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Die Autorin schildert in dieser hypothetischen Erzählung in der Ich-Perspektive das Leben und die Beziehungen von Martha.
Martha rechnet schonungslos und ehrlich mit ihren Partnerschaften, Ehen und vor allem mit sich selbst ab.
Sie kam aus einem desolaten Elternhaus. Alkoholexzesse, Gewalt und sexueller Missbrauch, prägten ihre Kindheit und Jugend. Es fiel ihr schwer, Nähe zuzulassen, Vertrauen aufzubauen. Martha nahm Rollen an, welche ihr die Partner auf den Leib schrieben. Die Beziehungen scheiterten dennoch und platzten wie Seifenblasen.
Martha, die Rollen spielte, Masken trug, nach Liebe und Geborgenheit suchte. Eine Frau, die Opfer und Täterin zugleich war.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Wine van Velzen
Martha
Hypothetische Biografie einer Frau, die Opfer und Täterin zugleich war
„Martha“ ist ein hypothetischer Roman. Die Autorin schildert in dieser Erzählung in der Ich-Perspektive das Leben und die Beziehungen von Martha. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt. Alle Übersetzungsrechte vorbehalten.
Alle Rechte vorbehalten © November 2021
Impressum:
Text und Layout: © W. van Velzen
Bildvorlage: Pixabay
Covergestaltung: © Wine van Velzen
Martha
Damals
1976 - 1982
1982 - 1984
1984 - Herbst 1985
1986 - 1992
Januar 1991 - Sommer 1992
1992 - 1993
1994 - 2005
2006 - 2013
2014 - 2018
Epilog
Danksagung
Martha
____________________
Marthas Geschwister:
Anna
Lothar
Julia
Oliver
____________________
Marthas Männer:
Patrick
Roland
Hannes
Horst
Klaus
Mark
____________________
Marthas Kinder:
Mary,
Nele,
Jan
Nika
Timo
____________________
Marthas Freundinnen:
Ella
Rita
Susanne
Claudia
____________________
Weitere Personen:
Frau Reinhard
Sandra & Dieter
Jupp
Monika & Sonja
Jenny & Jana
Richard & Hilde
Therapeutin
Jutta
Die Autorin schildert in dieser Erzählung in der Ich-Perspektive das Leben und die Beziehungen von Martha.
Offen und ehrlich geht Martha mit sich selbst ins Gericht. Beschönigt nichts, kehrt ihre Seele nach außen. Sie erzählt von ihrer Kindheit, in der sie unter dem sexuellen Missbrauch des Vaters und der Prügel beider Elternteile litt. Diese furchtbaren Erfahrungen beeinflussen ihr Leben noch heute und erklären vielleicht, warum sie in manchen Situationen nicht wie andere Frauen reagierte und Entscheidungen traf, die man nicht immer nachvollziehen kann.
In diesem Roman rechnet Martha schonungslos und ehrlich mit ihren Partnerschaften, Ehen und vor allem mit sich selbst ab.
Martha, Ende fünfzig, kam aus einem desolaten Elternhaus. Alkoholexzesse, Gewalt, sexueller Missbrauch und das Gefühl, nie einen Halt zu haben, prägten ihre Kindheit und Jugend. Dieses Gefühl und ihre Erinnerungen begleiten Martha durch ihr ganzes Leben. Sie war ständig auf der Suche nach Geborgenheit, Liebe und Vertrauen. Es fiel ihr schwer, Nähe zuzulassen, Vertrauen aufzubauen. Sie bemühte sich, bis zur Selbstaufgabe, glückliche Beziehungen zu führen, nahm Rollen an, welche ihr andere auf den Leib schrieben. Die Beziehungen scheiterten dennoch und platzten wie Seifenblasen. Es beschreibt sich eine Frau, die Leid und Erschütterndes in ihrem Leben erfahren musste, die sich aufgab, um zu gefallen, um geliebt zu werden. Die tief fiel, wieder aufstand, um zu sich selbst zu finden. Martha war eine von den Frauen, die Ja sagten und Nein meinten.
Nichts, was Martha in den Ehen und weiteren Beziehungen tat, gewollt oder ungewollt, hätte die Trennung der Partnerschaften aufhalten können. Martha erkannte, dass sie selbst die meisten Fehler begangen hatte. Sie wollte dem Partner gefallen, wollte wertgeschätzt und geliebt werden. Dafür gab sie sich jedes Mal ein stückweit selbst auf. Sie passte sich an, das Bauchgefühl ignoriert sie.
Martha, eine Frau, die Rollen spielte, Masken trug und fast daran zerbrach. Eine Frau, die Opfer und Täterin zugleich war.
Wieder saß ich vor einem Scherbenhaufen. Dieses Mal ging die Beziehung schnell in die Brüche, keine drei Jahre hielt sie. Streit, Kompromisse, Wegsehen, Weghören, das alte Muster, in dem ich mich wieder verstrickt hatte. Nicht von Anfang an, sondern Schritt für Schritt. Zuerst war es mit dem neuen Partner schön, aufregend, spannend. Die Partnerschaft mit Mark ging genauso den Bach hinunter, wie die mit meinen Ehemännern. Die hielten zwar länger, dennoch zerplatzten sie wie Seifenblasen. Ich hatte mich bemüht, dass es diesmal anders sein würde. Wirklich, ich hatte mich bemüht. Sehr sogar! Egal, wie ich es anging, ich traf immer auf die falschen Männer oder ich war nicht die richtige Frau für sie. Lügen, Eifersucht und Fremdgehen, kannte ich zur Genüge. Sich selbst aufgeben, Rollen spielen, Dinge tun, die man nicht will und immer diese Hoffnung in einem. Hoffnung, dass die Partnerschaft hält, dass es richtig sei, bei diesem Mann zu bleiben.
Seufzend reibe ich mir die müden Augen. Ich schlafe in letzter Zeit noch schlechter als sonst. Zu viel Kaffee und Zigaretten bekommen mir nicht besonders gut. Ich fühle mich matt und ausgelaugt. Der Kopf schmerzt, bin erschöpft.
Im Moment habe ich genug von Männern. Obwohl ich mich auch in dieser Partnerschaft veränderte, anpasste, runterschluckte, meine Meinung nicht immer vertrat, riss ich dieses Mal die Reißleine.
Mir fällt ein Gedicht ein, von unbekanntem Autor geschrieben:
Liebe kann so einfach sein
Ich werde das Verlieben lassen und mich einfach lieben lassen. Selber lieben ist beschwerlich und zudem noch sehr gefährlich.
Hat man sich zuerst verliebt und wird nicht zurück geliebt, ist man nicht nur lieblos, nein, man ist zudem auch noch gemein.
Muss sich mit Verzweiflung quälen, einsam seine Tränen zählen, nein, das ist mir jetzt zu dumm, besser ist es andersrum. Drum werde ich das Verlieben lassen und mich einfach lieben lassen.
Warte frei und ungeliebt, bis sich wer in mich verliebt. Dadurch kann ich selbst entscheiden, jeden Liebesschmerz vermeiden. Lieb ich auch, ist´s angenehm, lieb ich nicht – nicht mein Problem.
Bleib gelassen, bleibe heiter, das Leben geht ja dennoch weiter. Ich werde das Verlieben lassen und mich lieber lieben lassen.
Liebe kann so einfach sein.
»Genauso werde ich es in Zukunft halten. Schluss mit der Liebe und dem ganzen Drumherum«, murmle ich, stehe auf und lasse einen Kaffee durch die Maschine laufen. Ich nehme die Tasse mit hinaus auf die überdachte Terrasse. Die Sonne scheint seit Tagen nicht. Es ist ein trübseliges Wetter. Regenverhangen, dunkle Wolken und alles Grau in Grau. Genauso sieht es auch in mir aus.
Ich nehme die grüne Wolldecke, von der Sonnenliege, wickle mich darin ein und setze mich auf einen der Gartenstühle. Langsam trinke ich den Kaffee, zünde eine Zigarette an und blase den Rauch in den trostlosen, grauen Himmel. Meine Gedanken schweifen zurück in die Vergangenheit. Zurück zu meiner Kindheit, meinen Ehen, meinen Erlebnissen. Zurück zu dem Schmerz, der Trauer, dem Leid. Hin zu den Freuden, der Liebe, den Begegnungen und Wundern.
Nachdem ich als vierzehnjährige Mädchen beim Jugendamt vorgesprochen hatte, wurde vonseiten der Sozialarbeiterin sofort gehandelt. So entkam ich dem sexuellen Missbrauch des Vaters, dem ich die letzten fünf Jahre ausgesetzt war. Wahrscheinlich fand der Missbrauch schon viel früher statt, nur erinnere ich mich nicht daran. Ebenso entkam ich der gnadenlosen Prügel, die beide Elternteile mir zufügten, seit ich denken konnte. Die Sozialarbeiterin telefonierte über eine Stunde, in der ich auf dem Flur vor ihrem Büro gewartet habe. Sie fand eine Unterbringung, die mich aufnehmen würde.
Ich kam in ein Mädchenheim, in dem ich zweieinhalb Jahre blieb. Für mich waren die Regeln und Hausordnung neu, und es dauerte, bis ich mich daran gewöhnt hatte, dass man nicht tun und machen konnte, wie einem der Sinn stand. Anfangs war ich verblüfft, dass die Strafen, wenn man aus der Reihe tanzte, nicht aus Schlägen bestanden, sondern aus Zimmerarrest. Ich ging in die hauseigene Schule und machte ein Jahr später meinen Abschluss. Anschließend erlernte ich den Beruf Stenokontoristin.
Heutzutage gibt es diese Berufsbezeichnung nicht mehr. Was ich damals lernte, bringt man heute den Schülern in der kaufmännischen Wirtschaftsschule bereits im ersten Jahr bei. Wie dem auch sei, mir stand so manche Tür offen. Ein Notar wollte mich als Anwaltsgehilfin einstellen, ein amerikanischer Konzern bot mir eine Stelle in der Verwaltung an. Ich hätte von da ab, bis zu meiner Volljährigkeit, in einem betreuten Wohnen gelebt.
Die Alternative wäre eine Heimunterbringung in einer anderen Stadt gewesen. Dort könnte ich bis zur Volljährigkeit die Hauswirtschaftsschule besuchen und danach die wenigen Monate bleiben, damit ich im Sommer den Abschluss machen könnte.
Ich entschied mich für das andere Heim. Ein zweites Standbein zu haben, schien mir lohnenswert. Und damit nahm das Schicksal seinen Lauf.
Wie bereits im vorherigen Heim gab es auch in dem neuen mehrere Gruppen mit jeweils circa fünfzehn Mädchen. Erstaunt stellte ich fest, dass es dort keine Nonnen gab. Es gab Erzieherinnen, die total anders als die Schwestern waren. Alles war lockerer. Kein wöchentlicher Beichtstuhl. In die Kirche ging, wer wollte. Man hatte Ausgang, bekam das Taschengeld in die Hand, und ich hatte ein Einzelzimmer. Das war für mich neu, da ich noch nie ein Zimmer für mich alleine hatte. Weder in meinem Zuhause, noch in dem vorherigen Heim.
Ella und ich waren in der gleichen Gruppe, wir freundeten uns schnell an. Sie war reifer als ich, hatte einen Freund, der in einer anderen Stadt seinen Wehrdienst ableistete. Wir hatten zwar Ausgang, aber eben nicht länger als zwei Stunden am Tag. Niemals hätte sie es in dieser Zeit geschafft, ihn zu besuchen. Deshalb schmiedete sie einen Plan. Ella wollte abhauen. Da sie aber nicht alleine weglaufen wollte, um den Freund zu sehen, bat sie mich, mitzukommen. Abhauen, oder wie es bei den Mädchen hieß, „auf dem Satz sein“, war für mich etwas, mit dem ich mich nie beschäftigt hatte. Ich war froh, dass ich meinem desolaten Zuhause, der Prügel und dem Missbrauch entkommen war. Es gab keinen Grund für mich wegzulaufen. Warum auch? Es ging mir gut, ich hatte ein Zimmer, Kleidung, Freunde, die Fächer in der Schule waren für mich leicht zu lernen. Ich war froh, in den Heimen eine Zuflucht gefunden zu haben. Dennoch konnte mich Ella überreden.
In einer kalten Novembernacht verließen Ella und ich heimlich das Heimgelände.
Wir standen an einer belebten Straße und hielten den Daumen hinaus. Wollten zu der Stadt trampen, dort, in der ihr Freund stationiert war. Schnell kamen wir voran.
Die Menschen, die uns mitnahmen, waren freundlich. War es kindliche Dummheit, oder schlicht und einfach Naivität, weil ich keinen Gedanken daran verschwendete, dass es auch Menschen gab, die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit vortäuschten, weil sie etwas ganz anderes wollten? Doch zu dieser Zeit machte ich mir darüber keine Gedanken, obwohl mich mein Zuhause und vor allem mein Vater, etwas anderes gelehrt hatte.
Ellas Freund reagierte ungehalten, als sie am Tor stand und dem Soldaten, der Wache hielt, solange auf die Nerven ging, bis er ihn telefonisch herbeirief. Die Enttäuschung stand meiner Freundin ins Gesicht geschrieben. Ihr Freund war wütend, schrie Ella an, sie sollte zurück in das Heim gehen. Er würde Schwierigkeiten bekommen, die er nicht wollte. Es ging hin und her, Ella weinte, schließlich machte er mit ihr Schluss und ließ sie am Tor stehen.
Lange konnte sich Ella nicht beruhigen. Ich versuchte sie zu trösten, wusste aber auch nicht wirklich, was ich ihr sagen sollte. Im Nachhinein fand ich die ganze Idee und den Ausgang nur noch blöde. Spät am Nachmittag wollten wir zurück trampen. Im Heim hatte man unsere Abwesenheit bemerkt. Allerdings gab es noch keine Vermisstenanzeige. Die Heimleitung hatte zwar unsere Jugendämter benachrichtigt, sich aber geeinigt, vierundzwanzig Stunden zu warten, bevor man weitere Schritte einleitete. Aus Erfahrung wussten sie, dass Mädchen manchmal verschwanden und wieder reumütig zurückkehrten. Oft wollten sie sich mit Jungs treffen oder Verwandte besuchen.
Wir stiegen in viele Autos, lernten beim Trampen verschiedene Menschen kennen. Einige waren hilfsbereit, mit anderen erlebten wir den puren Horror. Nach diesen Erlebnissen wusste ich, es gab nicht nur meine Eltern, die widerwärtig sind. Es gab Männer, die brutal einfordern, was sie begehren. Ein Mann nahm uns mit, dem wir die gleiche Geschichte erzählten, die wir uns zurechtgelegt hatten und jedem erzählten, der uns mitnahm. Wir wollten zu einem Klassentreffen und das Geld für ein Ticket bei der Bahn sparen. Die meisten glaubten uns. Wurde diese Aussage hinterfragt, lächelten wir sie weg. So auch bei diesem Mann, der uns anbot, in seinem Wohnwagen zu übernachten, der außerhalb der Stadt auf einem Campingplatz stand. Am nächsten Morgen hole er uns ab und könnte uns ein Stück mitnehmen, da er in die Richtung fahren würde, in die wir auch wollten. Naiv sagten wir zu und freuten uns, für die Nacht ein Bett zu haben, in dem wir schlafen konnten. Alles war besser, als in einer eiskalten Novembernacht draußen zu sein.
Auf dem Campingplatz war nirgends Licht zu sehen, nicht einmal die Wege zu den Parzellen waren beleuchtet. Kaum im Wohnwagen schloss der Mann die Tür ab und machte den Vorschlag, wir könnten uns ein bisschen gemeinsam amüsieren. Ella verzog angewidert das Gesicht und forderte ihn auf, die Tür zu öffnen, da wir gehen wollten. Ich versuchte, an ihm vorbeizukommen, doch er schubste mich zurück. Daraufhin gab es ein Handgemenge und wir schrien auf ihn ein, er solle uns gehen lassen. Der Mann wurde immer gewalttätiger, schlug nach uns und drohte, wir würden es bereuen, sollten wir nicht leiser sein und die Dinge geschehen lassen. Angst, Wut und Hass, stürzten auf mich ein. Ich fühlte mich in meine Kindheit zurückversetzt, sah das kleine neunjährige Mädchen, das dem Vater hilflos ausgeliefert war. Nach über drei Jahren, in denen ich keinen Kontakt zu meiner Familie hatte, lebte alles in Sekundenbruchteilen wieder in mir auf. Doch diesmal wollte ich es nicht hinnehmen. Ich kämpfte die Hilflosigkeit und die Angst nieder. Zitternd zog ich eine der Schubladen auf, griff nach einem langen Brotmesser und hielt es mit beiden Händen vor meine Brust. Ich schrie wie von Sinnen:
»Lass uns raus! Lass uns sofort gehen, oder ich steche dich ab, du Schwein!«
Der Mann wurde blass, trat zurück, hob beschwichtigend die Hände und gab den Weg frei. Bevor ich die Stufe hinabgehen konnte, schlug er mir mit der Faust in den Rücken, sodass ich hinunterfiel. Ella half mir auf, schimpfte wüst und laut, bis wir den Platz verlassen hatten. Der Mann blieb am Rand seiner Parzelle stehen und sah uns nach. Wir hatten Glück, großes Glück. Das war uns bewusst. Diese Situation hätte schlimm ausgehen können. Es dauerte eine Weile, bis ich bereit war, mich wieder neben Ella auf die Straße zu stellen, um den Daumen herauszuhalten. Solch ähnliche Erlebnisse hatten wir noch weitere Male. Wir können beide froh sein, dass es nie zum Schlimmsten kam. In dieser Nacht, als wir den Campingplatz verließen, stellte das Schicksal wieder eine Weiche.
Wir lernten einen jungen Mann kennen, der uns in seiner grünen Ente mitnahm. Er war ein lockerer Typ, scherzte und erzählte von sich. Sein Lachen war ansteckend, in seinem Verhalten gab es nichts, das uns aufmerken ließ. Wir vertrauten Charly und erzählten ihm die Wahrheit. Es war das erste Mal, dass wir nicht von einem Klassentreffen sprachen. Er hörte uns zu und machte einen Vorschlag, den wir müde und erschöpft annahmen. Charly kannte einen Arbeitskollegen, der in seinem Alter war. Beide Elternteile waren kurz hintereinander verstorben, sodass er alleine in seinem Elternhaus lebte. Zu ihm wollte er uns bringen. Ella und ich waren hundemüde, wollten endlich schlafen, ohne Angst zu haben, jemand fällt über uns her. Wir sagten Charly, er soll zu besagten Freund fahren. So lernten wir Hannes kennen.
Ella verliebte sich sofort in Hannes, der uns ohne viele Fragen zu stellen, aufnahm. Es war eine tolle Zeit. Wir gingen in die Disco, die einzige in dem Städtchen im Schwarzwald, lernten Freunde und Arbeitskollegen von Hannes und Charly kennen. Man lud uns ein, zahlte die Getränke, da sie wussten, dass wir kein Geld hatten. Irgendwie schienen wir für die Leute von einem anderen Stern zu kommen. Alle hatten anscheinend ein intaktes Familienleben, Heime kannten sie nur vom Hörensagen. Ella und ich waren die, die bereits einiges erlebt hatten und man hörte uns gespannt zu. Damals fanden wir es toll, im Mittelpunkt zu stehen, und ja, wir haben es genossen, zumal wir doch um einige Jahre jünger waren als unsere Zuhörer. Ob es einer von diesen Leuten oder deren Freunde oder Familien waren, die beim Polizeirevier am Marktplatz angerufen hatten, weiß ich nicht. Wie auch immer die Beamten von uns erfahren haben, die Mühlen des Gesetzes begannen sich zu drehen. Ella und ich ahnten nichts davon. Wir lebten knapp zwei Wochen bei Hannes, als die Polizeibeamten am frühen Vormittag vor der Tür standen, um uns abzuholen. Anscheinend hätten Nachbarn sie informiert, da sie sich Sorgen machen würden. Sie erzählten dem Revierleiter, dass zwei Mädchen bei Hannes wohnten, die noch halbe Kinder seien. Die viel zu jung aussahen, um bei einem Mann zu leben. Der Beamte hatte herausgefunden, aus welchem Heim wir abgehauen waren. Er kannte unsere Namen, wusste, welche Jugendämter für uns zuständig waren und wie die Sozialarbeiter hießen, die uns betreuten.
Zurück im Heim schmiedeten wir Pläne, wann wir wieder davonlaufen würden. Zuerst aber hatten wir für eine Woche Zimmerarrest. Nach dem Unterricht durften wir in den Speisesaal zum Essen, danach ging es ins Zimmer, Ausgang war ebenfalls gestrichen. Ella wollte zurück zu Hannes, der Soldat gehörte der Vergangenheit an. Auch mir gefiel dieses Leben bei Hannes. Niemand, der einem Vorschriften machte, keiner, der Anweisungen gab. Einzig, dass ich kein Geld hatte, ärgerte mich, denn bisher kam für Lebensmittel und Zigaretten Hannes auf. Um wenigstens etwas zurückzugeben, räumte ich auf, wusch Wäsche, putzte die Fenster, wischte und saugte die Böden, wenn wir wieder aus dem Heim weggelaufen und nach vielem Trampen wieder bei ihm gelandet waren. Nach dem Zimmerarrest waren Ella und ich mit dem Planen beschäftigt, wann wir wieder abhauen wollten. Und wir liefen oft weg. Irgendwann erklärte die Heimleitung unseren Sozialarbeiterinnen von den Jugendämtern, dass sie uns nicht mehr aufnehmen würde. Daraufhin sorgten diese dafür, dass wir in verschiedenen Heimen untergebracht wurden. Das hielt uns dennoch nicht ab, wieder abzuhauen und zurück in den Schwarzwald zu trampen. Ich wechselte ständig die Heime, die sich in ganz Deutschland befanden, und hörte bald auf, sie zu zählen oder mir die Namen und Städte zu merken. Manchmal habe ich nicht mal ausgepackt und bin sofort wieder getürmt, sobald sich eine Fluchtmöglichkeit ergab. Ebenso war es bei Ella.
Ich war wieder mal bei Hannes. Ella wollte in den nächsten Tagen ebenfalls kommen. Ob wir uns sehen würden, war fraglich, da ich nicht wusste, wann mich die Polizeibeamten wieder abholen würden. Doch sie kamen nicht. Stattdessen erhielt ich nach circa zwei Wochen einen Brief vom Jugendamt. Ich war noch keine siebzehn, da teilte die Sozialarbeiterin mir in diesem Brief mit, dass sich kein weiteres Heim bereit erklären würde, mich aufzunehmen. Deshalb sollte ich bei Hannes wohnen dürfen. Ich musste mich lediglich vierteljährig bei ihr melden. Das war die einzige Auflage. Ich bekam meine Koffer und den Ausweis zugeschickt und meldete mich daraufhin beim Einwohnermeldeamt unter Hannes Adresse an. Ella blieb im letzten Heim, das sie aufgenommen hatte. Durfte aber an den Wochenenden von Hannes abgeholt werden.
Ich wohnte seit einigen Wochen angemeldet und ganz legal bei Hannes. Um nicht ganz nutzlos zu sein, kümmerte ich mich wieder um den Haushalt, kochte für uns und suchte mir einen Job. Eine Weberei stellte mich in der Produktionshalle ein. An einem verregneten Samstagmorgen schlief ich auf dem Sofa im Wohnzimmer, als mich eine tiefe Stimme weckte, die nach Hannes fragte. Erschrocken riss ich die Augen auf und starrte den jungen Mann an, der sich zu mir setzte. Schmetterlinge! Ja, da waren Schmetterlinge in meinem Bauch. Der Mann gefiel mir. Schwarzes, nackenlanges Haar, blaue Augen, groß, schlank und ein hinreißendes Lächeln auf den Lippen. Ich verliebte mich sofort ihn Patrick. Der begann mit mir zu flirten, und ich schwebte im siebten Himmel.
Patrick kam oft vorbei, langsam kamen wir uns näher. Schon damals war es so, dass sich innerlich etwas in mir sträubte, mehr als Umarmungen und Küsse zu geben. Mir war aber auch klar, dass ein Mann von dreiundzwanzig sich nicht lange mit Händchenhalten aufhalten würde. Irgendwann würde er mehr wollen oder gehen. In mir tobte ein Kampf. Sollte ich den Schritt wagen? Sollte ich mit ihm ins Bett gehen, um das zu machen, vor dem ich so schreckliche Angst hatte?
Es war an einem Abend am Wochenende, und wir lagen im Bett. Patrick streichelte mich an den Armen, am Hals. Seine Hände berührten meine Brüste. Ich ließ es geschehen. Dann wurde er fordernder. Er zog mir den Slip aus. Nackt lag ich neben ihm, und mein Körper versteifte sich. Seine Finger wanderten hinab. Unterhalb des Bauchnabels schob ich seine Hände wieder nach oben. Wieder und wieder versuchte er weiter hinabzukommen. Stunden vergingen. Ich bemerkte, dass er langsam die Lust verlor. Wenn ich jetzt weiterhin so verklemmt bliebe, würde er sich anziehen und gehen.
Ich schloss die Augen, versuchte, mich zu entspannen. Doch dann kamen die Bilder in mir hoch. Ich sah meinen Vater, wie er schwitzend über mir lag. Wie er grob meine Brüste kniff, mit dem Finger den Scheideneingang weiterte. Ich roch seinen Atem, seinen Schweiß. Der Ekel wuchs, die Angst übermannte mich wie ein Tsunami. Patricks Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück. Sanft redete er auf mich ein, versuchte, mich zu beruhigen. Es sei doch das Natürlichste auf der Welt, meinte er. Ja, für ihn, aber bestimmt nicht für mich. Dennoch blieb ich neben ihm liegen. Ich wollte ihn nicht verlieren. Bei seinem nächsten Versuch hielt ich still, atmete flach und schloss die Augen.
Es tat kaum weh. Ich war zwar trocken, und er hatte Mühe in mich einzudringen, aber der große Schmerz blieb aus.
Ich war seit Jahren keine Jungfrau mehr, dafür hatte mein Vater gesorgt.
Ich spürte kein Verlangen, keine Lust, kein Hochgefühl. Dennoch tat ich so, als würde es mir gefallen. Es war das erste Mal, dass ich vortäuschte, Sex gefiele mir. Patrick kam schnell. Keuchend ließ er danach von mir ab, rollte sich von mir herunter.
Sein Sperma floss aus mir heraus. Ich ekelte mich, stand auf, ging ins Bad. Ich duschte so lange, bis nur noch kaltes Wasser kam. Und immer noch fühlte ich mich schmutzig.
Wir taten es immer wieder. Ich lernte schnell, stellte fest, dass das alles schneller vorbeiginge, wenn ich seinen Penis vor dem Verkehr massierte. Das fand ich besser, als selbst berührt zu werden. Damals war ich froh eine Möglichkeit gefunden zu haben, wie man einen Mann schnell befriedigt und er dennoch zufrieden war. Unsere Beziehung hielt knapp drei Monate. Dann kam eine Frau, Anfang dreißig, in Hannes Haus. Sie erklärte, sie sei die Ehefrau von Patrick. Sie wisse von dem Verhältnis und würde es nicht mehr klang- und sanglos hinnehmen. Patrick versuchte zu leugnen, ich saß wie erstarrt auf dem Sofa. Verheiratet! Mein Patrick war ein verheirateter Mann! Jetzt war mir auch klar, warum er nie mit mir ausging, dass sich unsere Beziehung nur in Hannes Haus abspielte. Sie stellte Patrick vor die Wahl. Entweder er ginge mit ihr mit, beendete dieses Theater, wie sie es nannte, oder sie ginge zum Anwalt, und er könnte seine Habseligkeiten bei ihr abholen.
Er ging mit ihr. Ich wollte sterben. Ich kam mir benutzt und verraten vor.
Ich sah Patrick nicht mehr wieder. Nur schwer kam ich über diesen Verrat hinweg.
In einer Disco lernte ich Roland kennen. Wir tanzten miteinander und schon bald standen wir draußen in einer dunklen Ecke und küssten uns. Er wollte noch in derselben Nacht mit mir schlafen, doch ich weigerte mich, mit ihm mitzugehen. Schon am nächsten Tag trafen wir uns wieder. Es folgten einige Dates. Wir gingen Essen, Tanzen, ins Schwimmbad. Roland war sehr zurückhaltend, anders, wie an unserem ersten Abend. So dauerte es mehrere Wochen, bis wir auf eine Anhöhe fuhren, von der wir hinunter in die Stadt blickten. Auf der Rückbank liebten wir uns. Wieder versuchte ich, die Sache eilig hinter mich zu bringen. Roland war ziemlich unerfahren und kam recht schnell. Als er wieder zu Atem kam, erklärte er mir, dass er nun hoffte, über den Verlust seiner Ex-Freundin hinwegzukommen.
Wie bitte? War ich wieder nur ein billiges Spielzeug gewesen? Roland bemerkte nicht, was in mir vorging. Munter plauderte er drauf los. Seine Freundin hätte einen Tag bevor wir uns kennenlernten, mit ihm Schluss gemacht. Sie war seine Sandkastenliebe. Die Zeit, die er mit mir verbrachte, lenkte ihm von seinem Herzschmerz ab. Er versuchte, das alles schönzureden, brach dann aber in Tränen aus. Er hätte seine große Liebe betrogen, er wollte zu ihr zurück, könnte ohne sie nicht leben.
Ich stieg ohne ein Wort zu sagen aus den Wagen, lief den Abhang hinunter. Roland folgte mir nicht, dies hatte ich auch nicht erwartet.