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Eine Brücke durch Raum und Zeit
Für kurze Zeit teilen sich zwei Orte denselben Raum, dieselbe Zeit, und zwei Liebende finden zueinander. Doch die Brücke zwischen den Orten reißt bald wieder ab. Das Glück des Paares ist nur begrenzt, es muss sich trennen … wirklich für immer?
Die Erzählung „Orte der Erinnerung“ erscheint als exklusives eBook Only bei Heyne und umfasst ca. 60 Seiten.
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Seitenzahl: 95
WOLFGANG JESCHKE
ORTE DER ERINNERUNG
Erzählung
Für kurze Zeit teilen sich zwei Orte denselben Raum, dieselbe Zeit, und zwei Liebende finden zueinander. Doch die Brücke zwischen den Orten reißt bald wieder ab. Das Glück des Paares ist nur begrenzt, es muss sich trennen … wirklich für immer?
Die Erzählung »Orte der Erinnerung« erscheint als exklusives E-Book Only zusammen mit weiteren Stories von Wolfgang Jeschke im Heyne Verlag und umfasst ca. 60 Seiten. Sie sind als Print-Ausgaben in den Sammelbänden »Der Zeiter«, »Partner fürs Leben« und »Orte der Erinnerung« im Shayol Verlag, Berlin erschienen.
Wolfgang Jeschke (1936-2015) war der Großmeister der deutschen Science-Fiction. Lange Jahre als Herausgeber und Lektor für den Heyne Verlag tätig, hat er vor allem auch mit seinen eigenen Romanen und Erzählungen das Bild des Genres geprägt. Jeschke wurde mehrmals mit dem renommierten Kurd Lasswitz Preis ausgezeichnet.
»Der letzte Tag der Schöpfung – Midas – Das Cusanus-Spiel« (drei Romane in einem Band) und »Dschiheads«.
Eine Übersicht aller Werke von Wolfgang Jeschke finden Sie in der Bibliografie am Ende dieses E-Books.
Überarbeitete Neuausgabe
Copyright © 2011 by Wolfgang Jeschke
Erstmals veröffentlicht in: Pandora, Nr. 04, Shayol Verlag, Berlin 2009
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Covergestaltung: Stardust, München
Satz: Thomas Menne
ISBN 978-3-641-13604-8
»Jeder, der in der Zeit stehen bleibt, bleibt allein stehen.«
Alan Lightman, »Und immer wieder die Zeit. Einstein's Dreams«
»Hörst du die Zeit?
Sie knurrt wie ein hungriges Tier.
Selbst Gestein zermalmt sie zu Staub.«
Jeremias Wolf, »Timeshift«
1
Heute lächle ich über die jähe Angst, die mich überkam, als mir bewusst wurde, dass es nun geschehen würde. Todesangst. Es war jedoch ganz leicht, loszulassen, als der Moment gekommen war, Abschied zu nehmen von allem, das ich war.
Heute folgt mein Blick gelassen dem Weg, der zu der alten steinernen Brücke hinunterführt, die ich nie überqueren werde, wo der Fluss das Blau des leergefegten Himmels spiegelt. Dem steilen Pfad, der das andere Ufer erklimmt, zwischen Oliven, deren silberne Blätter, noch trunken vom Licht, reglos den Abend erwarten, während oben sich die schlanken dunklen Gestalten der Zypressen aufgereiht haben, um darüber zu wachen, dass keiner zurückbleibt in diesem Tal außer mir. Über den Kalkfelsen der Kuppe, zwischen denen Ginster und Oleander blühen, schweben Geier.
Das sind keine Geier, belehrst du mich, obwohl du sie gar nicht sehen kannst. Es sind die Falken des Horus, sagst du. Sie haben ein scharfes Auge auf uns.
Mein Auge folgt dem Strom der Enteilenden, die flinken Fußes jene Anhöhe erklimmen, die ich nie betreten werde. Sie hasten davon. Keiner wirft einen Blick zurück. Die Schatten hinter ihnen steigen, sind ihnen auf den Fersen.
Es ist Zeit zu gehen, Liebster, sage ich. Wir müssen Abschied nehmen.
Du kannst nicht, sagst du?
Du musst. Unsere Universen haben sich bereits getrennt. Du wirst die Zukunft bewohnen, die mir verschlossen ist. Doch mir öffnet sich nun die Vergangenheit. Ich vermag an all die Orte zurückzukehren, an denen wir glücklich waren, die für dich nur Erinnerung sind.
Geh jetzt, Liebster. Die letzten Lebenden sind schon über die Brücke geeilt und hetzen das Ufer hinauf. Geh! Die dunklen Wächter sind unerbittlich. Den Falken entgeht nichts. Hörst du ihren heiseren Schrei?
Es war dieser Moment des Loslassens, den ich so gefürchtet hatte. Dabei war es ganz leicht. Ein Augenblick der Endgültigkeit und der Geborgenheit zugleich. Ich wende den Blick zurück, und meine Träume sind voller Leichtigkeit und Licht.
So einfach ist das Sterben, träumte ich – und konnte nicht mehr erwachen. Die Zeit hat keine Macht mehr über mich. Ich habe Macht über die Zeit. Ich kann innehalten und mich umwenden und den Weg zurückschlendern, auf dem wir miteinander gekommen sind. Und wir werden uns treffen außerhalb der Zeit, wo immer wir glücklich gewesen sind.
Wo, fragst du?
»Hast du wieder zu schreiben begonnen?«, fragte er.
Sie blickte ihn nachdenklich über ihre Sonnenbrille hinweg an. »Hm. Ein paar Zeilen.«
»Wie schön.«
»Nicht der Rede wert.«
»Was ist es denn?«
»Ein Traum.«
»Ein Traum? Wie das?«
»Ein Traum, der mich seit Wochen verfolgt. Ich dachte, wenn ich ihn niederschreibe, werde ich ihn vielleicht los.«
»Also kein angenehmer Traum.«
Sie schloss die Augen und rieb sich mit der Hand über die Stirn.
»Das kann man so nicht sagen, Ho. Er ist nur seltsam – seltsam beunruhigend. Und doch strahlt er etwas aus, das mir inneren Frieden schenkt.«
Sie waren allein am Swimmingpool. Das ältere Ehepaar, das seine sechs oder acht Bahnen absolviert hatte – schweigend, auf parallelem Kurs mit absolut synchronen Bewegungen, zwei identische Badehauben, wie graue Bojen durchs Wasser pflügend –, war schnaufend dem Becken entstiegen, hatte sich in seine Bademäntel aus dem Hongkong Sheraton gehüllt, gewaltige farbige Drachen auf Rücken und Schultern, und war im Hintereingang der Pension verschwunden. Der Pool war beheizt, dünne Dampfschleier stiegen vom Wasser auf in die frühlingshaft kühle Luft. Der Wilde Wein, von dem die Pergola auf der anderen Seite des Pools durchflochten war, hatte schon ausgetrieben und zeigte erstes zartes Grün. Die Sonne schien warm aus einem wolkenlosen Himmel, und über den Dächern leuchtete der verschneite Gipfel des Wildstrubels. In der Lawsoniana zur Straße hin trafen sich Scharen von Spatzen zu lauten hektischen Konferenzen, unsichtbar im Gezweig versteckt, um dann plötzlich, kaum eine Minute später, jählings hervorzubrechen und mit unbekanntem Ziel davonzuschwirren.
»Darf ich lesen, was du geschrieben hast?«, fragte er.
Sie zögerte, schnippte den Stift zwischen Zeige- und Mittelfinger hin und her und ließ ihn gegen den Rand ihres Notebooks klicken.
»Aber ja«, sagte sie, beugte sich aus ihrem Liegestuhl herüber und reichte ihm das Notebook.
Während er las, schlang sie sich das weiße Handtuch um ihr dunkles Haar wie einen Turban und lehnte sich zurück.
Er runzelte die Stirn, weil er nicht so recht schlau wurde aus den wenigen Sätzen, fand sie etwas abgehoben, aber recht stimmungsvoll.
»Bist du das, die in diesem Tal wohnt, durch das die anderen hindurcheilen?«
»Ja, und du bist einer der Wanderer, der kurz bei mir verweilt.«
»Und den du drängst, sich schleunigst auf den Weg zu machen. Nicht gerade ein hoffnungsvoller Auftakt für ein gemeinsames Leben, wie wir es eben begonnen haben, Yude«, versuchte er zu scherzen.
Sie musterte ihn mit einem ernsten, traurigen Blick.
»Da hast du recht. Aber es ist ja nur ein Traum.«
»Ein wirklich seltsamer Traum«, sagte er. »Aber irgendwie unlogisch, Yude.«
»Träume sind selten logisch, Ho.«
»Wenn ich das richtig verstehe, überlappen sich in diesem Tal zwei verschiedene Zeiten. Eine stationäre, stillstehende Zeit, in der du verharrst, und eine dynamische, verfließende Zeit, die für die Dahineilenden gilt. Und offenbar auch für mich.«
»Ja«, sagte sie achselzuckend. »So kann man es deuten.«
»Zwei Zeitdimensionen an ein und demselben Ort. Das Tal muss also außerhalb des Raumzeit-Kontinuums liegen. Das ist unvorstellbar«, sagte er etwas ungeduldig.
Sie nahm die Sonnenbrille ab und musterte ihn mit ihren dunklen, schlehenblauen Augen.
»Mein Gott, was diskutieren wir da. Es ist ein Traum, Howard, und ich habe ihn schon ein Dutzend Mal geträumt.«
Er zuckte die Achseln. Aus unerfindlichen Gründen war er verärgert.
»Frau Doktor Rice!«, rief Martina, die Tochter der Besitzerin von der Pension, vom Hintereingang. »Telefon für Sie. Ein Herr möchte Sie sprechen.«
Yude erhob sich aus ihrem Liegestuhl, schlüpfte in ihre Sandalen, schlang den Bademantel um sich und ging ins Haus.