Schmetterlingsschatten - Veronika Bicker - E-Book + Hörbuch

Schmetterlingsschatten E-Book

Veronika Bicker

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Beschreibung

Im Wald hat man die Leiche eines Mädchens gefunden. Elena würde am liebsten davonrennen. Wieder kommt alles hoch, was sie krampfhaft zu vergessen versucht: Der Tod ihrer Schwester Laura vor einem Jahr. Ganz in der Nähe des Ortes, an dem man das tote Mädchen gefunden hat. Gibt es da einen Zusammenhang? Und war Lauras Tod wirklich ein Unfall?

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Titel

Veronika Bicker

Schmetterlingsschatten

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012 © für die deutsche Ausgabe 2008 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80029-5www.arena-verlag.de Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Kapitel 1

Samstag, 15. Juli 2005

Heute habe ich einen Menschen getötet. Ich weiß immer noch nicht genau, was eigentlich passiert ist. Meine Hände zittern, wenn ich daran denke, und ich kann mein Herz beinahe hören, so schnell schlägt es. Mir ist kalt, und schlecht ist mir auch, aber vielleicht kommt das auch vom Wodka. Immer wieder taucht dieses Bild vor meinen Augen auf: der Körper, voller Blut, das so seltsam unwirklich aussieht, wie Holundersirup. Ich wusste nicht, dass Blut so aussehen kann. Ich wusste nicht, dass ein Mensch so viel Blut in sich hat. Ich kann nicht weiter, ich muss es beenden. Ich habe nur Angst, dass es jetzt schon zu spät ist.

»Hast du’s schon gehört?« Vivienne kam ihr entgegengerannt, kaum dass Elena den Fuß auf den Schulhof gesetzt hatte. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Aufregung, wie Elena sie gar nicht an ihrer besten Freundin kannte. Nina folgte ihr, etwas langsamer, aber offensichtlich nicht weniger aufgeregt.

»Was gehört?«, fragte Elena, als Viv außer Atem innehielt, verlagerte ihren Rucksack von der rechten auf die linke Schulter und versuchte, nicht allzu neugierig zu wirken.

»Sie haben eine Leiche gefunden, drüben im Wald zwischen Frankenach und Lensberg, bei der Landstraße. Ein Förster ist drübergestolpert.« Vivienne sprach hastig, als hinge ihr Leben davon ab, Elena von dem Fund zu berichten. Ihre Wangen färbten sich rötlich und ihre Augen glänzten, ihre Haare waren mal wieder ein einziges Chaos aus blonden Löckchen. Ärgerlich fuhr sie mit der Hand hindurch und machte es damit nur noch schlimmer.

»Weiß man, wer es ist?« Sie bemühte sich, ihre Stimme möglichst ruhig und milde interessiert klingen zu lassen. Als wäre sie gar nicht auf die Idee gekommen, als hätte die Landstraße keinerlei Bedeutung für sie. Ich werde nicht weinen. Ich komme klar!

Nina, die sich inzwischen zu ihnen gesellt hatte, zuckte mit den Schultern. »Niemand von hier.« Sie strich sich eine lange braune Strähne aus dem Gesicht und musterte Elena neugierig von unten herauf. »Ein fremdes Mädchen. Es heißt, sie ist überfahren worden. Vielleicht ein Unfall. Sag mal, ist das nicht genau wie…« Elena wandte sich halb ab und Nina verstummte abrupt.

Elena starrte an den anderen beiden vorbei das Schulhaus an. Der graue, unfreundliche Betonklotz erschien ihr noch weniger einladend als sonst. Selbst das jetzt schon gleißende Sonnenlicht konnte daran nichts ändern. Hinter den Fenstern schien sich nur dunkles Nichts zu verbergen. Elena biss sich auf die Unterlippe, um die Tränen zurückzuhalten, die in ihre Augen drängten. Rasch sah sie wieder zu den anderen.

Viv kaute verlegen an einer ihrer Ringellocken, Nina hatte ihren hellrosa Blümchenrucksack abgesetzt und wühlte konzentriert darin herum, als sei dies das Wichtigste auf der Welt. Als sie bemerkte, dass Elena hersah, blickte sie auf und zwinkerte verlegen.

»Es war bestimmt ein Unfall«, versicherte sie.

»Unsinn«, mischte sich unvermittelt jemand hinter ihr in das Gespräch ein. Sie brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer es war. Die Stimme kannte sie zu gut. Timo, ihr selbst ernannter Retter in allen Lebenslagen. Sie lächelte flüchtig, als er neben sie trat und sie freundschaftlich in die Seite boxte. Timo mochte oft kindisch sein, aber er verstand sie manchmal besser als jeder andere.

»Diese Leiche hier war verscharrt, die hat jemand versteckt. Das war kein einfacher Verkehrsunfall.« Er machte eine dramatische Pause und blickte in die Runde, wie um sich zu versichern, dass er die Aufmerksamkeit aller Anwesenden hatte. »Das war Mord.«

Er hatte sein Ziel erreicht. Nina schnappte angemessen beeindruckt nach Luft und Elena zuckte zusammen. Vivienne machte ein kritisches Gesicht, hängte die Daumen in die Gürtelschlaufen ihrer Jeansshorts und wippte auf den Füßen hin und her. »Bullshit, Timo, willst du damit sagen, hier läuft ein Mörder frei herum?«

Timo hob die Schultern, grinste schief und schob mit dem Zeigefinger seine Brille die Nase hoch. »Ich sage nur, was Sache ist. Die Leiche wurde versteckt. Hat mir mein Vater erzählt.«

Vivienne verdrehte leicht die Augen und zwinkerte Elena zu. Timo ließ keine Gelegenheit aus, mit seinem Polizisten-Vater anzugeben.

Nina dagegen war leichter zu beeindrucken. Sie sah sich mit einem ängstlichen Ausdruck in den Augen um, als würde der Mörder gleich hinter dem nächsten Busch hervorspringen. Timo jedoch blickte auf Elena und schien darauf zu warten, dass sie ihm zustimmte.

Timo war seit fast einem halben Jahr unsterblich in Elena verknallt. Jeder, der Augen im Kopf hatte, wusste das, auch wenn Elena so tat, als merke sie es nicht. Sie mochte Timo gerne, aber mehr nicht. Sie traute sich nur nicht, ihm das zu sagen, weil sie fürchtete, ihn dann als Freund zu verlieren.

»Ehrlich, Timo, mach’s nicht dramatischer, als es ist!«, wies sie ihn zurecht und versuchte dabei, Viviennes coolen Tonfall zu kopieren. Insgeheim war sie ihm jedoch dankbar dafür, dass er das Gespräch in eine andere Richtung gelenkt hatte. »Bestimmt war es ein Unfall.« Wie bei Laura. Ärgerlich schüttelte sie den Gedanken ab. Sie musste endlich damit aufhören, ständig an Laura zu denken. Sie war tot, daran war nichts zu ändern.

»Es hat geklingelt.« Viviennes Ankündigung kam unvermittelt. Nicht zum ersten Mal vermutete Elena, dass ihre Freundin ihre Gedanken lesen konnte und sie nun ablenken wollte. »Lasst uns reingehen!«

Dankbar nickte sie, schob den Rucksack wieder auf die andere Schulter und machte sich auf den Weg zur Eingangstür.

»Hey, Grevenstein, hängst du wieder mit den Mädchen rum? Hast du deine Puppen mitgebracht?« Lukas’ Stimme tönte unüberhörbar über den Hof und Elena konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Timo leicht zusammenzuckte. Allmählich musste er diese Idioten doch gewöhnt sein. Jungen waren manchmal komisch.

»Grev, kommst du demnächst auch im Kleidchen, wie deine Freundinnen?« Daniel diesmal. Nina, die als Einzige von ihnen wirklich ein Kleid trug, zog eine beleidigte Schnute. Viv knurrte leise und machte ein Gesicht, als wolle sie jemanden umbringen. Timo starrte auf seine Schuhspitzen. Elena griff nach seiner Hand und drückte sie flüchtig.

»Hör doch einfach nicht auf die, das sind die letzten Penner!«, flüsterte sie ihm zu.

»Liebesgeflüster?«, kommentierte Lukas, und Daniel setzte sofort hinterher: »Händchen halten tun sie auch schon.«

Elena ließ Timos Hand los und fuhr herum. Die Arme in die Hüften gestemmt, funkelte sie die beiden Jungen zornig an. »Verpisst euch gefälligst und lasst uns in Ruhe!«

»Grev wird von seiner Freundin verteidigt«, witzelte Daniel, aber es klang halbherzig. Elena war einen Kopf größer als er und hatte ihm schon einmal bewiesen, dass sie auch die Stärkere war. Kaum trat sie einen Schritt auf die beiden zu, zogen sie sich schleunigst zurück. In ihren überweiten Skaterhosen sahen sie noch dünner aus, als sie ohnehin schon waren, doch das schien ihnen nicht bewusst zu sein. Aus sicherer Entfernung riefen sie Timo noch ein »Püppchen« zu, bevor sie im Schulhaus verschwanden.

Timo zog eine Grimasse. »Du musst mich nicht immer verteidigen.« Er sah verlegen aus, aber auch ein bisschen vorwurfsvoll. Elena starrte ihn entgeistert an. War er jetzt völlig durchgeknallt? Wollte er sich nicht mal bei ihr bedanken?

»Dann mach’s das nächste Mal gefälligst selbst!«, sprang Vivienne ein, packte Elenas Arm und zog sie weiter. »Kommt jetzt endlich!«

Niemand saß auf seinem Platz, als sie endlich ins Klassenzimmer kamen. Stattdessen standen überall diskutierende Grüppchen herum. Frau Bach, Elenas Deutschlehrerin, versuchte vergeblich, etwas Ordnung in die Klasse zu bringen. Erst, als sie zum dritten Mal um Ruhe gebeten hatte, begannen die Schüler, sich auf ihre Plätze zu verteilen. In dem Gewühl wäre es Elena gelungen, ihr Zuspätkommen ganz zu vertuschen, doch eine unüberhörbare Stimme machte diese Hoffnung rasch zunichte.

»Schaut an, die Prinzessin ist auch schon da. Na ja, wahrscheinlich ist ihr der Pöbel so unerträglich, dass sie so spät wie möglich auftaucht.«

Melanie. Diese Zicke. Elena verdrehte die Augen. Die würde ihr wohl nie verzeihen, dass sich ein Junge für sie interessierte und nicht für Mella selbst. Seitdem zog sie Elena damit auf, dass sie sich angeblich zu fein wäre, an den Partys ihrer Klassenkameraden teilzunehmen. Dabei hatte das ganz andere Gründe. Vielleicht sollte Melanie mal versuchen, mit Elenas Mutter klarzukommen. Es war ja nicht so, dass Elena zu Hause bleiben wollte.

Vivienne warf ihr einen warnenden Blick zu, aber den hätte es nicht gebraucht. Sie ignorierte Mella vollständig, ließ sich auf ihren Stuhl gleiten und kramte in ihrem Rucksack nach dem Deutschbuch. Sie hatte nicht vor, sich ärgern zu lassen. Nicht heute.

Der Vormittag schleppte sich nur so dahin. Elena bekam nicht allzu viel von dem mit, was die Lehrer versuchten, ihr beizubringen. Der Unterricht verschwamm zu einem unbestimmten Hintergrundrauschen. Die meiste Zeit saß sie mit aufgestütztem Kinn da, starrte aus dem Fenster und dachte an Laura. Eigentlich wollte sie das nicht, es hatte lange genug gedauert, bis sie nicht mehr jeden Tag mindestens einmal in Tränen ausgebrochen war, besonders zu Hause, oder wenn sie irgendetwas sah, das Laura gefallen hätte. Aber die Erinnerung drängte sich einfach in ihr Gedächtnis und Elena konnte sie nicht aufhalten.

Beinahe ein Jahr war es nun her. Sie sah es vor sich, als wäre es gestern gewesen.

Den ganzen Abend war Laura nun unterwegs und ihre Mutter lief Amok. Elena kauerte auf der obersten Treppenstufe und hörte zu, wie sie mit der Polizei telefonierte. Mal wieder. Sie konnte sich die Stimme des Beamten vorstellen. Laura würde schon wiederkommen. Sie mache sich zu viele Sorgen. So etwas sagten sie immer, wenn Mama anrief. In der letzten Zeit war das öfter vorgekommen. Und natürlich kam Laura immer wieder nach Hause.

Meistens konnte sich Elena die Angst ihrer Mutter nicht erklären. Noch nie war einer von ihnen etwas Ernsthaftes zugestoßen, besonders nicht, wenn sie im Dorf unterwegs waren. Laura hatte ihr versucht zu erklären, dass das irgendwie mit Papa zusammenhing, aber das hatte Elena nicht überzeugt. Warum glaubte ihre Mutter, dass sie die gleichen Fehler machen würden wie ihr Vater? Ihre Angst war völlig unbegründet.

Aber dieses Mal wusste auch Elena, dass etwas nicht in Ordnung war. Laura hatte versprochen, mit ihr in die Stadt zu fahren, ins Kino. Sie müsse sowieso etwas in der Stadt erledigen, hatte sie gesagt, und Elena könne hinten auf dem Roller mitfahren, wenn sie wolle. Schon lange hatte Laura nichts mehr mit ihr unternommen gehabt und Elena freute sich unglaublich auf die Tour. Laura würde dieses Versprechen nicht einfach brechen, nur um länger fortzubleiben. So war sie nicht.

Den ganzen Abend stand Elena am Fenster und hielt nach Laura Ausschau. Auch als ihre Mutter ihr längst gesagt hatte, dass sie ins Bett gehen sollte. Ganz ruhig stand sie da und starrte in die Nacht hinaus. Zweimal rief sie auf Lauras Handy an, aber nur die Mailbox antwortete.

Kurz vor Mitternacht rollte ein Polizeiauto auf den Hof. Das Blaulicht war ausgeschaltet und da wusste Elena, dass etwas ganz Furchtbares geschehen sein musste. Leise schlich sie aus ihrem Zimmer und kauerte sich hinter das Treppengeländer, während ihre Mutter die Tür öffnete. Nicht mal klingeln hatte der Polizist müssen. Elenas Mutter hatte die ganze Zeit gewartet.

Die Stimmen drangen nur gedämpft zu Elena herauf. Die beiden sprachen leise, um Elena nicht zu wecken, dabei hätte sie sowieso nicht schlafen können. »Unfall«, hieß es, und »Alkohol«, »Landstraße«. Elena wartete auf »Krankenhaus«, aber das Wort kam nicht und kurz darauf brach Mama in Tränen aus. Da schlich Elena wieder zurück in ihr Bett. Laura würde nicht wiederkommen.

Allein im Dunkeln weinte sie, bis sie schließlich einschlief. Erst am nächsten Morgen erzählte Mama ihr von Lauras Tod.

»Wenn uns auch das Fräulein Henn seine geschätzte Aufmerksamkeit schenken könnte, kann ich fortfahren.« Die Stimme ihres Mathelehrers ließ Elena hochfahren. Erschrocken versuchte sie, in den Formeln, die inzwischen die Wandtafel füllten, einen tieferen Sinn zu erkennen. Doch der Lehrer wandte sich wieder seinen Gleichungen zu, als habe er sie nie gerügt. Offensichtlich hatte er beschlossen, sie in Frieden zu lassen. Ärgerlich presste Elena die Lippen aufeinander. Wahrscheinlich wusste er, was in ihr vorging, und versuchte, sie zu schonen. Wieder einer, der ihr nichts zutraute.

Sie versuchte eine Weile, mitzukommen, dann schweiften ihre Gedanken wieder ab.

Laura. Nachdenklich fuhr sie mit dem Finger über den Schmetterlingsaufkleber, den ihre Schwester auf ihr Mäppchen geklebt hatte. Laura hatte ständig Schmetterlinge irgendwohin gezeichnet oder geklebt. Es war so etwas wie ihr Markenzeichen gewesen. Sogar ihr Roller war davon bedeckt gewesen.

Elena erinnerte sich, wie sie gelächelt hatte, bevor sie mit dem Roller losgezogen war. Sie erinnerte sich auch noch daran, dass dieses Lächeln traurig gewirkt hatte, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein, weil Laura irgendwann danach gestorben war. Auf der gleichen Landstraße wie das fremde Mädchen. Wer sie wohl gewesen war? Und wie war sie umgekommen? Vor ihrem inneren Auge entstand das Bild eines Mädchens, das Laura erschreckend ähnlich sah. Ein Mädchen in weißen Sommerhosen und mit einer bunten Bluse, wie Laura sie zuletzt getragen hatte.

Es nützte nichts, früher oder später landeten ihre Gedanken doch wieder bei Laura und sie konnte nur mit Mühe verhindern, dass ihr dann Tränen in die Augen traten. Ein Glück, dass Mathe die letzte Stunde war. Vielleicht hätte sie einfach nach Hause gehen sollen. Das war ja wirklich kaum auszuhalten. Aber zu Hause wäre es sicher nicht besser gewesen und außerdem traute sich Elena sowieso nicht zu schwänzen.

»Kommst du mit?«

»Was?« Elena war wie in Trance aus dem Schultor gelaufen, den Kopf immer noch voller Erinnerungen. Verwirrt sah sie Vivienne an. Sie hatte überhaupt nicht mitbekommen, worum es ging.

»Ob du noch mit zu mir kommst. Was essen und dann für Geschichte lernen. Du wolltest doch, oder nicht?«

Stimmt, die Geschichtsarbeit morgen. Elena hatte ihre Mutter fragen wollen, ob sie zum Lernen zu Viv konnte. Nur war ihre Mutter gestern wieder einmal in so furchtbarer Stimmung gewesen, dass Elena sich nicht getraut hatte.

»Ich hab vergessen zu fragen«, log sie. »Mama spielt verrückt, wenn ich einfach mitgehe, ohne Bescheid zu sagen.« Zumindest das war die Wahrheit.

Vivienne seufzte. »Deine Mutter spinnt.« Sie hievte ihre schwere, lederne Schultasche auf die Schultern und stöhnte. »Das Teil bringt mich noch irgendwann um.«

Elena zuckte mit den Schultern. »Ich komm nachher zum Lernen. Das sollte klappen. Ich kriege das schon hin.« Sie hoffte nur, dass das stimmte. Prinzipiell hatte ihre Mutter nichts dagegen, wenn sie zu Vivienne ging, aber dann musste Elena das spätestens am Tag vorher ankündigen. Und wenn sie gewusst hätte, dass die beiden danach mit Timo ins Schwimmbad gehen wollten, wäre sie ausgerastet. Sie schien jeden Jungen für eine potenzielle Gefahr zu halten, selbst Timo.

»Das sagst du immer. Und meistens kriegst du’s dann nicht hin«, maulte Viv.

»Doch ich schaff das schon. Ich weiß, wie ich meine Mutter rumkriege«, erwiderte Elena etwas ärgerlich. Fing jetzt Vivienne auch schon an, an ihr zu zweifeln? »Ehrlich«, fügte sie verstärkend hinzu, als Vivienne sie skeptisch ansah.

»Okay.« Vivienne zuckte mit den Schultern und umarmte sie flüchtig. »Bis später dann.«

Elena winkte ihr hinterher und trottete dann los, nach Hause.

Auf dem kleinen Platz vor der Kirche lungerten ein paar Jugendliche herum. Zwei von ihnen hockten auf dem Brunnenrand und rauchten, die übrigen fünf hatten sich in mehr oder weniger lässigen Posen auf dem Asphalt breitgemacht. Elena kannte nur zwei von ihnen mit Namen, Kevin und Vanessa, die mit ihr zur Grundschule gegangen waren. Die übrigen waren älter, teilweise standen sie kurz vor dem Schulabschluss.

Unwillkürlich senkte Elena den Blick und versuchte, möglichst unauffällig einen Bogen um die Gruppe zu schlagen. Sie gab es nicht gerne zu, aber insgeheim machten ihr diese Typen Angst. Immer wieder passierte es, dass sie Streit anfingen. Sie benahmen sich, als gehöre ihnen das gesamte Dorf und niemand könne ihnen Vorschriften machen. Elena hoffte nur, dass sie es schaffte, unbehelligt an ihnen vorbeizukommen. Aber da hatte sie sich wohl getäuscht.

Einer der Jungen pfiff. Sie sah nicht auf, sondern beschleunigte stattdessen ihren Schritt noch.

»Hey, Elena!« Sie erkannte Vanessas Stimme. Früher hatte Elena sie ganz gerne gemocht. Sie wohnte gegenüber von Vivienne und so hatten sie manchmal sogar zu dritt gespielt, aber seit sie mit diesen Typen rumhing, war sie ziemlich unausstehlich geworden. Elena antwortete nicht.

»Hast du schon von der Leiche gehört? Sah bestimmt nicht schön aus. Wie deine Schwester!« Jemand lachte.

»Die sah doch vorher schon nicht gut aus.« Noch mehr Lachen.

»Ob da noch Blut ist, was meinst du? Alles verschmiert?«

Elena zuckte mit den Schultern, weil sie sich seltsam verpflichtet fühlte, eine Reaktion zu zeigen. Sie hoffte darauf, dass sie zu faul waren, wirklich aufzustehen und ihr den Weg abzuschneiden. Sie hatte schon fast das andere Ende des Platzes erreicht. Stur sah sie weiter zu Boden.

»Ich würde ja gerne mal eine Leiche sehen . . .« Kevin. Allerdings sprach er leise, schon wieder mehr zu den anderen gewandt als zu Elena. Offensichtlich hatten sie das Interesse verloren.

Aufatmend bog sie in die nächste Seitenstraße ein. Es kam ihr so vor, als wäre sie ganz knapp einem Unglück entronnen.

Immer, wenn Elena ihr Haus von außen sah, hatte sie den Eindruck, vor einem Gespensterhaus zu stehen. Sie konnte sich selbst nicht erklären, woran das eigentlich lag. Die bunten Blumen im Vorgarten leuchteten immer einen Tick zu grell, die säuberlich geschnittene Hecke und die frisch gestrichenen Treppengeländer wirkten, als wollten sie von einem düsteren Geheimnis ablenken.

Drinnen war es nicht viel besser. Die freundlichen Farben der neuen Tapete nahm sie gar nicht wahr. Die makellos gewischten Fliesen und die beinahe schon übertriebene Ordnung unterstrichen nur, dass eigentlich gar nichts in Ordnung war. Und egal, wie laut ihre Mutter das Radio drehte, Elena kam das Haus immer zu still vor, ohne Laura.

»Wo bist du gewesen? Ich hab mir solche Sorgen gemacht.« Die Stimme ihrer Mutter schallte Elena entgegen, sobald sie die Tür aufgeschlossen hatte. Immer dieselbe Frage. Immer derselbe Tonfall – weinerlich, ängstlich. Ihre Mutter stand in dem dämmerigen Flur, hoch aufgeschossen wie Elena selbst, in einem adretten cremefarbenen Kostüm, das geradewegs einer Modezeitschrift entsprungen zu sein schien. Sie konnte noch nicht lange von der Arbeit wieder zu Hause sein. Sie wirkte nervös. Vielleicht hatte sie von dem toten Mädchen gehört.

Elena hob die Schultern. Was sollte sie auch sagen, sie war nicht länger weggeblieben als sonst.

»Ich finde es nicht gut, wenn du so spät nach Hause kommst.« Schon wieder. Warum ist sie nur so? Sie weiß doch, dass ich vorsichtig bin. Mir ist noch nie was passiert.

Sie spürte den Ärger in sich aufsteigen und schluckte ihn gleich darauf wieder herunter. Sie ging die wenigen Schritte zu ihrer Mutter hin, beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Wange.

»Du brauchst dir keine Sorgen machen, Mama, mir passiert nichts.«

Ihre Mutter sah nicht beruhigt aus, aber sie lächelte müde. Das Gespräch war vorbei. Jetzt würde Elena erst mal ihren Frieden haben, während die Mutter das Mittagessen kochte.

»Ich geh dann mal hoch.« Elena wandte sich ab und stürmte die Stufen hoch, bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte. Nur weg von hier. Sie konnte den traurigen Blick ihrer Mutter nicht ertragen.

Elena ließ ihre Zimmertür hinter sich ins Schloss fallen und warf sich der Länge nach auf ihr Bett. Für einen Moment schloss sie die Augen und atmete tief durch. In letzter Zeit machte es sie immer wütend, mit ihrer Mutter zu sprechen. Wütend und traurig und hilflos. Früher hatte es wenigstens Laura gegeben, die ihr gegen die Ängste ihrer Mutter beistand, aber seit ihrem Tod war alles noch schlimmer geworden.

Elena spürte, wie ihre Augen zu brennen begannen, und schlug sie rasch wieder auf. Jetzt nicht weinen!, wies sie sich zurecht. Es war schlimm genug, dass Mama immer losheulte, wenn es um Laura ging. Elena starrte die Wand an und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Ihr Blick glitt ziellos über die Fotos, die sie mit Reißzwecken über ihrem Bett befestigt hatte. Laura und sie vor einem Termitenhügel. Savanne, durchbrochen von Schirmakazien. Zebras. Ein Safari-Jeep.

Es half. Afrika half immer. Deswegen hatte Elena die Fotos überhaupt aufgehängt. Früher hatte es andere gegeben, Bilder von zu Hause, Mama und Papa, dem Schlittenhang im Wald, der Schulaufführung. Nachdem Laura fort war, hatte Elena die Fotos abgenommen und ihre Afrikabilder aufgehängt. Immer, wenn sie eigentlich weit fort sein wollte, sah sie sich die Aufnahmen an. Manchmal brauchte sie sie nur zu berühren, um davonzufliegen, in den Himmel hinauf und in die Savanne hinab. Dann war sie eine Forscherin, eine Fotografin, eine Tierpflegerin. Nur nicht Elena, Lauras Schwester, weil es Laura nicht mehr gab.

Das Telefon klingelte und holte Elena aus Afrika zurück. Zuerst blieb sie liegen und ließ es klingeln. Sollte Mama drangehen. Sie hatte keine Lust. Doch der Anrufer gab nicht auf. Wieder und wieder läutete es. Ihre Mutter ignorierte es.

Entnervt stieg Elena aus dem Bett, öffnete die Zimmertür und stapfte zu dem Apparat im oberen Flur.

»Elena Henn, hallo?«

Schweigen. Sie konnte jemanden atmen hören, ganz leise nur, aber unverkennbar.

»Hallo?«, wiederholte sie.

Immer noch Stille. Nur das leise Atemgeräusch. In ihrem Bauch breitete sich ein mulmiges Gefühl aus wie zähflüssiger Honig. Sie hatte von solchen Anrufern gehört, Gestörte, die ihre Zeit damit verbringen, junge Mädchen zu belästigen. Zumindest hatte ihre Mutter das gesagt. Doch nie hatte Elena gedacht, dass ihr das selbst passieren könnte. Sie versuchte, sich zu erinnern, was man in so einem Fall machen sollte.

»Sie machen mir gar keine Angst!«, sagte sie schließlich in den Hörer und legte auf. Insgeheim hoffte sie, dass sie sich genauso lässig angehört hatte wie Vivienne. Die konnte so etwas toll. Sie spürte, wie ihre Hände zitterten. Sie ballte sie zu Fäusten und öffnete sie wieder. Dadurch wurde es etwas besser.

»Wer war das?« Ihre Mutter, von unten. Sogar bei dieser einfachen Frage klang Kummer in ihrer Stimme mit. Einen Moment lang war Elena versucht, die Wahrheit zu sagen. Aber das hatte keinen Sinn, es würde ihre Mutter nur aufregen.

»Vivienne«, antwortete sie.

»Ah, gut.« Sie konnte regelrecht sehen, wie ihre Mutter beruhigt nickte und wieder zurück in die Küche ging. Elena blieb gedankenversunken neben dem Telefon stehen. Ob sie Viv anrufen sollte, ihr von dem Telefonspinner erzählen? Oder vielleicht Timo? Dann aber beschloss sie, dass sie dem Anruf viel zu viel Beachtung schenkte. Am besten, sie versuchte einfach, ihn zu vergessen. Es gab momentan ziemlich viel, was sie vergessen wollte, da fiel der eine Anruf auch nicht weiter ins Gewicht.

Ihre Mutter hatte das Radio angeschaltet. Sie musste mal wieder an Laura gedacht haben, denn sonst ließ sie es während des Essens nicht laufen. Elena fragte sich, wann ihre Mutter aufhören würde, sich Vorwürfe zu machen. Wahrscheinlich nie.

Schweigend schaufelte sie das Essen in sich hinein, während ihre Mutter irgendetwas von der Arbeit erzählte. Ihre gezwungene Heiterkeit bestätigte Elenas Verdacht. Sie wollte sich ablenken.

Im Radio dudelte die Erkennungsmelodie der Nachrichten. Sofort verstummte Elenas Mutter und wandte sich dem Apparat zu. Manchmal glaubte Elena, dass sie auf eine weitere Hiobsbotschaft wartete. Ein weiteres Unglück, das ihr bewies, dass die Welt schlecht war und sie Elena davor beschützen musste.

Das Radio tat ihr den Gefallen. Nach einer Reihe von Wahlen, Präsidentenbesuchen und Umweltkatastrophen kam der Sprecher zu den Lokalnachrichten und damit unvermeidlich zu dem toten Mädchen aus dem Wald.

»… Nachforschungen haben ergeben, dass es sich bei der Toten um ein 15-jähriges Mädchen aus dem Kreis Frankfurt handelt, das bereits im letzten Jahr als vermisst gemeldet wurde. Das Mädchen war bereits mehrfach von zu Hause fortgelaufen. Es wird vermutet, dass sie bis in diese Gegend getrampt ist, wo es dann zu dem tödlichen Unfall kam. Nach dem Unfallfahrzeug wird weiterhin gefahndet. Das Wetter…«

Elena hörte nicht mehr zu, sondern achtete nur auf den Gesichtsausdruck ihrer Mutter. Während des Berichtes über das tote Mädchen war sie immer blasser geworden, als gäbe es dort draußen einen Wahnsinnigen, der wahllos junge Mädchen überfuhr und nur darauf wartete, ihr Elena auch noch zu entreißen.

»Mama?«, fragte sie vorsichtig. Vielleicht konnte sie ihre Mutter noch schnell überzeugen, obwohl sie sich schon denken konnte, wie die Antwort ausfallen würde. »Ich möchte zu Viv gehen. Lernen. Für Geschichte.«

Ihre Mutter starrte sie an, als sei sie ein Gespenst. »Du kannst doch hier lernen.«

Elena verdrehte die Augen. Das war ja klar gewesen. Diese bescheuerte Radionachricht. Jetzt hatte ihre Mutter selbst Angst, sie zu Vivienne gehen zu lassen. »Aber zu zweit geht es besser. Bitte, Mama!«

Ihre Mutter starrte sie einen Moment beinahe verzweifelt an. Dann, ganz plötzlich, lächelte sie. Sie sah fast so aus wie früher, wenn sie lächelte.

»Lad doch Vivienne hierher ein, dann könnt ihr lernen und danach schauen wir uns alle zusammen einen Film an. Oder wir gehen in die Eisdiele, was meinst du? Wäre das nicht schön?«

Elena sah sie skeptisch an. Was sollte sie dazu sagen? Sie konnte ihrer Mutter schlecht erzählen, dass sie später noch weggehen wollten. Weggehen war für Elenas Mutter gleichbedeutend mit tödlicher Gefahr. Außerdem konnte sie in diesem Haus nicht lernen. Dann schon lieber das Geschrei von Viviennes kleiner Schwester Michelle ertragen.

»Wir können auch ins Kino gehen, wenn du willst«, fuhr ihre Mutter fort. »Und danach gehen wir dann Pizza essen.«

Elena gab nach. »Na gut, ich werde Viv anrufen«, log sie. »Du kannst uns ja einen Film ausleihen. Irgendwas Spannendes, ja?« Ihre Mutter lächelte. Für einen Moment bekam Elena ein schlechtes Gewissen.

Sie wartete, bis ihre Mutter zur Videothek aufgebrochen war, dann schlüpfte sie in ihre Turnschuhe und griff nach ihrem Rucksack. Ihre Mutter würde sich wieder Sorgen machen, wenn sie zurückkam. Und natürlich würde Elena Ärger bekommen. Aber immer noch besser, als den ganzen Tag zu Hause zu sitzen.

Leise zog sie die Tür auf und schlängelte sich nach draußen. Als sie auf die Straße trat, konnte sie gar nicht anders, als erleichtert aufzuatmen. Entkommen! Mit einem Gefühl des Triumphes machte sie sich auf den Weg die Straße hinunter.

Rasche, leise Schritte und eine Bewegung, die sie nur aus den Augenwinkeln erkennen konnte, ließen sie innehalten. Auf der anderen Straßenseite konnte sie gerade noch eine hochgewachsene Gestalt hinter einer der Platanen verschwinden sehen, dann lag die Straße wieder ruhig im Julisonnenschein. Im Garten der Nachbarn schnatterten die Enten lautstark. Hatte sie sich das eingebildet? Sah sie jetzt auch schon Gespenster? Oder war das am Ende sogar der komische Anrufer von vorhin?

Elena starrte zu den Platanen hinüber, bis ihre Augen von der Sonne schmerzten, doch nichts rührte sich.

»Perversling!«, rief sie über die Straße, aber selbst in ihren eigenen Ohren hörte sich ihre Stimme unsicher an. Keine Reaktion. Und doch war sie sich sicher, dass dort jemand war. Sie konnte seinen Blick beinahe spüren.

Langsam wandte sie sich ab und begann, betont gelassen die Straße herunterzugehen. Erst, als sie um die nächste Straßenecke gebogen und außer Sicht war, begann sie zu rennen, so schnell sie konnte. Sie flog an Vorgärten und Garagen vorbei, als gelte es ihr Leben. Ihre trommelnden Schritte durchbrachen erschreckend laut die Stille des Julinachmittags. Erst vor Viviennes Haustür hielt sie inne und schnappte nach Luft. Unwillkürlich sah sie sich um, ob ihr jemand gefolgt war, aber die Straße wirkte genauso ausgestorben wie zuvor.

Ärgerlich über sich selbst, schüttelte sie den Kopf. Dummkopf, wer sollte dich schon verfolgen und warum überhaupt?

Aber das ungute Gefühl blieb.

Kapitel 2

Montag, 22. Juli 2005

Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalten kann. Immer wieder taucht dieses Gesicht in meiner Erinnerung auf, manchmal voller Entsetzen, manchmal mit diesem anklagenden Blick, den ich kaum ertragen kann.Ich weiß, dass ich etwas unternehmen sollte, aber mir ist auch bewusst, dass sie mich beobachten. Ich weiß nicht, was sie tun werden, wenn ich … Manchmal frage ich mich, ob ich nun auch in Gefahr bin. Vielleicht hilft es, wenn ich einfach nicht mehr daran denke.

»Na in den Wald natürlich.«

»Spinnst du, oder was? Was sollen wir da?« Elena starrte Timo entgeistert an. Der verschränkte lässig die Arme vor der Brust und machte ein betont gleichmütiges Gesicht.

»Ich finde das spannend. Vielleicht finden wir raus, was passiert ist.«

»Quatsch, wenn die Polizei nichts herausgefunden hat, werden wir bestimmt nicht über einen Hinweis stolpern. Und außerdem muss ich nach Hause.«

»Weiß deine Mutter, dass Sport ausfällt?«, hielt Timo dagegen.

Elena biss sich auf die Lippe. Was sollte sie darauf sagen? Sie hatten ja selbst gerade erst erfahren, dass der Nachmittagsunterricht wegen der Hitze gestrichen worden war. Ihre Mutter würde sie frühestens gegen halb fünf zu Hause erwarten und jetzt hatten sie gerade ein Uhr.

»Ich will da nicht hin, Timo«, gab sie zu.

»Hast du Angst? Die Leiche liegt nicht mehr da, die ist in der Pathologie.« Er lächelte überlegen. Elena hätte ihn am liebsten geohrfeigt. Begriff er denn nicht, dass sie keine Lust hatte, den Leichenfundort zu besichtigen? Sie wollte nicht so nahe an dem Ort sein, an dem Laura gestorben war. Seit Tagen schon ärgerte sie sich darüber, dass alle nur noch darüber redeten. Warum musste ausgerechnet Timo wieder damit anfangen?

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hab keine Angst. Ich will da nur nicht hin. Ich seh nicht, was das bringen soll, außer, dass du vor den anderen Jungen damit angeben kannst, wie cool du bist.« Am liebsten hätte sie sich die Zunge abgebissen. Jetzt war er bestimmt sauer. Aber sie war eben überreizt.

Timo schnaubte ärgerlich. »Dann halt nicht. Bist eben genauso feige wie die anderen Mädchen.«

Brüsk wandte er sich um und marschierte auf die Fahrradständer zu. Verärgert sah Elena ihm nach. Blöder Idiot. Mach doch, was du willst. Mir kannst du jedenfalls gestohlen bleiben. Enttäuscht lief sie auf das andere Ende des Schulhofes zu.

»He, Elena!« Der Ruf ließ sie innehalten. Aus dem Schulhaus kam jemand quer über den Hof auf sie zugeeilt. Sie brauchte eine Sekunde, um das dichte rotbraune Haar, den schlanken, sportlichen Körper und die schwarzen Klamotten einzuordnen. Tristan. Der Schwarm aller Mädchen der Schule. Der aus der großen Stadt nach Frankenach gekommen war.

Er war siebzehn, so alt, wie Laura jetzt gewesen wäre, und hatte Elena bisher keines Blickes gewürdigt. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass er ihren Namen kannte. Immerhin musste sie weit unter seiner Würde sein. Was der wohl von ihr wollte?

Sie hakte die Daumen in den Hosenbund, wie Vivienne es getan hätte, und bemühte sich, möglichst gelassen auszusehen. Tristan rannte nicht gerade, aber er ging ziemlich schnell. Erst bei den letzten paar Schritten wurde er langsamer, blieb schließlich stehen und fuhr sich verlegen durch den Haarschopf.

»Was gibt’s?«, fragte Elena beiläufig, als würde sie jeden Tag von Oberstufenjungs angesprochen.

Tristan lächelte. Er hatte ein schmales Gesicht, eine etwas spitze Nase mit einigen Sommersprossen darauf und dunkelbraune Augen, die glänzten, wenn er lächelte. Elenas Magen zog sich zusammen. Sie konnte verstehen, warum die älteren Mädchen bei ihm Schlange standen. Die Einzige, die sich nichts aus ihm zu machen schien, war Vivienne. Immer wieder einmal machte sie spöttische Bemerkungen über die »dummen Gänse«, die »allem nachlaufen, was ein bisschen männlich ist«. Elena hatte ihr stets zugestimmt, aber trotzdem heimlich zu Tristan gesehen, wenn er zufällig an ihr vorbeiging.

»Tja, ich hab dich grade auf dem Hof gesehen. Und da ist mir eingefallen, dass ich dich eigentlich schon lange etwas fragen wollte.« Er sah wirklich verlegen aus, beinahe schüchtern.

»Was fragen?« Elena musterte ihn skeptisch. Würde er sie auf Laura ansprechen? Konnten die Leute an nichts anderes denken?

Tristan schien sich wieder gefasst zu haben. »Also, ich wollte wissen, ob du vielleicht Lust hast, mit mir ein Eis essen zu gehen oder so.«

Überrascht starrte Elena ihn an. Hatte sie richtig gehört? Der bestaussehende Junge der Schule wollte sie auf ein Eis einladen? Sollte das ein Witz sein?

Sie blickte sich unsicher um. Tristan war alleine. Keiner aus seiner Clique war zu sehen.

»Also?« Jetzt sah er wieder nervös aus.

Elena überlegte. Eigentlich hatte sie sich mit Timo treffen wollen. Aber das hatte sich ja erledigt. Vivienne musste Nachhilfe geben und hatte keine Zeit. Warum also nicht?

»Okay«, erwiderte sie und hoffte, dass er nicht merkte, wie überrascht sie war. »Hast du heute Zeit?«

Tristan warf einen Blick zum Schulhaus zurück. »Ich hab noch diese Stunde Unterricht. Aber danach hab ich Zeit. Treffen wir uns um drei in der Eisdiele?«

Elena nickte und versuchte, sich ihren wilden Stolz nicht anmerken zu lassen.

»Dann bis nachher.« Und schon war er wieder weg.

Kopfschüttelnd drehte Elena sich um und machte sich auf den Weg nach Hause.

Auf dem Heimweg kam sie an der Buchhandlung vorbei, in der ihre Mutter arbeitete. Als könne sie Elenas Gegenwart spüren, blickte sie von der Theke auf und starrte durch das Schaufenster hinaus. Elena winkte ihr zu. Beinahe schüchtern lächelte sie und winkte zurück. Zwei Tage lang hatte sie Elena nicht aus den Augen gelassen, nachdem sie zu Vivienne abgehauen war, dann aber hatte Papa aus Afrika angerufen und danach war Mama immer so entspannt, dass sie fast allen Ärger vergaß.

»Na, noch immer an Mamas Rockzipfel?«