Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller - Veronika Bicker - E-Book

Denn die Nacht bringt das Meer. Nordsee-Thriller E-Book

Veronika Bicker

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Beschreibung

Ein Leuchtturm an der Nordsee – hier versucht Marit, ihrem Alltag zu entfliehen. Doch nachts rauben nicht nur der tosende Sturm und die um den Turm peitschenden Wellen ihr den Schlaf. Sie fühlt sich beobachtet, als würde jemand in dem alten Gemäuer herumschleichen. Auch werden in ihr düstere Erinnerungen wach. Vor Jahren wäre ihre Tochter Janna hier beinahe ertrunken. Im Dorf trifft sie auf kauzige Küstenbewohner, die von Geistern und Meermännern sprechen. Marit steht vor einem Rätsel: Was hat es mit den vielen ertrunkenen Kindern an diesem Ort auf sich? Warum fuhr Janna damals ganz allein aufs Meer hinaus? Und dann kommt erneut ein junges Mädchen zu Tode …

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Veronika Bicker

Denn die Nacht bringt das Meer

Nordsee-Thriller

Bicker, Veronika: Denn die Nacht bringt das Meer.

Nordsee-Thriller, Hamburg, acabus Verlag 2017

Originalausgabe

ePub-eBook: ISBN 978-3-86282-502-8

PDF-eBook: ISBN 978-3-86282-501-1

Print: ISBN 978-3-86282-500-4

Lektorat: Franziska Peikert, Eva-Maria Bergerbusch, acabus Verlag

Cover: © Annelie Lamers, acabus Verlag

Covermotiv: pixabay.com

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der acabus Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

________________________________

© acabus Verlag, Hamburg 2017

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

Für Anika, Conny, Nadine und Nina

Kapitel Eins – Die Stille

Das hohe kreischende Geräusch der Zugbremsen riss Marit aus ihren Gedanken. Sie hatte nicht geschlafen, aber sie fühlte sich, als hätte sie es getan. Die letzte Stunde der Zugfahrt hatte sie damit zugebracht, blicklos aus dem Fenster zu starren. Die Landschaft hinter den Scheiben hatte sich verändert, ohne dass sie es bemerkt hätte. Jetzt blinzelte Marit aus dem Fenster und sah auf einen winzigen, staubgrauen Bahnsteig hinunter, auf einer Seite begrenzt von einem geziegelten Bahnhofsgebäude. Und hinter dem Gebäude – nichts.

Nein, nichts war sicher der falsche Ausdruck. Natürlich war da etwas, aber das Etwas war leer und wunderbar ruhig. Eine flache, graugrüne Wiese, die sich unter einer steingrauen Wolkendecke dahin zog, bis sie in gar nicht allzu weiter Ferne abrupt zu einem von Schafen weißgetupften Wall anstieg.

Ein Deich. Kein Wall. Ein Deich.

Marit merkte, wie ihr allein schon der Gedanke ein Lächeln auf das Gesicht zeichnete. Über ihre Freude, endlich angekommen zu sein, hätte sie beinahe vergessen, dass sie hier in Nordersiel aussteigen musste. Erst als sie das unmissverständliche Geräusch der sich langsam schließenden Zugtüren hörte, sprang sie auf, zog ihre Reisetasche und ihren kleinen Lederrucksack von der Gepäckablage und stürzte zum Ausstieg. Sie hämmerte auf den grünen Knopf ein, bis die Türen ein Einsehen hatten und sich zischend wieder öffneten. Erleichtert schulterte Marit Tasche und Rucksack, kletterte auf den Bahnsteig herunter und blieb stehen. Durch die Zugfenster sah sie die missbilligenden Mienen ihrer Mitreisenden, die ihretwegen jetzt sicher zwei kostbare Minuten verloren hatten, dann ruckte die kleine Regionalbahn an und rollte beinahe lautlos davon.

Marit war allein.

Jetzt, wo sich das schützende Zugfenster nicht mehr zwischen ihr und ihrer Umwelt befand, konnte sie plötzlich so viel mehr in der Leere wahrnehmen, dass es ihr schier die Sinne raubte. Vom Deich her wehte eine schwache Brise und brachte einen Geruch nach altem Tang, Wolle, Salz und Stille mit sich. Aus einer anderen Richtung trieb Holzfeuerrauch zu ihr hinüber und mischte sich angenehm mit dem Meeresgeruch. Vögel sangen unsichtbar im hohen Gras, dann und wann konnte man das Schlagen von Flügeln vernehmen, wenn einer von ihnen aufgescheucht wurde. Der Wind raschelte durchs Gras, kühlte Marits Wangen und raunte Worte in einer fremden, stillen Sprache. Marit glaubte, schon jetzt Salz auf ihren Lippen schmecken zu können, dabei fühlten sie sich doch nur rau und rissig an, als sie mit der Zungenspitze darüber fuhr.

»Moin, Sie brauchen ein Taxi?«

Marit blinzelte und kehrte einmal mehr in die Gegenwart zurück. Der Mann neben ihr auf dem Bahnsteig trug einen Parka mit hochgeschlagener Kapuze, hatte die Hände in die Taschen gesteckt und die Schultern hochgezogen, als befänden sie sich am Polarkreis. Er war einen halben Kopf kleiner als Marit, so dass sie auf seine Kapuze hinunter sehen konnte, und seine gebeugte Gestalt war so dürr, dass sie Angst hatte, selbst die leichte Brise könnte ihn davon wehen.

»Ja, tatsächlich.« Sie lächelte, aber gleichzeitig wunderte sie sich ein wenig. Der Mann sah nicht wie ein Taxifahrer aus.

Er schien ihre Verwunderung zu bemerken und zuckte mit den Schultern. »Herr Dieck hat mich angerufen. Ein richtiges Taxi gibt’s hier außerhalb der Saison nicht, aber ich hole ab und zu die Leute vom Bahnhof ab. Kommen Sie!«

Er drehte sich um und ging mit ruhigen Schritten zu der kleinen Treppe, die vom Bahnsteig hinunter führte. Er bot Marit nicht an, ihre Tasche zu tragen, und sie war froh darüber. Auch über das freundliche Schweigen, mit dem er ihr den Kofferraum des Volvos öffnete und sie schließlich zur Beifahrertür wies. Marit brauchte keine Worte.

»Der Leuchtturm, richtig?« Das dünne Männchen war hinter das Steuer gerutscht und drehte den Zündschlüssel im Schloss.

»Richtig. Ist es weit?«

Marit ließ ihr Fenster einen Spalt hinunter und genoss es, als der Wind hinein wehte. Ihre Haare wirbelten in feinen, hellblonden Strähnen über ihr Gesicht.

»Nicht sehr.« Er sah sie kurz von der Seite an. »Wollen Sie nicht erst ins Dorf? Vorräte kaufen? Sie haben ja nicht gerade viel Gepäck. Sie sollten was zu essen haben. In zwei Stunden machen die Läden zu und morgen sind sie geschlossen.«

Marit konnte ihm ansehen, dass das eine längere Rede gewesen war, als er geplant hatte, denn er schloss ziemlich abrupt den Mund und lenkte den Wagen auf eine schmale Asphaltstraße hinaus.

»Nein danke, meine Vorräte sollten bereits geliefert worden sein. Ich bin für ein paar Tage versorgt.« Der Fahrtwind ließ den Geruch nach Meer ein wenig verfliegen und Marit drehte die Nase zum Fenster, um wenigstens ein bisschen davon einzufangen.

Der Fahrer warf ihr wieder einen kurzen Blick zu und schien ernsthaft zu überlegen, ob er wirklich weitersprechen sollte. »Wie lange bleiben Sie denn?«, wollte er schließlich doch wissen.

»Für immer.«

Die Straße führte schnurgerade auf den Deich zu. Über den Wiesen links und rechts kreisten jetzt Silbermöwen.

»Für immer?« Der Fahrer machte eine kurze Pause. »Sie haben den Turm doch nicht gekauft, oder? Ich weiß, dass der alte Dieck verkaufen wollte, aber ich wusste nicht, dass da schon etwas passiert ist. Wann haben Sie denn besichtigt?«

»Gar nicht.« Der Deich war auf einmal direkt vor ihnen, dann erhoben sich für einen kurzen Moment links und rechts vom Auto die steilen Metallwände eines Deichdurchbruchs, bevor sich das Land wieder öffnete. Bräunlich gelbe Salzwiesen, ein paar graue Tümpel, auf denen Brandgänse dahin paddelten, und in der Ferne das Meer. Ebenfalls grau und flach, mit ein paar winzigen weißen Spitzen. Ein friedliches Tier. Zumindest heute.

Sie konnte beinahe hören, wie die Gedanken ihres Fahrers kreisten. »Gar nicht«, wiederholte er schließlich langsam. »Warum nicht?«

Marit hob die Schultern. »Weil ich nicht gekauft habe.«

Über sein überraschtes Gesicht musste sie lächeln und sie ahnte schon die nächste Frage. Es machte ihr nichts aus, seine Fragen zu beantworten. Sie waren immer noch angenehmer als Jannas Vorwürfe. »Du kannst doch nicht einfach vor allem davonlaufen, Mama. Wie alt bist du eigentlich, zwölf?«

»Höchstens«, murmelte Marit eine Antwort auf die Frage ihrer Tochter, doch als sie das verwirrte Gesicht des Fahrers bemerkte, lächelte sie nur wieder. Sie schuldete ihm wohl eine Erklärung. »Herr Dieck ist ein guter Bekannter von mir. Ein Freund, könnte man sagen.« Eigentlich ein Gast, kein Freund. Ein lieber, langjähriger Gast im Hotel. Freunde habe ich keine. Doch das sollte sie vielleicht nicht vor dem Taxifahrer erläutern. »Er hat mir angeboten … nun, den Turm zu hüten, bis ich hier etwas Eigenes finde. Er braucht jemand, der ihn in Schuss hält und ab und zu potentielle Käufer herumführt. Ich habe das Angebot angenommen, ohne mir den Turm anzusehen. Meine Tochter und ich haben …« Nein, wenn sie auf diese Weise weitersprach, würde sie zu viel preisgeben. »Wir hielten es beide für eine gute Idee«, log sie. »Wir haben vor längerer Zeit mal ein paar Wochen in dieser Gegend verbracht und ich habe gute Erinnerungen daran.« Sie lächelte. »Ich wollte mich überraschen lassen.«

Ihr Fahrer nickte, aber er sagte nichts mehr. Der Rest der Fahrt verlief in Schweigen. Marit konnte vom Meer her die Wellen hören. Es war nur ein sehr leises Geräusch, da der Wind immer noch ziemlich schwach ging, doch es war eindeutig Meeresrauschen.

Das werde ich jetzt immer haben, ging es ihr durch den Kopf. Immer Wellen, immer Salz in der Luft, immer Wind, immer Möwenschreie, immer Boote am Horizont, Rippeln auf dem Wasser und im Sand, Wattwürmer, Tang, Stürme, Touristen im Sommer und Dorfbewohner im Winter.

Es war eine seltsame Vorstellung, schwer zu glauben. Das alles waren Dinge, die zum Sommer gehörten, zum Urlaub, nicht zum täglichen Leben. Und doch, natürlich gab es Menschen, die diesen Alltag lebten. Warum sollte sie es also nicht ebenfalls können?

Die Straße unter den Rädern des Volvos stieg auf einmal an. Marit wandte sich dem Weg vor sich zu und sah, dass sie abermals im Begriff waren, den Deich zu queren, dieses Mal auf einer Straße, die schräg hinaufführte statt mittendurch. Aber nein, sie überquerten ihn nicht, sondern folgten der Deichkrone ein kurzes Stück, bevor der Fahrer das Auto auf einem Parkplatz ausrollen ließ.

»Da sind wir.« Er stellte den Motor ab. Marit reckte den Hals, um durch das Autofenster nach oben sehen zu können. Eine rote Ziegelmauer ragte vor ihr auf. Irgendwie hatte sie damit gerechnet, dass der Turm rot-weiß sein würde. Sie glaubte, ihn so vom letzten Mal in Erinnerung zu haben, als sie in der Gegend gewesen war. Aber vielleicht ließ sie sich auch nur vom gängigen Klischee täuschen. Und hatte Herr Dieck nicht etwas von einer neuen Fassade gesagt?

»Danke.« Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Beifahrertür und Marit stieg aus ihrem Sitz. Sofort schlug ihr wieder kühle Seeluft entgegen. Der Wind wehte hier, direkt an der See, schon stärker und das Wellenrauschen war lauter als zuvor.

»Sollte Sie jemand hier erwarten?« Der Fahrer war ebenfalls ausgestiegen und sah sich zweifelnd um.

»Der Schlüssel liegt unter der Türmatte.« Marit lächelte. »Furchtbares Klischee, ich weiß.«

»Und Ihr Auto?«

»Ich habe keins.«

Ein Blinzeln. Die Hände in den Parkataschen zuckten kurz. »Wie wollen Sie ins Dorf kommen, um einzukaufen?«

Marit deutete auf ein himmelblaues Fahrrad, das unter dem Dach des großzügigen Carports rechts vom Leuchtturm stand. »Bis Nordersiel sind es nur ein paar Kilometer. Und schwerere Sachen kann ich mir liefern lassen. Machen Sie sich keine Sorgen. Es ist alles durchdacht.«

Der Mann hob die Schultern. Marit glaubte zu wissen, was er dachte. Wahnsinnige sollte man einfach machen lassen. Immerhin bewegte ihn Marits Situation dazu, sich nützlich zu machen. Er öffnete den Kofferraum und holte ihr Gepäck heraus, auch wenn das keine besondere Anstrengung bedeutete. Dann begleitete er Marit bis zur Eingangstür und vergewisserte sich, dass sie tatsächlich einen Schlüssel unter der Fußmatte hervorzog.

»Na dann«, meinte er schließlich.

»Wie viel bekommen Sie?« Marit zog ihren Geldbeutel hervor.

»Zwanzig?« Es klang mehr wie eine Frage als eine feste Aussage. Marit gab ihm dreißig.

»Behalten Sie es! Vielen Dank.« Sie lächelte, doch insgeheim hoffte sie, dass er endlich in sein Auto steigen und davonfahren würde. Er war kein unangenehmer Typ, aber sie wollte jetzt allein sein. Allein mit der Stille und dem Meer.

Der Mann sah noch einmal von Marit zum Leuchtturm und zurück, dann hob er die Schultern und begann, in seinen Parkataschen zu wühlen. Schließlich förderte er eine etwas verknickte Visitenkarte zu Tage und hielt sie Marit hin. »Falls Sie was brauchen. Ich fahre nicht nur zum Bahnhof. Sie können mich bis spät am Abend erreichen.«

Marit nahm die Karte, mehr aus Höflichkeit als in dem Gefühl, sie wirklich zu brauchen. »Peer Thomas. Privater Taxidienst« stand darauf, darunter eine Handynummer. Die Karte war aus cremefarbenem, festem Papier und wirkte ziemlich edel, besonders wenn man sich im Vergleich dazu den Mann selbst ansah, doch Marit lächelte ihn dankbar an. »Dann werde ich mir jetzt mal meinen Turm ansehen«, sagte sie und dieses Mal verstand er den Hinweis. Er nickte ihr noch einmal zu, dann schlurfte er zu seinem Volvo zurück und ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen. Marit wartete ab, bis das Auto gewendet hatte und den Deich hinuntergerollt war, bevor sie ein paar Schritte von der Eingangstür zurücktrat, sich wieder zu ihrem Turm umdrehte und ihn zum ersten Mal wirklich in Augenschein nahm.

Er war kleiner, als sie sich einen richtigen Leuchtturm vorgestellt hatte, etwas gedrungen, wie ein alter Mann, der stur auf dem Deich hockte und nicht daran dachte, sich von dort vertreiben zu lassen. Die Fassade rundherum bestand aus roten Ziegeln, wie bei den meisten Häusern hier in der Gegend, und die Fenster waren erstaunlich groß und modern. Vielleicht nachgerüstet. Das Dach streckte sich trotzig dem Wind und den Wolken entgegen und Marit konnte die Glasfenster direkt darunter mehr erahnen als wirklich sehen. Sie fragte sich, ob sie in die Beleuchtungskammer gehen konnte oder ob der Zutritt untersagt war. Sie hatte Herrn Dieck nicht gefragt, damals war es ihr nicht wichtig gewesen. Aber jetzt verspürte sie ein Kribbeln, das durch ihren ganzen Körper lief. Sie musste einfach dort hinauf.

Mit fest entschlossenem Schritt ging Marit auf die Eingangstür zu, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum.

Die Tür schwang auf und für einen Moment hielt Marit den Atem an. Bis jetzt hatte sich noch alles angefühlt wie eine angenehme Urlaubsreise. Aber nun wurde ihr klar, dass die Tür des Leuchtturms auch die in ihr neues Leben war. Ein Schritt ins Ungewisse lag vor ihr.

Marit war sich plötzlich sicher, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben, als sie das Angebot angenommen hatte. Sie hätte im Hotel bleiben sollen. Janna hatte es ihr angeboten und immerhin hatte sie selbst es zu dem gemacht, was es heute war. Und auch wenn ihre Tochter jetzt alles veränderte — warum konnte Marit das nicht akzeptieren?

Es war ein Fehler und dieser würde sich jetzt offenbaren. Jannas Stimme klang noch allzu deutlich in ihren Ohren. »Mama, du wirst auf die Nase fallen. Und ich habe nicht die Zeit, dir zu helfen, wenn das passiert. Du weißt doch, wie es ist mit dem Hotel.« Ja, sie wusste, wie es mit dem Hotel war. Sie hatte selbst lang genug darin geschuftet, Tag für Tag, ohne sich richtige Pausen zu gönnen. Und Janna tat es ihr nun gleich.

Für einen langen Moment wagte Marit nicht einmal, in den Innenraum zu sehen. Sie musste das Bedürfnis unterdrücken, sich einfach wieder umzudrehen und fortzugehen, zurück in die Sicherheit ihres alten Lebens.

Ich kann das. Ich habe es mir verdient. Sie atmete tief durch. Ab jetzt geht es vorwärts.

Das bedrückende Gefühl legte sich ein wenig, als Marit den ersten Schritt über die Schwelle tat und sich umsah.

Der Raum war größer, als sie von außen vermutet hätte, rund und komplett mit hellem Holz getäfelt. Der Fußboden bestand aus hochwertigem Parkett. Eine Garderobe, ein kleiner Holztisch mit einer Schale aus poliertem Stein, dann weiter hinten ein massiver Esstisch mit vier Stühlen und eine offene Küche mit steinernen Arbeitsplatten. In der Mitte des Raumes führte eine alte Metallwendeltreppe nach oben und verschwand in der Decke. Es war modern hier, freundlich, und roch nach Holzpolitur. Dennoch war es kein Raum, der Marit auf Anhieb sympathisch war. Er war einfach zu exakt. Alle Möbel waren neu und passten zusammen, sodass das Zimmer aussah wie aus einem Möbelkatalog. Sogar die blaue Vase voller Osterglocken auf dem Tisch wirkte wie das übliche Ausstellungsstück zum Thema »Gemütliches Familienleben.«

Keine Familie, dachte Marit und machte sich auf den Weg in die Küche. Mit einem Blick in den Kühl- und den Lebensmittelschrank versicherte sie sich, dass sie tatsächlich alles da hatte, um die ersten Tage hier unbeschadet zu überstehen. Dann drehte sie sich sofort um und lief mit großen, erwartungsvollen Schritten die Wendeltreppe hinauf. Erst ein Wohnzimmer, großzügig, mit weißen Möbeln eingerichtet und genauso unpersönlich wie Küche und Esszimmer. Ein kleines Bad war durch eine Zwischenwand abgetrennt worden, beige Kacheln mit Meeresmotiven, Alltagskitsch.

Erst im nächsten Stock begann Marit, sich heimischer zu fühlen.

Ihn teilten sich zwei kleine Zimmer: ein Büro, seltsam heimelig durch ihren alten Schreibtisch und den bereits installierten Rechner, die Herr Dieck hatte herbringen lassen, auf der anderen Hälfte ein kleines Gästezimmer, sandfarben und blau eingerichtet, wieder der Ferienwohnungslook.

Weiter nach oben, und da endlich: das Schlafzimmer. Sie atmete auf, als sie den Raum betrat. Herr Dieck war zunächst ein wenig verblüfft über ihren Wunsch gewesen, ausgerechnet ihre ältesten Möbel mitzunehmen, aber dann hatte er gelacht. »Sie haben mich jahrelang so fühlen lassen, als wäre ich bei Ihnen zu Hause. Jetzt kann ich das Gleiche für Sie tun.« Und ohne einen weiteren Kommentar hatte er sich mit ihr zusammengesetzt und das Schlafzimmer geplant. Anschließend hatte er dafür gesorgt, dass ihre Möbel und privaten Gegenstände im Leuchtturm landeten, noch bevor sie selbst hier ankam.

So wenig es auch war, es hatte den gewünschten Effekt. Jetzt war sie zu Hause, und jetzt wusste sie auch, dass sie keinen Fehler gemacht hatte, jedenfalls keinen so großen, wie ihr Janna unterstellen wollte. Die Wände des Schlafzimmers waren schlicht weiß verputzt, der Boden bestand noch aus alten Holzbohlen, abgeschliffen und neu geölt, aber dennoch quietschten sie leicht unter Marits Schritten, als sie sich ihrem Bett näherte.

Es war ein Doppelbett, immer gewesen, obwohl sie es stets alleine genutzt hatte. Abgesehen von den Zeiten, als Janna noch ein kleines Mädchen gewesen und vor den Ängsten der Nacht unter Marits Bettdecke geflohen war. Altes, dunkelrotes Kirschholz, weich unter ihren Fingern, die gelbe Tagesdecke darüber, darauf die zottelhaarige Puppe namens Michel, die noch aus Marits Kindheit stammte. Der Holzfäller-Michel, so hatte sie ihn genannt, und nun ging sie zu ihm, nahm ihn hoch und drückte ihn an sich, eine kleine Sicherheit in der Fremde. Marit steckte ihre Nase in den schwarzen Schopf und atmete tief ein. Er roch ein wenig nach Staub und Lavendel, aber er fühlte sich immer noch so beruhigend knubbelig an wie früher.

Es war Zeit, den Rest des Zimmers zu begutachten. Langsam drehte Marit sich um ihre eigene Achse. Hier oben waren die Fenster schmal und das Licht deswegen schwächer als im restlichen Turm. Halbdämmerig, als wäre es bereits Abend. Zwei alte Kleiderschränke von zu Hause enthielten vermutlich den Großteil ihrer Garderobe. Auf dem Fußboden lag ein neuer, dunkelgrüner Teppich, der an Moos erinnerte. Perfekt auf die Rundung der Wand abgestimmte Bücherregale säumten eines der Fenster. Hier reihten sich Marits Lieblingsbücher, die wenigen, für die ihr Zeit geblieben war. Doch all das war nicht das Beste an dem Zimmer. Marit drehte sich weiter, bis ihr Blick zur Ruhe kam.

Ihre aus Reet geflochtenen Paravents teilten das Zimmer in zwei Halbkreise. Hinter dieser Wand befanden sich Marits Sessel, der kleine, scheußliche, knallrote Beistelltisch, den sie sich in ihrer Teenagerzeit angeschafft hatte, und eine winzige Anrichte mit einer zweiten Kaffeemaschine und einem Teekocher darauf. Marit wusste, dass sich in dem Fach darunter das angeschlagene rote Kaffeegeschirr finden würde, eine Packung Hochlandkaffee, ihre vier Lieblingstees, verschiedene Zuckersorten und ein Wochenvorrat an Walkers Shortbread Fingers.

Durch eines der schmalen Fenster fiel ein Lichtstrahl auf den abgewetzten graugrünen Stoff des Sessels, ein kleiner Willkommensgruß. Zwei schnelle Schritte, dann ließ sich Marit mit einem Seufzen auf das Polster fallen, drückte den Holzfäller-Michel fest an sich und wandte ihr Gesicht in die Sonne. Sie schloss die Augen und holte Luft. Einige tiefe Atemzüge lang fühlte sie sich wie eine Pflanze, die einfach nur die Wärme und das Licht genoss.

Zu Hause.

Irgendwann in der nächsten Zeit musste sie wohl aufstehen und sich etwas zu essen machen. Die tausend Kleinigkeiten organisieren, die mit ihrer Ankunft hier verbunden waren. Herrn Dieck anrufen und ihm für all seine Mühen danken, ohne dass er auf den Gedanken kam, dass sie in ihm mehr als einen guten Freund sah. Aber jetzt nicht. Jetzt nicht.

Kapitel Zwei – Geister der Vergangenheit

Ein kühler Luftzug hatte sich an den Paravents vorbeigestohlen und strich über Marits Wangen. Sie öffnete die Augen und bemerkte zu ihrer Verwunderung, wie dunkel es im Zimmer geworden war. War sie tatsächlich eingeschlafen?

Ich werde alt. Doch in dem Moment, in dem ihr dieser Gedanke durch den Kopf ging, merkte sie, dass er nicht mehr als ein Reflex war. Etwas, das sie in den letzten Jahren viel zu oft gedacht hatte. Aber jetzt schien er nicht mehr zu passen. Sie fühlte sich jünger als in den letzten fünfzehn Jahren zusammen. Sie konnte geradezu spüren, wie der Druck nachließ, ein Druck, der sie über die Hälfte ihres Lebens begleitet und sie in der Spur gehalten hatte, bis sie ihn gar nicht mehr bewusst wahrnahm. Langsam erhob sich Marit aus ihrem Sessel, streckte sich und drehte den Kopf in alle Richtungen. Zeit, etwas Vernünftiges zu tun. Abendessen zum Beispiel. Und eine Dusche nehmen. In dieser Reihenfolge? Die Tatsache, dass sie tatsächlich Zeit und Muße hatte, darüber nachzudenken, hob ihre Stimmung gleich noch ein wenig an.

Marit war gerade noch dabei, eine endgültige Entscheidung zu fällen, als ein schriller Ton sie aus ihren Gedanken riss. Sie brauchte einen Moment, um das Geräusch richtig einordnen zu können; es schien so gar nicht in diese Welt von Meer und Vergangenheit zu passen. Dann wurde es ihr klar: das Handy. Sie hatte ihren kleinen Lederrucksack vorhin beim Eingang abgelegt, und dort drin befand sich neben ihren Papieren und ihrem Portemonnaie auch das neue Smartphone, das ihr Janna zum Abschied aufgedrängt hatte. Marit hatte es nicht haben wollen und aus rein kindischem Trotz den grässlichsten Klingelton eingestellt, den sie auf dem Ding hatte finden können. Verärgert über sich selbst schüttelte sie den Kopf und eilte die Stufen hinunter.

Es wird in dem Moment zu klingeln aufhören, in dem ich es in die Hand nehme, ging es ihr durch den Kopf. Das ist doch immer so. Sie beeilte sich, nahm bei der letzten Treppe immer zwei Stufen auf einmal und erreichte den klingelnden Lederrucksack. Noch immer ließ das Handy nicht locker. Jemand wollte sie sehr dringend sprechen. Marit schob die Hand in die Tasche und zog gleich darauf das Handy heraus. Das Display leuchtete ihr in einem matten Blau entgegen. »Janna«, stand darauf.

Marit seufzte. Einen Augenblick lang sah sie das Handy nur an und hoffte beinahe, dass es nun endlich zu klingeln aufhörte, doch der schrille Ton wiederholte sich unbeirrt. Marit gab auf und drückte den Annahmeknopf.

»Hallo?«

»Du hast nicht angerufen.« Jannas Stimme, wie in weiter Ferne, der Vorwurf war unverkennbar in ihrem Tonfall zu hören. Marit wusste sogar, wie ihre Tochter in diesem Moment aussah, die dunklen Augenbrauen zusammengezogen und eine steile Falte dazwischen, die grauen Augen voller Sturm.

»Hallo Janna.« Marit zwang sich zu einem Lächeln, das Janna sowieso nicht sehen konnte. »Ich bin gut hier angekommen.«

»Wir hatten ausgemacht, dass du anrufst, sobald du dort bist. Ich warte schon seit Stunden auf deinen Anruf.«

Nein, wir haben überhaupt nichts ausgemacht. Du hast mir gesagt, ich soll anrufen. Ich wurde dabei nicht gefragt. So wie du mich in letzter Zeit nie nach meiner Meinung gefragt hast.

»Es tut mir Leid. Ich habe nicht daran gedacht. Nach der Reise war ich müde und habe mich ein wenig ausgeruht.« Marit brachte es irgendwie fertig, weiterhin das Lächeln auf ihrem Gesicht zu bewahren. Janna war nicht beschwichtigt, aber an ihren nächsten Worten konnte Marit zumindest hören, dass sie sich Mühe gab.

»Mama, ich mache mir doch nur Sorgen, wie es dir geht. Du bist ganz alleine dort oben.«

Und ich bin erwachsen. Ich komme zurecht, Janna.

»Ich bin in Ordnung. Ich werde mir jetzt erst mal einen Kaffee machen und dann Abendessen. Alles ist so, wie ich es geplant habe. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Mir passiert nichts. Was sollte auch schon passieren?«

Schweigen. Marit konnte förmlich hören, wie Janna überlegte. Dann folgte ein unsicheres Lachen. »Kaffee könnte ich jetzt auch gut brauchen.«

»Mit Karamellsirup?« Zum ersten Mal in diesem Gespräch fühlte sich Marits Lächeln echt an.

Janna lachte. Es klang schon viel ehrlicher als das zuvor. »Milch mit Karamellsirup«, sagte sie. »Ich erinnere mich. Die ganzen Ferien lang.«

Marits Blick wanderte zur Küchenzeile. Sie fragte sich, ob im Schrank Karamellsirup stehen würde. Sie meinte, den bitter-süßen Geruch von Karamellkaffee riechen zu können, und ihre Gedanken schweiften ab. Zurück zu den Tagen, an denen sie zum letzten Mal Karamellsirup in ihren Kaffee getan hatte. In den Kaffee und in eine Tasse mit warmer Milch.

»Danke, Mama.« Janna nimmt den Becher mit der schwarzweißen Kuh darauf in beide Hände und hebt ihn vorsichtig an ihre Lippen. Langsam bläst sie über die Oberfläche der heißen Milch. Immer so sorgsam, ihre kleine Tochter. Marit selbst gibt einen Teelöffel Karamellsirup in ihren Kaffee, lehnt sich zurück und nimmt einen vorsichtigen Schluck der seltsamen Mischung. Es schmeckt nicht schlecht, entscheidet sie.

»Mama?«

»Was gibt’s?«

»Tomme hat gesagt, früher gab es so etwas wie Karamellsirup nicht. Nicht mal viel Schokolade. Das ist nur etwas für die Reichen, hat er gesagt, und er hat mich gefragt, ob wir sehr viel Geld haben.«

Marit blinzelt kurz. Das ist jetzt das zweite Mal, dass Janna von diesem Jungen erzählt. Tomme. Ein eigenwilliger Name, aber vielleicht ganz normal in dieser Gegend.

»Wer ist denn Tomme?«, will sie wissen, und nimmt noch einen weiteren Schluck Kaffee. Wirklich, das mit dem Sirup muss sie sich merken. Vielleicht sollte sie im Hotel auch mal Karamellkaffee anbieten. Vielleicht würde das den entscheidenden Kick liefern. Man könnte ja auch andere Sirups nehmen, Schokolade vielleicht, oder …

»Mama, du hörst mir gar nicht zu!«

Der Vorwurf in Jannas Stimme ist unüberhörbar. Marit schüttelt kurz den Kopf, um wieder in die Realität zurückzukehren.

»Tut mir Leid, Kleines. Also, was hast du gesagt?«

»Tomme ist mein neuer Freund.« Janna strahlt. »Er ist ganz ganz toll, Mama. Ich habe noch nie so einen Freund gehabt.«

Marit betrachtet ihre Tochter, das leuchtende Gesicht, die wilden, dunklen Haare, die der Wind in Strähnen an ihre Wangen geklebt hat, die blitzenden Augen, und ist froh, hergekommen zu sein, auch wenn das Hotel Aufmerksamkeit braucht und gerade jetzt dort Hauptsaison ist. Ein Freund. Janna hat keine Freunde, zumindest keine engen. Klassenkameraden, aber keine Freunde.

»Wohnt er hier in einer der Ferienwohnungen?«

Marit könnte mit den Eltern des Jungen sprechen. Vielleicht wollen die Kinder ja zusammen einen Ausflug machen. Seehundbänke ansehen oder in den Zoo gehen. Das würde Janna sicher gefallen.

Janna schüttelt den Kopf und sieht jetzt ein wenig nachdenklich aus. Sie trinkt einen Schluck Karamellmilch und kaut auf ihrer Unterlippe herum.

»Ich weiß gar nicht, wo er wohnt. Ich glaube, irgendwo am Strand.«

»Auf dem Campingplatz vielleicht?«

»Nein, das nicht. Ich … ich weiß wirklich nicht.« Plötzlich ist da etwas wie Ärger in Jannas Stimme. »Ist das denn so wichtig?«

»Nein, nein natürlich nicht«, bemüht sich Marit rasch einzulenken. »Darf ich ihn denn mal kennenlernen? Ich glaube, das würde mir Spaß machen.«

Janna legt den Kopf schief und starrt einen Moment lang gedankenversunken aus dem Fenster, dann leert sie den Rest ihrer Karamellmilch in einem Zug und steht auf. »Er sagt, er glaubt nicht, dass dir das gefallen würde. Erwachsene sind immer ein bisschen komisch, findet er, und außerdem kannst du ihn sowieso nicht sehen oder hören.«

Marit wird ein bisschen kälter. Der plötzliche, eisige Wind draußen vor der Tür ist noch nichts gegen den Sturm der Angst, der genauso unvermittelt in ihr zu toben beginnt. Ein imaginärer Freund. Irgendwann musste das ja kommen. Aber jetzt erst? Janna ist acht Jahre alt, sie sollte aus dem Alter doch raus sein. Was sagt das über ihre Gesundheit aus? Leidet sie unter Halluzinationen?

»Ich gehe jetzt raus, mit Tomme spielen!«, verkündet Janna fröhlich. Sie scheint die Sorgen ihrer Mutter gar nicht recht wahrzunehmen, stößt den Stuhl zurück und springt auf. »Bis nachher!«, ruft sie und ist dann schon zur Tür hinaus. Marit kann das Heulen des Windes hören, von dem ihre Tochter draußen begrüßt wird. Vielleicht spielen ihre Ohren ihr einen Streich, aber sie glaubt, eine helle Stimme in dem Getöse heraushören zu können.

»Mama, bist du noch da?«

Marit schüttelte den Kopf. Wenn sie die Erinnerung nur genauso leicht abschütteln könnte. Unwillkürlich versuchte sie, in der Stimme ihrer erwachsenen Tochter irgendwie das kleine Mädchen wiederzufinden, das Karamellmilch mochte und sich einen Freund erfinden musste, weil sie keinen hatte. Es klappte nicht richtig. Sie hatte das Gefühl, dass dieses Mädchen schon lange verschwunden war.

»Tut mir Leid, ich war in Gedanken.«

»Ist wirklich alles gut bei dir?« Die Sorge, die jetzt aus Jannas Stimme klang, rührte Marit. Ihre eigene wurde sanfter, optimistischer, als sie weitersprach.

»Alles ist in Ordnung, Janna. Der Turm ist schön. Ich wohne jetzt ganz in der Nähe der Ferienwohnung von damals.«

Janna schwieg. Marit wusste nicht, ob Missbilligung in diesem Schweigen lag oder ob sich Janna ebenfalls gern erinnerte. Egal. Sie sprach einfach weiter. »Weißt du noch? Wir sind jeden Tag zu dieser kleinen Eisdiele gewandert. Ich wollte morgen nachsehen, ob es sie immer noch gibt.«

Wieder ein leises Lachen. Marit war erleichtert, es zu hören. »Ich glaube, ich habe noch nie so viel Eis gegessen wie in diesem Urlaub. Ein Wunder, dass wir nicht zehn Kilo zugenommen haben.« Janna machte eine kurze Pause. »Wenn die Eisdiele noch steht, iss eine Kugel Maya-Spezial für mich, ja?«

»Mache ich.«

Sie schwiegen. Keine wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Marit hätte gerne aufgelegt, einfach, weil sie Angst hatte, etwas Falsches zu sagen, etwas, das diesen zarten Waffenstillstand durchbrechen konnte. Aber natürlich konnte sie es nicht lassen.

»Ich will auch zu den Halligen hinausfahren. Die Stelle sehen, wo du damals …«

»Lass das, Mama! Das letzte, was ich jetzt brauche, ist ein Schuld-Trip. Außerdem: Es ist gar nichts passiert.«

»Du bist fast ertrunken.«

»Quatsch.«

»Du hast gesagt …«

»Ich weiß, was ich gesagt habe. Ich war ein kleines Mädchen. Vergiss es Mama, ehrlich!«

Marit konnte den Zorn in der Stimme ihrer Tochter hören. Am liebsten hätte sie sich selbst geohrfeigt. Warum musste sie davon anfangen? Ärgerlich ballte sie ihre freie Hand zu einer Faust und suchte nach einem unverfänglichen Thema, um das Gespräch noch zu einem guten Ende zu bringen. Arbeit. Im Zweifelsfall bleibt immer die Arbeit.

»Janna, ist alles okay im Hotel?«

»Alles okay. Viel zu tun.« Sie bemühte sich, wieder freundlich zu klingen, doch Marit konnte hören, dass Janna das Gespräch beenden wollte. Ein gehetzter Tonfall hatte sich in ihre Stimme eingeschlichen. Ein Tonfall, den Marit nur allzu gut von sich selbst kannte. Sie wusste, wie sie in den Jahren geklungen hatte, in denen das Hotel in ihrer Verantwortung lag.

»Dann störe ich dich nicht länger.« Als wäre sie es gewesen, die angerufen hatte. »Ich melde mich.«

»Ja. Dann … tschüss, Mama.« Janna legte auf, bevor Marit ihre eigene Verabschiedung zu Ende gesprochen hatte. Einen Augenblick lang blieb sie mit dem Handy in der Hand stehen und sah nur das dunkle Display an. »Es tut mir Leid«, flüsterte sie dem kleinen Bildschirm zu, aber sie war sich nicht einmal sicher, was sie genau damit meinte. Und wen.

Mit dem Smartphone in der Hand wanderte Marit zum Küchentisch hinüber und ließ es wenig sanft auf die Tischplatte fallen. Dann warf sie die Kaffeemaschine an. Vielleicht war es wirklich das Beste, wenn sie erst einmal versuchte, wieder richtig wach zu werden. Dann konnte sie immer noch Zeit darauf verwenden, über die Vergangenheit nachzudenken.

Während die Maschine anfing zu gluckern und zu fauchen, öffnete Marit die Kühlschranktür und machte sich auf die Suche nach einem leichten Abendessen. Ein bisschen Tomatensalat, Brot und Frischkäse, entschied sie, zu etwas Exotischerem hatte sie heute keine Energie mehr.

Während sie die Tomaten schnitt, schweiften ihre Gedanken wieder ab. Der Urlaub. Es war eine schöne Zeit gewesen, eine entspannte Zeit für Janna und sie, die sie beide dringend gebraucht hatten. Aber dennoch wurde die Erinnerung überschattet. Es war in dieser Zeit gewesen, als Marit zwischenzeitlich am Geisteszustand ihrer Tochter gezweifelt hatte. Tomme. Immer war es dieser Tomme, der zwischen uns gekommen ist. Ich hatte endlich einmal Zeit, und da musste sie sich jemanden erfinden, der uns die gemeinsame Zeit gestohlen hat.

Draußen war Wind aufgekommen. Er hämmerte in kurzen Böen gegen die Fensterläden und Marit glaubte, die Wände zittern zu sehen. Natürlich war das Einbildung, aber sie war dennoch froh, dass sie sich hier drinnen in Sicherheit befand. Abwesend schabte sie einen Haufen kleingeschnittener Tomaten vom Brettchen in eine Schüssel und machte sich daran, Essig und Öl zu suchen. Von der Kaffeemaschine her zog ein verführerischer Geruch durch den Raum. Alles war so warm und freundlich, wie es nur sein konnte. Trotzdem fröstelte Marit.

Der Wind heulte und Marit fühlte sich an den Tag vor 14 Jahren erinnert, an dem sich vor den Fenstern der Ferienwohnung ein Sturm angebahnt hatte. Sie legte eine Hand auf das kühle Glas des Küchenfensters und spähte nach draußen, doch inzwischen war es dunkel geworden und Regen prasselte gegen das Fenster. Sie konnte nur schemenhaft die schwarze Deichkrone ausmachen, der Himmel dahinter war nur wenig heller.

Hatte sie auch so dagestanden an dem Tag, an dem Janna nicht nach Hause gekommen war? Marit konnte sich nicht erinnern. Nur an diese Unruhe, die sich im Laufe des Nachmittags immer weiter in ihr ausgebreitet und zu einem kalten Klumpen zusammen gezogen hatte, als sich die dunklen Wolken am Horizont abgezeichnet hatten. Marit dachte daran, wie ihre Hand immer wieder wie von selbst zum Telefon gewandert war, ohne dass sie sie aufhalten konnte.

Marits Hand schwebt erneut über dem Hörer. Janna ist beim Kinderprogramm im Strandzentrum, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Warum tut sie es also? Eigentlich hatte sie diesen freien Tag doch genießen wollen, hatte sich gefreut, als Janna von sich aus auf die Idee mit dem Kinderprogramm gekommen war. Marit hatte einen entspannten Nachmittag geplant, mit ihrem neuen Thriller in der Ecke des Sofas oder vielleicht sogar mit ihren viel zu lange vernachlässigten Stricknadeln. Stattdessen ist sie jetzt so nervös, dass sie nicht in der Lage ist, mehr als ein paar Zeilen zu lesen, ohne dass ihr Herz zu rasen beginnt und sie den Faden verliert.

Endlich hat sie es aufgegeben und wandert nur noch ziellos durch die Wohnung. Sie bleibt am Fenster stehen und legt die Hand an das kühle Glas. Über dem Meer ballen sich bedrohlich die Wolken zusammen und Marit kann spüren, wie die Fensterscheibe unter den Windböen leicht zittert. Der Strand ist bestimmt wie leergefegt.

Marit verfolgt eine segelnde Möwe mit ihrem Blick und versucht, sich zu beruhigen. Es ist nicht weit von der Ferienwohnung bis zum Strandzentrum. Wenn das Programm um vier Uhr zu Ende ist, wird Janna bald wieder hier sein. Ganz sicher wird sie bei diesem Wetter doch nicht draußen bleiben, oder? Was, wenn ihr dieser unsägliche Junge, dieser nicht vorhandene Tomme wieder irgendwelche Flausen in den Kopf gesetzt hat?

Marit wirft einen Blick auf die Uhr über der Tür. Fünf nach Vier. Sie spürt, wie sich ihre Hände zu Fäusten ballen und muss sich anstrengen, sie wieder zu öffnen.

Um nicht vollkommen verrückt zu werden, beginnt sie, den Kaffeetisch zu decken. Bestimmt wird Janna halb verhungert sein, wenn sie nach Hause kommt. Marit stellt Milch auf den Herd und nimmt eine Packung Kekse aus dem Schrank. Während sie die Kekse auf einen Teller schüttet, bemerkt sie, dass ihre Hände zittern. Sie schilt sich in Gedanken selbst. Es gibt keinen Grund, nervös zu sein, wirklich.

Marit rettet die überkochende Milch vom Herd, rührt Kakaopulver hinein und lauscht mit einem Ohr auf die Türklingel.

Nichts.

Sie findet sich beim Telefon wieder, weiß nicht genau, wie sie hierhergekommen ist, doch ihr Herz jagt wie nach einem Hundertmeterlauf. Dieses Mal nimmt sie den Hörer in die Hand. Wieder wirft sie einen Blick auf die Uhr. Viertel nach Vier. So schnell? Aber jetzt ist es sicher nicht mehr zu früh, um anzurufen, oder? Wird man sie für übervorsichtig halten? Aber Janna ist erst acht. Ist es da nicht richtig, vorsichtig zu sein?

Sie wählt die Nummer des Strandzentrums, die auf dem Flyer neben dem Telefon steht, und wartet. Wartet. Wartet. Es scheint eine Ewigkeit zu vergehen, bis das monotone Tuten durch eine menschliche Stimme unterbrochen wird.

»Strandzentrum?«

»Ja, hallo …« Sie weiß einen Moment lang nicht, wie sie weitersprechen soll. Vor dem Fenster flackert es hell auf. Ein Blitz.»Mein Name ist Marit Rueckert. Meine Tochter Janna war heute bei Ihnen im Kinderprogramm und ist bis jetzt noch nicht nach Hause gekommen …« Sie lässt das Ende des Satzes in der Luft hängen, hofft darauf, dass die Frau am anderen Ende sie auch so versteht.

»Janna, sagen Sie?« Marit hört Papier rascheln, dann ein paar schnelle Schritte, im Hintergrund werden Worte gewechselt. Draußen rollt jetzt der Donner. Marit hat vergessen zu zählen. Wie viele Sekunden waren das jetzt zwischen Blitz und Donner? Ist das Gewitter bald genau über ihnen?

»Frau Rueckert?« Die Frauenstimme ist zurück am Telefon. »Es tut mir Leid, aber eine Janna war heute nicht in unserem Kinderprogramm. Sind Sie sicher …«

Marit versteht nicht mehr, was danach kommt. Sie starrt aus dem Fenster auf die dunklen Wolken, die jetzt zum Greifen nahe scheinen.

Janna.

Marit lässt den Hörer fallen, wirft sich den Regenmantel über ihre Schultern und reißt die Tür auf.

Marit schüttelte den Kopf. Schnee von gestern. Es hatte wenig Sinn, sich über etwas Gedanken zu machen, das schon so lange vorbei war. Nicht mehr zu ändern. Und es war im Endeffekt nichts passiert, oder? Nichts außer einem gehörigen Schrecken, den sie alle abbekommen hatten. Die Erleichterung, die Marit verspürt hatte, als sie neben Janna im Schiff der Seerettung kauerte, eine Decke um die Schultern, eine Tasse Tee in der Hand, hatte sie vollkommen vom Schimpfen abgehalten. Das und die großen, ängstlichen Augen ihrer Tochter.

Das war der einzige Zeitpunkt gewesen, an dem Marit die Frage gestellt hatte. Die Frage nach dem Warum. Was hatte Janna dazu gebracht, bei solchem Wetter aufs Meer hinauszufahren?

Janna hatte sich an ihrer eigenen Tasse festgehalten, Kakao, aber dieses Mal ohne Karamellsirup, hatte aus dem Fenster auf das tobende Meer gestarrt und mit den kalten Lippen einen Namen geformt. Tomme.

Danach hatte sie nie mehr von diesem seltsamen fremden Jungen gesprochen und Marit hatte nicht weiter nach ihm gefragt. Das kleine Gör hatte beinahe ihre Tochter umgebracht und, real oder nicht, sie wollte ihn nicht im Haus haben. Wahrscheinlich hatte Janna das gespürt und deshalb beschlossen, ihren Gefährten aufzugeben. Vielleicht hatte sie aber auch mit ihren acht Jahren schließlich verstanden, dass es Spiele gab, die zu weit gingen.

Lass es ruhen!, wies Marit sich selbst an, trug Kaffee und Abendessen zu ihrem Küchentisch und machte sich ans Essen. Über ihr im Turm knarrte etwas. Eine Tür vielleicht. Marit hielt inne, sah kurz von ihrem Abendessen hoch und aß dann weiter.

Als sie gerade ihr Geschirr in die Spülmaschine räumen wollte, klingelte ihr Handy abermals. Marit verdrehte die Augen. Janna wieder, die einfach nicht verstehen wollte, dass Marit gut alleine zurecht kam. Wir sind uns zu ähnlich, dachte sie. Wir denken immer, ohne uns bricht alles zusammen.

Sie wischte ihre Hände an den Hosenbeinen ab und griff nach dem Handy. Doch die Nummer, die das Display zeigte, war ihr unbekannt. Sie drückte auf Annehmen und hob das Telefon zum Ohr.

»Hallo?«

Rauschen, dann Stille. Ein leises, knisterndes Geräusch.

»Ich kann Sie nicht verstehen. Der Empfang ist schlecht, haben Sie etwas gesagt?«

Wieder Rauschen. Es erinnerte Marit an das Meer bei starkem Wind. Dazu undeutlich eine leise Stimme, die etwas ins Telefon murmelte. Marit konnte die Worte nicht verstehen, doch etwas an ihnen sorgte dafür, dass sich die Härchen auf ihren Armen hochstellten.

»Bitte sprechen Sie deutlicher!« Sie bemerkte, wie ihre Hände schon wieder zu zittern begannen.

»… Sie hier?« Eine Männerstimme. Verwaschen wie etwas, das aus einer anderen Zeit kam.

»Ich kann Sie nicht verstehen.« Ihre eigene Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. Im Grunde wollte sie den Mann am anderen Ende gar nicht mehr verstehen. Am liebsten hätte sie das Gespräch beendet, aber ihre Finger wollten die Bewegung nicht ausführen.

»… nicht sein. Nicht gut …« Das Rauschen nahm wieder überhand. Es klang tatsächlich wie Wellen, die ans Ufer schlugen.

Vor dem Fenster schrie eine Möwe. Erschrocken ließ Marit das Handy fallen, es polterte ins Spülbecken. Mattes, bläuliches Leuchten ging vom Display aus und verwandelte den polierten Stahl in eine Unterwasserlandschaft. Marit meinte immer noch das Rauschen zu hören. Dann wurde das Display auf einmal dunkel.

Es dauerte eine Weile, bis Marits Körper ihr wieder gehorchen wollte. Mit steifen Fingern fischte sie das Handy aus dem Spülbecken, dankbar, dass sich kein Wasser darin befunden hatte. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, schaltete sie es aus und legte es auf den Küchentisch.

Es fiel ihr schwer, den Blick von dem kleinen Gerät zu lösen. Es war einfach nur falsch verbunden, sagte sie sich. Falsch verbunden und ein schlechter Empfang, das ist alles.

Das schlechte Wetter, ihre Erschöpfung und obendrauf noch die finsteren Erinnerungen hatten sie zermürbt. Kein Wunder, dass sie nervös wurde. Allein in einer neuen Umgebung. Morgen würde sicher alles ganz anders aussehen.

Es war Zeit, ins Bett zu gehen.

Marit löschte das Licht und stieg die Treppen hinauf. Sie konnte die Wellen hören, wie sie draußen an die Buhnen klatschten. Es hörte sich an, als befände sich das Meer direkt vor ihrer Haustür. Marit musste lächeln und zum ersten Mal seit dem Telefongespräch mit Janna fühlte sie sich wieder etwas entspannt.

Es wird eine gute Zeit werden, dachte sie bei sich. Es musste einfach so sein.

Oben schlüpfte sie in ihren Pyjama und dachte kurz darüber nach, sich noch ein wenig in ihren Lieblingssessel zu kuscheln. Nur dort sitzen, Kaffee trinken und dem Meer vor ihrem Fenster lauschen. Doch dann schüttelte sie den Kopf. Für heute hatte sie genug vor sich hin gegrübelt. Wenn sie jetzt weitermachte, würden nur die Erinnerungen wiederkommen.

Als sie in ihr Bett kletterte, waren die Laken kühl und ein wenig klamm. Aber vielleicht kam ihr das auch nur so vor. Marit schloss die Augen und schlief sofort ein.

Kapitel Drei – In der Nacht

Wach.

Marit hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber sie konnte noch nicht besonders lange geschlafen haben. Kein Licht fiel durch die Fenster herein und die Luft roch nach Schlaf und Dunkelheit. Ihr Körper fühlte sich steif an, trotz der warmen Bettdecke fröstelte sie ein wenig. War es das, was sie geweckt hatte, die Kälte? Nun, sie konnte sich eine weitere Decke aus dem Kleiderschrank holen. Marit schaltete die Nachttischlampe ein, schlug ihre Bettdecke zurück und fröstelte noch mehr in der kühlen Luft. Sie zögerte, ihre bloßen Füße auf die kalten Bohlen zu setzen, doch es war ihr ja nicht geholfen, wenn sie hier frierend im Bett sitzen blieb. Also wappnete sie sich gegen den Schock und stand auf.

Der Fußboden war eisig, viel kälter, als er hätte sein dürfen. Schließlich handelte es sich um Holz und laut des Besitzers war alles frisch gedämmt worden. Außerdem lief die Heizung. Zumindest hoffte Marit das, sie hatte sie vorhin eigenhändig angestellt. Mit zusammengebissenen Zähnen lief sie über die Bohlen zum Kleiderschrank, öffnete ihn und zog ihre alte Fleecedecke heraus, die ihr schon in so mancher kalten Nacht gute Dienste geleistet hatte. Gerade wollte sie sich umdrehen und zum Bett zurückgehen, als sie etwas hörte.

Marit blieb stocksteif stehen, als hätte die Kälte sie eingefroren, und lauschte. Nichts. Oder? Dann wiederholte sich das Geräusch, ein leichtes Knarren, wie von jemandem, der leise über einen Holzfußboden lief. Es kam nicht aus dem Schlafzimmer, sondern von weiter unten, vielleicht aus dem Büro oder sogar der Küche.

Unsinn. Das bildest du dir ein. Erstens gibt es unten gar keine alten Bohlen, die knarren könnten, zweitens kann niemand ins Haus kommen. Du hast die Tür abgeschlossen.

Leider halfen solche Gedanken nicht. Zu oft hatte sie von Einbrüchen gehört, die in scheinbar sicheren Wohnungen vorgefallen waren. Marit biss die Zähne zusammen, hielt still und lauschte. Gleichzeitig fragte sie sich, wo sie ihr Handy hingelegt hatte. Wenn sie nun die Polizei rufen musste? Siedend heiß fiel ihr ein, dass sie es nach dem Ausschalten auf dem Esstisch deponiert hatte. Woher hätte sie denn auch wissen sollen, dass sie es brauchen könnte?

Das Knarren wiederholte sich nicht, aber vielleicht ging es auch in dem Geräusch des Windes unter, der jetzt lauter um den Turm brauste. Trotzdem wagte Marit nicht, sich zu rühren. Waren das Stimmen, die sie hörte, oder spielte ihr der Wind einen Streich?

Nein, keine Stimmen, beschloss sie. Das war albern. Sie war viel zu alt, um sich vor Geräuschen in der Nacht zu fürchten. Vermutlich hatte sie nur etwas schwache Nerven, weil es seit langer Zeit die erste Nacht war, die sie allein in einem Haus verbrachte. Wahrscheinlich war es am besten, wenn sie ihr Handy heraufholte und es wieder anschaltete. Natürlich würde sie es nicht brauchen, aber sie wusste, dass sie sich dann sicherer fühlen würde.

Marit holte tief Luft, warf die Fleecedecke auf ihr Bett und eilte entschlossen zur Treppe. Die Stufen waren aus Metall und womöglich noch kälter unter ihren Füßen als der Holzfußboden. Sie ließ sich nicht abschrecken, eilte die drei Stockwerke hinunter und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was sie dort unten vielleicht erwarten würde.

Tatsächlich war dort – gar nichts. Das Esszimmer lag still und dunkel da, nur der Umriss des Handys hob sich als leichte Erhebung vom Tisch ab. Erleichtert eilte Marit hinüber, schnappte das Telefon und drehte sich wieder zur Treppe um.

Etwas bewegte sich. Es war nur ein Huschen am Rande ihres Blickfeldes, doch es reichte, um Marits Herz auf einmal bis in den Hals schlagen zu lassen. Sie wirbelte herum, das Handy erhoben, als wäre es eine Art Waffe. Nichts. Natürlich nichts. Einer der Vorhänge vor den großen Fenstern wehte leicht im Luftzug.

Luftzug?

Marit hatte die Fenster geschlossen, da war sie sich ganz sicher. Sie blinzelte, sah genauer hin, aber es gab keinen Zweifel, der leichte, helle Stoff bewegte sich, bauschte sich leicht und spielte mit dem Wind.