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17 Kurzgeschichten, die Gänsehaut und Albträume bescheren.
Paranoide, dämonische, affektive und paradoxale Geschichten, die ihnen das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Autorin W. van Velzen ist es gelungen, die psychotischen Seiten der Menschen in die Realität zu zerren. Ob irrational, verwirrt, wahnhaft oder absurd, sie ist eine Meisterin, wenn es darum geht, über Schreckgespenster zu schreiben, die einem höllische Angst einjagen.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Wine van Velzen
Paranoide Albträume
Gruselige Kurzgeschichten
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte sind der Autorin vorbehalten. Alle Übersetzungsrechte bleiben ebenfalls bei der Autorin W. van Velzen.
Juli 2019
Impressum:
Text & Layout: W. van Velzen
Korrektorat: N. Weber
Bilder/Masken: www.pixabay.de
Cover: W. van Velzen
17 Kurzgeschichten, die Gänsehaut und Albträume bescheren.
Paranoide, dämonische, affektive und paradoxale Geschichten, die ihnen das Blut in den Adern gefrieren lässt. Der Autorin W. van Velzen ist es gelungen, die psychotischen Seiten der Menschen in die Realität zu zerren. Ob irrational, verwirrt, wahnhaft oder absurd, sie
ist eine Meisterin, wenn es darum geht, über Schreckgespenster zu schreiben, die einem höllische Angst einjagen.
Zitate:
»Wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie.«
»Auch der stärkste Mann schaut einmal unters Bett.«
Erich Kästner
»Angst liegt nie in den Dingen selbst, sondern darin, wie man sie betrachtet.«
Anthony de Mello
»Angst haben wir alle. Der Unterschied liegt in der Frage wovor.«
Frank Thiess
»Und schließlich gibt es das älteste und tiefste Verlangen, die große Flucht dem Tod zu entrinnen.«
J.R.R. Tolkien
Wer hat Angst
vorm schwarzen Mann?
Laut und grell, durchbrachen die Schreie der kleinen Emely die Nacht. Sonja erwachte jäh, sprang aus dem Bett, um in das Zimmer ihrer fünfjährigen Tochter zu eilen.
Das war bereits die sechste Nacht in Folge, in der die Kleine von Albträumen geplagt wurde. Sonja gab dem Kindergarten die Schuld. Sie war überzeugt, dass eines der Kinder ihrer Tochter Schauermärchen erzählt hatte.
»Der schwarze Mann ist im Schrank und will mich holen«, hörte sie jede Nacht von Emely, die mit weit aufgerissenen Augen im Bett saß und den Schrank anstarrte. Wer auch immer solche Spukgeschichten verbreitet hatte, Emely glaubte sie.
Sonja knipste das Licht an und erschrak, bis ins Mark. Ihre Tochter saß mit blutigen Kratzern im Gesicht und an den Armen im Bett und weinte bitterlich. Die Mutter konnte nicht glauben, was sie sah. Wer hatte ihr Kind verletzt? Wie konnte jemand unbemerkt in die Wohnung eindringen? Die Haustür und Fenster waren verschlossen und außer Emelys Schreie, hatte sie nichts gehört. Unsicher sah sie sich um, als sie sich auf das Bett ihrer Tochter setzte. Die Kleine kuschelte sich eng an ihre Mutter, schlang ihre kleinen Ärmchen fest um ihren Hals. Ihr Körper zitterte.
»Liebes, wer hat dich so verletzt?«, fragte Sonja und strich Emely über den Kopf.
»Der schwarze Mann, war es«, erklärte das Mädchen schluchzend.
Sonja wurde ärgerlich.
»Schatz, den schwarzen Mann gibt es nicht. Ich habe dir doch gesagt, dass er nur eine Erfindung der Erwachsenen ist, um ihren Kindern angstzumachen, wenn sie nicht gehorchen. Wir haben doch darüber gesprochen, Emely.«
Trotzig hob die Kleine den Kopf und sah ihre Mutter starrköpfig an.
»Es ist aber wahr, Mama. Er versteckt sich im Schrank und sobald ich fest schlafe kommt er heraus. Er zieht mich aus dem Bett und will mich mitnehmen. Wenn er dann hört, dass du kommst, lässt er mich los und verschwindet als Schatten in der Wand.«
Woher hatte das Kind nur diese blühende Fantasie? Sonja strich weiter über Emelys Kopf und versuchte ihr klarzumachen, dass es den schwarzen Mann nicht gab, dass sie böse Träume habe, die sie für real hielt. Doch das Mädchen schüttelte den Kopf. Mit einem Seufzer nahm die Mutter das Kind auf den Arm. Mitten in der Nacht darüber zu diskutieren, hielt sie für sinnlos. Ihre Tochter hatte einen Albtraum, hatte Wunden und war müde. Sie würde morgen mit ihr darüber sprechen.
»Wir gehen jetzt erstmal ins Bad, damit ich dir das Blut abwaschen kann und danach werde ich die Kratzer versorgen.«
Die Kratzer sahen schlimmer aus, als sie waren. Nachdem das Blut abgewaschen war, begutachtete die Mutter sie. Die im Gesicht waren nur oberflächig, die an den Armen gingen tiefer, aber nicht so, dass man die Wunden nähen müsste. Mittlerweile war Sonja der Meinung ihr Kind hatte sich im Schlaf selbst verletzt. Was anderes konnte sie sich nicht vorstellen.
Den Rest der Nacht lag Emely im Bett ihrer Mutter.
*
Die Albträume wurden schlimmer. Das kleine Mädchen schrie jede Nacht, voller Furcht und Entsetzen ihre Angst heraus. Sonja fiel es von Mal zu Mal schwerer, ihr Kind zu beruhigen. Zu den Kratzern, die bereits verheilten, gesellten sich rote und blaue Flecken dazu. Büschelweise lag das lange, blonde Haar im Bett. So konnte es nicht weitergehen. Wie jede Nacht, nahm Sonja ihre Tochter in ihr Zimmer und ließ sie in ihrem Bett schlafen. Traurig und auch hilflos sah sie in das bleiche, schlafende Gesicht ihres Kindes. Dunkle Schatten lagen unter Emelys Augen, ihre Lippen waren selbst im Schlaf zusammengepresst. Sie musste etwas unternehmen. Emely weigerte sich, in den Kindergarten zu gehen und auch zur Pflegemutter wollte sie nicht, obwohl das Kind sie liebte. Sonja blieb nichts anderes übrig und reichte in der Anwaltskanzlei Urlaub ein.
Am darauffolgendem Morgen rief sie die Kinderärztin an. Sonja konnte noch am selben Tag mit Emely in die Praxis kommen. Dort schilderte sie der Ärztin, die Albträume, die ihr Kind heimsuchten und zeigte ihr die Kratzer und Hämatome, die Emely am Körper hatte. Nach eingehender Untersuchung und einigen Fragen an das Kind, kam sie wie die Mutter zu dem Schluss, dass Emely sich entweder im Schlaf, oder im Wachzustand, selbst verletzte. Sie schickte das Kind aus dem Behandlungsraum, es solle im Wartezimmer mit den Spielsachen spielen und auf ihre Mutter dort warten.
»Frau Müller,« begann die Ärztin das Gespräch. »Hat sich in letzter Zeit etwas in ihrem Alltag verändert?«
Sonja verneinte, alles sei wie immer.
»Gibt es einen neuen Partner in ihrem Leben oder hat Emely Probleme im Kindergarten oder bei der Pflegemutter?«
Wieder verneinte sie.
Die Kinderärztin hatte genügend Erfahrungen in ihrem Beruf gesammelt. Deshalb erklärte sie Sonja, dass die Albträume und die Selbstverletzungen höchstwahrscheinlich von einem psychischen Problem herrührten. Dass die Mutter das Kind misshandelte, schloss sie aus. Die Ärztin gab Sonja die Adresse einer Kinderpsychologin.
Um auf andere Gedanken zu kommen, beschloss Sonja, mit ihrem Kind ein Eis essen zu gehen, anschließend gingen sie zum großen Abenteuerspielplatz.
Emely schien wie ausgewechselt. Sie tobte herum, rutschte die Rutschbahn hinunter, schaukelte, spielte im Sand und rannte glücklich, wie lange nicht mehr, über die Wiese. Abends bestellte Sonja eine große Pizza, die sie sich schmecken ließen. Erst, als es für Emely Zeit wurde, ins Bett zu gehen, kam die Angst wieder in dem Kind hoch. Sie bettelte und weinte, wollte bei ihrer Mutter schlafen. Sonja war hin- und hergerissen. Sie wollte, dass ihre Kleine eine Nacht durchschlief und sie wollte den glücklichen Ausdruck wieder in ihrem Gesicht sehen, der wie weggeblasen schien.
In dieser Nacht schlief das Mädchen wieder bei ihrer Mutter.
Nachts, es war kurz nach drei Uhr, erwachte Sonja. Was sie geweckt hatte, wusste sie nicht. Ein Blick auf ihre Tochter, zeigte, dass diese friedlich schlief. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, stand Sonja auf. Leise öffnete sie die Tür und ging hinaus in den schmalen Gang. Angestrengt horchte sie, doch alles schien ruhig. Die Frau knipste das Licht an, lief in die Küche, trank ein Glas Wasser. Danach durchquerte sie das Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Doch da gab es nichts zu sehen. Die Straße lag im Dunkeln, nur jede dritte Laterne leuchtete schwach auf den Asphalt. Gerade, als sie sich wegdrehen wollte, sah sie einen schemenhaften Schatten, der mit der Dunkelheit verschmolz. Irritiert sah sie durch die Fensterscheibe. Hatte sich Sonja das eingebildet oder gab es etwas da draußen, dass sich in den schwarzen Schatten versteckte.
Nach einigen Minuten kam sie zu dem Entschluss, sich getäuscht zu haben. Dort draußen war nichts und niemand. Ein gellender Schrei riss Sonja aus ihren Gedanken.
»Oh, Gott, das ist Emely«, flüsterte die junge Frau bestürzt und rannte zurück ins Schlafzimmer.
Erschüttert sah Sonja ihre Tochter an. Das Mädchen lag zusammengekrümmt auf dem Boden. Ihr Nachthemd, mit den rosafarbenen Einhörnern darauf, war zerfetzt, sie hatte frische Kratzer an den Beinen. Sonja war mit zwei Schritten bei ihrem Kind, nahm sie hoch und legte sie in ihre Arme. Die Kleine schrie, wehrte sich gegen die Berührungen und strampelte mit den Beinen. Völlig aufgelöst redete die Mutter auf ihr Mädchen ein.
»Pscht, Liebes, alles ist gut, Mama ist bei dir.«
»Er wollte mich holen. Der schwarze Mann ist gekommen und wollte mich mitnehmen«, weinte das Kind.
Emely presste sich an ihre Mutter, konnte sich nicht beruhigen. Die nackte Angst stand in ihrem Gesicht. Die Fünfjährige zitterte, ihre Lippen zuckten und dicke Tränen liefen ihr die bleichen Wangen hinab. Es dauerte lange, bis sie ruhiger wurde. Auch Sonja weinte, versuchte es vor ihrer Tochter zu verbergen.
Was hat mein Kind nur, dacht sie. Es kann doch nicht an diesem dummen Schauermärchen liegen, dass sich Emely derart verletzt. Ich habe ihr doch erklärt, dass es keinen schwarzen Mann gibt, der Kinder nachts aus den Betten stielt.
Sonja begann, sich Vorwürfe zu machen. Hatte sie zu wenig Zeit für ihre Tochter? War sie jeden Tag zu lange von ihr getrennt, wenn sie arbeiten ging? Ist irgendwas vorgefallen, dass Emely zu diesen Handlungen trieb? Was ist mit ihrer kleinen Seele geschehen? Wer hatte sie derart verletzt oder zerrüttet, dass sie sich das antat?
In dieser Nacht schrie das Kind immer wieder im Schlaf auf. Sonja brach es schier das Herz. Sie wollte und musste ihrem Kind helfen.
Die Ernüchterung folgte am nächsten Morgen. Die Kinderpsychologin hatte erst in drei Monaten einige Termine frei, die sie Sonja anbot. Das war für die besorgte Mutter eindeutig zu lange. Ihr Kind benötigte Hilfe und zwar schnellstmöglich. Sonja telefonierte mit allen Kinderpsychologen im Umkreis von 50 Km, doch alle hatten lange Wartezeiten. Verzweifelt rief sie bei der Kinderärztin an, doch die meinte, sie solle den ersten Termin annehmen, der ihr angeboten wurde und bis dahin Emely beobachten.
»Was für eine gottverdammte Scheiße«, fluchte die Mutter ungehalten, als sie auflegte. Wie konnte es sein, dass man monatelang warten musste, wenn das Kind seelisch angeschlagen oder gar krank war? Frustriert rief sie die Psychologin zurück und ließ sich einen Termin geben.
Emely wollte nicht mehr in ihrem Zimmer schlafen. Auch tagsüber mied sie den Raum. Sie wurde immer stiller, lachte kaum noch. Ständig hatte sie einen gehetzten Ausdruck im Gesicht, war schreckhaft und fing schnell zu weinen an. Sie nässte nachts wieder ein, was für noch mehr Tränen sorgten. Sonja war verzweifelt, sie sah, wie ihr Mädchen litt und wusste ihr nicht zu helfen.
Vielleicht sollte ich den Urlaub verlängern und mit Emely an die Ostsee fahren. Eine andere Umgebung würde dem Kind sicher guttun und Emely liebte das Meer.
Der Anwalt war zwar nicht begeistert von Sonjas Anfrage, genehmigte aber schließlich zwei weitere Wochen. Im Internet suchte sie eine günstige Pension. Die Hauptsaison hatte noch nicht begonnen und so wurde Sonja schnell fündig. Schon in drei Tagen könnte sie mit ihrer Tochter anreisen. Zufrieden rief sie nach Emely und zeigte ihr auf dem Monitor, die Fotos der Pension. Auch einige Aufnahmen vom Meer bei Sonnenuntergang waren zu sehen. Emely war hellauf begeistert und wäre am liebsten sofort in den Norden gefahren. Doch dann sah das kleine Mädchen ernst ihre Mutter an und flüsterte:
»Dort wird mich der schwarze Mann nicht finden, Mama. Wir dürfen aber die Adresse nicht laut sagen, denn dann weiß er, wohin wir fahren und vielleicht kommt er dann doch nach, um mich zu holen.«
Erschüttert blickte die Mutter ihr Kind an. Wie tief musste dieses Schauermärchen in Emely sitzen? Wieso glaubte sie noch immer, diesen schwarzen Mann gäbe es in der Wirklichkeit? So viele Gespräche hat sie mit ihrer Tochter geführt, ständig erklärt, dass es diesen dunklen Mann nicht gab und nie gegeben hatte. Wieso hielt Emely so sehr daran fest? Verzweifelt blickt Sonja auf ihr Kind, dass sie mit großen Augen anblickte. Hielt Emely daran fest, um eine Entschuldigung für ihre Verletzungen zu haben? Inständig hoffte die Mutter, dass die Zeit schnell verging und sie mit ihr zu der Psychologin gehen konnte.
*
Das kleine Mädchen lag schlafend im Bett ihrer Mutter. Sonja war im Wohnzimmer und bügelte. Nebenher lief eine Sendung im Fernseher. Ein dumpfer Schlag, als ob etwas gegen die Wand im Schlafzimmer geflogen sei, ließ sie aufschrecken. Sofort lief sie in den Flur, wollte nach ihrem Kind sehen und was den Lärm verursacht hatte. Abrupt blieb sie stehen, als sie sah, wie die Tür zu Emelys Kinderzimmer mit lauten Krachen zuschlug.
Was war hier los? In Sonja schoss Angst. Angst um ihre Tochter.
»Emy? Schatz?«, schrie sie aufgewühlt und ging auf die Tür zu. Dumpfe Geräusche drangen in den Flur, dann ein erstickter Schrei ihres Mädchens.
Oh, Gott, sie ist in Gefahr, erkannte die Mutter schlagartig. Wer auch immer ihr Kind aus dem Bett gezerrt hatte, war mit ihm hinter dieser Tür. Sonja griff nach der Klinke und zuckte erschrocken zurück. Eine dicke Brandblase bildete sich an ihrem Handballen.
»Emely!«, schrie sie völlig hysterisch vor Angst. Wild schlug sie mit den Fäusten auf die Tür ein. Tränen der Wut und Angst liefen ihr die Wangen hinunter, sie spürte den Schmerz an ihren Händen nicht, hämmerte wie eine Verrückte gegen das Türblatt.
»Maaaami, hilf mir!«, hörte Sonja ihre Tochter rufen. Nacktes Grauen griff nach ihrem Herz. Ohne zu überlegen drückte sie die heiße Klinke herunter und stürmte, wie eine Furie in das Zimmer.
Sonja stockte der Atem. Was sie sah, konnte nicht wahr sein. Durfte es nicht geben. Nicht in der Realität und nicht im Zimmer ihrer Tochter.
Ein rabenschwarzer Schatten, der einem großen, kräftigen Mann glich, stand breitbeinig vor dem geöffneten Kleiderschrank. Mit einem Arm presste er Emely an sich. Das kleine Mädchen schrie nicht mehr, nur ein leises Wimmern war noch von ihr zu hören, die Augen hatte sie zugekniffen.
Dunkle Nebelschwaden wehten um das wehrlose Kind und um den schwarzen Mann. Rotglühende Augen blickten die Mutter boshaft an. Ein drohendes Knurren drang zu ihr, doch sie ließ sich nicht davon aufhalten. In Sonja legte sich ein Schalter um. Eiseskälte füllte sie aus. Mit einem wilden Aufschrei rannte Sonja auf die Kreatur zu. Selbst wenn sie ihr Leben verlieren würde, es würde sie nicht aufhalten, ihre Tochter aus dem Griff dieses Nachtwesen zu befreien.
Der Schattenmann ging einen Schritt rückwärts, in den Schrank hinein, Emely hielt er eisern fest. Sonja prallte gegen den wahrgewordenen Albtraum. Emely schrie angsterfüllt auf, hielt aber die Augen geschlossen. Ein schwerer Schlag von der Schattenfaust, ließ die Mutter benommen zurücktaumeln. Der Mann ging einen weiteren Schritt in den Schrank hinein.
»Neeein«, schrie Sonja und lief wieder auf die schwarze Gestalt zu. »Gib mir mein Kind zurück!«
Die Mutter schlug auf das Schattenwesen ein, doch ihre Schläge zeigten keinerlei Wirkung.
Sonja wurde von den Nebelschwaden, von ihrer Tochter und dem schwarzen Mann, weggedrängt. Es fühlte sich an, als ob ein zäher, dicker Brei sie berührte und an ihr zog. Sie bekam in dieser dunklen Masse kaum Luft. Die Frau atmete stoßweise, hustete und röchelte schließlich nach Sauerstoff. Nie und nimmer würde Sonja aufgeben. Diese Kreatur sollte ihr kleines Mädchen nicht mitnehmen.
Mit der Kraft, die nur eine Mutter einsetzen konnte, die das Leben ihres Kindes in Gefahr sieht, kämpfte sie sich Schritt für Schritt zurück. Der Schattenmann war nur noch zur Hälfte in dem Raum und stand nun seitlich zu ihr. Emelys Beine konnte die Mutter noch sehen, der Rest von ihrem Kind war bereits in dem Schrank.
»Gib sie mir zurück, du verdammtes Scheusal!«, brüllte Sonja wie von Sinnen.
Verzweifelt stürzte sie sich auf den Schatten, griff nach Emelys Beinchen. Wieder erklang das drohende Knurren. Der schwarze Mann stieß die Frau mit einem heftigen Schlag gegen ihre Brust von sich und verschwand vollends mit dem Kind im Schrank. Die Nebelschwaden folgten ihnen.
Durch die Wucht des Stoßes prallte Sonja gegen die Wand und schlug mit dem Hinterkopf gegen das Mauerwerk. Benommen sank sie zu Boden. Vor ihren Augen verschwamm alles. Übelkeit stieg in ihr auf und eine bleiende Schwere legte sich auf den rechten Arm und das rechte Bein. Schemenhaft sah sie den Schrank, in dem die Kreatur mit Emely verschwunden war. Heiße Tränen liefen ihr in Bächen über die Wangen. Die verzweifelte Mutter kroch mit letzter Kraft über den fliederfarbenen Teppich.
Mit erschreckend leiser Stimme, rief sie stammelnd und stockend, nach ihrer Tochter.
»Emy, Liebling, ii …, ich bin gleich bei dir. Hö…, hörst du? Mami holt dich zu…, zurück. Hörst du, Lie…, Liebes? Mami, ist gleich bei…, bei dir.«
Sonja spürte nicht das Blut, dass von der offenen Wunde am Hinterkopf auf ihren Nacken floss und den Rücken hinunterlief. Genauso wenig bemerkte sie nicht den pochenden Schmerz des Schädelbruches. Sie dachte nur an ihre Tochter, die der schwarze Mann ihr gestohlen hatte.
Laut hörte sie ihr Gewissen, dass in ihr tobte und schrie:
»DU HAST DEINEM KIND NICHT GEGLAUBT! DU SAGTEST ZU EMELY, DEN SCHWARZEN MANN GIBT ES NICHT. SCHAUERMÄRCHEN, JA, NICHT ANDERES, ALS SCHAUERMÄRCHEN SEIEN ES, HAST DU IHR ERKLÄRT.«
Qualvoll schluchzte Sonja auf. Die Stimme hatte recht. Sie alleine trug die Schuld daran, dass der schwarze Mann ihre Tochter holen konnte.
Sonja hatte den Schrank erreicht. Mit zitternden Händen öffnete sie langsam, die angelehnte Tür und stammelte:
»Mami ist da. Ich ho…, hole dich je…, jetzt zu…, zurück, zu …, zu mir.«
Ungläubig und verwirrt blickte die schwerverletzte Frau in den Schrank. Die Kleidchen und Röcke ihrer Tochter hingen an den Bügeln. In den Regalen lagen ordentlich zusammengefaltet, die Unterwäsche und Nachthemden und die restliche Kleidung. Sonja warf alles aus dem Schrank. Schwankend versuchte sie stehen zu bleiben, ihre Finger glitten über die Rück- und Seitenwänden - ohne Erfolg. Es gab keinen Durchgang, kein Loch, es gab nichts, das ihr den Weg zeigen würde, wohin der schwarze Mann mit ihrem Kind verschwunden war.
Mit den Fäusten schlug sie auf die Rückwand ein, schrie immer wieder Emelys Namen.
Erschöpft und durch die schwere Schädelverletzung geschwächt, gaben Sonjas Beine nach. Sie versuchte sich an der Kleiderstange festzuhalten, doch sie riss sie mit sich und stürzte aus dem Schrank. Hart kam sie auf dem Boden auf. Benommen, versuchte sie sich aufzurichten, - schaffte es nicht. Sie rief nach ihrer Tochter. Ihre Aussprache wurde undeutlicher, bis sie nur noch einzelne Silben ausstieß.
Doch die Stimme in ihr, konnte Sonja klar und deutlich hören und verstehen.
»DEIN KIND HAT SICH NICHT SELBST VERLETZT! ER WAR ES! DER SCHWARZE MANN! ER HAT DAS DEINER TOCHTER ANGETAN! DU HAST IHR NICHT GEGLAUBT! DU BIST SCHULD, DASS ER DEIN KIND GEHOLT HAT! DU HAST DEINE TOCHTER NICHT BESCHÜTZT! DU BIST SCHULD! DU BIST KEINE GUTE MUTTER GEWESEN! DU BIST SCHULD! SCHULD, SCHULD!«
*
Die Wohnung der Nachbarn war so geschnitten, dass sie das Schlafzimmer neben dem von Emelys Zimmer hatten. Sie lagen bereits im Bett, die Frau las in einem Buch, der Mann sah sich eine Sportsendung an. Sie hatten Sonjas Schreie und die Schläge gegen die Schrankwand gehört. Alarmiert stand das Paar auf, lief aus ihrer Wohnung und klingelten an Sonjas Haustür. Die Frau war überzeugt davon, dass ein Einbrecher in der Wohnung sein müsste und drängte ihren Mann, die Tür aufzubrechen, sollte Sonja nicht selbst aufmachen.
Nachdem der Mann ohne Erfolg noch einmal klingelte, warf er sich gegen die Tür. Das Schloss zerbrach und sie sprang auf.
In der Wohnung herrschte eine gespenstige Stille. Vorsichtig ging der Mann voraus, rief nach Sonja, die nicht antwortete.
Das Paar fand die Schwerverletzte in Emelys Zimmer. Sie lag zusammengekauert auf dem Teppich. Speichel floss aus ihrem halboffenen Mund, die rechte Gesichtshälfte hing schlaff hinunter. Unter ihrem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet.
Die Frau rief den Notarzt.
*
Noch auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb Sonja an ihren schweren Verletzungen.
Die Kriminalpolizei suchte fieberhaft nach Emely. Die Beamten gingen davon aus, dass das Mädchen entführt wurde. Wie der Entführer in die Wohnung gekommen sei, konnten sie nur annehmen. Entweder die Frau hat ihn eingelassen oder er hatte mit einem Dietrich das Schloss an der Eingangstür geknackt. Das Blut an der Wand stammte eindeutig von der verstorbenen Mutter des verschwundenen Kindes, sodass ersichtlich war, wie es zu der schweren Schädelverletzung kam.
Die Suche nach dem verschwundenen Mädchen lief über Monate auf Hochtouren, doch alle Hinweise und Spuren brachten keinen Erfolg.
Emely blieb verschwunden.
So wie hunderte von anderen Kinder, die nachts spurlos aus ihren Betten verschwanden.
***
Komori, der Wiederkehrer
Wenige Tage war es her, als es zu dem Attentat gekommen war. Der Präsident Benjamin Potter hatte vor dem Weißen Haus eine Rede gehalten. Es machte klar, dass er keine weiteren Soldaten in den Osten schicken würde. Kriege zu unterstützen, lehnte er vehement ab und machte das in seiner Ansprache sehr deutlich.
Fotografen schossen ein Foto nach dem Anderen. Doch nicht nur die Paparazzi hatten das Staatsoberhaupt im Visier.
Ein sicher gezielter Schuss aus einem Präzessionsgewehr traf den Präsidenten der vereinigten Staaten in die Brust.
Der Scharfschütze hatte ganze Arbeit geleistet, sein Auftraggeber würde zufrieden sein.
Der Green-Wood Cemetery in New York lag im Dunkeln. Zwischen den Grabsteinen standen Männer in schwarzen Kutten, bildeten einen Kreis. Ihre Gesichter verdeckten sie hinter weißen Masken, die Kapuzen fielen tief in die Stirn. Zäher Nebel schwebte um und auf den Gräbern, formten sich zu bizarren Schemen. Kerzen auf den Steinen waren so aufgestellt, dass sie einen Sechsstern bildeten. In dessen Zentrum lag das Grab des Präsidenten. Die Kränze und Blumen waren noch nicht verwelkt. Ein Porträt des Staatsmannes stand auf einer Staffelei. Benjamin Potter blickte stolz und wirkungsvoll in die Kamera, hinter ihm, die amerikanische Flagge.
Der Anführer der Kuttenträger, Joshua Black, trat einige Schritte in den magischen Kreis. Autokratisch hob er die Arme und begann in einer Sprache zu sprechen, die seit Äonen nicht mehr existierte. Seine Gefährten stimmten nach wenigen Silben mit ein. Ein seltsamer und schauriger Sing Sang entstand. Die Nebelschwaden zogen sich zusammen, sammelten sich auf Potters Grab. Je lauter der Sing Sang anschwoll, um so grotesker formte sich der Nebel zu einem absonderlichen Wesen, das aus einer anderen Welt, einer anderen Zeit zu kommen schien.
Einige der Kuttenträger wurden unruhig, stolperten über die unbekannten Silben. Das Nebelwesen stob auseinander, zerfloss. Wütend, blickte Joshua Black die Männer an, bannte sie mit seinen Augen, die rot glühten. Sofort versteiften sie sich und vielen wieder in den Sing Sang ein. Die Nebel schwebten aufeinander zu, formten sich erneut zu diesem unheimlichen Wesen, das sich auf das frische Grab legte.
Joshua Black sah fasziniert zu, wie er in die Erde sank, bis er vollständig verschwand.
Die Arme erhoben, mit glühenden Augen und einem fanatischen Gesichtsausdruck hinter der Maske, erhob sich seine Stimme, über die seiner Anhänger. Der Gesang wurde zu einem furchteinflößenden, lauten Crescendo. Nach wenigen Augenblicken kehrte das Nebelwesen aus dem Grabe zurück. Es nahm das Aussehen des verstorbenen Präsidenten an. Die Gestalt wurde zu einem festen Körper, die leeren Augen bekamen leben.
Benjamin Potter, der letzte Präsident von Amerika stand auf dem Blumenmeer seines Grabes und blickte sich um. Der Sing Sang verstummte, daraufhin war ein Murmeln und Raunen zu hören. Black nahm die Arme hinunter und ging auf den Mann zu.
»Du wirst mir gehorchen, Benjamin Potter. Ich bin dein Herr und Gebieter. Mein Wille und meine Forderungen, werden für dich Gesetz sein. Du wirst meine Befehle ausführen.«
*
Der Komori, ein Wesen aus einer anderen Dimension wurde von Joshua Black gerufen. Er befahl ihm mit dem Ritual in unsere Welt. Tief unter der Erde drang das fremdartige Wesen in die restlichen Gedanken und dem noch vorhandenen Wissen des toten Präsidenten ein, nahm sie in sich auf, wurde eins mit ihm. Ein Wiederkehrer wurde erschaffen.
Er glich Benjamin Potter bis aufs Haar, selbst die Stimme und den kaum hörbaren, texanischen Slang, hatte der Komori übernommen. Er war kein Abbild, keine Imitation. Das Wesen nahm die Identität des Toten an. Es war der Präsident der vereinigten Staaten, der wiedergeboren wurde.
*
Die Medien überschlugen und übertrumpften sich mit ihren Schlagzeilen und Berichten.
DER PRÄSIDENT LEBT!
DER TOD DES PRÄSIDENTEN WAR EINE FINTE!
DER GEHEIMDIENST GAB DEN TOD DES PRÄSIDENTEN BEKANNT, IN WIRKLICHKEIT HATTE ER DAS ATTENTAT ÜBERLEBT!
WER WURDE IM GREEN-WOOD CEMETERY BEERDIGT? WAS SAGT SEINE FAMILIE ZU DIESEM KOMPLOTT? WER STECKT HINTER DIESER VERSCHWÖRUNG?
Nicht nur Amerika, nein, die ganze Welt war konfus. Der Stab und der Vizepräsident konnten nicht fassen, dass Benjamin Potter lebte. Die NSA, die CIA, das FBI, das Pentagon, alle waren wie vor dem Kopf gestoßen. Sie alle stritten ab, etwas mit dem vorgetäuschten Tod des Präsidenten zu tun zu haben.
Der Komori äußerte sich nicht dazu, gab nur eine einmalige Pressekonferenz, in der er zu seinem Volk und der Welt sprach. Es ginge ihm gut, der Schuss hätte keine lebenswichtigen Organe verletzt. Es sei strategisch wichtig gewesen, ihn für tot zu erklären, mehr könnte er in diesem Moment nicht dazu sagen. Priorität hätte nun, den Attentäter und die Organisation dahinter aufzuspüren. Er selbst würde wieder sein Amt aufnehmen und seine Politik wie bisher bestreiten.
*
Joshua Black war dort angekommen, wohin er wollte. Der Komori ernannte ihn zu seinem engsten Berater. Er gehorchte seinem Herrn und Meister, hinterfragte keinen Befehl, keine Anweisung. Er, Joshua Black, war im Weißen Haus, hatte durch Potter den gesamten Stab mit seinen Leuten ausgetauscht. Amerika war in seiner Gewalt und schon bald würde es die ganze Welt sein.
Es war ein langer Weg, den er zielstrebig ging. Verluste und Rückschläge, nichts konnte seinen Machthunger bremsen. Mit seinen okkulten Anhängern hatte er einen Dämon beschworen, ihn mit einer List zu seinem Untertanen gemacht. Diese Kreatur gab ihm ein uraltes Pergament. Auf ihm war in einer längst vergessenen Sprache die Beschwörungsformel geschrieben, die es Black ermöglichte, den Komori zu rufen.
Tief im Gedanken versunken, stand Joshua Black im Weißen Haus im Oval Office am Fenster und sah hinaus. Hinter ihm saß der Wiederkehrer am Schreibtisch, dem legendären Resolute Desk. Ohne Bedenken unterzeichnete er, was ihm sein Herr in einem schwarzen Ordner an Papieren und Formularen überreicht hatte.
Ein zynischer Zug lag auf Blacks markantem Gesicht, seine Augen blickten kalt, zu den beiden Pitt Bulls hinunter, die von einem sadistischen Trainer ausgebildet wurden. Schon bald wären sie mörderische Bestien, die ihm gehorchen würden.
»Sie werden mir genauso gehorchen, wie der Komori«, dachte er zufrieden und lachte heiser auf.
Der Wiederkehrer stand auf und gab Black den Ordner zurück.
»Wann werden wir in den großen Krieg ziehen, Herr?«, fragte der Präsident emotionslos.
»Schon sehr bald, Benjamin, gedulde dich noch ein wenig, dann werde ich die Weltherrschaft, mit deiner Hilfe übernehmen.«
Dem Komori war es gleich, was Joshua Black vorhatte. Er hatte keinerlei Emotionen, tat, was sein Meister und Herr befahl und von ihm forderte. Es war ihm gleich, dass die Welt, in die er durch das Ritual gezogen wurde, dem Untergang geweiht war. Sollten die Länder und ihre Städte zerstört werden, die Menschen im Flammenmeer zu Staub zerfallen, es interessierte ihn nicht. Empathie war eine Eigenschaft, die das fremdartige Wesen nicht kannte. Eine Zeitlang versuchte der Wiedergänger in den Köpfen der Menschen zu lesen. Doch Gefühle wie Liebe, Hass, Freude, Trauer, verstand er nicht, konnte damit nichts anfangen.
Sobald Joshua Black die Weltherrschaft an sich reißen würde, wäre der Komori frei. Der Körper von Benjamin Potter würde ein zweites Mal durch die Hand seines Meisters sterben. Dann endgültig und für immer.
Zu diesem Zeitpunkt würde der Komori den Leib des Menschen verlassen und in seine Welt zurückkehren.
***
Die Geisterfrau
Das alte Herrenhaus strahlte etwas Feindliches aus. Als ob es die junge Frau nicht hierhaben wollte. Nora stand in der düsteren Eingangshalle und sah sich unwohl um. Dieses alte Gemäuer sollte ihr neues Zuhause werden.
Sie hatte ihren Job und die Wohnung gekündigt, ein Zurück gab es nicht.
Der Notar erklärte der Dreißigjährigen, dass sie die einzige Erbin sei, die er ausfindig machen konnte. Das Haus, das riesige Grundstück auf dem es stand, weitere Ländereien und einen Betrag, der für vierzig Leben ausreichen würde, sei nun ihr eigen. Nora wurde die neue Herrin von Ravenstein.
Die junge Frau wuchs in einem Waisenhaus auf, sie kannte weder ihre Mutter, noch wusste sie, wer ihr Vater war. Das Geheimnis ihrer Herkunft hatte der Notar nach akribischen Nachforschungen gelüftet. Er hatte in den Kirchen, im Geburtenregister nach unehelichen Kindern gesucht. Der alte Priester, gab den Hinweis, dass der verstorbene Hausherr eine Liaison mit der Tochter seines Dieners hatte. Er zeigte dem Notar die Decke, die er all die Jahre aufbewahrt hatte und erklärte ihm, wie der Diener Wochen später zur Beichte kam und ihm erzählte, was sich im Herrenhaus zugetragen hatte. Harald von Ravenstein weigerte sich, das Kind, dass Barbara unter ihrem Herzen trug, als sein eigenes anzuerkennen. Er unterstellte ihr, dass sie außer ihm noch andere Liebhaber hätte, die als Erzeuger des Bastards infrage kämen.