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«Ich suche jemanden, der sich auf die Fantasie einlassen kann. Jemand, der als Wissenschaftler offen für Wunder und Abstrusität ist.» Berlin 1914: Die Karriere der jungen Ärztin Wilhelmina von Wagner steht vor dem Scheitern, bevor sie richtig beginnen konnte. Doch dann taucht plötzlich ein Mann in ihrer Praxis auf, der ihr ein verführerisches Angebot macht. Wilhelmina - oder Mina lässt sich notgedrungen auf einen Vertrag mit dem merkwürdigen Patienten ein, der sie daran bindet, für den angeblichen Vampir zu arbeiten. Doch das beinhaltet mehr, als Mina es sie sich vorgestellt hat und ehe sie es sich versieht, hat die Verbindung zu dem Fürsten der Nacht Auswirkungen auf ihr Leben, die ihr nicht einmal in den kühnsten Träumen eingefallen wären.
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Seitenzahl: 322
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Es gibt nichts Schöneres als das Mysteriöse.
Aus ihm entspringt alle wahre Kunst und Wissenschaft.
- Albert Einstein
PROLOG
KAPITEL 1 : 10 JAHRE
KAPITEL 2 : ANKUNFT
KAPITEL 3 : GERÜCHTE
KAPITEL 4: UNVOLLSTÄNDIG
KAPITEL 5: DAS INNERSTE
KAPITEL 6: ES LEBE DER KAISER
K APITEL 7: DER KUSS DES TODES
KAPITEL 8: DER VERRAT
KAPITEL 9: ABSCHIED
KAPITEL 10: RETTUNG
KAPITEL 11: ZU HAUSE
KAPITEL 12: BLUT UND KNOCHEN
EPILOG : EIN ALTER FREUND
In jenem alten Berlin von 1904 herrschte eine milde Sommernacht. Wilhelmina von Wagner stand in ihrem dünnen Nachthemd draußen auf der Dachterrasse ihres alten Wohnhauses und blickte verträumt in den Sternenhimmel. Ein paar Minuten vergingen, dann bedeckte sie mit der Hand ihr linkes Auge - ihre Augenlider waren schon ganz müde von zu vielem Kneifen - und starrte mit dem anderen aufgeregt in das Suchfernrohr ihres neuen Teleskops. Ihr Vater hatte ihr das Spiegelfernrohr vor ein paar Wochen zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt. Seitdem war sie jede Nacht begeistert draußen gewesen, um in die Fußstapfen berühmter Astronomen und Astronominnen, wie Samuel Oppenheimer oder Elisabeth Hevelius, zu treten.
Heute war Neumond und die Milchstraße dadurch besonders gut zu sehen. Sogar ohne Teleskop konnte Wilhelmina die von einem Nebel umgebene Anhäufung von Sternen über ihr erkennen. Gerade betrachtete die junge Frau durch das Teleskop das Sternenbild des Schwans und verglich die Position der Leuchtkörper mit den auf ihrer Karte eingezeichneten Punkten. Plötzlich fiel dem Mädchen dabei etwas auf. Es war das schwache Leuchten eines Sterns, das sie bei ihren bisherigen Observierungen noch nicht gesehen hatte. Sie nahm etwas Abstand von der Linse, rieb sich einmal kurz die müden Augen und setzte dann erneut an. Doch der leuchtende Punkt am Himmel verschwand nicht. Wilhelmina – oder Mina, wie sie von den meisten Leuten genannt wurde, traute ihren Augen noch immer nicht, schließlich wusste sie als altkluges Mädchen, das Fehler und Irrtümer leicht passieren konnten. Erst bei einem erneuten Blick auf die Sternenkarte, die neben ihr auf einem kleinen Holztisch lag, war sie sich sicher, dass es sich hier wahrscheinlich um einen bisher nicht kartografierten Stern handelte. Aufgeregt vergewisserte sie sich mit einem Blick in das Teleskop noch ein weiteres Mal. Endlich überzeugt, notierte sie schließlich mit einem Bleistift die Position des Sterns auf ihrem Schreibblock. Dann riss Mina das Blatt mit einem Ruck von den anderen ab und rannte begeistert zum Abgang hinüber, der in das dritte Stockwerk des alten Fachwerkhauses führte, das sie mit ihrem Vater bewohnte. Die Dielen knarzten im aufgeregten Rhythmus ihrer Füße, während Mina die Tür zu einer Treppe öffnete, die sie weiter nach unten führte. Mit ihrem langen, weißen Nachthemd bekleidet polterte das rothaarige Mädchen die Stufen hinab und lief zielstrebig in das nächststehende Zimmer. In diesem knisterte gemächlich ein Kaminfeuer und erhellte den düsteren Raum und die alten Möbel darin mit seiner flackernden Flamme.
«Vater! Du wirst es nicht glauben, aber ich habe …» Die helle Stimme brach abrupt ab, als das junge Mädchen die Gestalt, die dort vor dem wärmenden Feuer stand, eindeutig nicht als ihren Vater identifizierte. Der Mann vor den Flammen war groß gewachsen und von breiter Statur. Sein langes, pechschwarzes Haar wurde an den Schläfen bereits grau, jedoch war das Profil seines Gesichts weder als alt noch als jung zu deuten. Der Mann trug entgegen der gegenwärtigen Mode keinen Bart, war glattrasiert und äußerst blass. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen, die weder als voll noch als schmal bezeichnet werden konnten. Als er sich Mina zuwendete, kam es ihr vor, als hätte er sie bereits erwartet, denn kein Hauch von Überraschung war auf seinem attraktiven Gesicht zu sehen. Als ihr plötzlich die ungewöhnlich rötliche Farbe seiner Augen auffiel, dachte sie zunächst, sie würde träumen und dass dieses Lebewesen dort vor ihr ein dunkler Engel war, gesponnen aus den Fäden ihrer kindlichen Fantasie. Beim Anblick des fast schon abschreckend schönen Mannes, mischte sich eine wissensdurstige Faszination in ihre Angst und während der Fremde langsam, mit seinem langen, schwarzen Umhang auf sie zukam, verharrte Mina unschlüssig an Ort und Stelle. Ohne ein Wort zu sagen, kam der Fremde schließlich vor ihr zum Stehen. Er musterte sie neugierig und auch Mina starrte ihn unverwandt an. Eine gewisse Amüsiertheit lag in seinem Blick, als er auf einmal den langen Umhang von seinen breiten Schultern löste und ihn schließlich um ihren schmalen Körper legte. Währenddessen konnte Mina keinen einzigen Muskel regen. Selbst das Atmen hatte sie eingestellt.
«Mina? Was tust du denn hier?»
Plötzlich kam wieder Bewegung in ihren Organismus. Während sie einmal tief einatmete, wich sie verlegen einen Schritt von dem Fremden zurück. Dann drehte sie sich zu der kratzigen Stimme um, die gerade so überrascht und tadelnd ihren Namen gerufen hatte. Aus der Dunkelheit des Flurs kam ihr Vater zu ihr herübergelaufen. Die roten, kurzen Haare standen wie immer zerzaust von seinem Kopf ab und sein graues Jackett spannte sich um seinen ausladenden Bauch.
«Du solltest schon längst im Bett sein, junge Dame!» Jonathan von Wagner sah seine Tochter streng an.
«Aber … Ich …», begann Mina zu stottern, während der Blick ihres Vaters peinlich berührt von ihr zu dem Fremden hin und her wanderte.
«Du bist kein kleines Kind mehr, Mina. Es gehört sich nicht, für eine junge Frau in deinem Alter, im bloßen Nachthemd durch das Haus zu wandeln. Explizit nicht, wenn wir einen so wichtigen Gast haben!»
Während ihr Vater sie daraufhin grob an der Schulter packte und in Richtung Treppe schob, schielte Mina dabei noch einmal verstohlen zu dem Fremden herüber, der noch immer im Türrahmen stand und sie stumm beobachtete. Ihr Vater wandte sich noch einmal zu seinem Gast um.
«Es tut mir leid, Graf Aamon. Ich werde mich kurz vergewissern, dass meine Tochter auch wirklich ins Bett geht, dann bin ich ganz der Ihre.»
Der Graf nickte ihm mit einem nachsichtigen Lächeln gelassen zu, während Mina von ihrem Vater drängelnd die Treppe nach oben geschoben wurde.
«Wenn ich kein Kind mehr bin, dann behandle mich nicht wie eines!», rief die junge Frau beleidigt. Wenn auch unter Protest lief sie selbstständig in Richtung ihres Zimmers, doch bevor sie eintrat, noch immer eingehüllt in dem langen schwarzen Umhang des Fremden, drehte sie sich noch einmal zu Jonathan von Wagner um. «Wer ist der Mann, der dort unten im Kaminzimmer auf dich wartet? Ist er einer deiner Geldgeber?»
Ihr Vater lächelte aufgrund der Neugier seiner Tochter nachsichtig. «Ja und nein. Graf Aamon ist zwar ein äußerst wichtiger Unterstützer meiner Forschungen, lässt es sich aber nicht nehmen auch fachlich seinen Beitrag zu leisten. Er hat mich schon von Beginn an unterstützt, wir sind also so etwas wie alte Freunde.» Er blickte herunter und bemerkte den zerknitterten Zettel, den seine Tochter in den Händen hielt. «Was ist das?»
Als Mina den neugierigen Blick ihres Vaters bemerkte, zögerte sie ihm von ihrer Entdeckung zu erzählen, schließlich war sie in der Nacht unerlaubt aufgestanden und hatte sich heimlich nach oben zur Dachterrasse geschlichen. In einem Anflug von schlechtem Gewissen drückte sie das Stück Papier enger an ihre Brust und lief damit zu ihrem verwaisten Bett hinüber. Mit einem lauten Seufzer ließ sie sich auf die zurückgeschlagene, weiße Bettdecke fallen. Auf dem Bauch liegend, betrachtet sie nachdenklich den Inhalt ihrer Notizen. Schließlich traf sie eine Entscheidung.
«Ein Stern.»
«Ein Stern?» Ihr Vater folgte ihr und setzte sich neben sie auf die Bettkante. Mina reichte ihm das Blatt Papier.
«Ich habe ihn im Sternenbild des Schwans entdeckt. Wenn ich richtig liege, wurde er bisher nicht kartografiert.»
Ihr Vater seufzte und sah sie nachsichtig an. «Du warst also wieder auf dem Dach …» Er starrte auf die Nummern, die mit Bleistift auf die weiße Oberfläche geschrieben worden waren, dann nickte er ernst, faltete das Blatt Papier sorgfältig zusammen und steckte es in die Brusttasche seines Jacketts. «Ich werde es dem Institut zukommen lassen. Wenn die Sternwarte deine Entdeckung bestätigt, darfst du dir einen Namen für ihn aussuchen.» Mit diesen Worten löschte er das Licht der Nachttischlampe, stand auf und lief wieder zur Tür hinüber. «Schlaf gut», sagte er noch zum Abschied.
«Ich dachte, ich benenne ihn nach ihr. Das hätte ihr sicher gefallen.»
Jonathan von Wagner blieb abrupt im Türrahmen stehen und drehte sich noch einmal zu seiner Tochter um. Mina sah im spärlichen Licht, das durch die offene Tür fiel, zu ihm herüber. Ihr Blick war traurig und müde.
«Das hätte es bestimmt, Liebes.» Er drehte sich wieder um und schloss die Tür hinter sich. Auf einen Schlag war es komplett finster. Das Mädchen zog den schwarzen Umhang des netten Fremden enger um ihre schmalen Schultern und schloss erschöpft die Augen. Sie wusste nicht warum, aber irgendwie schenkte ihr der glatte weiche Stoff ein beruhigendes Gefühl.
Unter einem roten Kupferschild mit Äskulapstab befand sich die braune und geradezu unscheinbare Tür der Arztpraxis "von Wagner". Die Praxis lag in der Nähe der Mühlendammschleuse, nicht weit vom Hafen Berlins entfernt und war Teil einer langen Aneinanderreihung alter Sandsteingebäude. Die Straße davor war nur mäßig von Passanten besucht und diejenige, die sich in dieser kalten Jahreszeit nach draußen wagten, versuchten sich hinter hohen Kragen und gefütterten Hüten vor der bitteren Kälte zu verstecken.
Die unscheinbare Tür öffnete sich plötzlich mit einem leisen Klingeln und ein Mann Mitte zwanzig stürmte aufgebrachten Schrittes heraus. Er war gekleidet in ein weißes, sorgsam gebügeltes Hemd, einer schwarzen Weste und einer dunklen Krawatte. Unter seinem Arm klemmte ein langer Mantel, was eindeutig zeigte, dass der Mann bei der vorherrschenden Kälte in großer Eile die Flucht ergriffen hatte. Ihm folgte eine etwas kleinere Frau, schlank und mit lockigem rotem Haar, das zu einer strengen Frisur an ihrem Hinterkopf hochgesteckt worden war. Sie trug ein langes, weißes Kleid und eine ebenso weiße Haube auf ihrem Kopf.
«Siegfried, so warte doch!» Die junge Frau lief energisch hinter dem Flüchtenden her. Dieser stoppte auf einmal so abrupt, dass sie fast in ihn hineingelaufen wäre.
«Nein, Mina! Drei Monatslöhne schuldest du mir schon! Ich habe eine Familie zu ernähren, ist dir das bewusst?» Siegfried zog angespannt die schwarzen Augenbrauen auf seiner Stirn zusammen und reckte trotzig das kantige Kinn nach vorne.
«Ich weiß, aber wenn du nur noch ein bisschen wartest, werde ich dir alles auf einmal zurückzahlen. Ich kann …»
«Nichts kannst du!», rief der Mann aufgebracht, dann schüttelte er den Kopf, als müsste er sich kurz zusammenreißen. Schließlich setzte er erneut an. «Ich weiß, dass es ungerecht ist, dass dir nicht das gleiche Vertrauen entgegengebracht wird, wie einem männlichen Arzt, aber von deinen Idealen kann ich meinen Kindern kein Brot auf den Tisch bringen. Und im städtischen Krankenhaus zahlen sie zudem fast das Doppelte.»
Mina starrte ihn verzweifelt an und wusste nicht recht, was sie ihm entgegnen sollte. Die letzten Monate waren tatsächlich nicht gut für sie gelaufen. Die kleine Praxis, die sie mit dem Nachlass ihres Vaters eröffnen konnte, lief nicht so, wie sie es sich erhofft hatte. Nun, Frauen durften schon seit ein paar Jahren an der medizinischen Fakultät studieren und ihren Abschluss machen, das hieß jedoch nicht, dass die Gesellschaft ihnen in diesem sonst von Männern dominierten Fachbereich auch die gleiche Kompetenz zutraute. Diese unausweichliche Tatsache hatte sie in den letzten Wochen und Monaten bereits schmerzhaft feststellen müssen. Das Geld reichte nur knapp für die Ratenzahlung der Praxis und für ihre privaten Räume im oberen Stockwerk, jedoch nicht, um auch einen Assistenten zu bezahlen.
«Bitte Siegfried!», rief sie ihm noch hinterher, doch dieser schüttelte nur den Kopf.
«Es tut mir leid», war alles, was sie noch von ihm hörte, dann war er auch schon um die nächste Ecke verschwunden. Mina stand für einen Augenblick nur da und spürte langsam eine gewisse Panik in sich aufkommen. Wie sollte sie die Praxis nun vor der Schließung bewahren? Ihre Rücklagen waren so gut wie aufgebraucht und wenn sich nicht bald etwas änderte, würde sie in ihren jungen Jahren bereits auf den Ruin zusteuern. Sie hob den Blick an und ihre grauen Augen registrierten die neugierigen Gesichter der Passanten, die an ihr vorbeiliefen und ihre lautstarke Auseinandersetzung mit Siegried wohl mitbekommen hatten. Schnell machte sie kehrt und ging zügigen Schrittes wieder in die Praxis hinein. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, nahm sie sogleich laut seufzend ihre weiße Haube vom Kopf, lief zu dem aus dunklem Holz gefertigten Empfangstresen hinüber und öffnete dort eine der vielen Schubladen. Nachdem sie ein paar Blätter Papier achtlos zur Seite geschoben hatte, fand sie endlich, was sie so dringend suchte. Das graue Metall des Flachmanns blitzte kurz auf, als sie das Mundstück öffnete und den Inhalt zwischen die vor Nervosität zitternden Lippen kippte. Als die scharfe Flüssigkeit ihre Kehle hinunter rann, verzog Mina kurz den Mund. Mit einem langen Seufzer ließ sie sich dabei auf den Stuhl hinter ihr sinken und nahm dann einen weiteren Schluck Schnaps.
«Harten Tag gehabt?»
Erschrocken blickte die junge Ärztin auf und ließ den Flachmann schnell wieder in der Schublade vor ihr verschwinden. Doch als sie die Person erkannte, die vor ihr stand, entspannte sie sich auf einen Schlag.
«Greta? Was machst du denn hier?» Mina musterte die Frau vor ihr überrascht. Die unerwartete Besucherin befand sich ungefähr ich gleichen Alter wie sie selbst, trug über ihrem hellblauen Kleid einen stilvollen, braunen Pelzmantel und in ihrer Armbeuge eine volle Einkaufstasche irgendeines teuren Modegeschäfts. Greta kam näher und beugte sich zu ihrer Freundin über den Tresen herüber. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von einzelnen blonden Strähnen ihrer hochgesteckten Haare umrahmt.
«Lass mich raten, Siegfried hatte die Nachricht nicht gut aufgenommen?»
Mina seufzte nur. «Nein, hatte er nicht … Was mache ich jetzt nur? Ohne die Hilfe eines Assistenten kann ich nicht richtig arbeiten. Wenn das so weitergeht, verliere ich noch die Praxis!»
Greta lief zu ihr herüber und tätschelte ihr mitfühlend die Schulter. «Du weißt, im Ärztehaus meines Vaters ist für dich immer eine Stelle frei. Für eine ehemalige Studienkollegin von mir würde er bei deiner Einstellung bestimmt ein Auge zudrücken.»
Mina tat die unterschwellige Beleidigung mit einem müden Lächeln ab. «Ich danke dir für das Angebot, Greta, aber ich will keine weitere Assistenzstelle, sondern als freie Ärztin arbeiten.»
Die Frau im Pelz zuckte mit den Schultern. «Irgendwann wirst du deinen Stolz hinunterschlucken müssen, Mina, sonst verbietest du dir nur unnötig Chancen. Aber wie auch immer, deswegen bin ich nicht hier.» Sie fasste in ihre Tasche und holte mit ihren perfekt manikürten Fingern ein rechteckiges Stück Papier daraus hervor. Als sie es auf den Tresen legte, erkannte Mina, dass es sich um eine Einladung handeln musste.
Greta lächelte. «Wie du sicher weißt, findet der Tanzabend der Universität heute Abend statt. Roland ist krank geworden, daher kannst du mich gerne begleiten, wenn du möchtest. Meine Familie hat schließlich in den vergangenen Jahren genug an Spendengelder gezahlt, dass sie eigentlich einen Flur nach uns benennen müssten. Da sollte niemand etwas dagegen haben, wenn ich anstatt meines Mannes eine Freundin mitbringe. Was sagst du? Getränke und Speisen sind natürlich inbegriffen.»
Skeptisch betrachtete Mina die Einladung. Sie wusste, dass die Ärztefamilie, aus der ihre Freundin stammte, mit zahlreichen einflussreichen Leuten der Universität bekannt war. Eigentlich war es Minas Traum gewesen, selbst einmal dort einen Forschungsbereich zu leiten, doch für eine Frau und zudem mit ihren schlechten finanziellen Mitteln, war so etwas unmöglich. Sie wusste sehr gut, dass keiner der dort Anwesenden ein offenes Ohr für ihre Ideen und Forschungsfelder haben würde. Diese Tatsache musste sie bereits in der Vergangenheit schmerzhaft lernen. Aber zumindest müsste sich Mina einen Abend lang keine Gedanken um die Kosten einer ordentlichen Mahlzeit machen. Schließlich nickte die junge Frau. «Also gut, ich begleite dich.»
Greta strahlte über das ganze Gesicht. «Sehr schön, dann werde ich dich um 18 Uhr mit dem Wagen abholen lassen. Und ziehe dir etwas Schickes an. Vielleicht kannst du den neuen Dekan ja für ein paar Forschungsideen von dir gewinnen?»
Mina belächelte ihre Freundin nachsichtig, wusste sie doch, dass Schweine vorher fliegen lernen, bevor der konservative Dekan Höffner mit seinen Ansichten im 20. Jahrhundert angekommen wäre.
Der Tanzabend fand in einem prunkvollen Saal des Berliner Schlosses statt. Alle Anwesenden hatten sich so herausgeputzt, als wäre heute Abend der Kaiser persönlich der Gastgeber. Die Männer trugen stilvolle Sakkos und farbenfrohe Krawatten, die Frauen knie- bis wadenlange Tuniken, über einem bodenlangen, zum Teil schleppenden Rock. Die meisten Kleider endeten in einer breiten, mit Blumen oder Ranken bestickten, Bordüre. Auch Mina trug einen ähnlichen Aufzug, nur entsprach dieser allem anderen als der neusten Mode. Ihr grünes Kleid war am Saum schon etwas fransig, aber ansonsten noch viel zu gut in Schuss und somit für sie kein Argument gewesen, sich von dem schönen Stoff zu trennen. Für Mina, die überhaupt kein Faible für Mode besaß, hatte das Kleidungsstück außerdem eher einen sentimentalen Wert, erinnerte es sie doch an unschuldige und hoffnungsvollere Zeiten ihres Lebens. Seufzend schob sie sich das letzte Stück ihres Kuchens in den Mund und blickte sich, während sie gelangweilt kaute, nach ihrer Freundin Greta um. Diese stand an dem ausladenden Buffet und unterhielt sich angeregt mit einem etwas älteren Herrn, den Mina nicht kannte. Ihre Freundin hatte im Gegensatz zu ihr ein Talent schnell neue Bekanntschaften zu machen, daher wunderte es die junge Ärztin nicht, dass sich schon bald eine Traube von Menschen um Greta gebildet hatte. Mina seufzte gelangweilt, stellte ihren nun leeren Teller auf dem Stehtisch neben ihr ab und machte sich auf den Weg nach draußen, auf den menschenleeren Balkon. An der Brüstung angekommen, hatte sie Aussicht auf den großen Innenhof, der zwar Ende Februar noch recht kahl aussah, aber jetzt schon ein großes Versprechen für den kommenden Frühling bot. Runde Lampen waren aufgestellt worden und spendeten ausreichend Licht, um den gesamten Garten zu erhellen. Mina wickelte ihr Schultertuch enger um ihren Körper und fasste dann mit ihrer linken Hand in eine versteckte Tasche, eingenäht in ihrem langen Rock. Das kleine Lederbuch, das sie daraus hervorholte, sah abgegriffen und an den Rändern speckig aus. Der Titel des Buches, Frankenstein, or, The Modern Prometheus war in goldener, mittlerweile leicht abgeblätterter Schrift auf den dunkelbraunen Einband aufgedruckt worden. Als sie die erste Seite aufschlug, stand oben in verblasster, schwarzer Tinte der Name Camilla von Wagner.
Mina begann zu lesen und hörte dabei, abgedämpft durch die geschlossene Glastür zum Saal, eine tiefe männliche Gesangsstimme, die ein paar Zeilen eines, ihr unbekannten, italienischen Liedes sang. Es dauerte jedoch nicht lange, bis sie völlig in die Geschichte des Buches eingetaucht war und ihre Umgebung komplett vergessen hatte. Eine Weile verging, während die junge Ärztin im schwachen Schein der Lampen angestrengt die Wörter auf den angegilbten Seiten entzifferte. Das störte Mina jedoch nicht, da sie den Inhalt des Buches mittlerweile ohnehin auswendig kannte, und daher nur eine Gedankenstütze benötigte. Plötzlich hörte sie ein lautes Quietschen, als sich auf einmal die Tür zum Festsaal hinter ihr öffnete. Die in ihre Lektüre vertiefte Mina erschrak so, dass das Buch ihrer Hand entglitt und auf einmal über die Brüstung fiel. Während zwei unbekannte Herren durch die Tür zu ihr nach draußen traten, sah sie erschrocken nach unten in den Innenhof. Das Buch lag dort auf einer der weißen Trittplatten, schien jedoch, mit Ausnahme von etwas Staub, vollkommen unversehrt zu sein. Schnell lief Mina zu der steinernen Treppe hinüber, die vom Balkon aus in den unteren Innenhof führte. Als sie am Ende des Abgangs um die Ecke bog, stoppte sie plötzlich, als sie bemerkte, dass ihr jemand bereits zuvorgekommen war. Der Mann, der dort stand und das Buch in seinen Händen neugierig betrachtete, war groß gewachsen und von breiter Statur. Sein langes schwarzes Haar trug er offen und nach hinten gekämmt. Erste Zeichen des Alterns waren an seinen ergrauten Schläfen und an einzelnen weißen Strähnen in seinem Haar zu sehen, wohingegen sein glattes und rasiertes Gesicht nahezu zeitlos erschien. Mina setzte sich in Bewegung und lief zielstrebig zu dem Herrn im schwarzen Sakko hinüber.
«Sie haben mein Buch gefunden …» setzte sie an, stockte jedoch, als der Mann den Blick hob und ihr direkt in die Augen sah. Die ungewöhnlich roten Iriden des gutaussehenden Fremden blickten sie belustigt an. Ein kurzer Erinnerungsfetzen leuchtete daraufhin urplötzlich in ihrem Kopf auf: eine dunkle Gestalt, die vor einem Kaminfeuer stand. Das Antlitz hell erleuchtet, während die andere Seite mit der Dunkelheit verschmolzen war. Doch so schnell das Bild gekommen war, war es auch schon wieder verschwunden.
«Ein gutes Buch», sagte der Fremde mit einer tiefen angenehmen Stimme und hielt es ihr auffordernd vor die Nase. «Wobei ich mich frage, warum mir hier draußen eine Lektüre der berühmten Mary Shelley vor die Füße fällt, wenn dort drinnen die in ihrem Fach berühmtesten und vor allem, realen Wissenschaftler des Landes miteinander verkehren? Warum sind Sie hier und lesen eine Geschichte über einen Mann der Wissenschaft, wenn dort drinnen alles voll von ihnen ist? Sind Ihre Ansprüche so hoch, dass nur ein fiktiver Gelehrter an sie heranreicht?»
Mina nahm das Buch entgegen, zögerte jedoch noch einen kurzen Moment, bevor sie schließlich antwortete. «Mitnichten, mein Herr.» Sie drehte sich in Richtung des Bogenganges, hinter dem man einen guten Blick in den von Menschen überfüllten Saal des Berliner Schlosses werfen konnte. «Es ist nur so, dass ich bereits Jahre damit verbracht habe, mit Dr. Reinhard über seine Theorie über den Mechanismus der Zellteilung zu diskutieren oder mit Dr. van der Groen über seine Abhandlung der menschlichen Anatomie zu sprechen.» Sie nahm das Buch entgegen und sah den Mann dabei selbstbewusst in die Augen. «Bis ich verstand, dass sie mich nie als jemand Gleichgestelltes ansehen würden. Komischerweise sollten sie doch als Männer des Wissens daran gewöhnt sein ihre Vorstellungen und Meinungen für Neues über Bord werfen zu müssen. Aber dass eine Frau ihnen auf gleicher Augenhöhe begegnet, ist für sie auf unerklärte Weise so unreal wie das Monster in Shelleys Roman. Dabei sollte doch die Fantasie der Wissenschaft vorangehen, denken Sie nicht?»
Ihr Gegenüber musterte ihr Gesicht für einen kurzen Moment stumm, dann lächelte er. «Unbedingt, Fräulein von Wagner.»
Als sie überrascht hörte, wie der Fremde ihren Namen sagte, mischte sich erneut ein flüchtiges Gefühl des Kennens in ihren Geist. Nachdenklich betrachtete sie ihn. «Sind wir und schon einmal begegnet, Herr …»
«Graf Aamon!», ertönte plötzlich eine polternde Stimme aus Richtung des Saals zu ihnen herüber. Mina seufzte leise. Sie wusste sofort, wem diese gehörte, und drehte sich mit einem Gefühl von Ablehnung zu dem Mann Ende vierzig um, der in diesem Moment mit einem schmierigen Lächeln auf den Lippen auf sie zuhielt. Der Dekan der Universität Berlin kam vor Mina und besagtem Grafen zum Stehen und die junge Ärztin musterte ihn mit einem kühlen Ausdruck in ihrem ovalen Gesicht. Die Person vor ihr war gekleidet in ein hellgraues und äußerst teuer aussehendes Sakko mit silbernen Knöpfen und einer dazu farblich passenden Fliege. Der dunkelbraune Schnauzer, den er trug, war seit Minas letzter Begegnung mit dem Mann noch einmal deutlich stärker ergraut und auch sein kurzes Haar war Opfer seines voranschreitenden Alters geworden. Mina würdigte er keines Blickes, sondern starrte begeistert den Fremden neben ihr an.
«Ich hoffe, es hat Sie nicht gestört, eine kurze Kostprobe Ihrer besonderen Gabe zu geben. Ich muss eingestehen, dass ich nicht ganz unbeteiligt daran war, dass die Gäste um Ihr besonderes Talent wussten.»
Der Graf schüttelte den Kopf, wobei Mina bemerkte, dass bei dem Satz des Dekans seine Augen einen überdrüssigen Ausdruck bekamen. Anscheinend war sie nicht die Einzige, die Dr. Richard Höffner bereits näher kennenlernen durfte.
«Mitnichten. Es ist immer wieder gut, sich vor solch intelligenter und anspruchsvoller Hörerschaft beweisen zu dürfen.»
Dr. Höffner nickte zufrieden. «Ich hoffe, sie sehen mir diesen kleinen Überfall auf unseren größten Spendengeber nach.» Der um einen ganzen Kopf kleinere Mann stellte sich auf die andere Seite des Grafens und berührte diesen dann am Oberarm. «Bitte, ich muss Ihnen noch ein paar meiner Kollegen vorstellen. Dr. Heinze hatte gerade einen großen Durchbruch bei seinen Forschungen zum Diabetes, oder Dr. Liebhard, der auf seiner Reise in Tansania wirklich interessante Entdeckungen gemacht hat.»
Graf Aamon nickte nachsichtig, dann ließ er sich von dem selbstsicheren Dekan wieder Richtung Saal führen. Mina sah ihnen stumm hinterher, etwas enttäuscht darüber, dass die Unterredung mit dem Fremden so schnell ihr Ende gefunden hatte. Bevor dieser jedoch mit Dr. Höffner wieder im belebten Festsaal verschwand, drehte sich der Graf noch einmal kurz zu ihr um und nickte ihr zum Abschied höflich zu. In diesem Moment fiel es der jungen Ärztin wie Schuppen von den Augen. Auf einen Schlag erinnerte sie sich daran, dass sie dem Grafen schon einmal begegnet war. Fast zehn Jahre waren es her, als er in dem Kaminzimmer ihres Vaters gestanden hatte. Der Mann von damals hatte sich seit jenem Tag nicht verändert. Anscheinend war er nicht nur mit gutem Aussehen, Geld und Charisma gesegnet, sondern alterte auch noch unverschämt langsam.
«Wir sind uns also doch schon einmal begegnet …» murmelte sie vor sich hin. Als sie daraufhin das wissende Lächeln auf den Lippen des Grafen Aamons bemerkte, kurz bevor dieser sich wieder nach vorne drehte, dachte sie für einen flüchtigen Augenblick, er hätte tatsächlich gehört, was sie eben gesagt hatte. Verwirrt darüber schüttelte Mina den Kopf. Wie schnell man gutaussehenden Leuten Fähigkeiten zuordnen will, die sie überhaupt nicht besitzen, schoss es ihr durch den Kopf, dann öffnete sie das Buch in ihren Händen und begann an der Stelle, wo sie vorher unterbrochen wurde, weiterzulesen.
Den Tag danach verbrachte Mina allein in ihrer Praxis. Kein einziger Patient erschien und auch kein Notfall wurde an sie weitergeleitet. Gekleidet in der weißen Robe ihrer Arbeitskleidung, starrte sie mit leerem Blick vor sich auf die Schublade des Tresens, die ihren geheimen Alkoholvorrat enthielt. Der Abend brach langsam herein und Mina wartete nur noch auf das Läuten der Kirchturmglocke. Diese würde ihr das Ende ihres Dienstes signalisieren und ihr erlauben, endlich einen Schluck von der brennenden Flüssigkeit zu nehmen. Als der erlösende Glockenschlag schließlich kam und sie gerade den Arm nach dem Knauf der Schublade ausstrecken wollte, läutete auf einmal die Türklingel der Praxis auf und eine dunkle Gestalt betrat den Raum.
«Ich hoffe, ich komme nicht zu spät.» Die Stimme des Fremden klang aufrichtig entschuldigend.
Mina kam zu ihm herübergelaufen, einen Ausdruck des Erstaunens in ihrem zierlichen Gesicht. «Graf Aamon?», war alles, was sie in diesem Moment über die Lippen brachte. Der Mann vor ihr nahm sich den schwarzen Zylinder vom Kopf und nickte höflich. Als Mina daraufhin nichts erwiderte, räusperte sich der Graf mit einem amüsierten Lächeln auf den Lippen.
«Dr. von Wagner, es tut mir leid, Sie zu so später Stunde noch aufzusuchen, sicher sind Sie von ihrem Tagewerk erschöpft. Sollte ich ungelegen kommen, kann ich auch wieder gehen.»
Die junge Ärztin schüttelte daraufhin den Kopf. «Nein, das ist nicht nötig. Wie schon in den Tagen zuvor kann ich mich nicht über zu viel Arbeit beschweren. Aber ein Arzt, der nicht gebraucht wird, ist besser als ein Arzt, der fehlt, nicht wahr?» Sie seufzte schwer, während das gezwungene Lächeln auf ihren Lippen verschwand. «Außerdem könnte ich keinen alten Freund meines Vaters abweisen. Sie haben ihn in der Vergangenheit bei seinen Forschungen unterstützt. Daher wussten Sie auch, wer ich bin.»
Der Graf legte seinen Zylinder auf den Tresen und nickte. «Das stimmt. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, dass ich unsere Verbindung nicht sofort angesprochen habe. Aber auch meinem Gedächtnis musste kurz auf die Sprünge geholfen werden.» Als Nächstes zog er sich die schwarzen Lederhandschuhe aus und legte sie neben seinem Hut ab.
«Sie haben mich nicht gekränkt, wenn Sie darauf hinauswollten. Aber Sie würden es tun, wenn Sie mir nicht bald verraten, warum Sie mich mit ihrem Besuch beehren, Graf Aamon.»
Ein dunkles Kichern hallte durch den Raum. «Sie sind ihrem Vater recht ähnlich, Dr. von Wagner, wissen Sie das? Wie er, kommen Sie direkt zum Punkt. Eine Eigenschaft, die ich immer sehr an ihm geschätzt habe.» Er machte eine Pause und musterte ihr regungsloses Gesicht für einen Moment. «Sie müssen ihn sicherlich schmerzhaft vermissen. Mein Beileid für Ihren Verlust. Auch für Ihre bereits zuvor verstorbene Mutter.»
Mina drängte die aufkommenden Gefühle bei diesen Worten einfach beiseite. Statt sich ihnen zu ergeben, nickte sie nur höflich. «Ich danke Ihnen, Graf. Aber deswegen sind Sie nicht hier.»
Das Lächeln ihres Gegenübers wurde noch breiter, während er begann, den Vorraum der kleinen Praxis abzulaufen.
«Würden Sie mich kurz herumführen?»
Verwirrt von dieser Bitte, zögerte Mina kurz, bevor sie antwortete. «Sicher, wenn Sie wollen. Aber viel gibt es nicht zu sehen.»
Sie lief an ihm vorbei und öffnete die Tür zu ihrem Behandlungszimmer. Der Graf folgte ihr daraufhin in den mit weißen Fliesen ausgelegten Raum. In der Mitte stand ein Behandlungstisch, daneben, auf Rollen, ein kleinerer Tisch mit allerlei medizinischer Ausrüstung wie Mullbinden, Tupfer und Spatel. An den Wänden hingen weiße Schränke, die ebenfalls mit medizinischen Materialien gefüllt waren. Während Mina irritiert beobachtete, mit welcher Neugier sich der Graf in dem kleinen Raum umsah, kam ihr die Frage in den Sinn, ob es für ihren Besucher tatsächlich das erste Mal war, dass er eine Arztpraxis betrat.
«Interessant …», hörte sie ihn leise murmeln und beobachtete den fragenden Blick, den der Graf auf die beiden anderen Türen des Raums fallen ließ. Mina lief zu einer davon hinüber und öffnete sie. «Nur ein kleiner Vorratsraum. Die andere Tür führt hinter den Tresen als Eingang für das medizinische Personal.»
Graf Aamon sah an ihr vorbei und ließ den Blick über die nur spärlich besetzten Regale schweifen, dann nickte er und lief wieder in die Mitte des Raumes, zu dem Behandlungstisch hinüber. «Beschäftigen Sie zusätzliches Personal?»
Die Frage ließ Mina frustriert auf ihre Unterlippe beißen. «Nein. Ich kann es mir nicht mehr leisten.»
An dem Gesichtsausdruck des Grafen konnte sie erkennen, dass ihn diese ehrliche Aussage nicht überraschte. Der Grund dahinter war für die junge Ärztin ebenfalls alles andere als klar. Sie ahnte bereits, dass er sich über sie anderweitig erkundigt hatte. Woher sonst sollte er gewusst haben, wo er sie finden konnte?
«Sie haben mit Dekan Höffner über mich gesprochen, nicht wahr?»
«Scharfsinn und Ehrlichkeit sind eine äußerst entwaffnende Fähigkeit, Dr. von Wagner. Es stimmt, ich habe mich nach unserem Gespräch gestern über Sie erkundigt, das gebe ich zu. Aber ich muss sagen, Ihre Verbindung zum Dekan hat mich doch überrascht.»
«Hat sie das?» Mina überkreuzte abwehrend die Arme vor der Brust. «Und was daran hat Sie so überrascht?»
«Nun, Dr. Höffner sprach davon, dass Sie sich beinahe verlobt hätten. Dass Sie jedoch, als er nicht zögerte Ihnen vor ihrer Ehe nahezukommen, eine persönliche Beschwerde gegen ihn eingereicht haben, die seiner Reputation ernsthaft hätte schaden können.»
Bei diesen Worten wurde der Griff ihrer Finger, die sie um ihren Arm gelegt hatte, stärker, bis der Schmerz, der damit einherkam, verhinderte, dass sie die Beherrschung verlor. Wie gerne, dachte sie kurz, würde sie jetzt einen Schluck Alkohol zu sich nehmen.
«Lassen Sie mich raten, er verwendete ebenfalls Worte wie "an den Hals geworfen", "aufdringlich" und "verbittert", nicht wahr?»
Der Graf nickte. «In der Tat.»
Mina machte energisch kehrt und lief zu der Tür hinüber, über die sie den Behandlungsraum betreten hatten. Sie öffnete diese und zeigte auffordernd in den entstandenen Raum hinein.
«Wenn Tratsch und Klatsch der Grund für Ihren Besuch ist, Graf Aamon, muss ich Sie nun bitten zu gehen. Ich habe dazu nichts zu sagen.»
Das leichte Lächeln auf dem Gesicht ihres Gesprächspartners erstarb. Seine ungewöhnlich roten Augen bekamen einen raubtierhaften Ausdruck. Mina konnte nicht verhindern, dass der Anblick sie kurz verunsicherte.
«In der Regel erkenne ich es, wenn Menschen lügen, Dr. von Wagner und Richard Höffner ist da keine Ausnahme. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin nicht hier, um Sie über ihr Privatleben auszufragen. Das geht mich nichts an.»
Die junge Frau seufzte. Langsam verlor sie die Geduld mit ihrem ungebetenen Gast. «Dann spannen Sie mich nicht weiter auf die Folter, Graf. Bringen Sie endlich Licht in das Dunkel und erlösen Sie mich von meiner Unwissenheit.»
Das amüsierte Lächeln auf dem Gesicht des Grafens kehrte bei ihren Worten zurück. «Nun, ich suche jemanden, der sich auf die Fantasie einlassen kann. Jemand, der als Wissenschaftler offen für Wunder und Abstrusität ist. Jemand, der die Wahrheit dahinter sehen will und sie nicht ausschließt, nur weil sie ihm zu absurd erscheint. Genau diesen offenen Geist erhoffe ich mir von Ihnen, Dr. von Wagner. Ich sah ihn bereits in Ihrem Vater und bin mir sicher, dass dieser auch in Ihnen vorhanden ist. Konkret möchte ich, dass Sie Ihre fachliche Expertise an einem neuen Forschungsobjekt herausfordern.»
«Forschungsobjekt?» Sie schloss die Tür wieder und musterte ihren Gast erneut. «Von was sprechen wir hier genau?»
Die Mine des Grafen verdunkelte sich. «Von einer neuen und gleichzeitig ältesten Lebensform, die je auf diesem Planeten zu wandern vermochte. Es wurde bereits vieles ausgeschöpft, um der Grund ihrer Existenz nahezukommen. Bisher ohne Erfolg. Eine Möglichkeit blieb jedoch unversucht.»
«Und die wäre?», fragte Mina, von den Worten des Grafens gleichseitig verwirrt wie gebannt.
«Die Wahrheit der Wissenschaft. Direkt vor meiner Nase habe ich es viel zu spät erkannt.» Er lachte kurz auf, als würde ihm die Lächerlichkeit seiner Annahme erst jetzt richtig bewusst werden.
«Ich verstehe nicht …»
«Untersuchen Sie mich, Dr. von Wagner? Für einen alten Freund Ihres Vaters haben Sie doch bestimmt etwas Zeit übrig.»
Verwirrt von diesem plötzlichen Themenwechsel, brauchte Mina einen kurzen Moment, um zu antworten. «Ja … natürlich.» Sie lief zu ihm hinüber und griff nach dem Stethoskop, das auf dem Behandlungsbett bereitlag. «Fehlt Ihnen irgendwas?»
«Von manchem zu wenig, von anderem zu viel. Auf jeden Fall nicht die richtige Menge, wenn man mich mit einem durchschnittlichen Menschen vergleicht. Aber ich möchte Ihren ungetrübten Blick von außen nicht beeinflussen. Bitte, prüfen Sie mich auf Herz, Nieren, und was Ihnen sonst noch so einfällt.» Er setzte sich auf die gepolsterte Liege, die daraufhin kurz quietschte. «Natürlich sollen Sie ihre Arbeit nicht umsonst verrichten. Und wenn die Untersuchung abgeschlossen ist, können wir über Details ihre Forschungen für mich reden.»
Mina wusste nicht so recht, was sie von der ganzen Sache halten sollte. Natürlich, der Graf hatte Geld und Einfluss und konnte sie mit seinem Auftrag vielleicht aus dieser misslichen Lage befreien, in der sie sich befand. Hatte sie groß eine Wahl darüber nachzudenken? Wenn sie genug Geld hätte, könnte sie sich so ihre eigenen Forschungen finanzieren, wäre völlig unabhängig von Einrichtungen, Instituten und Dekanen. Was ist schon dabei, wenn sie sich dafür für ein paar Monate und Jahre der Laune eines reichen Schnösels und seinen albernen Ideen aussetzen müsste?
«Also schön … Würden Sie Ihren Oberkörper bitte freimachen? Ich beginne zunächst mit dem Abhören Ihrer Lunge.»
Der Graf nickte und begann erst seine Krawatte zu lösen und danach sein Hemd aufzuknöpfen. Mina ging derweil zur Theke hinüber und griff nach einem Korb, in dem ihr Patient seine Kleidungstücke aufbewahren konnte. Als sie sich wieder umdrehte, verschlug es ihr kurz den Atem. Der Körperbau des Grafen war, das musste sie zugeben, anatomisch recht beeindruckend. Wie bei den Statuen aus dem antiken Griechenland, strahlte er eine Vitalität und Kraft aus, um den ihn jeder Mann mit Sicherheit beneiden würde.
«Ist etwas, Dr. von Wagner?», fragte der Graf aufgrund ihres plötzlichen Erstarrens höflich.
Mina schüttelte daraufhin den Kopf und ging schließlich zu ihrem Gesprächspartner hinüber. Ohne zu zögern, reichte sie ihm den Korb, den dieser dankend annahm. Während Graf Aamon seine Kleider darin verstaute, antwortete sie ihm: «Sie haben eine wirklich herausragende Physis. Sie müssen viel Zeit in körperliche Aktivitäten fließen lassen.»
«Die Jagd ist eine meiner besonderen Leidenschaften. Aber ich fürchte, das meiste das Sie hier sehen, entspringt meiner naturgegebenen Veranlagung.»
Ungläubig betrachtete sie bei diesen Worten den Oberkörper des Grafen, dann setzte sie das Stethoskop an ihre Ohren und nahm das andere Ende, um es auf dessen Brust zu platzieren. Als das Metall die helle Haut berührte, zuckte der Mann vor ihr kurz zusammen. Entschuldigend sah Mina zu ihm auf. «Tut mir leid, ich habe vergessen, Sie vorzuwarnen, dass das Metall bei der ersten Berührung sehr kalt sein kann. Ich habe wohl schon zu lange keinen Patienten gehabt ...»
«Sie müssen sich nicht entschuldigen. Um ehrlich zu sein, bin ich selbst nicht sicher ob es die Kälte, oder die Berührung an sich war, die mich zurückschrecken ließ. Manchmal bin ich etwas empfindlich.»
Mina antwortete daraufhin nichts, sondern zwang sich, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. «Bitte einmal tief einatmen.» Der Graf tat wie ihm geheißen. Das runde Bruststück des Stethoskops wanderte dabei über seinen Torso. «Und bitte ausatmen.»
Die Prozedur wurde noch ein paar Mal wiederholt, bis sie sowohl Vorder- als auch Rückseite abgehört hatte. Daraufhin nahm die junge Ärztin ein Klemmbrett in die Hand und notierte etwas auf dem weißen Papier. «Keine akustischen Auffälligkeiten der Lunge», sprach sie, während sie schrieb, dann blickte Mina wieder zu dem Grafen auf. «Ich werde nun damit fortfahren, das Herz abzuhören. Atmen Sie dabei bitte ganz normal weiter.»
Ihr Patient nickte gehorsam, woraufhin Mina wieder das Stethoskop an ihre Ohren setzte und das Endstück auf die linke Brust des Grafen platzierte. Dann schloss sie die Augen und lauschte. Bum … Bum … Bum. Auf ihrer Stirn bildete sich eine nachdenkliche Falte. Sie setzte das Stethoskop ab, nahm die Ohroliven heraus und legte es sich um den Hals. Daraufhin nahm sie den Arm des Grafen und platzierte zwei Finger ihrer Hand auf die Unterseite seines Handgelenks. Konzentriert blickte sie dabei auf die kleine Uhr an ihrem eigenen Handgelenk.
«Ist etwas nicht in Ordnung?», hörte sie den Grafen mit ruhiger Stimme fragen. Mina sah von ihrer Uhr auf und starrte ihm direkt in die Augen.
«Sie haben einen ungewöhnlich langsamen Herzschlag und Ihr Puls weist eine geringe Abweichung auf. Außerdem besitzen Sie eine starke Blässe. Litten Sie jemals an Schwindel oder Ohnmachtsanfällen?»
«Noch nie», antwortete der Graf.
Mina nickte. «Ich werde Ihnen etwas Blut abnehmen, um Ihren Hämoglobinwert zu bestimmen. Außerdem werde ich einen Blutausstrich durchführen. Das Ergebnis hiervon können wir morgen besprechen.»
«Dann werde ich Sie morgen zur gleichen Zeit besuchen. Natürlich nur, wenn das für Sie in Ordnung ist.»
Mina nickte und holte eine Spritze aus einer der Schubladen hervor. Aus der daneben liegenden entnahm sie eine sterile Nadel und schraubte diese mit geübten Handgriffen auf den zylindrischen Hohlraum. Zuletzt nahm sie eine Aderklemme von einem Haken an der Wand und lief wieder zu ihrem Patienten hinüber.
«Strecken Sie bitte Ihren Arm aus. Ja, genau so, danke.» Sie setzte die Schlinge um seinen Oberarm und staute somit das Blut, um es besser abnehmen zu können. Dabei sah sie ihn fragend an. «Haben Sie irgendwelche Allergien oder Vorerkrankungen?»
«Nun … Ich besitze eine komplizierte Beziehung mit der Sonne. Anscheinend habe ich eine besonders empfindliche Haut ihr gegenüber und bekomme schnell einen Sonnenbrand.»