Orioni - Anne Bernhardi - E-Book

Orioni E-Book

Anne Bernhardi

4,8

Beschreibung

Im Winter 1636 erhält der heruntergekommene Hauptmann Jakob Wenterodt den Auftrag, zusammen mit seinen Männern den Verräter Heinrich Orioni zu fangen. Diese Aufgabe führt sie bis ins südliche Frankreich hinein. Während der feingeistige Orioni ihnen immer wieder entkommt, heftet sich die 14-jährige Pascale an seine Fersen. Was hat es mit dem Mädchen auf sich, dessen Herkunft ebenso rätselhaft erscheint, wie die Zukunft aller Beteiligten? - Illustrierter historischer Abenteuerroman. Band 2 der Reihe und unabhängig lesbar.

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Für Pascal

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 1

Januar 1636

Schnee. Meilenweit und ganz gleich, in welche Richtung man schaute, die Welt hatte sich in eine Wüste aus Kristallen verwandelt. Der scharfe Wind trieb die Flocken unablässig vor sich her, wirbelte sie herum und brachte sie selbst in den verborgensten Winkeln noch zu Boden. Es war kein Wetter zum Wandern. Nicht einmal ein Wetter, um einen Hund vor die Tür zu scheuchen. Und doch blieb ihm nichts anderes übrig, als stur einen Fuß vor den anderen zu setzen, eine zerknitterte Landkarte in der rechten Hand, die er zum Schutz vor der Kälte ebenso wie die linke tief in seinen dicken Wollmantel gebohrt hatte. Zwei Wollsocken in jedem Stiefel sollten Erfrierungen verhindern, ebenso wie der Schal, den er bis unter die Augen gezogen hatte. Den Hut wiederum bis zu den Augenbrauen. Neben ihm, am Ende der Zügel, die er sich an den Oberarm geknotet hatte, stapfte ein Pferd, dessen rote Farbe kaum noch zu erkennen war, so hatten es die Schneeflocken umwoben. Nein, es war kein Wetter, um sich vor die Tür zu wagen, aber am Ende hatte der Mann gute Gründe, die ihn dazu zwangen. Viel zu gute Gründe. Gründe, die selbst die Gefahr des Erfrierens harmlos erscheinen ließen.

Es war Mitte Januar und der kälteste Winter, den er bisher erlebt hatte. Das wollte viel heißen, er war nicht mehr jung. Laut der Karte aber müsste seine Suche bald ein Ende haben, denn er hatte Sarlat schon vor Stunden durchquert, und wenn er nicht allzu weit vom Weg abgekommen war, müsste er die Dächer seines Ziels bald sehen können. Die Dächer von La Roque Gageac, einem Dorf, das an die Felsen geschmiegt lag, als wäre es aus ihnen selbst herausgeschlagen, zu seinen Füßen die Dordogne, deren Fluten gegen Eisschollen ankämpften, die sich an ihren Rändern zu fantastischen Gebilden auftürmten.

Immer mal wieder sah er sich um. Es wäre nicht nötig gewesen. Die weiße Welt lag unberührt und wie schlafend da. Wenigstens etwas, befand er. Wahrscheinlich hatten seine Verfolger ebenso mit den Widrigkeiten zu kämpfen wie er selbst. Das gab ihm ein gewisses Maß an Trost.

Mit der aufkommenden Dunkelheit war es dann so weit. In einer mächtigen Linkskurve, in der sich Fluss und Felsen annäherten, entdeckte er eine Formation von Weiß, die ihm sagte, dass sich unter dem Schnee Häuser verbargen. Er hatte das kleine Dorf gefunden.

Die letzten Schritte lief er etwas schneller, nahm noch einmal alle Kraft zusammen. Und tatsächlich befand sich dort die kleine Schenke, die er bisher nur aus Briefen kannte, gleich in erster Reihe unten am Fluss. Das hölzerne Schild war vereist, stand in einem leicht schrägen Winkel, als wäre es mitten in einem Windzug erstarrt.

Mich ereilt noch das gleiche Schicksal, dachte er und hob die Hand, nur um festzustellen, dass die Tür verschlossen war. Auf sein vorsichtiges Klopfen hin näherten sich im Haus Schritte, ein Riegel wurde zurückgeschoben und die Tür öffnete sich einen Spaltbreit.

»Das Gasthaus ist geschlossen«, kam die Antwort auf Französisch.

»Guten Abend.« Der Reisende zog sich den Hut vom Kopf, woraufhin sich der Schnee, der ihn bedeckt hatte, auf die Türschwelle und ein Stück weit ins Haus ergoss. »Ich brauche ein Bett für die Nacht und mein Pferd einen warmen Stall.«

Es schien, als müsste der Mann im Inneren eine Weile überlegen.

»Der Koch hat nichts zu kochen, wir sind eingeschneit. Und bis einen Krug weißen Wein haben wir auch nichts zu trinken, die Fässer sind alle leer. Wer in aller Welt reist bei solch einem Wetter?«

Eine legitime Frage. »Mir ist alles recht. Solange ich nicht dort draußen übernachten muss«, hustete der Reisende trocken. Es wurde Zeit, aus dieser Kälte zu kommen. »Mein Pferd?«

»Meine Tochter wird sich um Euer Pferd kümmern, und seid versichert, sie hat Erfahrung mit Pferden. Lasst es ruhig vor dem Haus angebunden, sie wird es gleich holen.«

»Vielen Dank.«

»Dann ...« Der Mann im Inneren trat zur Seite und öffnete die Tür so weit, dass der Reisende eintreten konnte. »Dann kommt und setzt Euch.«

Vor den Augen des Wirts machte der Reisende drei Schritte vorwärts, visierte den erstbesten Stuhl an und ließ sich darauf niedersinken. Dort blieb er sitzen und blickte eine ganze Weile wie in Trance vor sich hin. Nach all der langen Zeit drang mit einem Mal die Müdigkeit wie ein düsteres Gift in ihn ein, sodass ihm für kurze Zeit schwarz vor Augen wurde.

Kaum war die Tür geschlossen, verschwand der kalte Luftzug, und die Wärme hüllte den Reisenden ein. Die Gaststube war klein, kaum zehn grobe Tische standen an den Wänden verteilt. Die Decke hing tief, sie war dunkel durch die Jahre, und abgesehen von der Feuerstelle gab es keine Lichtquelle. Aber es tat gut. Gut, einfach nur dazusitzen und darauf zu hoffen, dass einem kein Zeh oder Finger abgefroren war. Die Luft war nicht so rein wie draußen im Schnee, aber auch nicht stickig von zwanzig Gästen. Nur der Geruch des Traubeneichenholzes, das im Feuer immer mal wieder knallte und Funken sprühte, lag in der Nase.

»Wie schon gesagt, ich kann Euch nur den weißen Wein anbieten«, wiederholte der Wirt. Er kratzte sich nachdenklich über seinen dunklen Vollbart, als der Gast die Augen schloss, anstatt zu antworten. »Wäre er dem Herrn recht?«

Die Antwort kam nicht sofort. Vielmehr schälte sich der Reisende nun aus seinem Mantel, in dessen Stofffalten der Schnee inzwischen bis auf wenige Reste geschmolzen war und zu Boden tropfte. Er betrachtete den feuchten Mantel noch eine Weile, legte ihn dann über einen Schemel, der in nächster Nähe stand. Müde sah er zum Wirt.

Der allerdings war mit Staunen beschäftigt. Er hatte unter dem Mantel keine so prächtigen Kleider erwartet.

»Kümmert Euch nicht darum.« Der Reisende schüttelte den Kopf. »Was soll man auch tragen, wenn man in der Eile nichts Reisetauglicheres auftreiben konnte. Seide wärmt furchtbar schlecht, so viel ist sicher.«

»Aber wäre Monsieur nicht viel besser im Manoir de Tarde aufgehoben? Dies ist bloß ein einfaches Wirtshaus. Monsieur de Tarde ist ein guter Mensch, er wird Euch sicherlich ein sehr viel feineres Zimmer anbieten können. Er ist sehr belesen, ein wenig alt vielleicht, aber sehr …«

»Nein, es ist alles in bester Ordnung.«

Der Wirt schluckte.

»Monsieur ... der Wein?«

»Schon recht.«

»Pascale!«, schallte es durch den Raum. »Hast du Monsieur nicht gehört? Hol den Wein, aber erst kümmere dich um sein Pferd.«

Zur Überraschung des Reisenden löste sich nun eine kleine Gestalt aus einer Nische neben dem Kamin. Ein Mädchen von wohl vierzehn Jahren, dünn und zierlich, seufzte tief und wanderte die Stufen in den Keller hinab, um kurz darauf wieder mit einem Krug Wein zu erscheinen. Der Wirt ging ihr entgegen und nahm ihr den Krug aus den Händen.

Aus der Distanz konnte der Reisende sehen, wie der Vater seiner Tochter mitteilen wollte, dass es sich zu benehmen galt, aber das Mädchen warf lieber einen neugierigen Blick auf den Gast und bemerkte dann, wie der Reisende sie auf die gleiche Art musterte.

»Pascale, nun lauf und sag Henri, er soll zusammenklauben, was er kriegen kann. Wir haben einen Gast und er hat Hunger. Und kümmer dich um das Pferd, hast du gehört?«

Der Blick des Gastes folgte weiterhin dem Mädchen.

»Sie ist noch ein wenig grün hinter den Ohren.« Unsicher und nervös lachte der Wirt und ließ es gleich darauf wieder sein, als er im Gesicht seines Gastes keine freundliche Antwort auf sein Lachen entdecken konnte. Ob der Gast aus Missfallen oder aus Erschöpfung nicht reagierte, war nicht zu erkennen. Es wurde still.

Seine Sporen klirrten leise, als sich der Reisende seinen Stuhl näher an den Kamin zog. Die Feuerstelle war groß und aus dem gleichen gelben Sandstein gehauen wie alle Häuser der Region. Dann und wann schaffte es der scharfe Wind tatsächlich, eine verirrte, ehemals sehr große Schneeflocke durch den Kamin bis hinunter in die Nähe des Feuers zu treiben, wo sie schmolz und verdampfte, bevor sie den Boden berührte. Diese Wärme wollte er ausnutzen. Es gab nichts Besseres für eisige Knochen. Für alte Knochen.

Es dauerte nicht lange, da füllte sich die Wirtsstube mit angenehmem Duft.

»Ich kann Monsieur zumindest schon einmal etwas Brot anbieten. Die Butter ist uns leider ausgegangen, der geräucherte Schinken auch. Etwas Käse bleibt noch. Und später dann ein Huhn. Meine Frau hat es gestern frisch geschlachtet, es war für uns selbst gedacht, aber nun bieten wir es gern Monsieur an. Welch ein Zufall doch, dass uns noch der weiße Wein geblieben ist.«

»Das ist nicht nö...«, setzte der Reisende an, doch er brach ab und fuhr fort, das Mädchen zu beobachten, das sich wieder in die Nische am Kamin zurückzog, nach einem Buch griff und sich in eine Decke einwickelte.

»Oh, doch, es ist ein wirklich gutes Huhn!«, strahlte der Wirt. »Wartet ab, es wird Eure Lebensgeister wecken.«

Die Zeit verging. Der Reisende aß eine Scheibe Brot, trank einen halben Becher Wein, rieb sich die rote Nase und kostete das Huhn. Doch seine Gedanken waren überall, nur nicht bei dem dürren Tier, das gestern sein Leben gelassen hatte. Der Wirt, der etwas abseits auf einem Stuhl saß, bemerkte, wie der Gast immer wieder zu der Nische schaute, wo das Mädchen leise las. Dann und wann hörte man, wie sie eine Seite umblätterte.

»Pascale? Hast du geschaut, ob das Zimmer für Monsieur fertig ist?«, brach die Stimme des Wirts die Stille.

Ein Seufzen zeugte davon, dass sie es in der Tat vergessen hatte. Sie schälte sich erneut aus ihrer Decke und wanderte mit einem Kienspan, den sie sich im Kamin angezündet hatte, die knarrende Treppe hinauf ins erste Geschoss. Dumpf klangen ihre Schritte auf den alten Dielen, die bei jedem Schritt ächzten.

Der Gast lauschte und vergrub schließlich sein Gesicht in den Händen. Weder hatte er den Grund seiner Reise vergessen noch dessen Dringlichkeit, aber erst einmal wollte er nur eins: schlafen. Seinem Körper Ruhe spenden. Jetzt, wo die Kälte aus seinen Knochen fast verschwunden war, würde eine Nacht voll Schlaf nur allzu guttun. Wenn sie ihm denn bliebe, die Nacht. Aber die Straße draußen wirkte ruhig. Bis auf den heulenden Wind, der einsam vor der Tür sein Unwesen trieb, war es still.

»Das Zimmer ist fertig, Vater«, hörte der Reisende das Mädchen zum ersten Mal sprechen, als sie bald darauf die Treppe wieder hinunterkam.

Umso besser. Der Gast sah, wie sie ihr Buch holte, sich vergrub und er beschloss, nun das Gleiche tun zu wollen. Kaum war der Reisende in seinem Zimmer und seinem Bett verschwunden, Pascale hatte sich gerade wieder am Kamin in ihre Decke gegraben, als eine Faust an die Tür des Gasthofes schlug. Dumpf und fordernd.

»Aufmachen!«

Das war kein Französisch. Pascale horchte auf, gleich zweimal. Denn es war Französisch, was kurz darauf folgte. Die gleiche Aufforderung noch einmal, allerdings von einem Menschen, der die Worte hart und ungeschickt aussprach. »Uffreh la port!«

Pascale grinste in sich hinein. Sie grub ihr Kinn in die Wolldecke und linste misstrauisch Richtung Tür.

Ihr Vater, der sich gerade hatte schlafen legen wollen, betrat aus der angrenzenden Wohnung heraus die Stube, rieb sich müde über die Schürze und sah zu Pascale hin.

»Was soll das nun wieder?«

»Öffne ihm lieber nicht.«

»Geschäft ist Geschäft, Pascale. Du steckst immerzu mit der Nase in den Büchern, du wirst wohl niemals verstehen, was es heißt, ein Wirtshaus zu führen. Aber geh, geh und schick mir Henri und weck deine Mutter. Sie müssen mir heute Abend helfen, sollten es mehrere Männer sein.« Er seufzte tief. Entgegen seiner Worte bewegte er sich auffällig langsam in Richtung Tür. Niemand, kein Mensch auf Erden, öffnet gern seine Tür für jemanden, der seine Faust darauf herumtanzen lässt.

»Was wollt ihr?«, moserte der Wirt, als sein Blick auf zehn Männer fiel, die halb erfroren draußen im Dunkeln standen, eine Laterne bei sich trugen und den Eindruck vermittelten, sie wären der Hölle entsprungen, wenn auch nicht jener mit Feuer und Glut, sondern einer aus Schnee und Eis.

»Uffreh! Wir brauchen ... chambrehperlanuih!«, presste der vorderste Mann seine Worte heraus, und Pascale sah bestätigt, dass er nichts von ihnen verstand. »Laubanger, übernimm das, mir fehlt die Ruhe, diesem Idioten zu erklären, dass ich nicht eine Sekunde länger gewillt bin, hier in der Kälte zu stehen.«

Ein anderer Mann trat vor, gehorchte den deutschen Worten und sprach selbst in perfektem Französisch: »Wir brauchen ein Quartier für die Nacht. Hast du noch Betten frei, Wirt?«

»Für zehn Männer?«, wunderte sich der Wirt. »Soldaten?«

»Ja.«

»Nun ja, wir haben keinen roten Wein, nur noch etwas weißen, und wir haben kaum Essen, denn wir sind seit Tagen eingeschneit. Für eine Nacht reicht es vielleicht noch.«

»Das genügt uns.« Laubanger wirkte erleichtert. »Wohin können wir unsere Pferde bringen?«

»Der Stall befindet sich zu Eurer Rechten gleich hinter dem großen Tor. Wir treffen uns dort.«

Laubanger nickte. Er übersetzte das Gesagte seinen Begleitern, die sich sogleich aufteilten in jene, die jeweils zwei Pferde übernahmen, und jene, die das Recht hatten, sich schon früher am Feuer wärmen zu dürfen.

Pascale beobachtete aus der Küche heraus, wie sich die Männer in der Gaststube ausbreiteten, manche sich gar flach auf die Bänke legten. Ein Teil nahm gleich den Mantel ab, der Rest glaubte, schneller innerhalb des Mantels aufzutauen. So oder so bemerkte Pascale, dass sie allesamt bewaffnet waren. Ihre Rapiere schrammten über den Boden, einem fiel die Pistole aus dem Gürtel, als er seinen Mantel vom Körper zog. Es mussten Soldaten sein, und wenn dem so war, dann war völlig sicher, was nun folgen würde.

Es gab noch den halben Krug weißen Wein, und der Blick, den Henri, der neben Pascale stand und die Gaststube ebenso misstrauisch beäugte wie sie, ihr zuwarf, zeigte ihr, dass er die gleichen Sorgen hegte.

»Lauf zum Haus von Monsieur de Tarde. Frag nach, ob man uns ein wenig von seinem Wein verkauft. Und beeil dich, Kind! Sonst sehe ich schwarz.«

Pascale gelang es tatsächlich, Wein zu besorgen. Mit zwei Weinschläuchen und einem Krug kehrte sie kurz darauf zurück, schob sich aus dem Schnee in die Küche, die einen Ausgang zum Hof besaß, von dem man über die Ställe in die Straßen gelangte. Inzwischen war auch ihre Mutter, Catherine, wieder auf den Beinen. Sie half Henri so gut es ging, aber aus den jämmerlichen Resten des Huhns ließ sich kaum ein Essen für zehn halb verhungerte Männer zubereiten.

»Da spielt uns der Teufel einen Streich«, jammerte sie, strich Pascale dankbar über die nasse Haube und nahm ihr den Korb ab. »Vater gibt sich alle Mühe, aber ich befürchte, ich muss dich gleich noch einmal losschicken.«

Pascale lief an diesem späten Abend noch mehrmals, bis nach vier Stunden alle Männer in ihre Betten verschwunden waren. Sie hatte inzwischen festgestellt, dass der Mann mit der wütenden Faust, ein größerer Mann mit braunen Haaren, tief liegenden, frechen Augen und Bart, ihr Anführer war, auch wenn er für seine Begleiter nicht viel übrig zu haben schien. Vielmehr hatte er sich gleich allein in die hinterste Ecke verzogen, sich dort einen Becher wässrigen Wein nach dem anderen in den Rachen gegossen und war nur mit Hilfe von Laubanger und einem anderen Mann noch in sein Zimmer gekommen.

Die Nacht, die folgte, verlief ruhig. Pascale lag in ihrer Nische, die groß und warm genug war, um dort zu schlafen, als sich am Morgen der Reisende auf Zehenspitzen die Treppe hinunterbewegte. Pascale öffnete mühsam ein Auge. Es war noch so dunkel, dass man nur die Umrisse des Mannes wahrnehmen konnte, aber sie erkannte ihn an seiner Größe und Feingliedrigkeit. Es war verwunderlich, wie er vermied, auch nur das geringste Geräusch zu machen. Was ihm nur leider nicht recht gelingen wollte, auf der knarrenden alten Treppe.

»Mädchen?«, hörte sie ihn flüstern. So perfekt, wie er Französisch sprach, so kam es Pascale doch vor, als wäre auch er ein Deutscher.

»Ja?« Pascale rutschte aus ihrer Nische und rieb sich verschlafen die Augen.

»Hier, nimm das Geld, ich werde vorerst gehen.« Er suchte nach ihrer Hand und drückte den Geldbeutel hinein. »Sobald ich kann, kehre ich zurück. Wie finde ich zu den Ställen?«

»Nach links, das erste große Tor. Aber ich muss Euch öffnen.«

»Gibt es noch einen anderen Weg, als zur Vordertür hinaus?«

Was für ein merkwürdiger Wunsch.

»Ja, den gibt es, durch die Küche.«

Also wanderte Pascale mit dem Reisenden als Schatten durch die Küche hinaus in den Hof, auf dem der Schnee an manchen Stellen fast mannshoch lag. Sie liefen schweigend bis zum Stall, in dem ihnen einige Pferdeköpfe entgegensahen.

»Roscito!« Der Reisende hielt seinem großen, klobigen Fuchs die Hand hin und strich ihm langsam über den Hals.

Im Licht der Stalllaterne sah Pascale, wie der Mann seinem Pferd nur notdürftig mit der Wurzelbürste über den Rücken fuhr, die Sattellage reinigte, es dann in Windeseile sattelte und bald mit dem fertigen Pferd vor ihr stand.

»Gestern Abend konnte ich ihn kaum bändigen.«

»Er war schon immer etwas schwierig. Wenn man mit ihm umzugehen weiß, ist er ein gutes Pferd.« Er musterte sie. Pascale erwiderte seinen Blick und wunderte sich, dass er ungekämmt und unrasiert aufbrechen wollte. »Ich werde wiederkommen, aber vorerst muss ich fort«, war seine Erklärung.

Was für merkwürdige Worte.

»Hör zu ...«, setzte der Reisende an und zögerte. Sein Blick, der eben noch auf Pascale geruht hatte, wandte sich nach rechts, wo er auf etwas traf, das Überraschung in Verzweiflung verwandelte.

»Orioni, wenn Euch die letzten Wochen Eures Lebens noch etwas wert sind, gebt dem Mädchen die Zügel und folgt mir«, hörte Pascale die deutschen Worte, die ihr weit weniger fremd waren, als die Männer glaubten. Der Braunhaarige kam mit mächtigen Schritten auf den Reisenden zu, dessen Name Orioni war, riss ihn am Arm von seinem Pferd weg und der nun Gefangene konnte Pascale gerade noch die Zügel in die Hand drücken, da wurde er weiter vorwärtsgezogen, aus dem Stall hinaus und wieder ins Gasthaus zurück.

»Welch Teufel da auch auf unserer Seite ist, er ist uns wohlgesonnen, dass er mir gleich am Morgen solch einen Fang in die Hände spielt. Barthel, gut ...« Die Worte wurden leiser und schließlich unverständlich, als der Letzte der Männer, die ihrem Anführer gefolgt waren, die Tür zum Gasthaus hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Schnee. Pascale saß in der Küche und beobachtete das Tanzen der weißen Flocken. Der Ofen hielt ihren Rücken angenehm warm, und doch war sie alles andere als glücklich. Drei Tage waren vergangen, seit sich die Soldaten in ihrem Gasthaus einquartiert und den Reisenden gefangen genommen hatten. Ihr Vater lief Kreise in der Küche, raufte sich die Haare, wenn er nicht gerade versuchte, die Männer mit letzter Verzweiflung bei Laune zu halten. Die Haushälterin von Monsieur de Tarde war nicht länger bereit, sich den Wein abkaufen zu lassen, und alle anderen Vorräte gingen ebenso zur Neige.

Doch was Pascale viel mehr Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass ihre Mutter seit eben diesen drei Tagen so furchtbar bleich aussah. Sie wich Pascale kaum von der Seite, begleitete sie sogar auf ihren Wegen zum Manoir de Tarde, strich ihr über den Kopf, wann immer Pascale ihr nah kam. Das war jedoch nicht allzu häufig, denn Pascale fand, dass sie längst aus dem Alter heraus war, in dem man sich von den Eltern über den Kopf streicheln ließ. Aber dass ihre Mutter so ängstlich wirkte, so, als befürchte sie irgendein Unglück, ließ die Sorgen auf Pascale überspringen, auch wenn ihre Mutter ihr auswich und kein Wort preisgeben wollte, von dem, was sie bedrückte.

Pascale sollte den Gastraum nicht betreten. Sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter schoben sie zurück in die Küche, sobald sie auch nur einen Schritt auf das Stroh setzte, das den Boden im Gastraum bedeckte und längst hätte ausgetauscht werden müssen.

Somit war Pascale abgeschnitten von ihrer Nische und ihrem Buch.

Einmal fiel ihr auf, wie ihre Mutter bei dem Reisenden stand. Sie sprachen kein Wort, zumindest er nicht, das konnte sie sehen, aber Pascale bemerkte, dass der Reisende ihrer Mutter Blicke zuwarf, die eine stumme Botschaft in sich trugen.

Jahre mögen nach außen hin wirken, als wäre ihre Zeitspanne immens, ihre Dauer eine kleine Ewigkeit. Und doch war in Catherines Erinnerung nur ein Augenblick verstrichen seit dem Tag, an dem sie den Gast das letzte Mal gesehen hatte. Nun war er gekommen, ihr das Wichtigste zu nehmen, was ihr geblieben war. Sie hatte es in seinen Augen lesen können, in dem kurzen Augenblick, als sie die Möglichkeit hatte, ihm ein wenig Essen zu bringen. Gewöhnlich erledigte das der Anführer der Soldaten selbst, er wachte über ihn, als ginge es um sein eigenes Leben, wenn es auch ein Leben war, das er zu hassen schien, denn mehr als abschätzige Blicke hatte er für seinen Gefangenen nie übrig. Doch das eine Mal hatte er Catherine zu dem Gefangenen gelassen, während er keine drei Fuß entfernt gestanden hatte. Ihr war nicht mehr als ein eindringlicher Blick geblieben, mit dem sie den Reisenden gefragt hatte, weshalb er gekommen war. Seine stumme Antwort hatte ihre Befürchtungen bestätigt. Er war wegen des Mädchens gekommen. Seitdem schlief Catherine nicht eine Minute. Sie wälzte sich nachts hin und her, durchbohrte die düstere Decke über sich mit verzweifelten Blicken und wusste sich keine Hilfe.

Pascale spürte diese Unruhe ihrer Mutter. War hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, zu erfahren, was die Ursache war, und der Sorge, es könnte etwas sein, was sie selbst nicht wissen wollte.

Während der Schnee sich weiter auftürmte, waren die Soldaten mit ihrem Gefangenen selbst zu Gefangenen geworden. Sie hätten ihr eigenes Grab geschaufelt, wären sie in den Sturm hinein aufgebrochen. Also waren sie dazu gezwungen, weitere fünf Tage und Nächte im Wirtshaus zu verbringen, während ihre Laune zunehmend schlechter, die Nahrung immer spärlicher und der Hunger immer größer wurde.

Zu Pascales Glück gab es außer der verbotenen Gaststube und der Küche noch einen weiteren Ort, an dem man seine Zeit verbringen konnte: den Pferdestall. Schon früh am Morgen schaufelte sie sich den Weg frei, versorgte die Pferde mit Heu und griff dann erneut zur Mistgabel, um die Pferdeäpfel in einen kleinen Karren zu befördern. Der Misthaufen war der einzige Platz im Hof, der nicht unter einer weißen Decke begraben lag, denn das alte Stroh war ständig warm und dampfte auch in der Kälte noch vor sich hin, zumindest jetzt, wo sie ganze dreizehn Pferde im Stall hatten, so viele wie noch nie, seit Pascale denken konnte.

Ihr Gasthaus lag so weit ab von allen Reiserouten, dass sich nur selten mal ein Reisender hierher verirrte. Die meisten ihrer Gäste waren Einheimische und wiederum deren Gäste, vielleicht der ein oder andere Pilger, der sich von der Via Lemovicensis hierher verlief, aber niemals, niemals, nicht kamen zehn beziehungsweise elf Reisende auf einen Schlag und blieben für über eine Woche. Bei der Berechnung der Vorräte für den Winter hatte Pascales Vater weder den starken Schneefall noch elf Dauergäste eingeplant. Nun hatten sie die Bescherung.

Trotz der Kälte begann Pascale zu schwitzen. Sie rieb sich mit dem Ärmel über die nasse Stirn.

»Was rackerst du dich hier so ab, habt ihr keinen Knecht?«

Pascale fuhr herum. Ihr Blick fiel auf einen der Soldaten, der sich an die Stalltür gelehnt und ihr offenbar schon eine Weile beim Misten zugesehen hatte. Es war der Mann, den sie Laubanger nannten, der Einzige von ihnen, der Französisch sprach. Er war der jüngste von ihnen, vielleicht gerade einmal Mitte zwanzig, und war weder von den Pocken vernarbt noch hatte er sonst irgendeinen Makel an sich. Er musterte sie von oben bis unten.

Pascale schüttelte den Kopf und schob die Mistgabel über ein vereistes Stück Boden, bis das Geräusch sie selbst ärgerte.

»Hör zu, du Hühnchen, gib den Pferden anständig zu fressen. Wir brechen morgen früh auf, der Hauptmann will es so, es ist ihm gleich, was Petrus dazu sagt. Er will nicht einen Tag länger warten. Also fütter sie anständig, damit sie Kraft haben.«

»Ja, Monsieur.«

Er grinste nur lustlos. Drehte sich um und ging.

Der Abend war merkwürdig still. Während der Braunhaarige in seiner Ecke saß, die letzten Reste Wein in seinem Krug betrachtete und die übrigen Männer sich längst in das Schicksal ergeben hatten, keinen Wein mehr zu bekommen, warf ihr Gefangener unentwegt Blicke zu Pascale. Dabei war sein Gesicht wie aus Stein gemeißelt, selten, dass man überhaupt eine Gefühlsregung sah oder etwas, was dem nahegekommen wäre. Selbst als sie ihn vor acht Tagen aus dem Stall zurückgeholt hatten, war er nicht, wie es wohl bei jedem anderen Menschen, der vor zehn Soldaten davonlief, der Fall gewesen wäre, in Verzweiflung geraten. Da sie ihm bisher nichts getan hatten, ging Pascale davon aus, dass sie es auch nicht vorhatten, und doch war sie sich sicher, dass sie sich niemals so stumm hätte gefangen nehmen lassen, niemals, von niemandem.

Und dann, am nächsten Morgen, verschwanden elf Männer auf die gleiche geisterhafte Art und Weise, wie sie erschienen waren. Mit dem Unterschied, dass sie nun gemeinsam unterwegs waren.

***

Kapitel 2

Pascale machte sich daran, die Holztische mit einem feuchten Tuch abzureiben. An der Stelle, wo der Reisende gesessen hatte, bemerkte sie Spuren im Holz. Erst bei genauerem Hinsehen fiel ihr im Zwielicht des Gastraums auf, dass es sich um Buchstaben handelte. Er hatte etwas ins Holz geritzt.

Um es lesen zu können, musste sich Pascale einen Kienspan holen. Die Buchstaben waren klein, kaum zu entziffern, nicht tief eingedrückt, aber sie ergaben ganz eindeutig die Worte ›Suis-moi‹. Folge mir.

Den Rest des Vormittags wusste Pascale nicht viel mit sich anzufangen. Weder verstand sie, was die Worte bedeuten sollten, noch wurde ihr klar, ob sie selbst damit gemeint war, wenngleich der Reisende offenbar irgendein Interesse an ihr gehabt hatte.

Pascale hatte die Worte ihrer Mutter gezeigt, woraufhin diese mit großer Akribie jeden einzelnen Buchstaben aus dem Holz gebürstet und gekratzt hatte, bis die nachgedunkelte Platte an der Stelle nun wieder in ihrem ursprünglichen hellen Honigton leuchtete.

»Es bedeutet nichts! Geh, kümmer dich um den Stall, er sieht furchtbar aus. Henri soll dir helfen. Es bedeutet nichts!«

Und es bedeutete doch etwas. Pascale war sich sicher. Während der Mittag ins Land zog, der Himmel zwar keine Schneeflocken mehr zur Erde schickte, dafür aber ein eisiger Wind blies, kümmerte sich Pascale um die verbliebenen zwei Stallbewohner: ein Kutschpferd ihres Vaters und ein Maultier, das sie selbst immer mal wieder ritt.

Mit Henris Hilfe war das alte Stroh bald beseitigt und die letzten Reste Heu aus den hölzernen Heuraufen gefegt. Bis neue Pferde einzogen, blieb der Boden kahl und das frische Stroh vom letzten Sommer oben unterm Dach vor Nässe geschützt.

Henri schlurfte mit einem Seufzer der Erleichterung zurück in seine Küche und ließ Pascale mit ihren Grübeleien allein zurück.

›Folge mir!‹ hatte dort gestanden. Aber weshalb in aller Welt sollte er glauben, dass sie ihm einfach so hinterherlief? Ihre Mutter schien die Hintergründe dieser Aufforderung zu kennen, und das machte Pascale hellhörig. Wäre die Idee einfach nur hanebüchen gewesen, ihre Mutter hätte sie wahrscheinlich nur schräg angesehen und ihr den Stall zum Ausmisten zugeteilt, aber diese Idee war mehr als nur verrückt oder anzüglich oder gefährlich. Sie war auf irgendeine Art besonders.

Pascale fuhr mit ihrer schmalen Hand über den Hals des Maultiers.

»Lust auf einen kleinen Ritt, Casper?« In Windeseile lief sie in die Kammer, die sie mit ihren Eltern teilte. Dort stand sowohl das große Ehebett als auch ihr schmales, hölzernes Bett. Hier würde sie schlafen, bis zu dem Tag, an dem sie verheiratet wurde. An wen auch immer. Pascale wusste, dass ihr Vater längst den Sohn des Schmieds ins Auge gefasst hatte. Er war nicht einmal eine gute Partie, aber wohl der Einzige, der dazu bereit wäre, eine Rothaarige zu heiraten.

Ohne weiter über die beiden Männer und ihre Pläne nachzudenken, zog Pascale ihre Winterstiefel unter dem Bett hervor. Dazu ihre warmen Socken aus Schafwolle und den kleinen Beutel mit Münzen, der sich über die Jahre so langsam gefüllt hatte.

»Ich reite nur ein wenig aus, Maman«, rief sie, als Catherine in den Stall gelaufen kam.

Für kurze Zeit glaubte sie, dass ihre Mutter sie am liebsten wieder von Caspers Rücken heruntergezogen hätte, doch Catherine stand nur im Tor des Stalls, die Arme eng um den Körper geschlungen, und betrachtete Pascale mit einem Blick, den das Mädchen von ihr nicht kannte. War es Wehmut?

»Pass auf dich auf!«, rief sie Pascale nach.

»Ja, das werde ich, Maman. Ich bin gleich zurück.« Die Worte kamen ihr unendlich schwer über die Lippen. Sie wollte ihre Mutter, ihren Vater, umarmen, aber sie wusste, dass sie, sobald sie das täte, weder gehen würde noch ihre Mutter sie gehen ließe. Sie trieb Casper vorwärts und vergrub ihr Gesicht bis zur Nase in ihrem Schal. Das kleine Dorf verschwand langsam hinter der Biegung, und ihre Mutter blieb in der Tür stehen, bis sich auch das letzte Schweifhaar von Casper in Luft auflöste.

Es war von Anfang an nicht schwer, den Reitern zu folgen. Die Hufe der elf Pferde hatten den Schnee derart aufgewühlt, dass Pascale mit Casper nur in deren Spur bleiben musste. Ihr Weg führte die erste Meile den Lauf der Dordogne entlang, dann ließ sie die kleine Bastide Domme rechter Hand liegen und bog kurz vor Vitrac nach Norden ab, Richtung Sarlat.

Der tiefe Schnee und die hügelige Landschaft forderten viel von Casper, und sie kamen wesentlich langsamer voran, als Pascale gedacht hatte. In drei Stunden würde es dämmern. Sie waren inzwischen drei Meilen von La Roque Gageac entfernt, aber bis Sarlat wären es weitere fünf Meilen, und es gab keine Gewissheit, dass die Männer dort Rast machten. Am Ende siegte ihre Sturheit. Außerdem hatte der Schnee in Verbindung mit dem freien Himmel den Vorteil, dass Pascale dem Weg auch dann noch folgen konnte, als die Sonne schon seit zwei Stunden hinter den westlichen Hügeln versunken war. Nur kalt war es geworden, so kalt, dass die wenigen Haare, die unter ihrer Mütze hervorschauten, längst mit Eiskristallen übersät waren. Ihre Finger spürte sie schon eine ganze Weile nicht mehr, sie hatten das Schmerzen aufgegeben.

Casper unter ihr ging es nicht viel besser. Seine schwarze Mähne war weiß geworden, sein dichtes Winterfell ebenfalls kaum noch sichtbar.

Die einst deutlichen Spuren waren verwaschen wie ein Fußabdruck am Meer, so stark wehte der Wind aus östlicher Richtung, als sie Sarlat endlich erreichten. Die Stadttore waren längst verschlossen, aber Pascale wusste, dass die Stadt Geld brauchte und jeden hineinließ, der nach Torschluss die verlangten fünf Sol bezahlen konnte.

Ein Gewirr von dunklen und engen Gassen breitete sich vor ihnen aus. Sarlat war eine schöne Stadt, fand Pascale. Immer wieder hatte sie als Kind die Stadthäuser bestaunt, die so viel filigraner gebaut waren, so viel zerbrechlicher als die groben Dorfhäuser, auch wenn sie alle eins gemein hatten, den gelben Sandstein des Périgords, der erst mit dem Alter einen etwas gräulichen Überzug bekam. Im Sommer wirkte die ganze Stadt wie ein Gebilde aus Honig.

Es gab keine klaren Spuren mehr, denen sie hätte folgen können, also entschloss sich Pascale, in dem einzigen Gasthaus zu übernachten, das sie kannte, auch auf die Gefahr hin, dass sich die Soldaten ebenfalls dort aufhielten.

Sie ließ sich erschöpft aus dem Sattel gleiten. In ihrem bisherigen Leben war sie niemals weiter als fünfzig Meilen von La Roque Gageac entfernt gewesen, hatte den Ort nur verlassen, um mit ihrem Vater in Bergerac neue Weinfässer zu besorgen oder was sie sonst noch so für die Schenke brauchten, guten Schinken und Käse. Sie kannte kein anderes Leben als das ruhige im Dorf, und doch trieb sie jetzt die Neugier. Die Neugier und etwas anderes, eine Art Angst, die nicht groß genug war, um sie abzuschrecken.

Zu ihrem Glück stand das Tor zum Hof offen, aus dem Inneren des Gasthauses klangen Stimmen, sogar Musik. Pascale musste sich eingestehen, dass es unendlich einladend wirkte. Sie wollte nur eins: hinaus aus der Kälte, den Schnee endlich hinter sich lassen und nachsehen, ob einer ihrer Finger erfroren war.

»He, Kleiner ...« Die Stimme stockte. »Kleine«, fuhr sie fort, als der Mann erkannt hatte, dass der Reiter einen Rock trug. »Was willst du hier?«

Pascale drehte sich um und sah, wie sich ein Mann die drei Stufen hinunterbewegte, die zur Gaststube führten. Da er Französisch sprach und Laubanger nicht ähnlich sah, war zumindest diese eine Gefahr vorerst gebannt.

»Willst du hier etwa übernachten?«

»Ich folge meinem Herrn.« Pascale trat zwei Schritte zurück, als der Mann bis auf zwei Fuß an sie herankam. »Ich habe ihn im Schneesturm verloren. Ist er hier? Einer von elf Männern?«

»Die sind hier. Aber du bist ein Mädchen.« Er spuckte vor Pascale aus.

»Ja.«

»Allein!«

»Was interessiert dich das?« Pascale zog Casper ein Stück weiter in Richtung Stall. »Wohin kann ich mein Maultier bringen?«

»Da rein, wohin sonst?«

Er hörte nicht auf, Pascale zu folgen und sie anzustarren, als wäre sie das erste Mädchen, das er in seinem Leben zu Gesicht bekam. Sobald Pascale den Stall betreten hatte, versuchte sie, sich von ihm abzulenken, und entdeckte schnell, was sie gesucht hatte: In der hintersten Ecke, neben einer weißen, alten Stute, stand der große Fuchs.

»Das ist das Pferd meines Herrn«, rief sie laut. Ihr Finger zeigte auf den Hengst, der sie aufmerksam beäugte.

Der Kerl grunzte nur und machte eine Kopfbewegung, aus der Pascale schloss, dass sie möglichst bald aus dem Stall verschwinden sollte.

Sie lief über den Hof zu den drei Stufen, öffnete vorsichtig die Tür und stellte dann fest, dass der Gastraum wie erwartet voll und laut und stickig war. Es war, als käme ihr Dampf entgegen, den sie mit einem Messer hätte schneiden können. Die halbe Stadt musste sich versammelt haben. Sie schob sich hinein, schloss die Tür hinter sich und blieb stehen. Zum Glück verbarg sie ein Schatten. Der ein oder andere Blick bemerkte sie, aber keiner der Gäste war sonderlich an ihr interessiert, und alle Köpfe wandten sich schnell wieder ab.

Es galt die Soldaten zu finden, und in einer Ecke wurde Pascale schließlich fündig. Die meisten Männer konnte sie nicht auseinanderhalten, aber Laubanger war ihr inzwischen bekannt, und auch der Blonde mit seinen eisigen Augen. Den dritten, den sie hätte erkennen können, vermisste sie: Der Anführer war nicht zu sehen, und ebenso wenig Orioni.

Pascale entschloss sich zu warten. Im Schatten neben der Tür stand ein kleiner Hocker, den sie sich so zog, dass sie die Soldaten gut beobachten konnte, aber gleichzeitig im Dunkeln verborgen blieb. Und sie hoffte inbrünstig, dass der Wirt nicht käme und sie entdeckte. Die Gäste machten ihr weniger Sorgen, manche waren wohl Reisende, viele waren betrunken, kaum jemand würde sich Gedanken machen, dass ein unscheinbares Mädchen in der Ecke hockte. Keiner außer dem Wirt. Also musste er möglichst fernbleiben.

Pascale zog sich vorsichtig die feuchten Handschuhe von den Fingern, die allesamt schmerzten. Jetzt wo die Wärme sie langsam wieder zum Leben erweckte, bemerkte sie erst, dass sie nicht viel länger dort draußen hätte umherreiten können. Sie schob ihre Füße ein Stück vor. Noch befanden sich ihre Zehen im Winterschlaf.

Der Boden war wie in ihrem Gasthaus mit Stroh bedeckt, um vergossenes Bier und andere Schmierereien besser fortschaffen zu können. Es raschelte unter den Füßen, wenn man darüberlief. Und im Sommer, wenn es frisch war, dann duftete der ganze Raum. Wenn es aber alt war, im späten Winter, wenn jeder Gast Schmutz und Schlamm an den Stiefeln mit hereinbrachte und sich Knochen und andere Essensreste und vergossener Wein auf den Boden verirrten ... sie dachte nicht gern daran. Dann stank es zum Himmel.

Die Minuten verstrichen wie Stunden. In der steten Angst entdeckt zu werden, konnte sich Pascale weder über die angenehme Wärme freuen noch darüber, dass dann und wann Essen in ihrer Nähe aufgetischt wurde. Ihr Magen grummelte leise vor sich hin, unhörbar im Lärm, der sie umgab. Sie spürte nur das Rumpeln und das nagende Hungergefühl in sich, denn seit dem späten Vormittag hatte sie nichts mehr gegessen, und es musste inzwischen spät am Abend sein.

Sie tastete nach dem Beutel Münzen, den sie bei sich trug. Sie hatte sich dieses Geld mühsam zusammengespart, jeden Sol, ein paar Deniers, es war nicht viel, aber für eine Weile würde es reichen. Allzu lang würde sie so oder so nicht unterwegs sein, denn das Einzige, was sie wollte, war, mit dem Mann zu reden, der diese Worte auf ihren Tisch geritzt und so geheimnisvoll gesprochen hatte.

Sie hing diesen Gedanken nach, als mit einem Mal jemand oben an der Treppe erschien, die den Gastraum in zwei Teile teilte. Es war tatsächlich der Braunhaarige. Pascale war innerhalb eines Augenblicks hellwach und versuchte zu lauschen, was der Mann seinen Begleitern zurief.

Es war nicht zu verstehen, aber kurz nachdem der Anführer wieder im Dunkel des Flurs verschwunden war, sah sie Laubanger den Wirt zu sich winken. Zwei, drei Sätze wurden gewechselt, dann gerieten sie über irgendetwas in Streit, der Wirt begann zu gestikulieren, ein zweiter Soldat versuchte Laubanger zu beruhigen, und alle waren sie so abgelenkt, dass Pascale den Moment nutzen wollte. Sie wusste nun, dass sich Orioni sehr wahrscheinlich bei dem Braunhaarigen befand. Nun musste sie bloß warten, bis der das Zimmer erneut verließ, dann würde sie sich zu Orioni schleichen können.

Sie sprang in Richtung Treppe, stoppte und flitzte dann flink wie eine Katze die Stufen hinauf und links um die Ecke, wo sie mit voller Wucht in jemanden hineinrannte.

»Teufel, pass auf!« Es war der Braunhaarige. Er packte sie grob an der Schulter und schubste sie ein gutes Stück weiter in den Gang. Pascale stieß sich die andere Schulter an der Holzwand und verzog vor Schmerz das Gesicht.

»Verzeiht mir, Herr«, murmelte sie und verbarg ihr Gesicht so gut es ging mit ihren Händen.

»Verschwinde«, fauchte er nur und wanderte die Stufen hinab. Er hatte sie nicht wiedererkannt. Und er hatte nicht bemerkt, dass sie ihm auf Deutsch geantwortet hatte.

Der Gang war so dunkel wie erwartet. Das Licht aus dem Gastraum erhellte den Flur nur so weit, dass man zwei Türen entdecken konnte, sowie eine Treppe, deren ausgetretene hölzerne Stufen weiter nach oben führten. Ihr Blick wanderte von einer Tür zur nächsten. Welche mochte die richtige sein? Sie hatte nicht sehen können, welche der Braunhaarige verschlossen hatte. Einziger Unterschied war, dass unter der rechten Tür ein schmaler Lichtstreif erkennbar war, während es hinter der linken Tür dunkel sein musste. Aber war es eine gute Idee, jetzt einfach den Raum zu betreten, wo sie nicht mit Sicherheit sagen konnte, ob die restlichen neun Soldaten unten saßen?

Es gab keine Zeit für eine Entscheidung. Sie zweifelte noch, da ächzte die Treppe unter Schritten. Der Braunhaarige kehrte zurück.

Sie griff nach der Klinke, drückte sie, schob sich in den Raum und schloss die Tür hinter sich. Keinen Wimpernschlag später lag sie unter dem Bett, in der hintersten Ecke an die Wand gepresst, denn der Braunhaarige öffnete die Tür in just dem Moment, als sie unter dem Bett zur Ruhe gekommen war.

»Was waren das für Geräusche?«, fragte der Braunhaarige misstrauisch.

»Von welchen Geräuschen sprecht Ihr?«

»Ihr mögt den Unwissenden spielen, so viel und so lang Ihr wollt, Orioni, aber meine Ohren haben mich nicht getäuscht. Was auch immer Ihr wieder getrieben habt, es ist Euer Glück, dass Ihr noch hier seid. Da, der Wirt war sehr freigiebig und hat uns gut versorgt für das Geld. Wenn es nach mir ginge, würdet Ihr bei Wasser und Brot hungern.«

»Dann kann ich mich ja geschmeichelt fühlen, dass Ihr es Euch heute Abend noch einmal anders überlegt habt, Jakob Wenterodt«, antwortete Orioni.

Ein Grunzen erfüllte den Raum.

»Springt mir nicht aus dem Fenster!«, warnte der Braunhaarige, den Orioni mit Wenterodt angeredet hatte, und verließ erneut das Zimmer.

Für kurze Zeit versank der Raum in Stille. Pascale lag mächtig ungemütlich unter dem Bett und war heilfroh, dass sie ihre Glieder entspannen konnte. Ihre Stiefel kratzten über das Holz, als sie ihre Beine vorsichtig ausstreckte.

»Mädchen?«, hörte sie Orionis Stimme. »Hast du Hunger?«

»Ja!« Und wie sie welchen hatte.

»Er scheint tatsächlich gute Laune zu haben, sonst würde er mir nicht solches Essen bringen«, amüsierte sich Orioni. »Wie heißt du, Kleine?«

»Pascale.«

Der Geruch von Bratensauce drang bis in den hintersten Winkel ihres Verstecks.

»Weshalb bist du nur diesen dummen Worten gefolgt?«

»Aber Ihr hattet doch ›Folge mir!‹ geschrieben, Monsieur. Also bin ich Euch gefolgt.«

»Wer sagt, dass diese Worte dir gegolten haben?«

»Wem denn sonst? Ihr habt mich doch unentwegt angesehen.«

Seine dürre Hand reichte ihr ein Stück frisches Brot, das er zuvor in die Sauce getunkt hatte. Eine Kombination, die so gut schmeckte, dass Pascale sie lieber lutschte, anstatt sie gleich herunterzuschlingen.

»Nun, darüber werden wir hier und jetzt nicht reden können, und am Ende war es nur eine geistlose Idee. Vielleicht bleibt uns eines Tages die Zeit dazu, aber dafür müsstest du uns folgen. Würdest du das tun?«

»Ihr seid ein Fremder«, protestierte Pascale, »umgeben von Soldaten.«

Er reichte ihr ein weiteres Stück Brot.

»Und du bist ein Mädchen. Ich weiß schon. Es war ein sinnloser Gedanke. Es ist zu spät. Einfach zu spät. Wäre ich früher gekommen, aber nun ist alles zu spät.«

Was meinte er damit?

»Hör mir zu, das Beste wird sein, du vergisst, was ich schrieb. Was auch immer ich plante, ist nun müßig. Sie nehmen mich mit. Die heutige Nacht wirst du unter dem Bett verbringen müssen, aber morgen früh reite nach Hause. Du bist doch mit einem Pferd gekommen? Durch diese Wüste dort draußen?«

»Mit Casper«, klärte Pascale ihn auf. »Er ist ein Muli.«

»Gut, dann mit deinem Maultier. Es freut mich, dass du reiten kannst. Also, du reitest heim und du vergisst die Worte. Es wird für uns alle das Beste sein.«

Pascale sah, wie seine Hand ihr dieses Mal einen Becher reichte.

»Da ist Wein drin, Pascale, aber er ist verdünnt. Bevor du verdurstest, trink das lieber.«

Pascale trank so hastig und schnell sie konnte, der Durst, der sie seit Stunden quälte, war kaum noch auszuhalten gewesen. Zu ihrem Glück, denn sie mochte Wein nicht, war der Inhalt des Bechers tatsächlich mehr Wasser als Wein.

Die offene Hand griff den Becher gerade in dem Moment, als Wenterodt zurückkehrte. Er hatte sich selbst einen Teller mit Fleisch und Brot besorgt, dazu einen Krug Wein, den er etwas gefährlich unter den Arm geklemmt hielt, um die Tür schließen zu können.

Für Pascale begann nun eine schier endlose Zeit des Wartens, denn Wenterodt verließ kein weiteres Mal das Zimmer. Er setzte sich vielmehr an einen winzigen, wurmstichigen Tisch, breitete sein Essen darauf aus und schlang es hinein, als hätte er seit Tagen nichts gegessen. Als er auch den Krug Wein vollständig geleert hatte, schob er seinen Stuhl in Richtung Tür, streckte die Beine aus und schnarchte schneller, als es Pascale jemals bei einem Menschen erlebt hatte. Er trug Sporen an seinen Stiefeln, die immer wieder quietschten und klirrten und das Holz der Eichenbohlen malträtierten.

Pascale schlief nicht in dieser Nacht. Zwar wagte sie, sich vorsichtig zu bewegen, aber es war kalt unter dem Bett, ohne Decke, und das Schnarchen des Soldaten erschreckte sie jedes Mal, wenn sie kurz davor war, einzunicken.

Erst als es zu dämmern begann, fielen ihr die Augen zu. Nur für kurze Zeit, hätte sie gewettet, und trotzdem lag das Zimmer völlig still, als sie wieder erwachte. Innerhalb von Sekunden schlug ihr Herz bis zum Hals, sie lauschte und konnte außer einem entfernten Gemurmel im Gastraum nichts vernehmen, keine Geräusche, die auf einen anderen Menschen im Zimmer hätten schließen lassen.

Das Zimmer war leer. Pascale schob sich unter dem Bett hervor, lief ein paar wackelige Schritte mit ihren steifen Beinen und sah verstört in den winzigen, halb blinden Spiegel, der an der Wand hing. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab, die Augen lagen tief ... und sie hatte den Aufbruch der Männer verpasst? Wie tief hatte sie geschlafen?

Es war noch Wasser in der Kanne, es schien, als hätten die Männer kein Wasser für die Morgentoilette benutzt. Pascale rieb sich das kalte Wasser über die Stirn und die müden Augen, entwirrte die Haare weitestgehend mit den Fingern. Dann zog sie ihre Mütze wieder auf. Niemand sollte ihre Haare sehen, sie hatten ihr weiß Gott genug Unglück gebracht in ihrem Dorf.

Wie erwartet fand sie in der Gaststube keine Soldaten mehr vor. Sie stand im Flur, bis der Wirt kurz in der Küche verschwand, flitzte dann in Windeseile die Stufen hinunter zur Tür und in den Stall. Immer auf der Hut, den Männern doch noch zu begegnen. Aber nichts. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt.

Was für ein Unglück. Doch das Unglück sollte sich noch ausweiten. Casper stand nicht an seinem Platz, als sie den Stall betrat.

Draußen im Hof, am Brunnen, füllte der Stallknecht einen Eimer nach dem anderen.

»Wo ist mein Muli?«, schimpfte Pascale.

»Dein Herr«, betonte der Knecht das Wort Herr so abfällig wie möglich, »hat es mitgenommen. Sein Pferd ist lahm. Scheint so, als hätte er dir den Roten hinterlassen.« Der Mann lachte gemein. »Viel Freude, Kleine.« Er griff zwei volle Eimer und lief mit ihnen in den Stall. Auf weitere Worte reagierte er nicht.

Pascale stand vor dem roten Hengst und wusste nichts zu denken. Sie griff sich eine Handvoll Heu und reichte es ihm, während sie sich vorsichtig näherte. Er war nervös wie am ersten Abend, rollte mit den Augen und trat rastlos von einem Huf auf den anderen.

»Nun halt still«, schimpfte Pascale leise. Sie fuhr mit ihrer Hand an seinem linken Vorderbein hinab, aber es war kalt und schlank. Das gleiche tat sie beim rechten Bein, aber auch dort gab es keine Wärme zu fühlen. Erst beim Huf wurde sie fündig, er fühlte sich tatsächlich warm an, zu warm. Der Hengst musste ein Hufgeschwür haben, und sie hatte keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Dafür würde sie einen Hufschmied brauchen und Zeit, viel Zeit.

»Komm, wir müssen hier fort«, sprach sie beruhigend auf ihn ein. Doch der Hengst scherte sich nicht um sie. »Verflucht, pass auf!«

Nach zwanzig weiteren Flüchen hatte sie den Fuchs schließlich in den Hof geführt. Oder er sie, denn kaum hatte sie ihm das Kopfstück übergezogen, hatte sie ihn nicht mehr halten können und war ihm notgedrungen bis in den Hof gefolgt.

»Was wird das?«, hörte sie den Stallknecht rufen, und genau in diesem Augenblick entschied sich der Fuchs, ihr nicht weiter zuzuhören. Er stemmte die Hinterbeine in den Schnee und lief los, Pascale dabei die Zügel aus der Hand reißend. Sein roter Schweif verschwand um die Ecke.

»Teufelsross!«, stieß sie hervor. »Da versorgt man dich und alles, was du tust, ist einen im Stich zu lassen!« Sie schleuderte die Mütze in den Schnee. Nun würde sie zu Fuß nach Hause zurückkehren, ohne Casper.

Doch zuvor gab es noch etwas zu tun.

»Du willst mir den Sattel verhökern?«, entsetzte sich der Stallknecht. »Scher dich weg! Ich will keinen Ärger!« Er holte nach ihr aus und Pascale musste sich wegducken, sonst hätte er ihr eine mit der Hand verpasst. »Kannst deinen Herrn betrügen so viel du willst, aber nicht mit mir!«

Also versuchte sie, sich den Sattel zu holen, aber er stellte sich breitbeinig hin, stemmte die Arme in die Seite und versperrte ihr den Weg.

»Denk nicht mal im Traum dran, Mädchen!«, fauchte er. »Der bleibt hier!«

»Aber ...«

»Hau ab! Dein Herr wird mir noch dankbar sein, dass ich dich vertrieben habe, so eine Schlange, wie du bist!«

***

Kapitel 3

In diesem Moment entschied sich Pascale, nicht einfach umzudrehen und nach Hause zu wandern, sondern Casper zu folgen, und den Männern. Mit etwas Glück bekäme sie das Muli zurück, auch wenn es, ohne den Roten als Pfand, nun schwieriger werden würde.

Aber bevor sie daran auch nur denken wollte, musste ein bestimmtes Detail verändert werden, und das war der Rock. Doch wo eine Hose herbekommen? Sie trat aus dem Hof auf die Straße, in der nun etwas Leben herrschte, fragte nach einem Schneider und hielt keine halbe Stunde später tatsächlich eine Hose im Arm. Das gute Stück hatte nicht ganz ihre Größe, war ausgebeult und das Grün arg verblichen, aber für die wenigen Sols, die es gekostet hatte, war es ihr mehr wert, als der Schneider wohl je für möglich gehalten hätte. Außerhalb des Dorfes nutzte sie eine uneinsehbare Stelle, um sich umzukleiden, und fühlte sich um Welten besser, als sie wieder auf die Straße trat. Wenn sie die alten Landkarten im Manoir de Tarde richtig in Erinnerung hatte, so müssten die Männer wohl nach Nordosten unterwegs sein. Sie würden über Brive reisen, wenn sie nicht alles täuschte.

Es fiel Pascale unendlich schwer, Sarlat hinter sich zu lassen. Einerseits war sie zwar fest entschlossen, unterstützt von einer Leichtigkeit, die durch den fehlenden Schlaf entstand, durch das Gefühl, im Stehen einschlafen zu können, doch andererseits wusste sie auch, wie gefährlich es werden konnte. Sie hatte kein Reittier mehr, einen Begleiter schon gar nicht. Und auf eine ganze Meile voraus ließ sich nirgends ein anderer Reisender entdecken. Sie würde allein sein. Bis sie auf die Männer stieß.

Vier Stunden später entdeckte sie einige dunkle Punkte an einer Hügelkuppe. Einige davon bewegten sich schnell und ruckartig, und da sie größer waren, schloss Pascale, dass es die Pferde sein mussten. Zwischen ihnen wie kleine Flöhe die Männer. Und ein roter Punkt, der alles aufmischte.

»Der Fuchs«, murmelte Pascale griemelnd. Sie rieb sich über die taube Nase.

Mühsam kämpfte sie sich weiter voran, bis sie so nah an die Männer herangekommen war, dass sie fürchtete, entdeckt zu werden. Sie kroch hinter eine Schneewehe und beobachtete das Treiben weiter.

»Orioni, zum Henker noch eins, tut etwas gegen Euer Pferd!«, hörte Pascale den Braunhaarigen toben.

Der Hengst, der gemeint war, sprang zwischen den anderen Pferden umher, wegen seines kranken Hufs immer noch leicht lahmend, und sobald jemand versuchte, nach seinen zerrissenen Zügeln zu greifen, richtete er sich zu voller Größe auf.

Pascale entdeckte Orioni etwas abseits, im Schnee sitzend, so als sei ihm gleichgültig, was um ihn herum geschah. Wenterodt schritt auf ihn zu und riss ihm den Hut vom Kopf.

»Fangt Euer Pferd ein!«, krächzte er. »Fangt es endlich ein!«

Doch Orioni tat nichts dergleichen. Daraufhin packte Wenterodt Orioni am Mantel, zog ihn hoch und stieß ihn so weit es ihm möglich war vorwärts.

»Elender Sturkopf!«

Da Pascale nur Augen für Orioni und Wenterodt hatte, bemerkte sie nicht, dass der Hengst mit zwei anderen Pferden in ihre Richtung getrabt war. Er entdeckte Pascale und stapfte ihr aus reiner Neugier entgegen. Pascale versuchte, ihn wegzuscheuchen, doch ihre Armbewegung entging Wenterodt nicht.

»Belzer, Reisinger, holt endlich den verfluchten Gaul und bringt alles mit, was sich bei ihm befindet!«

Pascale wollte laufen, doch sie merkte nur noch, wie eine unendliche Müdigkeit ihre Beine lähmte, oder war es die Angst, sie konnte es nicht sagen. Sie starrte und wartete, bis die zwei Männer sie erreicht hatten. Einem von ihnen gelang es tatsächlich, den Fuchs zu fangen, der andere musterte sie gründlich und stellte fest, dass von ihr keine Gefahr ausging. Seine Hand griff fest nach ihrem Arm und zog sie aus der Wehe heraus auf die Beine.

»Ich gehe nur spazieren«, keuchte Pascale, als der Griff an ihrem Arm so stark wurde, dass sie glaubte, der Mann würde ihr den Oberarm brechen. Er zog sie vorwärts, hin zu Wenterodt, der ihnen entgegenstapfte.

»Da saß ein Wicht im Schnee, Hauptmann.«

»Lasst mich in Ruhe! Bitte ... bitte!«

Die Augen des Braunhaarigen funkelten unter seinem Hut hervor. In wenigen Schritten war er bei ihr und ihrem Bewacher, und wie immer umspielte dieses selbstgefällige Lächeln seine Lippen.

»Ach, wirklich? Nein, deine Ruhe kriegst du nicht. Was auch immer du hier treibst und warum auch immer du uns beobachtest, ich lasse dich nicht mehr laufen! Woher sprichst du überhaupt so gut deutsch?«

»Vater diente in eurem verfluchten Krieg!«

»Bist ganz schön forsch, was?« Wenterodt warf dem Soldaten, der Pascale festhielt, einen Blick zu. »Der kommt mit uns, Reisinger!«

»Was?« Pascale fühlte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich, wenngleich da wohl kaum noch welche gewesen war, bei der Kälte und so vielen Männern um sie herum. »Keinen Schritt werde ich mitgehen. Was kann ich dafür, wenn mir das Pferd zuläuft. Ich rühre meine Füße hier nicht weg.«

Sie stellte sich so tapfer hin, wie es ihr möglich war, aber anscheinend beeindruckte es nicht einmal Orioni, der sich inzwischen genähert hatte.

»Lasst den Jungen in Ruhe, Wenterodt!«, versuchte er, ihr zu helfen. »Ihr glaubt doch nicht allen Ernstes, dass er eine Bedrohung darstellt.«

»Das hätte er sich früher überlegen sollen. Ich gehe nicht das Risiko ein, ihn laufen zu lassen. Es hat uns schon übel genug erwischt, da brauchen wir nicht noch wen, der uns hinterherschleicht.« Wieder funkelten sie seine Augen an. »Nein, Kleiner, du bist von nun an einer von uns. Willkommen in der Hölle!«

Am späten Abend liefen sie noch immer. Verloren irgendwo in den Bergen zwischen Sarlat und Brive. Schon lange war Stille unter den Männern eingekehrt. Seit Stunden hatte keiner mehr ein Wort gesprochen. Nur der Wind heulte in den Tälern und zwischen den Bäumen, warf dann und wann etwas Schnee auf sie herab und vertrieb auch den letzten Rest Wärme aus ihren Körpern. Den Pferden erging es nicht viel besser. Mit hängenden Köpfen schleppten sie sich hinter ihren Reitern her, die Augen ebenso zu Schlitzen verengt wie die Menschen. An Reiten war nicht zu denken, die Pferde wären bald lahm geworden. Also liefen sie zu Fuß. Alle. Seit einer halben Ewigkeit nun schon.

Pascale bemerkte, wie die Welt vor ihren Augen immer mehr verschwamm. Alles um sie herum bestand aus bläulichem Nebel, der Himmel war kaum vom Boden zu unterscheiden. Ihre Füße fanden nur noch selten Halt. Immer und immer wieder strauchelte sie und rappelte sich auf. Wenn sie es nicht selbst schaffte, zog sie jemand auf die Füße, bis zum nächsten Sturz. Irgendwann blieb sie einfach liegen.

Ein Fußtritt erfüllte ihren Brustkorb mit Schmerz. Sie stöhnte.

»Aufhören!«, hörte sie Orionis Stimme durch den Nebel.

»Weiter!«, rief einer der Soldaten, und Pascale sah, wie er Orioni von ihr wegziehen wollte. »Wir lassen ihn liegen. Er ist nur unnützer Ballast.«

»Nur über meine Leiche«, gab Orioni bissig zurück und lud sich Pascale mühsam auf den Rücken, wo sie eine Weile hing, bis er mit ihr die Gruppe erreicht hatte, an deren Ende Wenterodt ungeduldig wartete.

»Wenn der Junge wegen Euch sein Leben verliert ...«

»Was dann?«, wollte Wenterodt gehässig wissen. »Niemand wird sich für den Jungen interessieren. Glaubt Ihr, ich habe nicht schon Dutzende dieser Art auf Wegen zurückgelassen? Der Wicht ist nichts wert. Aber macht Euch das Laufen ruhig schwerer, als es längst schon ist, ich werde Euch mit Sicherheit liegen lassen, das schwöre ich.«

Orioni lief mit Pascale an Wenterodt vorbei. Er keuchte mächtig.

»Siehst du das Licht da vorne?«, klang seine warme Stimme durch den Nebel zu Pascale.

»Ja«, flüsterte sie, die unendliche Erschöpfung in den Knochen kaum noch unterdrückend.

»Beobachte es! Halt es immer im Blick! Und gib mir Bescheid, wenn mein Weg davon abweicht. Hast du verstanden? Es ist wichtig. Du darfst jetzt nicht einschlafen. Der Schlaf wäre dein sicherer Tod.«

Pascale spürte, wie sich sein Körper bewegte. Schon bald bestand sie selbst nur noch aus seinen mühsamen Schritten, wurde immer wieder hoch- und leicht vorwärts geworfen, hielt sich im wollenen Stoff fest und legte ihr Kinn so auf seine Schulter, dass sie das Licht im Auge behalten konnte. Ein kleines, warm leuchtendes Ding, nicht größer als ein Stecknadelkopf, umgeben von so viel Dunkelheit.

Orioni war nicht der Einzige, dem das Licht aufgefallen war. Sobald Wenterodt es erspäht hatte, trieb er seine Männer an, sich ihm weiter zu nähern. Sie verließen den Weg und wanderten querfeldein, kletterten über kaum noch erkennbare Feldsteinwälle und zogen auch die Pferde darüber hinweg. Was sich am Ende der Tortur vor ihnen ausbreitete, war ein winziger Weiler mit gerade einmal acht Häusern und Ställen.

Das Licht selbst war ein einsamer Kienspan gewesen, der in einem der Ställe brannte, dessen Tür einen Spaltbreit offen stand. Der Schnee hatte sämtliche Häuser eingehüllt, aber Wenterodt brauchte nicht lang, um eine Tür ausfindig zu machen. Er hämmerte in alter Manier auf sie ein.

»Aufmachen!«, schrie er auf Deutsch.

Eine Weile geschah nichts, dann öffnete sich die Tür einen Spaltbreit und ein Knüppel schnellte Wenterodt entgegen. Der war darauf längst vorbereitet, riss dem Mann das Stück Holz aus den Händen und stieß die Tür auf. Der Mann, der sie geöffnet hatte, sprang zurück, und Pascale sah von Orionis Schulter herab, dass sich seine Familie an die hintere Wand drängte. Angst begann die Müdigkeit zu ersetzen. Was hatte Wenterodt vor? Pascale zog an Orionis Mantel und strampelte sich von seinem Rücken.

»Was tut er?«, flüsterte sie besorgt.

Wenterodt begann sich mit gezogenem Rapier im Haus umzusehen. Scheppernd wischte seine linke Hand alles vom Tisch, aus den Regalen, was ihm wertlos war. Es war, als bahnten sich alle Wut und alle Hilflosigkeit der letzten Stunden ihren Weg, und nichts mehr in ihm konnte dem Einhalt gebieten. Sein Gesicht war verzerrt zu einer Fratze. Pascale hörte die Kinder jammern, leise und verzweifelt. Sie spürte, dass Orioni neben ihr ähnlich nervös wurde wie sie selbst, doch er sah weiterhin tatenlos zu.

Schritte im Schnee kamen näher. Die anderen Soldaten drehten sich zu ihnen um, bereit, sich zu verteidigen. Doch es waren bloß drei dürre Männer, zwei jüngere und ein älterer, die sich besorgt und vorsichtig näherten.

»Nein, nein, Ihr könnt hier nicht bleiben!« Die Stimme gehörte dem älteren Bauern. Er hatte sich notdürftig in eine Wolldecke gewickelt, um sich vor der Kälte zu schützen. Sein Blick wanderte ängstlich von einem Soldaten zum nächsten, bis er an Orioni hängen blieb.

»Monsieur, bitte«, jammerte er und sank auf die Knie. Er musste irgendwie herausgefunden haben, dass Orioni ein feiner Herr war, wie auch immer unter all dem dunklen Stoff, der seine Kleider verbarg. Vielleicht hielt er ihn auch bloß für den Vernünftigsten der Kerle. »Ruft Eure Männer zurück! Wir haben nichts, womit wir sie bewirten könnten. Wir hungern doch selbst schon seit Wochen, und wenn es so weitergeht, dann sterben uns die Kinder!«

»Das sind nicht meine Männer«, setzte Orioni an. Doch er schien es sich anders zu überlegen. »Ihr habt keinen Grund, vor mir auf die Knie zu fallen! Ich bin Gefangener dieser Herren, aber ich werde versuchen, was ich kann, dass wir weiterziehen.« Dann kam ihm ein Gedanke. »Bitte kümmert Euch um den Jungen, denn er droht vor Erschöpfung und Kälte zu sterben.«

Pascale warf dem Bauern ähnlich ängstliche Blicke zu wie er ihr. Er nickte stumm.

»Geh mit ihm!«, sprach Orioni ruhig zu Pascale und reichte ihr zwei silberne Écus, die er nach einigem Suchen aus den Tiefen seines Mantels gezogen hatte. »Gib ihm das, wenn wieder Ruhe eingekehrt ist. Geht und versteckt euch in den Häusern. Ich kümmere mich derweil um dieses Desaster.«

Der Bauer wollte Pascale mit sich ziehen, doch sie zögerte.

»Ich muss es sehen! Bitte.«

Ihr Blick wanderte zurück zu der Hütte, in der Wenterodt dabei war, das wenige Essen der Familie zu vertilgen. Fünf der anderen Soldaten leisteten ihm dabei Gesellschaft, der Rest stand draußen und blickte stumm vor sich hin, etwas ratlos und offenbar zu müde, um Schrecken zu verbreiten. Ihre Gesichter wollten Pascale nichts verraten.

In der Hütte griff Orioni nach Wenterodts Mantel und drehte den Mann zu sich herum.

»Abscheulicher Kerl! Seht Ihr denn nicht, wie diese Menschen leiden? Wir werden jetzt weiterreisen.«

»Einen Teufel werden wir tun!«, knurrte Wenterodt