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Gerhart Hauptmann interpretiert den berühmten Parsival-Stoff neu und verleiht ihm seine persönliche Note - Spannung pur. Parsival wächst bei seiner Mutter in einer Hütte im Wald auf. Entgegen dem Willen seiner Mutter beschließt er in die Welt zu ziehen, um ein Abenteuer zu erleben. Doch als er zurückkehrt, muss er feststellen, dass er von nun an auf sich allein gestellt ist.-
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Seitenzahl: 90
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Gerhart Hauptmann
Saga
Parsival
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1914, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726956535
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
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Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Parsivals Mutter hiess Herzeleide. Ich möchte niemand betrübt machen, aber ich glaube doch, dass man jeder Mutter, aber mindestens sehr, sehr vielen unter ihnen, diesen Beinamen geben könnte. Wie Herzeleide sonst noch hiess und welchem Geschlecht sie angehörte, weiss man nicht. Einige sagen, ihre Familie war ritterlich, andere nennen sie eine Bäuerin, und dann wäre Parsival in seiner Jugend nichts mehr als ein gewöhnlicher Bauernjunge gewesen. Welcher Abkunft Parsival immer sein mochte, er selbst wusste es nicht, und seine Mutter, die es recht gut wissen konnte, verschwieg es ihm. Sie hiess nicht umsonst Herzeleide.
Seine frühen Kinderjahre verlebte Parsival sehr glücklich, denn Herzeleide bewohnte eine kleine Hütte aus Stämmen, tief verborgen in Waldeinsamkeit, eine Hütte, die ihr, Gott weiss, wer? gezimmert hatte. Vielleicht hatte sie Herzeleide selber errichtet, denn sie wusste nicht nur den Spaten und die Rodehaue zu gebrauchen, sondern auch die Axt, und überdies hatte Parsival niemals irgendeinen Menschen ausser ihr zu Gesicht bekommen. Herzeleide scheut keine Arbeit, war ihr Lieblingswort.
Parsival hatte seine Mutter sehr lieb und war, wie gesagt, sehr glücklich in ihrer Hut, trotzdem sie nicht heiter war, nicht herzhaft lachen und nur höchstens einmal den Mund zu einem schmerzlichen Lächeln verziehen konnte. Der frische, gesunde Knabe, dachte nicht weiter darüber nach, liess sich sein Essen schmecken, fühlte sich geborgen, wenn er von seiner Mutter zu Bett gebracht worden war, und hatte am Tage das Kraut- und Blumengärtlein am Haus, die Waldlichtung und die grüne Wildnis ringsum zu einem herrlichen Tummelplatz.
Die ersten zwölf oder dreizehn oder gar vierzehn Jahre seines Lebens brachte Parsival mit Kinderspielen hin. Jedes Kind weiss, was spielen bedeutet, und dass es so ziemlich das Köstlichste auf der Erde ist. Was die Erwachsenen angeht, so sind leider viele von ihnen auf diesem Gebiet ganz unwissend geworden. Dieser und jener unter den Grossen, der Spielen recht wohl zu würdigen weiss, hat sich aber auch schon über den tieferen Sinn des Spielens Gedanken gemacht: es ist eine Tätigkeit, die uns niemand befiehlt und niemand beschränkt, die des groben Nutzens entbehrt und die vielleicht deshalb durch und durch Freude ist.
Parsival war ein starker Junge. Seine Lust war der Sonnenschein, Waldblumen, Vögel, das Klettern auf Bäume, die Holzäpfel, die Wildtaubennester, der Schnee, der Sturm! nicht zu vergessen das kleine und grosse Wild, das den Wald bewohnte und das er bereits im neunten und zehnten Jahr mit List und Mut zu verfolgen begann. Ein solcher Verkehr mit der Natur ist geeignet, das Blut gesund, das Auge fest und weitblickend, die Knochen hart und die Muskeln des Körpers widerstandsfähig zu machen. Deshalb war es gut, dass keine frechen städtischen Lümmels in seine Nähe kamen und ihn etwa mit Redensarten angriffen, denn er hätte ihnen entsetzlich mitgespielt.
Ihn zu verspotten, wäre aus manchen Gründen nicht schwer gewesen. Ob es nun Herzeleidens, seiner Mutter, Absicht gewesen war oder ob es die Umstände gegen ihren Willen bewirkt hatten: der Knabe wusste von Gott und dem Teufel nichts, und wenn er überhaupt darüber nachgedacht hätte, so würde er angenommen haben, dass ausser Herzeleide und ihm kein Mensch auf der Erde sei und dass diese Erde einige Pfeilschuss weit nach jeder Richtung, von der Blockhütte aus gerechnet, zu Ende wäre. Aber so ist es nicht, wie ihr wisst. Die Erde ist überaus weitläuftig und von sehr vielen Menschen bewohnt, die nach Völkern geschieden sind und von denen jedes seine besondere Sprache spricht und sich auch sonst auf mancherlei Weise vom anderen unterscheidet. Aus diesen und anderen Gründen konnte der junge Knabe Parsival sogar unter seinen Altersgenossen für töricht gelten, obgleich seine Torheit in Wirklichkeit nur Mangel an Erfahrung war.
Einen bärtigen Mann, dem er etwa begegnet wäre, hätte er vielleicht für ein wildes gefährliches Tier genommen, ein Bischof in seinem Ornat würde so etwas wie ein grosser, fremder Vogel für ihn gewesen sein, aber er wäre nicht geflohen, sondern sowohl dem Manne, als dem Bischof, furchtbar zu Leibe gegangen: denn seine Mutter hatte ihn mit Bogen und Pfeil vertraut gemacht und ihm auch ein Beil, das zur Streitaxt dienen konnte, in den Gürtel gegeben. Seltsamerweise lehrte die Mutter Parsival, dass die ganze Natur ihnen feindlich wäre, und dass man die einfachsten Dinge nur besitzen könne, wenn man sie mit der Waffe erobere und verteidige.
Solches würde der Knabe allerdings auch dann im Blute gespürt haben, wenn es ihm seine Mutter nicht besonders eröffnet hätte.
Parsival, der ebensowenig lesen als schreiben konnte und dem ein Feldstein im Walde, und etwa ein Buch, nichts wesentlich Verschiedenes war, und den ein A-B-C-Schütz von der letzten Schulbank beschämt hätte, besass eine breite Brust, das weittragende Auge des Raubvogels, Kampflust und Löwenmut. Dabei glich er dem Fuchse in der Schärfe des Gehörs und der Feinheit der Witterung. Wenn er nachts durch den Wald schlich, entging ihm nichts. Er wusste jedes Geräusch zu deuten, schon zu einer Zeit, wo es für ein gewöhnliches Menschenohr noch nicht hörbar war. Seinem gewaltigen Mut entsprach eine ebensolche Furcht, die ja auch den gewaltigsten Tieren eigen ist und sie davor bewahrt, unerwartet und wehrlos von einem Feind überfallen zu werden. Immer also war Parsival kampfbereit, und in der Kunst, seine Axt zu schleudern oder sonst zu gebrauchen und seinen Pfeil auf hundert und mehr Schritte genau in den Punkt zu setzen, wo er ihn hin haben wollte, kam ihm niemand gleich: kein wirklicher Held, geschweige ein A-B-C-Schütz von der letzten Bank in der Schule.
Herzeleide war eigentlich und im grossen Ganzen von einer wortkargen und verschlossenen Art. Parsival hatte sie ebensowenig jemals lachen als weinen gesehen. Sie bezeigte gegen den Knaben keine besondere Zärtlichkeit, aber er konnte nichts Unüberlegtes ausführen, ohne von ihrem Auge bewacht und behütet zu sein. So war es gewesen, als er in seiner Unschuld eine dicke Giftschlange aufnehmen wollte. — so, als er im Begriff war, in die Flammen eines Waldbrandes hineinzuspringen, die er mit ihrem Knistern und Knacken für gefrässig-züngelnde Tiere hielt und mit dem Beile bekämpfen wollte. Es würde schwer halten, alle die gefährlichen Augenblicke kund zu tun, wo kindliche Unerfahrenheit Parsival in Gefahr brachte und die Mutter sein Leben bewahrte und rettete.
Eines Tages, während ein fürchterlicher Sturm durch den Wald raste und mit lautem Krachen viele alte Baumriesen, mit den Wurzeln ausgehoben, in die Lichtung schlugen, auf der Herzeleidens Blockhaus stand, war Parsival länger als sonst auf der Jagd geblieben. Er hatte mitten im wilden Tumult der gegeneinander schlagenden Wipfel und Stämme einen angeschwollenen Bergbach aufwärts verfolgt und war in Höhen hinauf gestiegen, die er selbst mit den Ziegen der Mutter bisher nicht erreicht hatte. Weder ein Wolf, noch ein Elch, noch ein Bär hatte ihn diesmal mit sich gelockt, sondern es waren eher die jagenden Wolken am Himmel, die feuchte, starke, tosende Luft und überdies etwas Allgemeines Unbestimmtes, was, ähnlich der aufgeregten und bewegten Natur, ihn aufwärts und vorwärts trieb. Der Bergbach, der ihm schäumend, mit wilden Sprüngen und ohrenbetäubendem Rauschen entgegenschoss, die tolle Luft, die, zischend und heulend, Stämme knickte und über den Weg des Wassers warf, schienen ihm zu gleicher Ungebundenheit aufzufordern. Ja, es kam eine Wildheit über ihn, so dass er schrie und sich in einem Überschwang von Kraft daran machte, tatsächlich Bäume zu entwurzeln. Erknickte Stämme, drehte sie ab und warf sie in die dahingaloppierenden Wasser hinein. Parsival war alles andere eher als bösartig, aber Kräfte, die noch nicht schöpferisch sein können, müssen sich oft durch Zerstörung Luft machen, und in dem grossen, göttlichen Schöpfungsplane sind überdies auch die zerstörenden Kräfte schöpferisch.
Oben auf dem Kamm baumloser Felsrücken angelangt, zog es den Knaben, mit einer fast unbezwinglichen Sehnsucht, jenseits ins Unbekannte hinunter, und er würde sicherlich weiter geschritten und an diesem Tage zum ersten Male nicht unter dem Dache seiner Mutter genächtigt haben, wenn ihn nicht plötzlich ein Ruf aus dem über den Berggrat schleppenden Nebeln erschreckt und zur Heimkehr bewogen hätte. Er hatte den Schritt bereits rückwärts gemacht, als er sich mit der Erklärung beschwichtigte, er habe sich durch den Ruf eines einsamen Raubvogels täuschen lassen. Immerhin hatte er ganz deutlich und klar das Wort: Herzeleide! in den Lüften gehört.
Sonderbar betrug sich die Mutter, als Parsival diesmal nach Hause kam. Sie sagte zwar nichts, aber der junge Knabe, der sie mit einem rätselhaften Schuldbewusstsein verstohlen betrachtete, konnte bemerken, wie sich Tauperlen von ihren Augenrändern ablösten und lange Zeit immer eine nach der andern herunterfloss und das ernste und harte Antlitz der Mutter förmlich badeten. Was war das? was bedeutete das? Es war neu, war unbegreiflich für ihn. Aber noch weit unbegreiflicher war es für Parsival, als auch er seine eigenen Wangen von Tränen gebadet fühlte und, mit dem Finger das eigene Auge berührend, erkannt hatte, dass es ebenfalls zu einer Quelle salzigen Wassers geworden war. Gestern, sprach es in ihm, warst du noch ganz von Stein, heut bist du geschmolzen worden.
Am folgenden Morgen sagte Herzeleide zu Parsival: „Du kennst die Kräuter, die giftig sind, und du kennst die Schlangen. Ich habe dich die Tiere des Waldes in Fallen und Schlingen fangen, fürchten und mit dem Speere oder Pfeile besiegen gelehrt. Aber alle diese Feinde bedeuten nichts: es gibt Menschen!“ Und jetzt begann Herzeleide zum ersten Mal ihren Sohn darüber aufzuklären, dass die Geschlechter der Menschen wie Sand am Meer über die Fläche der Erde verbreitet sind und dass weder die Tiere der Erde noch die Menschen einen zweiten Feind besitzen, der so furchtbar ist wie der Mensch. Der Kampf mit den Tieren, sagte sie, sei Kinderspiel. Die Grausamkeit eines Tieres bedeute, verglichen mit der hohen Kunst menschlicher Grausamkeit, Barmherzigkeit. Im menschlichen Wesen, sagte sie, gibt es viele übertierische Eigenschaften. Andere, die weit unter jeder Bestie sind. So gäbe es keine tierische, sondern nur eine menschliche Niedertracht. Auf diese Weise fuhr Herzeleide fort gleichsam den giftigen und vergifteten Eiter einer alten versteckten Wunde in die reine Seele des Kindes zu träufeln. Der Schluss ihrer Rede war: „Bleibe bei mir, meide die Menschenwelt!“