Hitze lud sie erst richtig mit Energie auf. Schon nach den ersten zwei Holzstücken fiel Jody in einen angenehmen Rhythmus, der auf all ihre Muskeln überging und sie mit Leben erfüllte. Es war gut, sich zu bewegen. Zu leben. Sonne, Wärme, der Geruch nach noch etwas harzigem Holz, Heu und Wiese, nach warmer Wolle und den intensiven Kräutern im Garten, das war doch das wahre Leben. So sollte es sein. Der Griff der Axt war glatt und altvertraut in ihren Händen.
Die Handwerker, wisperte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Doch Jody wischte sie gedankenlos beiseite. Das Holz musste schließlich auch gespalten werden. Hochheben, spalten, die Holzstücke durch die offene Schuppentür werfen, ein einfacher Ablauf, der ihr eine seltsame Befriedigung verschaffte. Das hier fühlte sich nach richtiger Arbeit an.
„Jody?“
Die Stimme riss sie aus ihrer beinahe meditativen Beschäftigung. Jody ließ die Axt sinken und wischte sich eine feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Sie musste zweimal blinzeln, um die Gestalt, die da vor ihr aufgetaucht war, klar erkennen zu können.
„Doro.“ Sie lächelte.
Ihre Beinahe-Freundin stand ein paar Schritte vom Hackklotz entfernt und sah so aus, als wüsste sie nicht, ob sie lachen sollte. „Und ich hab befürchtet, ich störe euch beim Mittagessen“, meinte Doro und lächelte ein wenig verlegen. Sie sah aus, als wäre sie direkt aus einem Hippiemodeladen hierher versetzt worden mit ihrem langen, grün gebatikten Sommerkleid und der überdimensionierten bunten Umhängetasche, die sie über eine Schulter geschlungen trug. Ihre hellblonden Haare fielen ihr wie ein goldener Wasserfall den Rücken hinunter, und Gesicht und Arme waren braun gebrannt. Sie wirkte wie der Inbegriff der Gesundheit.
Jody wischte sich mit dem Handgelenk über die Stirn und sah zur Sonne hinauf, als könnte sie dort die Uhrzeit ablesen.
„Es ist kurz nach zwölf“, informierte sie Doro, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. „Ich wollte bald los in die Stadt und dachte, ich schau noch mal kurz vorbei. Vielleicht brauchst du ja was.“ Sie zwinkerte schelmisch. „Außerdem habe ich einen Riesenschwung Gemüsechips und Gewürzmandeln gemacht. Ich bin nicht gut darin, das richtige Maß zu finden. Nun muss ich sie loswerden. Interesse?“
Jody grinste. Sie wusste, dass Doro nicht zufällig viel zu viele Snacks zubereitet hatte. Seit sie herausgefunden hatte, wie sehr Jody und Mats das Knabberzeug liebten, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, mindestens einmal die Woche auf einen Kaffee hereinzuschauen und ein oder zwei Tüten voll vorbeizubringen.
„Komm rein! Hast du noch Zeit für einen Cappuccino, während ich dusche? Dann nehme ich dir gerne deinen … Überschuss ab.“
Doro sah auf ihre überdimensionierte knallbunte Armbanduhr. „Gut“, meinte sie. „Mein Kurs fängt erst in einer Dreiviertelstunde an. Ein paar Minuten habe ich also noch.“
Jodys Lächeln wurde noch breiter. Sie verbrachte gerne Zeit mit Doro. Noch hatte sich keine von ihnen getraut, sich offiziell „Freunde“ zu nennen, doch das lag nur an Doros natürlicher Zurückhaltung. Sie schien jemand zu sein, der lange brauchte, um den Grad von Vertrautheit aufzubauen, den man „Freundschaft“ nennen konnte. Es war schon ein Fortschritt, dass sie Jody, ohne zu zögern, ins Haus folgte und sich einen Kaffee einschenken ließ, bevor Jody selbst im Badezimmer verschwand.
„Bist du sicher, dass ich nicht störe?“, fragte sie nur einmal, und als Jody entschlossen den Kopf schüttelte, lächelte sie nochmals schüchtern und schlang ihre langen, schmalen Finger um die Kaffeetasse, als müsste sie sie bei dieser Hitze auch noch wärmen.
Jody duschte im Schnellgang. Die Seife roch nach Zitronenmelisse und erinnerte Jody daran, dass auch diese ein Geschenk von Doro gewesen war. Ebenfalls selbst gemacht. Bei all der kreativen Energie, die in Doro steckte, war es ein Wunder, dass sie noch nie in einem von Jodys Kursen aufgetaucht war. Der frische, sommerliche Geruch vertrieb auch den letzten Rest von Jodys schlechtem Gewissen und jeglichen Gedanken an Handwerker und Termine. Sie fühlte sich sauber und energiegeladen, als sie in die Küche zurückkam.
Doro hielt sich immer noch an ihrer Kaffeetasse fest. Sie hatte sie nicht einmal zur Hälfte geleert. Stattdessen sah sie verträumt aus dem Fenster. Vor sich auf dem Tisch hatte sie mehrere Dosen mit Gemüsechips aufgereiht.
„Das ist ja ein Jahresvorrat.“ Jody konnte nicht anders – sie musste einen der Deckel aufschnappen lassen und sich eine Handvoll knuspriger Zucchini nehmen. „Mmh, du solltest die wirklich verkaufen. Die sind zu gut, um sie der Menschheit vorzuenthalten.“
Doro lächelte wieder schüchtern. „Ich mache sie lieber für Leute, die sich wirklich darüber freuen.“
„Gut, dass du dabei an uns denkst“, meinte Jody und naschte gleich noch eine Handvoll, bevor sie sich ebenfalls einen Kaffee einschenkte und sich Doro gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ. „Also, was sagt der Dorftratsch denn so?“
Doro trommelte mit ihren Fingerspitzen leicht auf die Kaffeetasse. „Nichts Besonderes. Rebecca Kemmer hat Probleme mit ihrem Ältesten. Kommt immer viel zu spät nach Hause und so was. Rita meint, dass er vielleicht mit den Schmierereien bei Gärtners zu tun hat.“ Sie drehte die Tasse in ihren Händen, und schien zu überlegen.
„Joel Kemmer? Glaube ich kaum. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der überhaupt weiß, wie eine Spraydose aussieht.“ Jody nahm einen Schluck Kaffee. Trotz der Thermoskanne war er bereits lauwarm.
Doro zuckte mit den Schultern. Wie immer beschränkte sie sich darauf, die Dorfgeschichten weiterzugeben, ohne sie zu bewerten. Mats meinte, dass Doro gar keine eigene Meinung hätte, aber Jody glaubte, dass sie einfach kein Urteil über andere Leute aussprechen wollte. Und gerade dafür mochte sie sie.
„Rebecca vermutet auch eher, dass es die Kinder aus dem Ferienprogramm sind. Die müssen immer ziemlich lange warten, bis nach der Betreuung wieder ein Bus in die Stadt fährt, und Rebecca sagt, die Jugendlichen hängen dann an der Bushaltestelle herum und wissen nichts mit sich anzufangen. Gerade weil die Busse momentan so selten fahren wegen der Baustellen auf der Landstraße.“
Doro machte eine kurze Pause, um einen Schluck Kaffee zu nehmen, bevor sie fortfuhr. „Roland Fredricks will seine Scheune abreißen und einen Reitstall bauen. Aber vermutlich erst nächstes Jahr. Und seine Tochter ist dagegen. Hannich wollte das Gelände vom alten Gerbritson kaufen, aber der hat abgelehnt. Außerdem gab es bei Hannichs wohl wieder Streit mit seiner Exfrau. Ging wohl um Lara. Ihrer Meinung nach verbringt das Mädchen zu viel Zeit alleine auf dem Hof, und er kümmert sich nicht genug um sie.“ Doro erzählte alles, während sie den Blick nicht vom Fenster nahm. Beinahe, als interessierten sie die Vorgänge im Dorf nicht besonders. Dabei wusste Jody, dass Doro ihre Ohren überall hatte und eine aufmerksame Zuhörerin war. Wenn sie einmal mehr über die Leute im Dorf wissen wollte, musste sie nur Doro fragen.
„Ich dachte, das Sorgerecht um Lara wäre geklärt“, warf Jody ein.
Doro zuckte mit den Schultern. „Nicht was die Frau angeht.“ Jetzt sah sie doch zu Jody, auch wenn ihre hellblauen Augen immer noch in weite Ferne zu blicken schienen. „Manchmal tut er mir ja ein bisschen leid“, sagte sie. „Die Frau ist furchtbar.“
Jody verzog etwas den Mund. Dass Doro gerade bei Hannich weich genug wurde, um ihre Meinung kundzutun, gefiel ihr nicht besonders. „Er ist jetzt auch nicht gerade mein Lieblingsmensch“, warf sie ein, doch dieses Mal hob Doro wieder nur eine Schulter und sah erneut zum Fenster.
„Trotzdem würde man ihm Besseres wünschen“, murmelte sie und leerte ihre Kaffeetasse. Mit einem vernehmlichen Klacken stellte sie sie auf den Tisch zurück und sah Jody jetzt wieder direkt an. „Darf ich dich um einen Gefallen bitten?“ Es schien sie einige Überwindung zu kosten, die Frage auszusprechen.
Jody konnte sehen, wie ihr eine leichte Röte in die Wangen stieg. „Aber immer“, erwiderte sie rasch. Sie konnte sich nicht vorstellen, was Doro gerade so verunsicherte.
„Ich … du weißt ja, dass ich Massagekurse in der Stadt anbiete“, begann Doro. „Ich massiere selbst, aber ich bringe auch Interessenten die Grundlagen bei. Und in letzter Zeit dachte ich, dass ich das vielleicht ja auch zu Hause tun könnte.“ Sie machte eine Pause. Ihre langen Finger klopften einen leisen Trommelwirbel auf die Tischplatte.
„Ja?“, fragte Jody vorsichtig. Sie war sich immer noch nicht sicher, worauf Doro hinauswollte.
„Also, ich habe ein paar Werbezettel gestaltet, um mich vorzustellen sozusagen. Und ich wollte wissen, ob ich die bei deinen anderen Flyern auslegen darf. Vielleicht hat ja mal einer von deinen Gästen Interesse …“ Doros Stimme wurde immer leiser, als sei ihr dieser Wunsch schon peinlich.
Jody musste lachen. „Na klar“, sagte sie. „Immer doch. Je mehr Angebote, desto besser.“ Sie lächelte Doro an. „Dafür musst du uns aber nicht erst mit Chips bestechen. Nicht, dass ich die nicht gerne nehme …“
Über Doros Gesicht ging ein Strahlen. „Keine Bestechung. Es macht mir einfach Spaß, die zu backen.“ Sie blickte auf ihre Armbanduhr. „Und jetzt muss ich wirklich los. Sonst steht mein erster Schüler vor verschlossener Tür.“ Sie sprang auf, plötzlich energiegeladen, und zu Jodys Überraschung machte sie einen Schritt auf sie zu und umarmte sie herzlich. „Ich komme morgen mal ein bisschen länger vorbei“, versprach sie, dann war sie auch schon auf halbem Weg die Treppe hinunter.
Jody räumte die Kaffeetassen in die Spülmaschine und verstaute die Gemüsechips im Vorratsschrank. Sie lächelte, weil sie dabei an Doro denken musste. Dass sie so lange an so einer Kleinigkeit herumgedruckst hatte. Jody musste ihr unbedingt mal sagen, dass sie und ihre Ideen hier immer willkommen waren.
Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Halb eins. Zeit, endlich die Handwerker anzurufen. Doch sie hatte kaum zwei Schritte in Richtung Arbeitszimmer getan, als die Türklingel schrillte.
Erneut gellte die Klingel durchs Haus. „Jaja, ich komme schon“, murmelte Jody, und eilte die Treppe hinunter. Wer auch immer da vor der Tür stand, er schien nicht gerade zu der geduldigen Sorte zu gehören.
Draußen begann Balu zu bellen. Verfrühte Feriengäste vielleicht? Jody atmete tief durch, setzte ein Lächeln auf und öffnete schwungvoll die Tür.
Keine Feriengäste. Charlotte. Ihre Schwester. Mit einem Koffer in der Hand. Jody spürte, wie ihr das Lächeln vom Gesicht rutschte.
„Endlich.“ Charlie strahlte. „Ich dachte schon, ihr wärt wieder irgendwo unterwegs.“ Ohne zu zögern, trat sie in den Flur und zog ihren Rollkoffer hinter sich her. Die kleinen Räder rumpelten wie ein mittleres Gewitter über die Fliesen.
Jody machte den Mund auf, wusste nicht, was sie sagen sollte, und klappte ihn wieder zu. Sie hatte immer noch den Türgriff in der Hand.
„Wo kann ich meine Sachen hinbringen?“, wollte Charlotte wissen. „Ist eine von den Wohnungen frei? Das wäre praktisch, dann könnte ich für mich selbst kochen und müsste euch nicht auf die Nerven fallen.“ Sie lächelte ihr bezauberndstes Lächeln. Ihre Wangen waren gerötet, und sie wirkte frisch wie ein junges Mädchen.
Jody blinzelte, starrte durch die geöffnete Tür auf den Hof hinaus und entdeckte Charlottes blauen Volvo, der mit geöffneter Kofferraumklappe vor der Scheune stand. In dem Auto stapelten sich Koffer und Kisten. Ein überdimensionierter Gummibaum erfrischte seine Blätter im lauen Augustwind, und Xita, Charlottes Katze, thronte auf einem riesigen Berg Decken. Balu sprang zu ihren Füßen nervös im Kreis herum und bellte. Der Volvo blockierte das Scheunentor vollständig. Hoffentlich musste Mats nicht gleich mit dem Traktor da rein.
Rumpel, rumpel, rumpel … Charlotte und ihr Koffer waren auf dem Weg zur blauen Treppe. Jody gelang es endlich, die Tür zu schließen und sich zu ihrer Schwester umzudrehen. Balus Bellen drang immer noch gedämpft durch das Holz, aber er würde sich schon wieder beruhigen.
„Was machst du hier, Charlie?“
Charlotte ließ ihren Koffer los, drehte sich aber nicht zu Jody um, sondern sah die Treppe hinauf, als handele es sich um den Aufstieg zum Mount Everest.
„Hast du meine WhatsApp nicht bekommen? Ich habe dir heute Morgen geschrieben.“ Offensichtlich hielt sie es nicht für nötig, dieser Erklärung noch etwas hinzuzufügen, denn sie begann damit, den Koffer die Treppe hinaufzuschleifen.
Jody musste eingreifen. „Du kannst da nicht hoch!“ Sie eilte die Stufen hinauf, um ihre Schwester einzuholen. „Heute kommen zwei Familien an, und eine ist schon hier. Wir sind ausgebucht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Was ist denn mit deiner Wohnung? Wieder ein Rohrbruch?“
Charlotte hielt inne. Sie lächelte immer noch, doch es wirkte ein wenig gequält, als wäre sie sich nicht mehr ganz sicher, wie man das machte. „Du hast die Nachricht wirklich nicht bekommen?“ Ihre Stimme klang jetzt leiser, ein wenig betreten. Der Enthusiasmus darin war wie weggewischt. „Meine Wohnung ist futsch.“
„Futsch?“ Jodys Hirn versuchte lebhaft, zu ergründen, was das bedeutete, doch es gelang ihm nicht. „Wie futsch? Was ist denn passiert?“ Vor ihrem geistigen Auge spielte sich ein Erdbeben ab, das lediglich das kleine Haus verschluckte, in dem Charlotte zur Untermiete gewohnt hatte.“
„Ich kann die Miete nicht mehr bezahlen“, meinte Charlotte schlicht. „Und Karla meinte, dass sie schon jemanden hätte, der sich für die Zimmer interessiert. Sie war wirklich sehr fair. Und ich verstehe auch, dass das nicht mehr länger so weitergehen konnte. Sie will schließlich auch Geld verdienen. Und so ein halbes Jahr ohne Miete …“
„Du hast seit einem halben Jahr keine Miete mehr gezahlt?“ Jody merkte, wie sich ihre Stimme überschlug, und räusperte sich. „Aber warum denn?“
Charlotte zuckte mit den Schultern und sah auf ihre Schuhspitzen hinunter. „Die Geschäfte sind nicht so gut gelaufen“, meinte sie. „Letzte Woche habe ich den Laden zugemacht.“
Jody schwieg. Sie wusste wirklich nicht mehr, was sie sagen könnte. Der Laden zu. Die Wohnung futsch. Hatte Charlotte ihr nicht vor zwei Wochen noch fröhlich am Telefon erzählt, dass sie wieder zwei Skulpturen verkauft hatte? „Und jetzt?“, brachte sie schließlich heraus.
„Ich dachte, ich schlüpfe bei euch unter, bis der Laden verkauft und das Geld da ist“, meinte Charlotte jetzt wieder voller Begeisterung. „Dann sehen wir weiter. Natürlich nicht vollkommen umsonst, ist ja klar. Ich greife euch ein bisschen unter die Arme, wie wäre das?“
Jody blinzelte. „Du willst also hierbleiben?“ Ihre Stimme scheiterte fast an der einfachen Frage. „Ihr habt doch Platz, oder?“ Charlottes Lächeln wirkte inzwischen ein bisschen eingefroren. „Ich meine, eure Wohnungen sind doch nie alle vergeben.“
„Wie kommst du denn darauf?“ Jody verzog das Gesicht. Das hatte gesessen. „Wir sind ausgebucht“, wiederholte sie. Ihre Stimme klang steifer als sonst. Als sie die Enttäuschung auf Charlies Gesicht sah, meldete sich jedoch ihr schlechtes Gewissen. Sofort sah sie wieder vor sich, wie Charlie damals an dem Abend nach dem fünfzigsten Geburtstag ihres Vaters vor ihrer Tür gestanden hatte. Diese Erinnerung allein reichte aus, dass sie anfing, über Schlafsofas und Lager auf dem Heuboden nachzudenken.
„Ach … das ist ja schön für euch.“ Charlotte zog nachdenklich an ihrem Ohrläppchen. „Aber dann vielleicht … auf der Couch? Nur, bis eine Wohnung frei wird, natürlich.“ Die Vorstellung, wie Charlotte und Xita in ihrer Wohnung campierten, ließ Jody schaudern. Im Grunde hätte sie nichts dagegen – wenn sie sich hätte sicher sein können, dass es bei ein, zwei Nächten bliebe. Doch sie kannte ihre Schwester.
Jody seufzte. Es gab natürlich eine Lösung, die weder Schlafsofas noch Heuböden beinhaltete. „Na gut. Wir sind dabei, die Wohnungen in dem alten Tagelöhnerhaus zu renovieren. Wenn es dir nichts ausmacht, dass ab und zu ein Handwerker reinschaut oder dass du mal die Wohnung wechseln musst, kannst du dir da einen Platz suchen.“ Sie versuchte, nicht daran zu denken, was Mats dazu sagen würde. Andererseits mussten die Handwerker ohnehin erst bestellt werden, da konnten sie Charlotte irgendwie in den Zeitplan einbinden.
Für einen kurzen Moment wirkte Charlotte etwas beleidigt. Doch im nächsten Augenblick begann sie zu strahlen. „Wundervoll. Dann gibt es ja schon etwas, wobei ich euch helfen kann. Ich wollte mich sowieso im Kreativbereich weiterbilden. Gerade gestern habe ich ein fantastisches Buch über Möbelrestauration entdeckt.“ Entschlossen ließ sie ihren Koffer zurück zur Tür rumpeln. „Wo geht’s lang?“
Hungrig und ein wenig müde kehrte Jody in ihre Werkstatt zurück, nur um den Tisch noch einmal zu bewundern. Es hatte Ewigkeiten gedauert, bis Charlie endlich untergebracht war. Erst hatte Jody die Schlüssel nicht gefunden, dann hatte Charlie sich jede einzelne Wohnung ansehen müssen, bevor sie sich für die entschied, die im eindeutig schlechtesten Zustand war, und dann hatte sie Jody tatsächlich dazu gebracht, ihr beim Gepäcktragen zu helfen. Irgendwann zwischendurch war Xita ausgebüchst, und Balu hatte sie über den halben Hof gejagt, bevor sich die Katze auf den Heuboden hatte retten können.
Jody schüttelte den Kopf. Zeit mit Charlotte zu verbringen war in etwa so wie Sandburgen zu bauen. Es konnte schön und entspannend sein, aber etwas von Dauer entstand dabei nicht. Oft fragte sie sich dann, warum sie sich eigentlich all die Zeit und Mühe gemacht hatte. Jody rieb sich die Schläfen. Manchmal sollte man nicht meinen, dass sie die Jüngere der beiden Schwestern war. Charlie ging locker auf die Vierzig zu, und doch schien das Leben für sie oft ein großes Experiment zu sein, völlig losgelöst von allen Verpflichtungen.
„Manchmal beneide ich dich“, murmelte Jody. Etwas, das sie Charlie so schnell nicht direkt sagen würde, das wusste sie. Leicht verstimmt warf sie einen Blick auf den halb abgeschliffenen Tisch. Wenn sie schon ihre Anrufe nicht erledigt hatte, hätte sie auch hier weitermachen können. Dann wäre sie vielleicht schon jetzt so weit, dass sie die Lasur auswählen konnte. Stattdessen blieb dazu nun schon wieder viel zu wenig Zeit. Vor allem, da sie sich noch umziehen und zu Mittag essen musste, bevor die neuen Feriengäste kamen. Halbherzig klopfte sie sich etwas Schleifstaub vom Hemd. „Kreativhof Sperling“, murmelte sie. „Und meine eigenen Projekte sind die ersten, die unter den Tisch fallen.“
Die Werkstatttür klappte, und ruhige Schritte näherten sich. Gefolgt vom unverwechselbaren Trappeln von gespaltenen Hufen. „Ich hab doch gesagt, kein Schaf in der Werkstatt“, knurrte sie, doch gleichzeitig merkte sie, wie die Anspannung von ihr abfiel.
Mats trat hinter sie und legte die Arme um ihre Taille. „Es ist nur ein ganz kleines Schaf“, murmelte er neben ihrem Ohr. Bartstoppeln kratzten über Jodys Wange.
„Und es hat nur Blödsinn im Sinn“, erwiderte Jody. Sie schloss die Augen, und atmete tief ein. Mats roch warm nach Garten und Holz. Sie gönnte sich den Luxus, sich für einige Augenblicke in diesem Geruch zu verlieren. Und in der Geborgenheit, die er für sie bedeutete. Hinter ihnen trappelte Michel leise durch die Werkstatt.
„Ich habe Charlotte gesehen“, meinte Mats schließlich und ließ Jody los. Widerstrebend drehte sie sich zu ihm um, als wäre es ihre Schwester, die sie konfrontieren musste, und nicht ihr Mann.
„Sie ist ins Tagelöhnerhaus gezogen“, erklärte sie, ohne wirklich etwas zu erklären.
Doch Mats fragte nicht nach. Es war eins der vielen Dinge, die sie an ihm liebte. Er akzeptierte. Ihr Leben, ihre Liebe, ihre Entscheidungen. Einfach alles. „Welche Wohnung?“, wollte er lediglich wissen.
„Amselnest“, gestand sie.
„Das ist doch eine reine Baustelle.“ Mats runzelte die Stirn.
„Sie wollte es so.“ Jody seufzte. „Wir können ihr doch für einige Zeit über die Runden helfen, oder?“
Mats zuckte mit den Schultern, als wollte er sagen: Deine Schwester, deine Baustelle. „Du hast unsere Finanzen besser im Blick“, meinte er.
Jody seufzte noch einmal. Sie schwieg. Sie war sich nicht absolut sicher, dass sie sich das wirklich leisten konnten. Nein, im Grunde wusste sie, dass das Geld ohnehin zu knapp war. Aber es war schließlich ihre Schwester. Ihre Familie. Und hatte Charlie nicht gesagt, sie bräuchte nur eine Unterkunft? Da würden sie wohl kaum für ihr Essen aufkommen müssen. Hoffte sie zumindest.
Etwas klirrte hinter ihnen, und Mats wirbelte herum. Jody schob sich an seine Seite, um den Schaden zu begutachten. Michel stand neben ihrer Werkbank, den Schraubenschlüssel vor seinen Vorderhufen, und machte ein unschuldiges Gesicht. Nicht, dass das irgendwas bedeutete. Schafe waren Meister darin, unschuldig dreinzuschauen, und bei Michel hatte Jody das starke Gefühl, das Tier würde heimlich vor einem Spiegel üben.
„Das lasse ich dir noch mal durchgehen“, meinte sie. „Aber nur, weil nichts kaputtgegangen ist.“
„Böhhh“, erwiderte Michel und trottete zu Mats hinüber, der ihm liebevoll eine Hand auf den Kopf legte und ihn hinter seinen Hörnern kraulte. Wenn ein Schaf schnurren könnte, dann würde dieses hier gleich loslegen, davon war Jody überzeugt.
Sie lehnte sich wieder an Mats. Ihre Tage waren oft so hektisch, dass sie über jede Gelegenheit, etwas Nähe zu genießen, froh war. Doch die entspannte Ruhe von zuvor wollte sich nicht so recht einstellen.
„Ich habe noch keine Handwerker erreicht“, murmelte sie. „Charlie ist mir dazwischengekommen. Außerdem …“ Sie zögerte ein wenig, aber dann zog sie doch den gefalteten Zettel aus ihrer hinteren Hosentasche und reichte ihn Mats. „Ich habe das hier im Flur gefunden. Einen ganzen Stapel davon, zwischen unseren eigenen Flyern.“
Sorgsam faltete Mats das Papier auf und strich es glatt. „Gut Abendrot“ prangte in geschwungener Schrift auf dem dunkelblauen Hintergrund. Und darunter „DER Wellnesshof im Sauerland“ gefolgt von einigen Fotos, die ein Glasgebäude und einen dschungelartigen Garten zeigten. Und glückliche Menschen in flauschigen weißen Bademänteln.
„Hat Hannich uns das hingelegt?“ Man musste Mats schon sehr genau kennen, um die Verärgerung in seiner Stimme zu hören.
„Glaube ich kaum. Wahrscheinlich hat es jemand aus dem Dorf nur gut gemeint. Sarah vielleicht.“
Mats faltete mit gerunzelter Stirn das Papier wieder zusammen, und Jody konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er es lieber zusammengeknüllt und in die Ecke geworfen hätte.
„Hannich würde ich es sogar zutrauen, dass er hier reinspaziert und seine Flyer auslegt. Viel Zurückhaltung hat er ja bisher nicht bewiesen.“
Jody nahm den Zettel wieder an sich und steckte ihn ein. Sie versuchte, ruhig zu bleiben, denn sie konnte spüren, dass Mats ziemlich verärgert war, auch wenn er es nicht zeigte. „Zwei Ferienhöfe im Dorf sind vielleicht wirklich ein wenig viel“, meinte sie. „Aber er hat doch ein ganz anderes Zielpublikum. Er wird uns schon keine Gäste abziehen.“
„Hast du mir nicht gestern noch erzählt, dass es dich nervt, wie viele Leute per Mail nach Wellness-Angeboten fragen?“ Mats’ Stimme war ein leises Grummeln. Michel schien seine schlechte Laune zu spüren und wich vorsichtshalber ein paar Schritte zurück.
„Wie gesagt: Ein anderes Publikum“, erwiderte Jody. „Vermutlich kämen die auch nicht auf den Sperlingshof, wenn es das Gut nicht gäbe.“ Trotz ihrer optimistischen Worte blieb da noch ein kleiner, nagender Zweifel in ihrem Hinterkopf. Nicht zum ersten Mal. Mats und sie hängten sich seit mittlerweile vier Jahren mit aller Energie in den Ausbau des Sperlingshofs. Im letzten Jahr hatten sie zum ersten Mal sichere schwarze Zahlen geschrieben, und dann kam da dieser Hannich, zog seine Renovierung mit viel Geld und viel Aufhebens innerhalb weniger Wochen durch und präsentierte einen ganz neuen Ferienhof. Sie konnte sich nicht helfen, es fühlte sich so an, als wolle er auf ihrem Erfolg aufbauen. Der Sperlingshof hatte Schevelsbach für den Tourismus erschlossen. Gut Abendrot dagegen …
Nein, Jody durfte nicht in diese Denkweise verfallen. Das war doch nichts als reine Eifersucht. Sie musste sich ablenken. Und Mats auch. „Was gibt es zum Essen?“, wollte sie wissen. Kochen war glücklicherweise immer ein Thema, mit dem man Mats auf andere Gedanken bringen konnte. „Ich bräuchte schnell etwas, bevor die Thalmanns auftauchen.“
„Soljanka?“, schlug Mats vor. „Ich hab noch welche eingefroren. Ich muss auch gleich wieder los. Muss noch eine Charge Schokolade machen, bevor ich den Laden für heute Nachmittag öffne.“
Jody grinste. „Welche Sorte?“
„Haselnuss-Krokant“, gab er zurück. „Die ist schon fast wieder alle.“
„Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum“, murmelte Jody und schlang erneut ihre Arme um Mats. Wenn sie glaubte, damit ihr schuldbewusstes Rotwerden verbergen zu können, hatte sie sich getäuscht.
„Dass jemand, der sonst so gut haushalten kann, mir immer meine Vorräte wegfuttern muss!“, sagte Mats lachend. Er küsste sie auf den Scheitel. „Ich komme ja gar nicht mit dem Kochen nach. Was ich alles machen könnte, wenn ich nicht Schokolade kochen müsste.“
„Soljanka?“, erwiderte Jody.
Tatsächlich war es fast drei Uhr, als der Caddy der Thalmanns auf den Hof gerollt kam. Jody hatte inzwischen begonnen, den Vorgarten zu jäten, allerdings ganz vorsichtig. Sie wollte ihre saubere Jeans nicht gleich wieder mit Erde verdrecken, jetzt, wo sie den Schleifstaub aus ihren Haaren gewaschen hatte.
Balu bemerkte das Auto als Erster. Laut bellend sprang er ihm entgegen. Erst bei Jodys drittem Pfeifen ließ er von seiner Beute ab und kam wieder zu ihr zurück. Sie lächelte entschuldigend, packte Balu am Halsband und hielt ihn fest, während aus dem Auto zwei Erwachsene und drei Kinder stiegen. Zwei blonde Jungen und ein rothaariges Mädchen, der älteste – fast schon ein Teenager – trug einen betont gelangweilten Gesichtsausdruck zur Schau, der Jüngste überschäumend vor Freude. Noch bevor seine Eltern auch nur den ersten Schritt auf Jody zugemacht hatten, kam er auf sie zugewirbelt, baute seinen ganzen Meter Körpergröße vor ihr auf und sagte: „Hallo, ich bin Marlon und schon so alt.“ Strahlend streckte er ihr drei schokoladenverklebte Finger entgegen. „Und es gibt hier Schafe.“ Er verkündete es, als wäre es eine großartige Neuigkeit für sie.
Jody musste lächeln und ging vor dem kleinen Kerl in die Hocke. „Ich bin Jody“, sagte sie. „Willst du denn die Schafe gleich mal sehen?“
Seine leuchtenden Augen sprachen Bände, doch in diesem Moment erreichten sie die Eltern.
„Marlon, du sollst doch nicht einfach …“, begann die Mutter, brachte den Satz allerdings nicht zu Ende, sondern sah Jody nur mit einem hilflosen Schulterzucken an.
Ihre anderen beiden Kinder trotteten langsam auf sie zu wie von unsichtbaren Gummibändern gezogen. Jody schenkte allen ein Lächeln, selbst dem gelangweilten Beinah-Teenager, und streckte ihre Hand aus. „Judith Sperling. Herzlich willkommen auf dem Sperlingshof. Hatten Sie eine gute Fahrt?“
Der Vater warf einen vielsagenden Blick auf die drei Kinder und lächelte verlegen. Dann griff er ihre Hand und drückte sie. „Michael Thalmann. Tut mir leid, dass wir so spät kommen. Wir sind ein bisschen später aufgebrochen.“ Er hatte einen angenehmen, festen Händedruck. „Schön, dass wir es jetzt geschafft haben.“ Er streckte sich ausgiebig und sah sich um. „Es sieht toll aus“, versicherte Frau Thalmann und strahlte. „Es riecht sogar nach Land. Also … nicht nach … Sie wissen schon … Nach Tieren und Heu.“
Jody lachte. „Wir haben unseren Misthaufen ein gutes Stück vom Haus entfernt angelegt“, versicherte sie. „Und bei Schafen und Ponys ist der Geruch sowieso nicht so schlimm wie bei Kühen oder Schweinen.“ Sie beobachtete aus den Augenwinkeln, wie der bis eben noch gelangweilte Junge neugierig zu der Weide hinüberspähte, wo sich gerade der dicke Kopf von Alec, dem Esel, über den Zaun geschoben hatte. Jody schmunzelte. Alec konnte auch Bauernhofmuffel weich werden lassen mit seinen riesigen braunen Augen. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Wohnung. Und wenn Sie möchten, erzähle ich Ihnen auch gleich ein wenig von unseren Angeboten.“
„Das wäre …“, begann die Mutter, doch Marlon zupfte schon an ihrem Hosenbein.
„Mama, ich will die Schafe jetzt sehen. Und die Kaninchen. Du hast gesagt, es gibt Kaninchen.“
Der Älteste verdrehte die Augen, als gäbe es nichts Langweiligeres auf der Welt als Kaninchen, aber das Mädchen horchte ebenfalls auf.
„Gerne …“, begann Jody, doch sie unterbrach sich, als sie die Erschöpfung auf den Gesichtern der Eltern erkannte. Es war offensichtlich, dass sie erst ihre Unterkunft sehen wollten. Glücklicherweise bog in diesem Moment Mats um die Scheunenecke, Michel ihm dicht auf den Fersen. Mit ein paar Schritten war er bei Jody und schenkte allen Anwesenden ein herzliches Lächeln. „Guten Tag“, sagte er in keine bestimmte Richtung. „Ich bin Mats Sperling.“ Michel spähte hinter seinen Beinen hervor, und stupste Marlon mit seiner weichen Nase an.
„Ein Schaaaaf.“ Von diesem Moment an war für den Jungen alles andere unwichtig. Er ließ sich auf die Knie fallen und schlang Michel die Arme um den Hals.
„Das ist Michel“, stellte Mats ihn in ernsthaftem Ton vor.
„Er ist so … klein“, meinte Frau Thalmann und sah verwundert auf Michel herunter. „Ist er noch nicht ausgewachsen?“
„Er ist ein Ouessantschaf. Das ist die kleinste Schafrasse Europas“, erwiderte Mats. Wie meistens klang seine Stimme so leise und freundlich, dass sich niemand an der Belehrung störte. Er fuhr sich mit den Fingern seiner Rechten durchs Haar, dann wandte er sich an die Kinder. „Wollt ihr mitkommen? Ich muss die Ponys und Kaninchen füttern.“
Herr und Frau Thalmann blickten etwas besorgt hinterher, als ihre Kinder wie ein Schwarm ausgelassener Spatzen hinter Mats und Michel herliefen.
Der Anblick versetzte Jody einen kleinen sehnsüchtigen Stich, doch sie blieb gefasst. „Keine Sorge“, meinte sie. „Unsere Tiere sind vollkommen brav.“ Sie ahnte, dass das vermutlich nicht die Hauptsorge der Eltern war. Inzwischen wusste sie, dass es vielen schwerfiel, ihre Kinder allein zu lassen. Doch sie ließ sich dadurch nicht beeindrucken. Sollten sie ihre Sprösslinge ruhig einmal ein wenig loslassen. Das tat ihnen sicher gut.
„Ich zeige Ihnen jetzt die Wohnung.“ Sie führte die Thalmanns zur blauen Treppe. Aus den Augenwinkeln erhaschte sie einen Blick auf Charlie, die in einem blumenbedruckten rotorangefarbenen Kleid an der Eingangstür des Tagelöhnerhauses stand und neugierig herübersah, aber sie beschloss, ihre Schwester vorerst mal zu ignorieren. Mit den Gästen hatte sie nun wirklich nichts zu schaffen.
Während sie die Treppe hinaufstiegen, konzentrierte sich Jody auf ihre übliche Empfangsrede. „Den Garten hinter dem Haus dürfen Sie nutzen, und im Schuppen finden Sie unseren Fuhrpark: Fahrräder, Bobbycars, ein Dreirad und zwei Kettcars. Bei uns wurden schon richtige Wettrennen gefahren.” Sie lächelte. „Unser Gelände geht bis zum Bach runter. Über die Brücke kommt man bis zur alten Mühle, da können die Kinder unbesorgt langbrausen, da fahren keine Autos. Höchstens mal eine Pferdekutsche. Draußen gibt es außerdem ein Trampolin, eine Nestschaukel, ein Klettergerüst und zwei Sandkästen. Tagsüber sind auch die Tiere draußen und dürfen besucht werden. Abends bringen wir sie in den Stall. Wenn die Kinder mögen, können sie dabei gerne helfen. Aber danach brauchen auch unsere Tiere ihre Ruhe.“
Sie machte eine Pause auf dem obersten Absatz und sah sich nach den Thalmanns um, die ihr bisher schweigend gefolgt waren. Frau Thalmann wirkte etwas überwältigt, aber Herr Thalmann lächelte breit und zufrieden. Jody machte eine Geste den Flur entlang. „Am Ende dieses Flurs wohnt bereits eine andere Familie. Vielleicht begegnen Sie sich heute Abend im Garten, und die Kinder können sich kennenlernen. Sie haben zwei Mädchen, ein bisschen älter als Ihr Großer. 15 und 11.“
„Henri, unser Ältester ist ebenfalls 11“, gab Frau Thalmann zurück. „Und Jessica ist 6.“
„Na, das passt doch gut“, meinte Jody. Sie bemerkte, wie sie sich mehr und mehr entspannte und ihr die Worte leichter von der Zunge gingen. „Und für die Kleineren finden wir sicher auch was. Ich zeige Ihnen nachher gerne das Spielzimmer für Regentage, und es gibt natürlich den Heuboden. Wir haben es aufgegeben, die Kinder davon fernzuhalten, und haben einfach eine Seite zum Höhlenbauen und Herumwühlen abgegrenzt. Außerdem – das haben Sie ja wahrscheinlich schon in der Broschüre gesehen – biete ich kleine Kreativkurse an. Da ist bestimmt auch etwas für die Kinder dabei, vielleicht die Dekopatch-Figuren oder Seifengießen. Heute Abend wollen wir mit Schablonen T-Shirts bemalen, das macht den meisten Kindern auch Spaß. Ich habe ein kleines Programm zusammengestellt, was wir alles in den nächsten zwei Wochen veranstalten. Es hängt unten an unserer Pinnwand.“
„Auf die Kurse freue ich mich besonders“, meinte Frau Thalmann und sah kurz zu ihrem Mann. „Ich fürchte nur, mein Mann …“
„Ach, ich sehe mir die auch gerne an“, unterbrach dieser lächelnd. „Im Zweifelsfall genieße ich einfach meine Freiheit, während ihr euch austobt.“
Sie stieg noch ein paar Stufen hinauf, zog den Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Wohnungstür mit der weißen Henne darauf. „Das ist die Hühnerstiege“, sagte sie. „Ihr Zuhause hier.“
Sie glühte beinahe vor Stolz, als die Eingangstür den Blick auf den hellen Holzboden und die frischen, kräftigen Farben der Sitzecke im Wohnraum freigab. Die Hühnerstiege war zu dieser Tageszeit von Licht durchflutet, und die schrägen Decken und der Geruch nach frischem Holz schlugen Jody immer noch in ihren Bann. Die Wohnung war erst Anfang des Jahres fertig geworden, und sie staunte immer wieder, wie schön sie war.
„Hier geradeaus geht es in die Wohnküche.“ Jody zeigte den Flur entlang. „Weiter hinten haben sie zwei Schlafzimmer mit Doppelbetten und hier vorn eines mit einem Stockbett. Gleich gegenüber vom Bad.“ Sie öffnete die Tür, die einen Blick auf das Badezimmer mit seiner großzügigen Wanne und den grünen, blauen und weißen Fliesen freigab. Ein Hauch Lavendelduft wehte ihr von dem Sträußchen auf dem Fenstersims entgegen.
Die Thalmanns lächelten zufrieden. „Vielen Dank“, sagte Frau Thalmann. „Eine tolle Wohnung.“ Sie sah sich glücklich um. Ihre Freude an der Wohnung war so ansteckend, dass sich in Jodys Bauch gleich ein warmes Gefühl ausbreitete.
„Wenn Sie etwas unternehmen wollen, es gibt hier eine Menge Ausflugsziele, auch für Familien. Wandertouren, Badeseen, Zoos, Höhlen, da finden Sie bestimmt was. Unten auf dem Tischchen neben dem Eingang stehen zwei Ordner mit unseren Ausflugsideen. Wenn Sie etwas Neues entdecken, teilen Sie uns das aber gerne mit. Und auf dem Küchentisch finden Sie noch eine kleine Überraschung. Aus Eigenproduktion meines Mannes.“ Sie lächelte. Mats hatte seine letzten Puddingpralinen und Kaffeetrüffel geopfert und sich scherzhaft beschwert, dass ihm jetzt noch mehr Arbeit bevorstand.
„Wie schön“, meinte Frau Thalmann. „Eine richtige Idylle. Ich freue mich schon so auf die nächsten zwei Wochen.“ Sie sah sich einmal mehr anerkennend in der Wohnung um. „Hier kann man sich so richtig entspannen.“
Es folgte der Moment, der sich trotz aller Erfahrung Jodys noch immer ein wenig seltsam anfühlte. Alle standen auf der Türschwelle herum und niemand wusste so recht, was er noch sagen sollte und ob die Veranstaltung nun zu Ende war.
„Ich lasse Sie jetzt erst einmal in Ruhe ankommen“, sagte Jody endlich. „Wenn Sie noch Fragen haben, mein Mann oder ich sind immer irgendwo auf dem Hof unterwegs. Oder im Laden. Und wenn nicht, dann können Sie einfach an unserer Tür klingeln.“ Ihr fiel noch etwas ein. „Möchten Sie eigentlich unseren Brötchendienst in Anspruch nehmen? Frisch geliefert, direkt auf die Türschwelle.“
Frau Thalmann schüttelte den Kopf. „Wir sind eher Müsliesser. Höchstens sonntags mal …?“
„Kein Problem. An welchen Tagen Sie auch wollen. Die Liste für die Brötchen hängt ebenfalls an unserer Pinnwand. Sie können einfach eintragen, was Sie möchten.“
„Danke“, erwiderte Herr Thalmann und nickte bekräftigend. „Dann sehen wir besser mal nach unseren Kindern und bringen das Gepäck hoch.“
Jody nickte ihren Gästen noch einmal freundlich zu, dann zog sie sich zurück. Ein wenig müde stieg sie die Stufen hinunter. Es fühlte sich an, als wäre es schon ein unendlich langer Tag gewesen. Und sie wollte noch im Laden einspringen. Gerade am Nachmittag kamen öfter mal Kunden aus dem Dorf oder vereinzelte Urlauber, da war es gut, wenn sie nicht erst jemanden aus dem Haus zu klingeln mussten, um etwas kaufen zu können.
Jody seufzte. Sie wäre gerne zu ihrem Tisch zurückgekehrt. Und die Handwerker hatte sie noch immer nicht angerufen. Vielleicht lag das auch daran, dass sie ein wenig Angst vor den neuen Kostenvoranschlägen hatte.
Sie trat auf den sonnenüberfluteten Hof hinaus, blieb einen Moment stehen, und wandte das Gesicht zur Sonne, um Licht und Wärme zu tanken. Sie fühlte sich, als begänne ihr ganzer Körper von innen heraus zu glühen. Vom Stall her wehte der Geruch nach frischem Heu in ihre Nase, hinter dem Haus klang Kinderlachen und Geschrei und auf dem Feld der benachbarten Erdbeerfarm sang jemand ein Lied.
So sollte es sein. Das Leben. Voller Düfte und Töne und Wärme. Es war friedlich. So friedlich, dass sie von einem ungeheuren Glücksgefühl durchströmt wurde. Dann hörte sie eine Tür quietschen, und ein paar Fetzen eines Liedes wehten zu ihr herüber.
„Zisch, zisch, zisch … der Tischler hobelt glatt den Tisch …“
Sie blinzelte, drehte den Kopf und sah zum Tagelöhnerhaus hinüber. Neben der Eingangstür stand ein Möbelstapel. Drei Stühle, ein Esstisch und die Polster eines Sofas türmten sich kreuz und quer. Gerade schleppte Charlotte einen kleinen Ecktisch nach draußen, und ließ ihn unsanft neben dem ganzen Haufen auf den Boden krachen. Der Lärm ging Jody durch und durch.
Bevor Charlie wieder im Haus verschwinden konnte, rannte Jody los. „Was tust du da?“
Charlie war bereits an der Treppe, drehte sich jedoch vergnügt zu Jody um. „Ich habe doch gesagt, ich würde euch ein bisschen unter die Arme greifen. Vorhin war ich in deiner Werkstatt und habe mir den Tisch angesehen, den du gerade restaurierst. Und mit ein bisschen Übung bekomme ich das bestimmt auch hin. Ich werde die Stühle und Tische ein wenig aufmöbeln. Ich habe da neulich im Netz ein ganz tolles Projekt gesehen – etwas mit Dekopapier und Kunstharz. Das sah toll aus, wie in einem Aquarium. Und später kommen dann die Bodendielen dran.“
Jody blinzelte verwirrt. „Und … was machen die Möbel vor der Tür?“
„Na, ich muss sie doch in die Werkstatt bringen. Außerdem stehen sie nur im Weg, wenn ich die Dielen abschleifen will“, verkündete Charlie. „Ich habe mich schon informiert, morgen kann ich die Schleifmaschine im Baumarkt abholen. Dann muss ich mich natürlich noch ein bisschen einarbeiten, aber das dauert ja nicht lange. Und anschließend kann ich loslegen. Du wirst sehen. Ende der Woche ist die Wohnung wie ausgewechselt.“
Jody fand keine Worte. Sie sah Charlie nur ungläubig an. „Denkst du nicht …“, begann sie, aber sie wusste nicht, wie sie den Satz zu Ende bringen sollte. Was könnte sie auch sagen? Charlie war Charlie, und sie würde sich mit voller Energie in die nächstbeste Arbeit stürzen, die sie gerade wichtig fand. Hatte sie das nicht in Kauf genommen, als sie ihr erlaubt hatte, hier einzuziehen?
Nein, murrte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf. Willst du dich dein Leben lang von Charlie einfach überrollen lassen?
Wieder sah sie Charlie vor der Tür stehen. In der Nacht. Mit ihrer Reisetasche zu Füßen. Das eine Mal, als Jody Nein gesagt hatte. Wie wäre Charlies Leben gelaufen, wenn Jody sie nicht draußen hätte stehen lassen?
Nein, das konnte sie nicht noch einmal machen. Sie musste es einfach geschickt angehen. Charlies Energie in eine Richtung lenken, in der sie nicht viel Schaden anrichten konnte. Sie sah Charlies Gesicht. So voller Eifer. Wie ein Kind mit einem neuen Lieblingsspielzeug. Angetrieben von einem Tatendrang, den Jody oft nicht verstand und auf den sie fast ein wenig neidisch war. Auf einmal musste sie schmunzeln.
Vielleicht war es das Beste, ihre Schwester einfach machen zu lassen. Spontane Entscheidungen waren manchmal doch die Richtigen.
Zur Hölle mit meinen Plänen, dachte sie. Charlie kann es ja zumindest versuchen. Eine helfende Hand mehr ist ja nicht schlecht. Sie seufzte, fragte sich, ob sie einen gewaltigen Fehler beging, und sagte schließlich: „Gut, einverstanden. Neben Mats’ Küche führt eine Treppe nach unten. Dort ist der Werkkeller für die Gäste. Dorthin kannst du sie bringen. Wenn du so weit bist, will ich dir zeigen, wie das mit dem Schleifer funktioniert.“
„Toll!“ Charlie strahlte und wirkte einmal mehr wie ein glückliches Kind. „Ich hätte da natürlich auch Ideen für das Farbschema der Wände …“
Jody schüttelte den Kopf. „Nicht noch mehr jetzt“, bat sie. „Ich wollte noch in den Laden, und später muss ich meinen Kurs vorbereiten. Lass uns morgen beim Frühstück darüber reden, ja? Es reicht ja auch erst mal, wenn du dich an die Möbel machst.“
Charlie wirkte schon wieder ein bisschen enttäuscht. Doch dann konnte Jody geradezu sehen, wie sie sich zusammenriss. Sie nickte. „Gut. Beim Frühstück. Ich werde alles aufschreiben, was ich mir ausgedacht habe. Dann können wir das auch Mats zeigen.“
„Ja … na gut“, stimmte Jody vorsichtig zu und war insgeheim ein bisschen erleichtert. Solange Charlie noch Pläne machte, lief sie zumindest nicht in die falsche Richtung los.
Vom Ort her schlenderte ein Pärchen auf den Hof und steuerte auf den Laden zu.
„Ich muss jetzt wirklich los“, sagte Jody. „Sag Bescheid, wenn du mit den Möbeln so weit bist.“
Sie hatte ein etwas schlechtes Gewissen dabei, Charlie mit dem Möbelstapel allein zu lassen. Doch die Arbeit ging vor. Als sie einen Blick zurück zum Tagelöhnerhaus warf, war Charlie schon wieder in der Tür verschwunden. Vermutlich, um den nächsten Stuhl zu holen.