1,99 €
Wo ist Nadja?
Die zehnjährige Tochter von Leo starb bei einem schrecklichen Unfall. Kurz darauf scheiterte seine Ehe. Er zog sich von Freunden und Angehörigen zurück.
Sechs Jahre später sah er in einem Park dieses Mädchen, das Jessy so sehr ähnelte, eine ältere Version von ihr war. Zuerst verwirrte ihn das, doch dann nahm ein abstruser Plan in seinem Kopf Gestalt an.
Er wollte sie haben! Musste sie haben!
Die Realität wurde zur Lüge, Komplotte und Verschwörungen zur Wahrheit.
Leo entführte Nadja, wollte, dass sie sich erinnert. Das Mädchen kämpfte verzweifelt gegen den Identitätswechsel an und dachte nur an Flucht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das Werk einschließlich aller Inhalte ist urheberrechtlich geschützt. Ähnlichkeiten mit wahren Begebenheiten und oder Personen sind Zufall.
Nachdruck oder Reproduktion (auch auszugsweise) in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder anderes Verfahren) sowie die Einspeicherung, Verarbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung mithilfe elektronischer Systeme jeglicher Art, gesamt oder auszugsweise, ist ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin untersagt.
Alle Rechte vorbehalten © Oktober 2020
Impressum
Text: Wine van Velzen
Covergestaltung: Wine van Velzen
Wo ist Nadja?
Seine Tochter starb bei einem schrecklichen Unfall. Kurz darauf scheiterte seine Ehe. Leo zog sich von Freunden und Angehörigen zurück, gab seinen Beruf als Lehrer auf. Sechs Jahre später sah er dieses Mädchen, das Jessy so sehr ähnelte, eine ältere Version von ihr war. Er hatte sie beobachtet, wusste,
wo sie lebte, dass sie oft in der Schule fehlte und sich mit Außenseitern herumtrieb.
Er wollte sie haben – musste sie haben!
Ein abstruser Gedanke nimmt Gestalt an, und er verfällt ihm hoffnungslos. Leo war überzeugt, der Unfall wäre fingiert gewesen, Jessy lebte und wurde einer Gehirnwäsche unterzogen.
Nachdem er Nadja entführt hat, will er, dass sie sich erinnert. Doch das Mädchen weigert und wehrt sich gegen den Identitätswechsel und kämpft um ihre Freiheit.
Leo verlor sich in einer Welt aus Verschwörungen und Komplotte und ließ die Realität nicht mehr zu.
Ein brisanter Thriller, der tief in die absurden Gedanken des Entführers eintaucht.
Wo ist Nadja?
JESSY
»Papa, gibt es auf dem Rummelplatz auch ein Karussell?«, fragte Jessica aufgeregt, und ihre Wangen nahmen eine rosa Farbe an.
»Ja, es gibt ein Karussell, mein Schatz und viele andere Attraktionen. Auch Zuckerwatte und gebrannte Mandeln wirst du bekommen, wenn du möchtest.«
Jessy jauchzte vor Freude und zappelte ungeduldig auf ihrer Sitzerhöhung herum. Mit ihren knapp zehn Jahren war sie ein aufgewecktes und neugieriges Kind, und sie liebte ihre Puppe Selma, die sie im Arm hielt. Das Mädchen nahm diese Puppe überall mit hin, und sie schlief neben ihr im Bett. Einige Kinder lachten Jessy aus, weil sie so sehr an Selma hing, doch es war ihr egal. Die Puppe war für sie die kleine Schwester, die sie nicht hatte.
Der Ausflug mit den Eltern war seit Wochen geplant, und das kleine Mädchen hatte jeden Tag ein rotes Kreuz auf das Kalenderblatt gemalt und die Tage gezählt. Doch dann kam es anders, als es die Familie vorhatte. Ein wichtiger Termin kam Anna in die Quere. Sie war Immobilienmaklerin und ausgerechnet an diesem Samstag wollte ein Ehepaar eines der Häuser besichtigen, die sie auf ihrer Website zum Kauf anbot. Zuerst wollten die Eltern den Ausflug auf Sonntag verschieben, aber Jessica wollte am Samstag dorthin. Zu lange hatte sie sich auf diesen Tag gefreut und wollte nicht länger warten. Anna und Leo gaben schließlich Jessys Betteln nach, und so fuhr sie nur mit ihrem Vater Richtung Rummelplatz. Wenn die Besichtigung schnell voranginge, wollte Anna nachkommen.
Die Ampel schaltete von Grün auf Orange. Leo beschleunigte. Nur noch über die Kreuzung, dann abbiegen und kurz darauf könnten sie auf dem großen Parkplatz aussteigen und zum Festplatz laufen. Plötzlich gab es einen lauten Knall, und der Wagen geriet ins Schleudern. Das Kind schrie erschrocken auf. Es klammerte sich an der Puppe fest. Hektisch riss Leo das Lenkrad herum, trat hart auf die Bremse. Der Wagen drehte sich um die eigene Achse. Die Bremsen kreischten auf, die Reifen hinterließen auf dem Asphalt Gummispuren. Jessy wurde bleich vor Schreck, um sie herum drehte sich alles. Ihr kleiner Körper wurde zur Seite gepresst, sie spürte das kalte Glas der Seitenscheibe auf ihrer Wange. Sie kniff die Augen zu, und ein leises Wimmern schlüpfte über ihre Lippen. Dann blieb der Wagen stehen. Autos hupten. Leo drehte sich zu ihr um.
»Alles in Ordnung mit dir, Schatz?«
Jessica öffnete die Augen und nickte verstört.
»Ein Reifen ist geplatzt, das ist nicht schlimm. Ich werde den Wagen von der Kreuzung schieben, danach gehen wir das letzte Stück zu Fuß, es ist ja nicht mehr weit«, erklärte der Vater und versuchte seine eigene Aufgeregtheit zu überspielen.
Wieder konnte das Mädchen nur nicken. Leo lächelte seiner Tochter aufmunternd zu und stieg aus dem Wagen. Es war nichts passiert, das einen den Tag vermiesen konnte, dachte er. Entweder würde er den Reifen nach dem Rummelbesuch selbst wechseln oder eine Werkstatt anrufen. Zur Not könnte auch Anna sie abholen, falls sie nicht schon vorher zu ihnen stieß.
Einige andere Fahrer hatten ebenfalls ihre Fahrzeuge verlassen. Sie eilten zu Leo, wollten helfen, das Auto von der Kreuzung zu schieben.
Müde gähnte der Mann in seinem Führerhaus. Wieder hatte er die Fahrzeit überschritten, die Pausen viel zu kurzgehalten, nur um schneller nach Hause zu kommen. Der Rücken schmerzte ihm, die Tabletten halfen kaum noch. Trotz des ergonomischen Fahrersitzes hatte er einen Bandscheibenvorfall. Dieses Leiden und andere Wirbelsäulenschädigungen hatten viele LKW-Fahrer, die, wie er, lange Touren fuhren. Seine Frau und die beiden Söhne hat er über zwei Wochen nicht mehr gesehen. Bis nach Spanien war er gefahren, um Kisten mit Ersatzteilen in einem deutschen Werk abzuliefern. Danach fuhr er mit leerem Anhänger bis nach Frankreich. Dort wurde er neu beladen. Die Fracht musste nach Hamburg transportiert werden. Bevor er zur Hansestadt fuhr, würde er zwei Tage bei seiner Familie verbringen. Er sehnte sich nach ihr. Nur noch knappe dreißig Kilometer, dann konnte er seine Liebsten wieder in die Arme schließen.
Die Straße war kaum befahren, vor ihm kein weiteres Fahrzeug. Unbewusst drückte er das Gaspedal weiter hinunter. Die Tachonadel kletterte auf siebzig. Er war zu schnell, viel zu schnell, denn er hatte die Stadtgrenze bereits überfahren. Aus dem Augenwinkel sah er den Rummelplatz. Das Riesenrad ragte hoch empor, und der Mann lächelte. Er sah hinüber und nahm sich vor, mit Frau und Kindern hinzugehen. Es würde seinen Jungs spaßmachen, davon war er überzeugt. Anschließend würden sie bei MC Donald essen, denn die Kinder liebten dieses Fast Food und das kleine Spielzeug, das sie bei der Bestellung dazubekamen. Im Radio sang Andrea Berg, und er lächelte. Etwas vor ihm ließ seinen Blick zurück auf die Straße gleiten. Erschrocken trat er auf die Bremse, um den schwer beladenen Lkw zu stoppen, dabei hielt er krampfhaft das Lenkrad fest.
NEIN, schoss es ihm durch den Kopf.
Menschen riefen, Autos hupten, doch es war zu spät.
Jessy sah den großen Lastwagen, wollte den Sicherheitsgurt instinktiv lösen, doch der Gurt blockierte, als sie ihren Oberkörper ruckartig nach vorn bewegte. Nur wenige Zentimeter trennten ihre kleinen Finger von dem Verschluss. Entsetzt und voller Angst schrie sie nach ihrem Vater. Der drehte den Kopf und sah das verheerende Unglück mit quietschenden und rauchenden Rädern auf sie zu rasen.
Die Angst in Jessy schoss durch ihr rasendes Blut, ihr Herz klopfte hart gegen die Brust. Verzweifelt versuchte sie, mit der Hand den Verschluss zu erreichen, doch der Gurt lockerte sich nicht, gab nicht nach. Leo riss die Fahrertür auf, wollte den Sitz nach vorn schieben, die Lehne umklappen, damit er sein Kind aus dem Wagen holen konnte.
Das Kreischen der Bremsen wurde lauter, nur noch Sekunden, bis der Lkw auf die Kreuzung schießen würde. Leo wurde vom Wagen weggerissen. Er und der Mann, der ihn gepackt hatte, fielen wenige Meter weiter auf den Asphalt. Jessy starrte aus dem Fenster. Der riesige Lkw schoss auf sie zu, das Führerhaus wurde größer und größer. Mit aufgerissenen Augen sah sie einen Mann hinter dem Lenkrad sitzen, der sie aus einer vor Angst und Schrecken entstellten Fratze entsetzt ansah.
Mit aller Kraft riss der Fahrer das Lenkrad herum. Der Hänger stellte sich quer, fiel um und zog das Führerhaus mit sich. Es schlitterte mit gewaltigem Schub direkt auf Jessica zu.
Das kleine Mädchen presste Selma an sich und starrte dem Fahrer mit starrem Blick in die Augen.
Der Aufprall war entsetzlich. Blech und Metall krachten aufeinander, die geöffnete Tür auf der Fahrerseite des kleinen Hyundai wurde abgerissen, flog über die Kreuzung. Blech wurde eingedrückt. Glas platzte, Scherben flogen umher. Der Lkw und der Kleinwagen schlitterten ineinander verkeilt über die Kreuzung.
Jessy schrie in wilder Panik und voller Verzweiflung nach ihrem Vater. Leo rappelte sich auf, er wollte zu seiner Tochter. Hände griffen nach ihm, zerrten ihn zurück auf den Boden, hielten ihn fest. Er versuchte, den Griffen zu entkommen, und schrie in Todesangst den Namen seines Kindes. Die verkeilten Fahrzeuge schliffen von der Straße über den Bürgersteig. Ein Pfeifen, Kreischen, Brüllen und Röhren ließ die Luft vibrieren. Die Menschen hielten den Atem an, konnten nur fassungslos zusehen.
Eine Hausmauer stoppte die Fahrzeuge. Das Auto wurde kreischend vom Führerhaus des Lkws gegen die Wand geschoben. Es zermalmte mit brachialer Kraft den Wagen, schob ihn an der Mauerwand in sich zusammen, die Heckscheibe barste. Stöhnend und ächzend, verbogen sich Blech und Metall. Es faltete sich leicht wie ein Blatt Papier, ließ den Innenraum zusammenschrumpfen. Der verheerende Unfall, bis zum Zusammendrücken des kleinen Wagens, dauerte nur wenige Sekunden, obwohl die Zeit fast still zu stehen schien, und in Zeitlupe ablief.
Blut, in dünnen Rinnsalen, sickerte aus dem Wrack, bildete eine Lache unter ihm. Der LKW-Fahrer schrie und heulte. Er trat die Beifahrertür auf und kroch zitternd aus dem Führerhaus heraus. Niemals würde er den hoffnungslosen Blick des kleinen Mädchens vergessen, bevor der Kleinwagen unerbittlich zusammendrückt, wurde. Niemals würde er ihre vor Angst aufgerissenen Augen vergessen, die ihn anflehten, anzuhalten. Niemals, nein niemals würde er diesen furchtbaren Unfall vergessen, der einem kleinen Mädchen den Tod brachte.
Auf dem Gehweg kniend, kotzte er sich die Seele aus dem Leib, danach bedeckte er mit den Händen sein Gesicht. Selma, die Puppe, lag unversehrt neben ihm. Sein lautes Weinen wurde von den irren, animalischen Schreien von Jessys Vater übertönt.
Nur wenige Sekunden benötigte es, um das einzige Kind von Leo zu töten. Doch nicht nur sie starb an diesem wunderschönen, sonnigen Tag, der Freude statt den Tod bringen sollte.
LEO
Er war Lehrer in einer Gesamtschule und unterrichtete Erdkunde und Deutsch. Die Kinder und deren Eltern mochten ihn. Er war freundlich, gerecht, verhängte keine Strafarbeiten und gab zweimal in der Woche in Deutsch Nachhilfe. Es blieb den Eltern überlassen, ob sie ihre Sprösslinge in dieser Zeit lieber ins Ballett, zum Fußball oder zu anderen Sportaktivitäten brachten oder sie in die Schule schickten. Meistens saßen vier bis fünf Schüler/innen im Klassenzimmer, mit denen er den nicht verstandenen oder zu schweren Stoff durchnahm. Leo Schmied war ein geduldiger Mensch, nichts schien ihn aus der Ruhe zu bringen. Bis zu dem grausamen, entsetzlichen Tag, an dem sein bis dahin glückliches Leben ausgelöscht wurde. Dieser Tag, der ihn in seinen Albträumen heimsuchte, der ihn schweißgebadet und weinend aufwachen ließ. Jener Tag, der das Rad der Zeit anhielt, seine Welt in Schutt und Asche legte. Der Tag, an dem die Zukunft neu geschrieben wurde, weil seine Tochter grausam sterben musste. Dieser Tag, an dem auch er innerlich starb.
Leo sah die vorwurfsvollen Blicke seiner Frau Anna. In ihnen las er die Schuld, die sie ihm gnadenlos zuschrieb. Ja, er war schuld, er ganz alleine! Er wusste es, sagte es, schrie es ihr entgegen. Er riss sich büschelweise die Haare aus, zerkratze sich die Arme. Er hämmerte den Kopf gegen die Wand. Albträume ließen ihn immer und immer wieder den Unfall aufs Neue erleben.
Tränen der Verzweiflung, der Wut und des Hasses flossen über die bleichen Wangen des Ehepaares. Anna konnte ihm nicht verzeihen, nahm er ihr doch das Liebste, was sie auf dieser Welt besessen hatte. Leo hatte ihr geliebtes Kind nicht gerettet, ließ es sterben. Anna ertrug die Nähe ihres Ehemannes nicht mehr. Roch sie sein Aftershave im Haus, wurde ihr übel. Sie schlief im Gästezimmer, hörte nachts seine Schreie, wenn er aus den Albträumen erwachte und hielt sich die Ohren zu.
Anna verließ Leo einige Wochen nach der Beerdigung. Er hielt sie nicht zurück, bat nicht, dass sie bleiben solle, er verstand sie nur allzu gut. Alles war auseinandergebrochen, nichts ließ sich mehr kitten. Ihr gemeinsames Leben hatte keine Zukunft mehr.
Nur Selma blieb bei ihm. Er schleppte die Puppe mit sich herum, presste sie an sich, seine Tränen benetzten ihr Kleidchen, schon bald verblassten die Farben des Stoffes.
Mit Psychopharmaka, die ihm verschrieben wurden, sollte Leo die leeren Tage und die Albtraum geplagten Nächte überstehen, so sollte die Trauer eingedämmt werden. Das Leben musste weitergehen, auch für ihn.
Er irrte wie ein Betrunkener durch die Straßen, redete wirres Zeug, weinte und schrie seine Verzweiflung heraus. Die Menschen sahen weg. Er wusch sich nicht mehr, wechselte die Kleidung nicht, saß stundenlang im Schlafzimmer auf dem Bett und drückte Jessys Puppe an sein schmerzhaft stechendes Herz.
Zweimal hatte Leo eine Therapie zur Trauerbewältigung abgebrochen. Auch in einer Gruppe mit hinterbliebenen Eltern fand er keinen Halt. Die Trauer der anderen interessierte ihn nicht, er konnte mit ihr nichts anfangen. Die Tränen und das Leid dieser Eltern prallten an ihm ab. Er war gefangen in seinem eigenen Schmerz. Leo schlief kaum noch, vernachlässigte sich, war krankgeschrieben. Nach drei Monaten ließ er sich vom Unterricht freistellen. Der Rektor war erleichtert, als Leo mit einem kleinen Karton, in dem seine wenigen Habseligkeiten aus dem Klassen- und Lehrerzimmer lagen, den Pausenhof überquerte, zu seinem Wagen ging und davonfuhr. Nach all den Krankmeldungen und Urlaubstagen bekam er auch kein Gehalt mehr. Es war ihm gleichgültig. Das Haus und ein kleines Vermögen hatte Leo von seinen Eltern geerbt, er war schuldenfrei und konnte finanziell sorgenfrei leben. Anna erhob nie Anspruch auf einen Teil des Erbes, obwohl sie keine Gütertrennung hatten. Sie wollte nichts von ihm haben. Alles, was sie von ihm angenommen hätte, wäre ein Teil in ihrem neuen Leben. Anna wollte Leo keinen Platz darin geben.
Sie verdiente genug und zog in Betracht nach Spanien auszuwandern, um ein Maklerbüro zu eröffnen. Weg von all den Erinnerungen, weg von Leo, dem sie niemals verzeihen konnte. Weg von der Trauer, die ihr Herz in Stücke riss, weg von den Erinnerungen, weg von Jessy.
Sechs Jahre später erhob sich das Schicksal erneut. Die Tränen versiegten fast gänzlich, ein zarter, leiser Frohsinn zog in Leos Herz, nahm ihm einen Teil des Schmerzes und der Trauer. Er wollte wieder am Leben teilhaben. Wollte wieder unterrichten, doch bis es so weit war, musste Zeit vergehen, in der er sich wieder zurechtfinden musste.
NADJA
Wie so oft in letzter Zeit war die knapp Sechzehnjährige nicht in der Schule. Ob sie das Klassenziel erreichen würde, bezweifelte sie stark. Die Noten rasten in den Keller, und sie hielt den Absturz nicht auf. Alles war ihr egal geworden. Seid ihr Vater erklärte, er habe eine Freundin und kurz danach auszog, hatte sie jede Perspektive verloren. Genau so erging es auch ihrer Mutter Julia. Der Alkoholspiegel stieg nach der Trennung bei ihr hoch und höher. Meist lag sie betrunken auf dem Sofa, starrte in den Fernseher oder weinte vor sich hin. Nadja hielt die Situation kaum aus, wusste aber auch keinen Ausweg aus dem Dilemma, in dem ihre Mutter und sie steckten. Wenn das Mädchen das Erbrochene auf dem Teppich wegwischte, die Mutter vom Sofa hochzog, sie im Schlafzimmer ins Bett legte, hasste es ihren Vater von ganzem Herzen.
Nadja trieb sich oft herum und verbrachte viel Zeit im Stadtpark. Nachts, wenn sie ins Haus schlich, sich ins Bett legte und heiße Tränen weinte, sehnte sie sich nach ihrem Vater, der sie verlassen hatte.
Ein Wechselbad der Gefühle tobte in dem Teenager. Hass gegen Liebe, Verzweiflung gegen Hoffnung. Verbitterung gegen Zuversicht wüteten in ihr, bekämpften sich. Einen endgültigen Sieger gab es nie. Nadja war innerlich zerrissen und viel zu jung, um damit alleine fertig zu werden. Der Alkoholkonsum der Mutter und die daraus resultierende Desinteresse an ihr, verstärkte das Gefühl des Alleinseins. Nur ihre Freunde gaben ihr den dringend benötigten Halt.
NADJAS FREUNDE
Langsam schlenderte Nadja zum Park, in dem ein großer Spielplatz angelegt worden war. Er war ganz in der Nähe der Schule, und sie würde dort ihre Freunde treffen. Joe, Pepe und Ina würden wie jeden Abend da sein, Bier trinken, lachen, reden. Manchmal saßen sie einfach nur auf den Schaukeln und schwiegen. Sie waren die Außenseiter, die, vor denen die Eltern warnten, diejenigen, die von den Jugendlichen beneidet wurden. Pepe und Ina waren wie Nadja Schulschwänzer. Joe hatte die Schule vor einem Jahr abgebrochen.
Ina lebte nach dem Krebstod ihrer Mutter beim Vater, der sie regelmäßig missbrauchte und danach mit Geschenken überhäufte. Ihren Vater anzuzeigen, traute sich die Sechzehnjährige nicht. Heino Gerber war im Stadtrat, der Bürgermeister sein bester Freund. Er war Wirtschaftsprüfer, führte Jahresabschlüsse und Prüfungen für Konzerne und Firmen durch, schrieb Konzernlageberichte. Ein angesehener Mann. Die Menschen sahen in ihm einen einsamen Witwer mit einer aufsässigen Tochter, die ihm nichts als Ärger bereitete. Sie hatten Mitleid mit ihm. Inas Diebstähle in Kaufhäusern und Boutiquen, ihr Schulschwänzen und die große freche Klappe wurden dennoch als Bagatellen geahndet. Anzeigen wurden zurückgezogen, großzügige Geschenke wechselten den Besitzer. Eine Fünf in Chemie wurde nach einem Gutschein für ein Wellnesswochenende zu einer Drei Minus. So und ähnlich lief es ab, wenn es darum ging, dass Anzeigen zurückgezogen und Noten verbessert werden mussten. Diese Geschenke ließ sich Gerber von seiner Tochter teuer bezahlen. Das Mädchen wurde vom Vater sexuell missbraucht und regelmäßig vergewaltigt.
Keiner wusste von dem perversen Charakter, den Heino Gerber gut zu verstecken wusste. Bereits im Kindergartenalter hatte er Ina so berührt, wie es ein Vater nicht tun sollte. Mit neun Jahren musste sie ihn oral befriedigen, mit zwölf vergewaltigte er sie das erste Mal. Die Mutter wusste es, doch der Krebs begann zu streuen, und sie hatte andere Sorgen und nicht die Kraft Ina beizustehen oder ihren Mann mit samt Tochter zu verlassen. Sie verschloss Augen und Ohren. Das Mädchen war ihrem Vater schutzlos ausgeliefert. Mit achtzehn wollte sie mit der kleinen Erbschaft der Mutter das Haus und ihren Peiniger verlassen und irgendwo neu anfangen. Bis es so weit war, würde sie die Zähne zusammen beißen und den Inzest ertragen.
Pepe und seine Familie stammten aus Sizilien. Seine beiden älteren Brüder waren mit einem Im- und Exporthandel gut im Geschäft. Gleich nach dem Fall der Mauer hatten sie ihre Fühler in den Osten ausgestreckt und in kurzer Zeit ein nettes Vermögen angehäuft. Als das Internet immer interessanter wurde, waren sie eine der ersten, die eine Homepage und Verkaufswebsite hatten. Mit allem, was sie anboten, machten sie Gewinn. Der Vater war das Oberhaupt, sein Wort war Gesetz. Viel Geld floss nach Italien, denn Papa Gino und Mama Maria hatten eine sehr große Familie und allen sollte es gut gehen. Seit Jahren erklärte Gino seinen Söhnen, dass er in sein Haus, das er in Sizilien bauen und einrichten ließ, ziehen würde. Doch Jahr für Jahr kam etwas dazwischen, oder er hatte fadenscheinige Ausreden, warum es nicht zum ersehnten Umzug kam. Dies war den Söhnen nur recht, denn sie hatten keine Ambitionen Deutschland zu verlassen.
Mit dem deutschen Gesetz nahmen es Papa Gino, Pepe und seine Brüder nicht so genau. Es wurde von ihnen großzügig ausgelegt oder umgangen. Nachweisen konnten die Behörden der Familie rein gar nichts, obwohl sie bereits mehrmals in den Fokus der Polizei geraten war. Pepe hatte immer genug Geld in der Tasche, liebte Rotwein und Zigaretten. Beides hatte er auch in den Schulpausen genossen, bis man ihn auf frischer Tat ertappte. Der Brief an die Eltern folgte, die Ohrfeigen seiner Brüder spürte er immer noch. Er versprach Besserung und begann zeitgleich den Unterricht zu schwänzen. Pepe konnte alles besorgen, was sich ein Teenagerherz wünschte. Er war gut aussehend und flirtete mit den Mädchen, tanzte wie John Travolta, prügelte sich wie einst Rocky auf den Straßen. Er hatte selten schlechte Laune und oft zog er mit seinen Späßen die Freunde aus deren düsten Stimmungen. Mit seinem südländischen Aussehen wurde der Sechzehnjährige oft älter geschätzt, was er natürlich ausnutzte, wo immer er konnte. Einzig mit Drogen wollte er nichts zu tun haben. Er wollte sie weder selbst konsumieren, noch verkaufen. Deshalb schlug er alle Angebote aus, die ihm dubiose Typen und Dealer machten. Gaben die nicht nach und bedrängten den Jungen oder bedrohten ihn gar, brachte das Pepes Brüder auf den Plan. Die beiden regelten die, wie sie sagten, Unstimmigkeiten und Pepe wurde in Ruhe gelassen.
Joe war der Ruhige und Besonnene in dieser Clique.
Er konnte spüren, wenn es seinen Freunden nicht gut ging. Mit kleinen Gesten, einer kurzen Berührung oder einem Augenzwinkern zeigte er, dass er der Fels war, auf den sie sich verlassen konnten. Joe hörte zu, gab aber keine Ratschläge. Einmal sagte er:
»Ratschläge setzt sich aus den Worten Rat und Schläge zusammen und Schläge haben wir alle, jeder auf anderer Art, genug eingesteckt.«
Wie ein Therapeut stellte er Fragen, wenn die Freunde von ihren Problemen erzählten. Diese brachten sie zum Nachdenken. Dadurch sahen Pepe, Nadja und Ina oft Wege, die sie einschlagen konnten, um mancher Situation und manchen Problemen auszuweichen oder sie anzupacken. Joe erzählte nur wenig von sich selbst. Er hatte nach der elften Klasse die Schule abgebrochen, trug in den frühen Morgenstunden Zeitung aus. Joe wollte schon bald mit dem Rucksack erst Europa, dann den Osten und den Orient bereisen. Er wollte fremde Kulturen, antike Städte und Bräuche kennenlernen.
Nadja wäre sofort mit ihm gegangen, wenn er nur einmal gefragt hätte. Sie war verliebt in den stillen jungen Mann, der ihr zuhörte, sie und ihre Probleme ernst nahm. Seine Eltern arbeiteten hart, er versorgte seine kleine Schwester in deren Abwesenheit. Während er noch die Schule besuchte, gab er die Kleine bei der Nachbarin ab. Mittlerweile war Sandra zwölf und konnte auf sich selbst aufpassen, es gab genug Schlüsselkinder, wie sie eines war. Joe kochte für sie beide, wusch Wäsche, und gemeinsam hielten sie das kleine Haus sauber. Ihre Eltern kümmerten sich nicht um solche Kleinigkeiten, dafür hatten sie Kinder, die das erledigten. Schon früh haben sie ein Konto eröffnet, auf dem sie regelmäßig Gelder überwiesen, damit Joe einkaufen und auch die Ausflüge und Schulutensilien bezahlten konnte.
Vor zwei Jahren hatte Joe angefangen, etwas von dem Geld abzuzweigen. Er versteckte es in einer Schuhschachtel, die hinter seinen Klamotten im Schrank lag. Hier fünf Euro, da zehn oder auch ab und zu zwanzig. Auch das, was er mit dem Zeitungsaustragen verdiente, wanderte fast vollständig in die Box. Mit diesem Geld wollte er reisen, sich die Welt ansehen. Danach, wenn er zurückkäme, wollte er sein Abi nachholen und später studieren.
Nadja sah ihre Freunde und winkte ihnen zu.
Sie setzte sich neben Ina auf die Holzbank, die neben dem Sandkasten aufgestellt war.
Die beiden Mädchen umarmten sich. Pepe grinste und prostete ihr mit einer Weinflasche zu. Joe hob den Kopf, sah Nadja tief in die Augen und senkte den Blick. Wer genau hinsah, erkannte das kleine Lächeln, das um seinen Mund erschien und dort blieb.
LEO
Was kein Therapeut, keine Selbsthilfegruppe und kein Medikament, erreicht hatte, schaffte Leos Lebenswille. Er hatte sich mit all seiner Stärke erhoben und gekämpft, um die Oberhand über die jahrelangen Depressionen und über die Passivität zu erhalten. Dieser Wille riss Leo Schmied eines Morgens, als er wach in seinem schmuddeligen Bett lag, aus der Lethargie, in die er sich verkrochen hatte. Eine Stimme in seinem Kopf schrie ihn an, sein Leben auf die Reihe zu bekommen. Er sei kurz vor einem Suizid und er, sein Lebenswille, würde das nicht zulassen. Er würde kämpfen und nicht kleinbeigeben.
Stehe auf, Leo! Spüre die Sonnenstrahlen auf der Haut! Lass endlich wieder das Leben in dein Herz einziehen. Die Zeit der Trauer ist vorbei, du musst wieder anfangen zu leben! Jessy kommt nicht wieder zurück, sie ist tot, aber du lebst. Vegetiere nicht länger in diesem Haus, sondern gehe hinaus und lebe! Lebe, Leo! Jetzt, bevor es zu spät ist!
Sein eiserner Wille, der nicht mehr zu ruhen schien, trieb ihn an, gab ihm Aufgaben, die ihn von seinem Kummer ablenkten. Es war ein steiniger Weg, doch Rückschläge wollte sein Wille nicht mehr hinnehmen.
Nach und nach konnte Leo wieder Freude verspüren, wurde wieder neugierig, las Zeitung, sah sich die Nachrichten an. Der ehemalige Lehrer war erschüttert, als er erkannte, was er in den sechs Jahren verpasst hatte. Wie das Leben an ihm vorbeigezogen war, nicht haltmachte, nicht an seiner Tür klopfte.