Ottilie - Anne Sagner - E-Book

Ottilie E-Book

Anne Sagner

0,0

Beschreibung

"Woher willst du wissen, was die Frau vor 170 Jahren fühlte?" Lotte zögerte kurz. "Tilly, was würdest du sagen, wenn ich dir erzählen würde, dass ich bei ihr war?" So beginnt das Abenteuer der elfjährigen Tilly, die eigentlich mit richtigem Namen Ottilie heißt und mit ihrer Mutter in Ludwigshafen im Hemshof wohnt. Coronazeit. Tilly muss die Herbstferien gegen ihren Willen bei ihrer Patentante Lotte auf dem Land irgendwo im Odenwald verbringen, in einem alten Haus, ohne Internet oder all den anderen Komfort, den sie von zu Hause gewöhnt ist. Doch dann stellt sie fest, dass Lotte die Fähigkeit hat durch die Berührung alter Gegenstände in die Vergangenheit zu reisen. Und nicht nur das. Lotte findet heraus, dass Tilly dieselbe Fähigkeit besitzt. Aber wie kann das sein? Sie und Lotte sind nicht verwandt? Auf einer ihrer ersten Reisen in die Vergangenheit treffen sie auf die 1869 in Friedberg in Hessen geborene Ottilie Wiechard, die der Schlüssel des Rätsels zu sein scheint und die schon um die Jahrhundertwende ganz allein die halbe Welt bereist hat. Ein Buch voll von Geschichte und Geschichten, die miteinander verwoben, einen Sinn bekommen. Achtung! Das Buch kann Spuren von Emanzipation enthalten.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 305

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für Hannah

Danksagung

Ich danke Kathi, Ivonne und Tashina fürs Korrekturlesen und die konstruktive Kritik

Ich danke meiner Mama für ihre Geschichten, die Bilder und ihre Zeit mit mir am Küchentisch

Ich danke Jürgen für die Rettung mehrerer Kapitel von einem defekten USB-Stick

Ich danke Schinni, der mir viele Nachmittage zuhörte und mich bestärkte und unterstützte, das Buch zu schreiben.

Inhaltsverzeichnis

-1- PFUI SPINNE

-2- LIEBER DAS ENDE VON SCHNECKEN, ALS SCHNECKEN OHNE ENDE

-3- WENN EINE EINE REISE TUT, SO KANN SIE WAS ERZÄHLEN

-4- EIN KOPFTUCH IN EHREN KANN NIEMEAND VERWEHREN

-5- WER SAGT, DASS MÄDCHEN DÜMMER SIND?

-6- DAS SCHWEIN RUFT NICHT AN, KEINE SAU INTERESSIERT SICH FÜR MICH

-7- WALK LIKE AN EGYPTIAN

-8- HOTZ, HASST DU KALTE FÜßE

-9- LIEBER UNORDENTLICHE KÄTZCHEN ALS EIN ORDENTLICHER KATER

-10- BESCHEIDENHEIT IST EINE ZIER, DOCH WEITER KOMMT MAN OHNE IHR

-11- DIE GEDANKEN SIND FREI, KEINER KANN SIE ERRATEN

-12- MEINE OMA FÄHRT IM HÜHNERSTALL MOTORRAD

-13- DIE EISPRINZESSIN

-14- LEGAL, ILLEGAL – EGAL!

-15- DER APFEL FÄLLT RECHT WEIT VOM STAMM

-16- HURRA, HURRA DIE SCHULE BRENNT

-17- HÖRT IHR DIE REGENWÜRMER HUSTEN?

-18- HAB MEIN WAGE VOLL GELADE, VOLL MIT ALTEN SACHEN

-19- ADEL SITZT IM GEMÜTE, NICHT IM GEBLÜTE

-20- RINGLEIN, RINGLEIN, DU MUSST WANDERN

-21- KATZENKLO, KATZENKLO, JA DAS MACHT DIE KATZE FROH

-22- AM BRÜNNLEIN VOR DEM TORE, DA STEHT EIN LINDENBAUM

-23- ALLE WEGE FÜHREN NACH FRIEDBERG

NACHWORT

-1- PFUI SPINNE

„Mama, ich will da nicht hin. Da ist nichts. Da gibt’s noch nicht mal Internet oder Fernsehen.“ Sie saß auf dem Rücksitz eines alten VW-Käfers und zeterte vor sich hin. „Wir haben das jetzt doch schon mehrfach besprochen, Tilly“, antwortete ihr ihre Mutter. „Ich muss arbeiten, die Kinderfreizeiten sind wegen Corona alle ausgefallen, Papa ist auf ´ner Geschäftsreise und deine Patentante war so nett anzubieten, die nächsten zwei Wochen auf dich aufzupassen.“ „Aber ich kenne sie doch gar nicht richtig“, versuchte es Tilly erneut. „Jetzt sei nicht albern!“ konterte ihre Mutter. „Natürlich kennst du deine Patentante. Ihr habt früher viel miteinander unternommen. Du mochtest sie sehr gern, als du klein warst.“ Tilly schnaufte und ließ sich zurück in den Sitz fallen. Sie hatten die Autobahn verlassen und fuhren jetzt auf einer Landstraße. Sie hatte den Eindruck, dass sie sich mit jedem gefahrenen Meter mehr von der Zivilisation entfernten. „Ich erinnere mich kaum mehr an sie! Und du wirst weit weg sein. Mama! Ich will nicht, dass du mich da hinbringst. Ich will nicht, dass du mich alleine lässt!“ Sie fing an zu weinen. Sie wusste, dass ihre Mutter es nicht ertrug sie weinen zu sehen. Nicht, dass sie aus Berechnung geweint hätte. Ihr war wirklich zum Heulen zu mute. Aber anders als sonst, blieb ihre Mutter diesmal hart, auch wenn Tilly merkte, dass auch sie mit den Tränen kämpfte. „Ottilie! Jetzt reicht’s!“ Ihre Stimme klang wütend und etwas verzweifelt. „Jetzt mach hier nicht so ein Theater. Es gibt keine andere Möglichkeit. Ich hab wirklich alles versucht. Jetzt hör auf zu heulen und denk einmal bitte nicht nur an dich!“. Tilly merkte, wie in ihr die Wut hochstieg. Sie hasste ihren Namen. „Nenn mich nicht so!“ kreischte sie. „Warum habt ihr mir so einen schrecklichen Namen gegeben?“ Aber auch bei ihrer Mutter kippte jetzt die Stimmung. „Ich weiß ja nicht, ob das jetzt gerade der geeignetste Augenblick ist, aber ich glaube das war Lottes Idee.“ Ihre Patentante Lotte. Als Kind war sie immer gerne bei ihr gewesen. Lotte war anders als andere Erwachsene. Manchmal kindlich, manchmal ernst, aber immer auf eine positive Art etwas verrückt. Sie hatten viel zusammen gespielt. Und es gab immer etwas zu entdecken bei ihr. Ihr Haus war voller Dinge, alter Dinge, und sie hatte immer damit spielen dürfen. Aber das alles war lange her. Und es war immer ihre Mutter dabei gewesen. Ihre Mutter sprach weiter. „Du hast ja jetzt alle Gelegenheiten, sie danach zu fragen, wie sie auf den Namen gekommen ist. Papa war erst auch nicht so begeistert. Aber wenn’s nach ihm gegangen wäre hätten wir dich wahrscheinlich Mandy genannt. Dagegen klang Ottilie jedenfalls ziemlich ungewöhnlich.“ Sie konnte es nicht fassen. „Ungewöhnlich?“ Ihre Stimme klang etwas schriller als beabsichtigt. „Der Name Ottilie ist ein Albtraum. Jeder, der ihn das erste Mal hört, findet ihn schrecklich.“ Ihre Mutter hatte jetzt wieder eine weichere Stimme. Es schien, sie war froh, dass das Thema nach zwei Stunden Fahrt eine andere Wendung genommen hatte. „Und jeder, der dich kennt, mag den Namen.“ „Jeder, der mich kennt, nennt mich Tilly!“ antwortete sie genervt. Aber auch sie wurde es langsam leid sich mit ihrer Mutter zu streiten.

Die Landschaft veränderte sich wieder. Sie fuhren durch einen kleinen Wald und von weitem konnte man schon die Dächer des kleinen Dorfes sehen, in dem Lotte wohnte. Sie checkte ihr Handy. Kein Netz. Kein Internet, kein Computer, kein Netz. Eine einzige Katastrophe. Es wurde ihr wieder schwer ums Herz. „Und was soll ich den ganzen Tag machen?“, jammerte sie erneut. Doch ihre Mutter lächelte nur. „Es ist Herbst Tilly! Schau dir all die Äpfel an, die schon unter den Bäumen liegen. Die müssen alle noch eingemacht werden. Und ihr müsst Holz machen. Das Haus hat ja nur einen Ofen. Da gibt es viel zu tun, bevor der Winter kommt.“ Tilly sackte in sich zusammen. „Na toll. Kinderarbeit!“, kommentierte sie den letzten Satz ihrer Mutter. Doch die schien die Vorstellung blöde Äpfel einzukochen eher zu begeistern. „Mensch Tilly! Das wird ein großes Abenteuer. Leben und arbeiten wie deine Urgroßeltern.“ Tilly starrte aus dem Fenster. Ihre Urgroßeltern interessierten sie einen Scheiß.

Als sie die Straße zum Haus ihrer Patentante einbogen, sah sie seit langem wieder das kleine Haus, in dem Lotte lebte. Es war uralt, gut in Schuss und lag etwas eingeklemmt zwischen einer alten Scheuer und dem Berghang. Den steilen Weg schaffte der alte Käfer fast nicht. Tilly konnte das alte Auto nicht leiden. Im Sommer war es darin zu heiß, im Winter fror man sich was ab. Außerdem war das Auto richtig lahm. Sicher wurde es von den meisten als Verkehrsbehinderung angesehen. Aber ihre Mutter liebte das Auto. Und dank ihres Freundes, der gern an Autos schraubte, konnte sie sich den Karren auch leisten. Tilly stand eher auf die modernen Autos. Die, in denen hinten so kleine Bildschirme für die Kinder waren. Aber so eines hatte noch nicht mal ihr Papa.

Die Straße vor Lottes Haus war so eng, dass erst einmal nur Tilly aussteigen konnte. Lotte stand schon in der Eingangstür des kleinen Hauses. Aus Tillys Blickwinkel sah es so aus, als müsse sich Lotte bücken, um das Haus betreten zu können, so klein erschien die Tür. Lotte kam Tilly die drei Stufen entgegen. Als sie vor Tilly stand, zögerte diese. Früher hätte sich Tilly in ihre Arme geworfen. Sie erinnerte sich, dass Lotte sie durch die Luft gewirbelt hatte. Aber „früher“ war lange her und auch Lotte schien zu zögern, wie sie sie begrüßen sollte. Schließlich hob Lotte die Hand, fast wie einen Indianergruß. „Sei willkommen, Ottilie!“, sagte sie lachend. „Wo ist dein Gepäck?“ Tilly nickte mit dem Kopf Richtung Vorderteil des Käfers. Ihr Blick war missmutig. Lotte lief zum Kofferraum und lachte. „Na aus diesem Blick spricht ja die pure Vorfreude auf unsere gemeinsame Zeit. Kopf hoch, Kleine, in zwei Wochen willst du gar nicht mehr hier weg.“ Lotte holte die beiden kleinen Koffer, die gerade so in den Kofferraum gepasst hatten, aus dem Auto. Dann streichelte sie fast zärtlich über einen der beiden Scheinwerfer und verharrte für einen Augenblick. Ihr Blick war seltsam entrückt, als erinnere sie sich an alte Zeiten. Lotte winkte durch die Scheibe Tillys Mutter zu und wies sie dann auf Zeichensprache an, wo sie das Auto parken könne. Ihre Mutter nickte, lachte und formte mit der Hand ein O.K.. Dann fuhr sie davon. Tilly, Lotte und zwei Koffer blieben zurück. Lotte nahm den etwas größeren und trug ihn in ihr Haus. Tilly zögerte. Sie wollte auf ihre Mutter warten. Sie wusste, dass das albern war. Ihre Mutter würde in einer Stunde nach Hause fahren. Allein, ohne sie. Sie bekam wieder einen Kloß im Hals. Lotte erschien wieder in der Tür und hielt Ausschau nach ihrer Mutter. Als sie um die Ecke gebogen kam, lief sie lachend auf sie zu und umarmte sie innig. Beide Frauen liefen dann eingehakt ins Haus. Tilly schnappte ihren Koffer und folgte ihnen.

Das erste, was sie wahrnahm, als sie das Haus betrat, war der Geruch. Es roch nach Lagerfeuer. Der Geruch war so intensiv, dass er zunächst alles andere überdeckte. Erst nach einer Weile gesellte sich zu dem Geruch auch noch ein anderer. Keller, gemischt mit einem Hauch von…, ja was war das. Apfelkuchen! Sie betrat die Küche und an einem Tisch saß ihre Mutter vor einem gedeckten Kaffeetisch. Lotte holte schwatzend einen Kuchen aus einer kleinen Kammer, die direkt neben der Küche lag. Der Kuchen befand sich unter einem kleinen Schirm aus Stoff und sollte ihn wohl vor den Fliegen schützen, die in der Küche und in der kleinen Kammer umherflogen, um auch etwas von dem leckeren Gebäck zu ergattern. Die Gerüche weckten sofort Erinnerungen in ihr. An eine Zeit, als sie noch viel kleiner war und überwältigt davon, wie Äpfel riechen können. Ihre Mutter und Lotte waren jetzt schon dabei die letzten Neuigkeiten auszutauschen. Es ging um Papa, Mamas neuen Freund, Freunde von früher und natürlich um die Arbeit. Obwohl das Stück Apfelkuchen auf dem Teller sie fast magisch anzog, schaute Tilly sich zunächst erst noch mal im Raum um.

Die Küche war ein wildes Sammelsurium aus alt und neu. Mit Erleichterung stellte Tilly fest, dass es zumindest Strom gab. Neben einem modernen Gasherd stand ein altes Büfett, das Gläser, Tassen und Teller enthielt. Daneben befand sich ein elektrischer Wasserkocher und ein Kaffeevollautomat. Über dem Herd hingen neben Kellen und Schneebesen auch Knoblauch und verschiedene Kräuter. Auf der Fensterbank, die erstaunlich tief war, stand eine sonderbar sechseckige Milchkanne, daneben lagen bunte Steine. Von innen sah das Häuschen noch kleiner aus, als von außen. Aber war hier nicht noch ein Raum gewesen? Ein Raum, mit einem Kamin und nahezu unendlich vielen Büchern? Tilly blickte sich irritiert um. Ihr Blick blieb an dem Bücherregal hängen. Hier! Hier war eine Tür gewesen, erinnerte sie sich.

„Tilly, setz dich doch noch mal zu uns“, sagte ihre Mutter. „Der Kuchen ist sehr lecker, und Lotte hat dir extra einen Kakao gemacht.“ Kakao! Tilly mochte keinen Kakao. „Gibt’s auch Cola?“ murrte sie, ohne die beiden Frauen dabei anzuschauen. „Als ob du bei uns jeden Tag Cola trinken würdest“, antwortete ihre Mutter. Tilly drehte sich betont gelangweilt um, schlurfte zu dem noch freien Stuhl und sagte mit etwas enttäuschter Stimme: „Dann halt Wasser. Gibt’s wenigstens Sprudelwasser?“ Sie hörte ein genervtes Schnaufen aus Richtung ihrer Mutter. Doch bevor diese was sagen konnte, antwortete Lotte. „Der Sprudler steht im Kämmerchen, direkt neben dem Kühlschrank.“ Und bevor Tilly sagen konnte, dass sie aber kaltes Sprudelwasser wollte, kam hinterher: „Aber im Kühlschrank müsste auch noch Kaltes stehen.“ Während Tilly ins Kämmerchen ging, stand Lotte auf und holte ihr ein Glas aus dem Büfett. Als Tilly das Kämmerchen betrat schlug ihr der Duft von reifen Äpfeln entgegen, die alle nebeneinander in einer Holzkiste lagen. Überhaupt war die Kammer vollgestopft mit Marmeladengläsern, eingelegtem Obst, aber auch großen, bauchigen Glasflaschen mit roter oder durchsichtiger Flüssigkeit. Tilly holte sich den Sprudel aus dem Kühlschrank und wollte gerade das Kämmerchen verlassen, als sie im Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Es war eine Spinne von wirklich beeindruckender Größe. Sie schrie. „Oh, sie hat Konstantin entdeckt,“ hörte sie Lotte belustigt sagen. „Es ist eine ziemlich beindruckende Hausspinne. Und zugegebenermaßen, ich schau auch immer erst mal, wo er ist, wenn ich den Raum betrete. Aber ich habe erstaunlich wenig Ärger mit Motten, seit er da ist.“ Und dann zu Tilly mit sichtlich schlechtem Gewissen. „Entschuldige Ottilie, ich hätte dich vorwarnen sollen.“ Obwohl sie ihr glaubte, dass es ihr leidtat, war das nun einfach zu viel für sie. „Nenn mich nicht Ottilie! Ich hasse dich, ich hasse dieses Haus!“, schrie sie Lotte an und dann zu ihrer Mutter flehentlich: „Mama, ich will nicht hierbleiben. Bitte lass mich nicht hier.“

Ihre Mutter stand auf und sagte: „Ich geh dann jetzt besser, Lotte. Solange ich hier bin, hört das Theater nicht auf. Gibst du mir noch einen Kuss, Tilly?“ Doch Tilly schaute ihre Mutter nur fassungslos an, drehte sich um, stürmte die kleine Treppe hinauf, warf sich auf das Bett, was vor ihr stand und fing an zu weinen. Sie hörte, wie sich ihre Mutter von Lotte verabschiedete. Sie rief noch mal nach oben, dass sie sich in zwei Wochen wiedersehen würden und es bestimmt eine tolle Zeit würde, dann fiel die Tür ins Schloss und es war still.

-2- LIEBER DAS ENDE VON SCHNECKEN, ALS SCHNECKEN OHNE ENDE

Sie musste eingeschlafen sein. Es dämmerte schon. Lotte hatte sie wohl zugedeckt. Sie hörte Lotte unten in der Küche werkeln. Es roch gut. Lotte schien etwas zu kochen. Sie hatte etwas Angst nach unten zu gehen. Lotte war sicher sauer oder noch schlimmer, enttäuscht, nachdem, was sie vorhin gesagt hatte. Aber es half nichts. Sie musste tierisch aufs Klo und irgendwann musste sie ja mal nach unten gehen. Außerdem hatte sie Hunger. Also nahm sie all ihren Mut zusammen und schritt die steile Treppe hinab. Die Treppe endete quasi mitten in der Küche, so dass Lotte sie sah, als sie um die Ecke bog. Tilly zögerte kurz. Aber Lotte lief auf sie zu und sagte: „Entschuldige noch mal wegen der Spinne. Ich hatte gehofft, ich könnte euch in Ruhe bekannt machen.“ Sie lächelte. Tilly, wusste nicht was sie sagen sollte. „Wo ist hier das Klo?“, fragte sie deshalb, ohne auf die Entschuldigung weiter einzugehen. Lotte deutete auf einen kleinen engen Gang, den Tilly zuvor gar nicht wahrgenommen hatte. Sie schlupfte hindurch und suchte nach dem Licht. Es wurde hell. Der Raum, in dem sich eine Toilette und eine Dusche befand, war nicht sehr hoch. Sie war sich nicht sicher, ob Lotte hier aufrecht stehen konnte. Zu ihrer Erleichterung waren hier keine weiteren Spinnen. Überhaupt sah alles recht sauber und modern aus. Als sie fertig war, spülte sie, löschte das Licht und schlich in die Küche.

Auf dem Herd standen Bratkartoffeln. Sie rochen wunderbar. „Ich hab mich nicht getraut Zwiebeln reinzumachen“, sagte Lotte. „Ich esse mittlerweile Zwiebeln,“ sagte Tilly etwas trotzig. Lotte schien sichtlich erleichtert. „Das ist gut zu wissen. Mit Zwiebeln schmeckt vieles gleich etwas würziger. Und wie sieht es mit Bratwürstchen aus? Dürfen die Mittlerweile auch grob sein, oder gehen da immer noch nur die Feinen?“ Tilly musste schmunzeln. „Grob ist jetzt auch o.k.!“, sagte sie. Sie musste das letzte Mal eine ziemliche Zicke gewesen sein. Lotte lächelte über beide Backen. „Et voilà!“, sagte sie und holte hinter ihren Rücken eine zweite, kleinere Pfanne mit Bratwürstchen hervor. „Ansonsten hätte es halt nur Bratkartoffeln und Sauerkraut gegeben.“ „Ich hasse Sauerkraut!“, sagte Tilly erschrocken. Sie setzten sich an den Tisch und aßen. Die Bratkartoffeln schmeckten einfach super.

„Wie soll ich dich jetzt eigentlich nennen?“, fragte Lotte. „Ottilie scheinst du ja nicht sonderlich zu mögen.“ „Nenn mich Tilly.“, sagte Tilly. Der Name schien Lotte sichtlich zu amüsieren. „Aber „Tante Tilly“ muss ich dich nicht nennen, oder?“ Sie prustete kleine Kartoffelstückchen auf den Tisch. Tilly zog eine Augenbraue hoch. „Was ist an dem Namen Tilly bitte so lustig?“, fragte sie. Lotte säuberte den Tisch von Kartoffelstückchen. „Es gab mal eine Spülmittelwerbung. Und in der badete eine ziemlich biedere Frau die spröden „Spülhände“ ihrer Kundinnen immer in einer giftgrünen Brühe. Entschuldige, ich habe die biedere Frau und dich gerade nicht so richtig zusammenbekommen.“ Tilly piekte verdrossen in ihre Kartoffeln. „Na da hab ich aber Glück, dass meine Klassenkameraden diese Werbung nicht mehr kennen. Die lachen sich schon über „Ottilie“ schepp.“ Und nach einer kurzen Stille: „Wie bist du bitte auf diesen furchtbaren Namen gekommen und wie konntest du meine Mutter davon überzeugen, dass er schön sei?“ Lotte antwortete nicht sofort. „Das ist eine etwas längere Geschichte. Aber ich verspreche dir, dass du nicht von hier weggehen wirst, ohne, dass du den Namen mögen wirst.“ Tilly starrte Lotte an. „Das glaube ich nicht!“, sagte sie. Doch Lotte wollte nicht weiter über den Namen reden.

„Du hast im übrigen Glück, dass du nicht vor 150 Jahren lebst“, erzählte Lotte, als sie fertiggegessen hatten und das Geschirr abwuschen. „Damals gab es im Winter jeden Tag Sauerkraut. Ohne Sauerkraut war es fast nicht möglich den Winter zu überleben.“ Oh, wie sie diese Ansprachen hasste. „In Afrika verhungern die Kinder“, „Andere Kinder wären froh“ oder „Na dann scheinst du ja noch nie richtig Hunger gehabt zu haben“. Sie mochte halt vieles nicht. Es schmeckte ihr nicht. Sollten die Anderen doch froh sein, dass sie es ihnen nicht wegaß. Aber sie wollte nicht mit Lotte streiten, deshalb antwortete sie nur. „Ja, da hab ich wohl Glück gehabt.“ Lotte plauderte weiter. „Ich hatte im Übrigen vor Sauerkraut anzusetzen. Wenn du Lust hast kannst du mir ja dabei helfen.“ Wieder so ein Erwachsenensatz. Warum sollte sie Lust haben Sauerkraut anzusetzen, was auch immer das bedeutete. Sie hatte Lust ihre Freundinnen zu treffen, oder fernzusehen. Auch smartphonedaddeln wäre eine Option. Sie verkniff sich ein: „Au ja, das wird ein Spaß!“. Stattdessen fragte sie: „Was machen wir heute Abend noch?“ Sie hätte nicht fragen sollen. Lottes Antwort überstieg alle schlechten Erwartungen. „Wir gehen raus in den Garten und wässern ihn ordentlich. Dann warten wir etwas und sobald die Dämmerung hereinbricht, sammeln wir Nacktschnecken.“ Tilly schaute sie fassungslos an. „Nacktschnecken!“, wiederholte sie. „Willst du die auch ansetzten, um über den Winter zu kommen?“ Schon allein die Vorstellung eine Nacktschnecke berühren zu müssen, ekelte sie. Bei der Vorstellung sie essen zu müssen, kämpfte sie mit einem Würgereiz. Aber Lotte lachte. „Nein, Nacktschnecken taugen leider nicht als Nahrungsquelle. Aber sie fressen mir meinen Kohl und meinen Salat weg.“ Und schon hielt Tilly sie eigentlich für sehr nützliche Tierchen. Was sie aßen, musste sie nicht essen. Lotte schien von ihrer Sympathie für diese Tiere nichts mitbekommen zu haben. Während sie die Pfanne abtrocknete und in den Schrank räumte erzählte sie weiter.

„Meine Urgroßmutter hat die Schnecken noch mit Spiritus bestrichen. Ein ziemlich grausamer Tod. Mein Opa hat sie mit der Gartenschere zerschnitten. Ich sammle sie ab, sperre sie in einen verschließbaren Eimer und ertränke sie in Bier. Auch nicht nett, aber ich bilde mir ein, dass es ein humanerer Tod sei, wenn es so etwas gibt. Ihre sterblichen Überreste vergrabe ich dann hinten im Garten. Man muss sie vergraben, da Igel gegen eine leckere Bierschnecke nichts einzuwenden haben und dann betrunken im Garten herumtorkeln.“

Sie gingen in den Garten, der hinter Haus und Scheune lag. Sie mussten einige Stufen nach oben gehen, um ihn zu erreichen. Die Sonne war schon hinter dem Berg verschwunden, bestrahlte aber noch das vor ihnen liegende Dorf. Der Garten wirkte auf den ersten Blick nicht sehr ordentlich. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie die Kohlköpfe, ein paar Salate und grüne Büschel, die an das Grün von Karotten erinnerten. Dazwischen blühten orange-rote Blumen. Unter einem Apfelbaum lagen Äpfel, teilweise schon etwas verfault. Die Tomaten, die noch immer voll von Früchten hingen, hatten schon bessere Tage gesehen. Ein Abschnitt war völlig kahl. Nur etwas vertrocknetes Kraut lag darauf herum. Tilly deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung. „Waren das die Schnecken?“, fragte sie. Lotte folgte ihrem Blick und lachte. „Nein, das sind meine Kartoffeln. Ich lasse sie im Boden, bis das Kraut völlig abgestorben ist. Dann bilden sie eine feste Schale und ich kann sie über den Winter lagern. Willst du pumpen oder den Schlauch halten?“ Ohne auf ihre Antwort zu warten, ging sie zu einem gusseisernen Pfosten, der einen geschwungenen Arm hatte. Sie zog den Arm nach oben und drückte ihn wieder nach unten. Sofort kam Wasser aus dem Schlauch, der vor Tilly lag. Sie nahm ihn in die Hand und richtete den Wasserstrahl auf die Pflanzen vor ihr. Während Lotte pumpte, bewegte sie sich mit dem Schlauch durch den Garten. Als sie bei den Tomaten vorbeikam, stibitzte sie sich eine besonders rote. Sie schmeckte herrlich. „Vor hundertfünfzig Jahren sahen die Gärten noch ganz anders aus.“, erzählte Lotte. „Wusstest du, dass viele Menschen damals glaubten, Tomaten seinen giftig? Nur reiche Leute hatten sie im Garten als exotische Zierpflanzen. Erst um 1900 fing man an sie in der Küche zu verwenden. Bis dahin kultivierte meine Ur-Ur-Ur-Großmutter hauptsächlich Kohl, Rüben und Kartoffeln. Also alles, was satt machte und gut zu lagern war. Und natürlich Kräuter, die man trocknete, um daraus Gewürze oder Tee zu machen.“ Tilly fragte sich, warum ältere Menschen immer von noch älteren Menschen erzählten. Ihre Mutter machte das auch andauernd. Tilly fand das eher etwas öde, auch wenn dann und wann ein paar lustige Geschichten ausgegraben wurden. Um abzulenken fragte Tilly: „Was ist eigentlich in der Scheune?“ Lotte hörte auf zu pumpen. „Och, nur alter Kram. Zeug, dass ich nicht wegwerfen kann. Harry schimpft deswegen immer.“, sagte sie lachend. Harald! Stimmt, den gab es ja auch noch. Es war Lottes Freund. Tilly hatte früher immer etwas Angst vor ihm gehabt. Er war so streng. Und auch nicht so lustig wie Lotte. Etwas ängstlich fragte sie: „Wo ist eigentlich Harry?“ „Der ist in der Stadtwohnung. Muss arbeiten.“ Ihre Stimme klang etwas traurig. Sie schien ihn wohl zu vermissen. „Willst du meine Schätze mal sehen?“, fragte sie abrupt. Tilly deutete ein leichtes Achselzucken an. „Klar!“, sagte sie gedehnt und schupste mit ihrer Fußspitze eine große Nacktschnecke unter den Salat. Etwas angeekelt sah sie auf den Schleim, der danach an ihrem Schuh klebte. Alles war besser als Nacktschnecken einsammeln. Lotte lief zum Schuppen. Ihre Augen leuchteten, als sie die Tür öffnete. Der Schuppen stand voll mit Kartons. Dazwischen standen größere Gegenstände, die offensichtlich nicht in die Kartons gepasst hatten. Die Kartons waren mit Jahreszahlen beschriftet. 1912, 1857, 1932 und so weiter und sofort. Es waren wirklich viele. „Such dir einen aus!“, strahlte Lotte sie an. Sie zog einen Karton aus dem Stapel, auf dem 1915 stand. Es waren Zinnsoldaten darin, kleine Kanonen, aber auch kleine Töpfe, Pfannen, Teller und Besteck. Alles in klein. „Damals wurden Kinder wie kleine Erwachsene behandelt. Die Jungs sollten Krieg spielen, die Mädchen Hausfrau. Aber meinem Großonkel und meiner Großtante haben die Sachen gefallen. Sie spielten gerne damit.“ Sie berührte die Gegenstände und war kurz wie gebannt. Dann drehte sie sich zu Tilly um und lächelte aufmunternd. Tilly dachte an die Nacktschnecken. Sie deutete auf einen Gegenstand, der in eine Decke eingeschlagen an der Wand lehnte. „Gute Wahl!“, sagte Lotte und steuerte darauf zu. Sie schlug die Decke beiseite und hervor kam ein altes Ölgemälde. Darauf zu sehen war eine Frau mittleren Alters. „Das ist Lisette, meine Ur-Ur-Ur-Ur-Großmutter. Sie musste Stunden dafür stillsitzen und hätte sich fast zu Tode gelangweilt. Aber damals 1859 gab es noch keine Fotographie. Und ihr Mann hatte sich das Bild so von ihr gewünscht.“ Tilly schaute erst auf Lisette und dann zu Lotte. Etwas zögerlich fragte sie: „Woher willst du wissen, was die Frau vor 170 Jahren fühlte?“ Lotte zögerte kurz. „Tilly, was würdest du sagen, wenn ich dir erzählen würde, dass ich da war?“

-3- WENN EINE EINE REISE TUT, SO KANN SIE WAS ERZÄHLEN

Als Tilly am nächsten Morgen erwachte, musste sie erst einmal ihre Gedanken ordnen. Lotte hatte ihr nicht erzählt, wie sie es machte. Nur dass sie es machte. Lotte besuchte die Vergangenheit. Und das war durchaus wörtlich gemeint. Sie durchsuchte die Vergangenheit nach der perfekten Zeit zu leben.

„Ich stelle mir immer drei Fragen. Gefällt mir der Zeitgeist? Hätte ich als Frau in dieser Zeit leben können? Wäre ich zufrieden mit meinem Leben?“, hatte sie gesagt. Tilly überlegte, ob sie selbst schon mal in einer anderen Zeit hatte leben wollen. Als sie noch kleiner war, hatten sie Dinosaurier fasziniert und sie hatte sich vorgestellt, wie es wohl gewesen wäre, wenn sie damals einem begegnet wäre. Oder sie hatte mit ihrer Freundin „Prinzessinnen“ gespielt und sie hatten sich vorgestellt, auf einer Burg zu leben. Aber dass es möglich sein könnte die Vergangenheit wirklich zu erleben, das hatte sie nicht geglaubt. Und wenn sie ganz ehrlich war, glaube sie es auch jetzt nicht.

Sie verließ ihr Bett und ging die steile, alte Treppe hinunter. Lotte war schon am Werkeln. „Was willst du zum Frühstück?“ rief sie ihr entgegen. „Cornflakes?“, antwortet Tilly ohne große Hoffnung auf Erfolg. Lotte lachte auch nur. „Ich kann dir Grießbrei oder Brot mit Butter und Marmelade anbieten.“ Lotte kannte Grießbrei nur als Nachtisch, den man wie Milchreis mit ein paar Früchten serviert bekam. Sie mochte diese Kombination nicht sonderlich. Ein ordentlicher Pudding oder eine Götterspeise waren da mehr ihr Ding. Zum Frühstück konnte sie sich alles drei nicht vorstellen. Sie antwortete nicht, war noch nicht mal ganz wach. Sie setzte sich an den Tisch und sah aus dem Fenster. Lotte stellte vor sie und an ihren Platz jeweils eine dampfende Schüssel mit Grießbrei. „Probier mal!“, forderte sie sie auf. Der Dampf aus der kleinen Schüssel duftete nach Vanille. „Unsere Vorfahren aßen sehr lange Brei zum Frühstück. Sicher nicht so lecker, wie der den ich uns gerade gemacht habe, aber sicher auch mit Milch und Zucker, als es dann mal Zucker gab.“ Tilly war ein Zuckerjunkie. Die Vorstellung ohne Zucker leben zu müssen, schockierte sie fast. Als könnte sich Lotte es noch einmal anders überlegen mit dem Zucker im Brei, stopfte sie sich einen großen Löffel voll in den Mund. Er schmeckte gar nicht so schlecht. Eigentlich sogar ziemlich lecker. „Kein Zucker“. Die Vorstellung ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. „Wie hast du das gemeint: kein Zucker?“ „Du kannst ja sprechen.“, freute sich Lotte. Erst jetzt fiel Tilly auf, dass sie noch nicht einmal einen guten Morgen gewünscht hatte. Sie wurde etwas verlegen. „Aber, wenn es keinen Zucker gab, wie süßten die Leute dann ihr Essen?“ sagte sie mit vollem Mund. Der Brei war wirklich nicht so übel. „Na mit Honig oder eingekochtem Apfelsaft.“ Tilly mochte keinen Honig, auch wenn sie fasziniert davon war. Besonders der Klare hatte es ihr angetan und sie bedauerte manchmal, dass er ihr nicht schmeckte. Sie durfte Mama manchmal ein Honigbrötchen schmieren. Lotte unterbrach sie in ihren Gedanken. „Das mit dem Zucker ist ja so ´ne Sache. Eigentlich kennen die Menschen den ja schon ewig. Aber hier in Europa war es für lange Zeit nur den reichen Leuten vorbehalten, Zucker zu haben. Am Anfang war es noch Rohrzucker, aus Zuckerrohr. Erst Mitte des 18ten Jahrhunderts, also 17-hundert und ebbes, konnte man auch Zucker aus der Zuckerrübe gewinnen. Aber es dauerte dann noch fast 100 Jahre, bis auch weniger gut betuchte Familien in ihrer Küche Zucker benutzen. Am Anfang gab es nur Zuckerhüte, von denen man sich Stücke abschlagen musste.“ „Wie machst du es?“, fragte Tilly unvermittelt. Sie wollte nichts mehr von Zuckerhüten hören. Sie wollte sich vergewissern, dass sie das gestern nicht alles geträumt hatte. Lotte schaute sie fragend an. „Wie mache ich was?“, fragte sie zurück. Tilly traute sich fast nicht zu fragen. Sie hatte immer mehr Zweifel, ob sie das gestern alles richtig verstanden hatte. Deshalb fragte sie sehr vorsichtig: „Na das mit der Vergangenheit!“. Lotte strahlte. Ganz aufgeregt plapperte sie los. „Du meinst, wie ich dort hinkomme, was ich dort erlebe? Interessiert es dich wirklich?“ Sie schien sich wirklich zu freuen. Und Tilly hatte sich wohl gestern auch nicht verhört. „Hast du ein Raumschiff? Eine Zeitmaschine?“ Lotte schüttelte mit dem Kopf. „Nein, ich bin technisch nicht so begabt und ganz ehrlich, ich bezweifle, dass es so was gibt. Nein, ich mache es hiermit.“ Sie deutete auf ihren Kopf.

Tilly sackte in ihren Stuhl zurück. Na klar, Lotte dachte sich die Geschichten aus. Das war das Geheimnis. Sie war enttäuscht. Sie hatte sich etwas Zauberhaftes, etwas Abenteuerliches erhofft. Und nun entsprang alles nur Lottes Phantasie. Lotte hatte ihre Enttäuschung bemerkt. „Nein, da liegst du falsch Tilly. Ich denke es mir nicht nur aus. Ich kann wirklich dorthin. Ich versuche es dir zu zeigen, o.k.?“ Tilly nickte, aber sie war sich immer noch nicht sicher, was Lotte im Schilde führte. „Siehst du die vier Stühle hier?“ fragte Lotte. Tilly wunderte sich etwas über die Frage. Um sie nicht zu sehen, musste man blind sein. „Schau sie dir genau an. Was fällt dir auf?“ Auf den ersten Blick waren alle vier Stühle gleich, na ja, ähnlich. Eigentlich ziemlich unterschiedlich. Doch die Füße der Stühle endeten alle in der gleichen Wölbung und die Lehnen waren zwar nicht verziert, aber trotzdem etwas verspielt. „Sie sind alle unterschiedlich.“, antwortet sie schließlich. Lotte ermunterte sie genauer hinzusehen. „Sie kommen alle aus der gleichen Zeit, standen aber bei unterschiedlichen Leuten. Es war der Jugendstil. Schau dir den mal genauer an.“ Sie deutete auf den Stuhl, auf dem gestern ihre Mutter gesessen hatte. „Du musst ihn berühren!“, sagte sie und Tilly berührte vorsichtig die Lehne. „Der Stuhl stand bei einem Professor. Viele Besucher haben auf ihm Platz genommen.“ Die Luft flirrte etwas. „Der Herr Professor saß hinter seinem großen Schreibtisch. Der Besucher auf dem Stuhl davor.“ Wieder flimmerte die Luft und Tilly glaubte schemenhaft den riesigen Schreibtisch erkennen zu können. Der Raum war hoch und hatte große Fenster. Es sah ein bisschen so aus wie die Altbauwohnung, in der eine Klassenkameradin wohnte.

Dann verschwand die sirrende Luft und Tilly saß wieder in Lottes Küche. „Ach das war zu schwer“, sagte Lotte, etwas verärgert über sich selbst. Aber Tilly war immer noch fasziniert von dem, was sie kurz gesehen hatte. Mehr zu sich selbst als zu Tilly sagte Lotte: „Wir brauchen erst einmal eine Orientierung. Bist du gut in Geographie? Ich meine, wenn ich dir jetzt eine Deutschlandkarte hinlegen würde, wüsstest du wo die wichtigsten Städte liegen?“ Tilly schnaufte. „Nein, wüsste ich nicht, aber was hat das…“ mit Zeitreisen zu tun, wollte sie eigentlich sagen. Aber Lotte plauderte weiter. „Geht mir genauso, ich muss erst an einem Ort gewesen sein, um ihn auf einer Landkarte zeigen zu können. Aber mit Geschichte ist das nicht viel anders.“ Sie lief auf das Bücherregal zu, griff nach einem Buch, doch anstatt das Buch aus dem Regal zu nehmen, machte es Klack und das Bücherregal schob sich wenige Zentimeter nach vorne. Lotte schob das Regal bei Seite und es wurde ein Türrahmen sichtbar und dahinter ein zweiter Raum.

Lotte lief hinein und kam wenig später mit einem Zeichenblock hinaus. Tilly starrte auf die Tür. Lotte lachte. „Ach das? Das hat ein befreundeter Schreiner für mich gebastelt. Sehr praktisch, wenn Besuch kommt und man die Unordnung auf dem Schreibtisch verbergen will.“

Sie legte den Block auf den Tisch. „Sag mir, was du über Geschichte weißt.“ Tilly stöhnte. Lotte sah sie verwundert an. „Hey, wir sind doch nicht in der Schule. Ich will doch nur wissen, welche „Orte“ du schon kennst.“ Es fühlte sich aber trotzdem irgendwie an wie Abfragen in der Schule. Und Tilly wusste, dass sie eigentlich nichts wusste. Lotte schaute sie erwartungsvoll an. Wahrscheinlich kam sie jetzt gleich mit Hitler und dem zweiten Weltkrieg. „Weißt du, wann Hitler in Deutschland an der Macht war?“, fragte Lotte dann auch prompt. Nein, das wusste sie nicht. Zahlen waren für sie Schall und Rauch. Sie wusste nur, was jetzt gleich kommen würde. Dass man so was doch wissen müsse. Das sei doch wohl das Mindeste. Was sie denn den lieben, langen Tag in der Schule lernen würden. Aber sie lernten so was in der Schule, nur Tilly konnte sich Zahlen einfach nicht merken. Lotte machte einen zweiten Anlauf. „Wann ist denn deine Mutter geboren?“, fragte sie. Tilly musste überlegen. Ganz leise sagte sie: „1972?“ und sah Lotte fragend an. „Gut“, lobte Lotte. „Und war Hitler da an der Macht?“ Tilly schaute sie ungläubig an. „Neee, natürlich nicht“ sagte sie laut. „Das war viel früher.“ Lotte ließ nicht locker. „Und deine Oma, wann ist die geboren?“ fragte sie. Tilly hatte keine Ahnung, wann Oma geboren war. „Wie alt ist sie denn?“, fragte sie. Siebzig! Ihre Oma war dieses Jahr Siebzig geworden. Also war sie 1950 geboren worden. „Meine Oma ist 1950 geboren worden.“, sagte sie stolz. „Und hat sie Hitler erlebt?“, kam gleich die nächste Frage. Tilly schüttele mit dem Kopf, war sich aber nicht mehr ganz sicher. Irgendwas war da gewesen, hatte ihre Mutter erzählt. „Richtig! Nein, hat sie nicht, auch wenn sie sicherlich noch den einen oder anderen Ausläufer des Krieges mitbekommen hat.“

Lotte malte auf den Block ein Kreuz ganz auf die rechte Seite. „Hier sind wir!“, sagte sie. Etwas weiter links schrieb sie 1972 mit „Geburtstag Lisa“. Wieder weiter links schrieb sie 1950 und „Geburtstag Lisas Mama/Tillys Oma“. „Wie lange war der Krieg da schon vorbei?“, fragte Tilly. Sie interessierte sich eigentlich nicht für den Krieg. Das war lange her. Aber jetzt war sie schon neugierig, was ihre Oma davon noch mitbekommen hatte. „Der Krieg war schon 5 Jahre vorbei. Aber glaub nicht, dass die Leute das so empfunden haben. Auf der Straße und zu Hause hatten die Frauen das Sagen. In der Politik natürlich nicht, da gab es fast nur Männer. Ganze vier Frauen gegenüber 64 Männern durften damals am Grundgesetz mitwirken. In den Familien waren viele Ehemänner und Väter entweder im Krieg gestorben oder waren völlig traumatisiert aus Krieg oder Gefangenschaft zurückgekehrt. Einige, wenige waren noch in Kriegsgefangenschaft. Die meisten Leute hatten nicht viel. Wer Glück hatte, hatte genug zu Essen. Wollen wir es uns mal ansehen?“ Tilly zögerte. Sie wusste nicht, ob sie das sehen wollte. Es klang nicht wirklich nach einer spaßigen Zeit. Lotte lief in ihr Zimmer hinter dem Bücherregal und kam mit einem etwas verdallerten Blechauto wieder heraus. Auf dessen Unterseite zeigte sie ihr eine Aufschrift. „Made in US-Zone“ stand darauf. Lotte erzählte: „Das Auto gehörte einem Jungen, gerade 10 Jahre alt. Er hat es von einem Soldaten bekommen. Das war immer gut versteckt, da seine Mutter mit den Amis nichts zu tun haben wollte und es ihm sicher weggenommen hätte. Der Junge mochte die Amis. Von ihnen bekam er ab und zu Schokolade oder Kaugummi, was er seiner Mutter natürlich auch verheimlichte.“ Sie stellte das Auto vor Tilly auf den Tisch. „Berühre es!“

Tilly war auf einem Hof. Hinter einem Misthaufen, gut versteckt im Schatten saß ein Junge in ihrem Alter und spielte mit dem Auto. Die Kleidung, die er trug, war etwas zu groß für ihn und er war barfuß und etwas dreckig. Sie hörte die Mutter rufen. Der Junge steckte das Auto in seine Hosentasche, strich noch mal darüber, ob man es von außen auch nicht sah und kam aus seinem Versteck. Die Mutter war ungehalten. Ob er das Holz schon gemacht hätte, wo die Milch sei und ob sie eigentlich die Einzige hier war, die arbeitete. Der Junge flitzte um die Ecke, als wäre der Teufel hinter ihm her. An einem Haufen Holz blieb er stehen, nahm eine Axt, die halb so groß war wie er, legte einen Holzscheit auf einem Hackklotz zurecht und schlug drauf. Es krachte, und der Scheit zerbarst in zwei Hälften. Der Junge legte eine Hälfte wieder auf den Klotz, zielte und die Hälfte zerbarst wiederum in zwei Teile. So ging das immer weiter. Der Junge schwitze und als er auf seine Hände blickte, sah Tilly, dass er an einer Hand blutete. Eine alte Blase musste sich erneut geöffnet haben. Der Junge sammelte die Holzstücke ein und brachte sie ins Haus. Als er wieder herauskam, ging er zu einem Brunnen und trank etwas. Er wusch die Hand und tat dann etwas, was Tilly schockierte. Er pinkelte auf seine Hand. Dann hielt er die Hand in die Sonne und lächelte zufrieden. Er schaute vorsichtig in Richtung Haus, und verschwand dann wieder hinter dem Misthaufen, um mit seinem Auto zu spielen. Tilly bewegte sich und der Junge sah in ihre Richtung, als hätte er im Augenwinkel ihre Bewegung wahrgenommen. Nun aber blickte er durch sie hindurch und widmete sich dann wieder seinem Auto.

Die Bilder verschwammen, und sie saß wieder in Lottes Küche. Sie starrte das Auto an, wie es verdallert auf dem Küchentisch stand. Lotte blickte sie erwartungsvoll an. „Und?“, fragte sie. Tilly schüttelte mit dem Kopf. „Er hat auf seine Hand gepinkelt“, sagte sie angewidert. „Er hat die Wunde desinfiziert. Frisches Pipi ist ein perfektes Desinfektionsmittel. Bei den hygienischen Verhältnissen damals, wäre die