Silver Blood - Bente Mott - E-Book

Silver Blood E-Book

Bente Mott

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Beschreibung

Vida besitzt besonderes Blut. Es ist silbern und macht sie zu einer besonders begehrten Quelle der Macht. Jedoch erfährt sie davon erst, als ihr Meister und waschechter Vampir ermordet und sie zu seinem letzten Schüler geschickt wird: Avalon. Dieser ist ebenfalls ein Wesen der Nacht, jedoch ist das auch schon alles, was der Bluttrinker mit ihrem letzten Meister gemeinsam hat. Der Vampir lebt als vogelfreier weitab von den Gesetzen des Zwielichts, den Wächtern der Grenze zwischen dieser und der anderen Welt und zu denen sich all jene Wesen zählen, deren Existenz von dem Überleben der menschlichen Rasse abhängig ist. Vida muss sich entscheiden, ob sie mit dem schrecklichen Vampir den Bund des Blutes eingehen will oder ihre Erinnerung verliert und in die Welt der Menschen zurückkehrt. Doch nur mit einem Platz an der Seite eines Vampirs hat sie die Macht, die Mörder ihres geliebten Meisters aufzuspüren. «Plötzlich wurde mir eines klar: Es gibt nur einen Grund, warum Avalon den Bund mit mir möchte. Mein Blut wird ihn noch mächtiger machen. [...] Und er wird mich nicht gehen lassen. Niemals.»

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Wie Manche, die am Hals des Freundes hängt,

Sagt wohl das Wort: sie lieb' ihn, o so sehr,

Daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte;

Und hinterher, das Wort beprüft, die Närrinn!

Gesättigt sein zum Eckel ist sie schon.

Nun, du Geliebter, so verfuhr ich nicht.

Sieh her: als ich an deinem Halse hieng,

Hab' ich's wahrhaftig Wort für Wort gethan;

Ich war nicht so verrückt, als es wohl schien

Penthesilea – Heinrich von Kleist

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Asche zu Asche, Staub zu Staub

Kapitel 2: Das Schloss

Kapitel 3: Der Bund des Blutes

Kapitel 4: Schuld und Sühne

Kapitel 5: Neue Kraft

Kapitel 6: Der Tod in Venedig

Kapitel 7: Der Rabe

Kapitel 8: Fremde Freunde

Kapitel 9: Die Nacht der lebenden Toten

Kapitel 10: Zurück nach Hause

Kapitel 11: Äquivalenter Tausch

Kapitel 12: Die Macht der Bestrafung

Kapitel 13: Erinnerungen

Kapitel 14: Die faule Frucht

Kapitel 15: Die Dame Orochi

Kapitel 16: Ein mächtiger Fluch

Kapitel 17: Der Wald in der Wüste

Kapitel 18: Der Tag des Nichts

Kapitel 19: Seelenfänger

Kapitel 20: Unter dem Meer

Kapitel 21: Der Tod der Venus

Kapitel 22: Ein Kind der Nacht

Kapitel 1: Asche zu Asche, Staub zu Staub

Ich wollte immer alles für ihn tun. Auch wenn es bedeuten würde, selbst immer weniger zu werden. Das Glück, das ich dabei empfand, war einfach unglaublich. In seiner Nähe war ich wie im Rausch. Mein ganzes Sein war darauf eingestellt, ihm zu dienen. Nichts anderes gab mir das Gefühl im Leben angekommen zu sein und meine Aufgabe gefunden zu haben. Ich wusste, wer ich war und wer ich werden wollte.

An diesem Tag erwachte ich mit einem Gefühl von ungeheurer Zufriedenheit. Selbst meine Träume waren von meinem Meister erfüllt gewesen, die intensiver und länger wurden, wenn er sich in meiner Nähe befand. Meister Irvin ist zurück, dachte ich aufgeregt. Endlich. Ich richtete mich auf und betrachtete verträumt die Sonnenstrahlen, die wie jeden Nachmittag durch das runde, leicht vergilbte Dachfenster auf meine Decke am Bettende fielen. Während ich mir dabei gähnend den Schlafsand aus den Augen blinzelte, nahm ich mit einer gewissen Freude das dunkle Grün wahr, das mich wie ein kleiner Urwald umgab. Noch trunken vom Schlaf kam es mir so vor, als würden die vielen Pflanzen in meinem Zimmer geradezu nach dem spärlichen Licht gieren und nur darauf warten, dass auch sie endlich von der goldenen Sonne erreicht werden würden. Jedoch, waren ihre dunkelgrünen Blätter dafür nicht geschaffen und zu viel Sonnenlicht würde den Tod der Schattenpflanzen bedeuten, aber zu wenig und sie würden ebenfalls vergehen. Vielleicht mochte ich sie deshalb so sehr, weil sie mir als Vampirschülerin so ähnlich waren. Als solche gehörte ich weder zu den Menschen noch zu den Vampiren. Jedoch, im Gegensatz zu meinen Pflanzen, würde es mich, je mehr ich mich von der Dunkelheit nähren würde, irgendwann immer stärker in die Schatten ziehen.

Mein Schreibtisch, eine kleine Couch und der große wuchtige Kleiderschrank, waren die einzigen weiteren Möbelstücke in dem kleinen, aber gemütlichen Dachzimmer, das ich in dem Haus meines Meisters bewohnte. Ich war gerade dabei mich aus dem Bett zu schälen und anzuziehen, als es auf einmal energisch an der Tür klopfte.

„Vida! Der Meister ist zurück! Los, wach auf!“

Ich streifte mir hastig meine schwarze Jeanshose über und lief stolpernd und nur halb angezogen zu meiner Zimmertüre herüber. Währenddessen wurde das Klopfen noch lauter.

„Los Vida! Mach schon!“, kam es drängelnd von der anderen Seite. Als ich die nötigsten Knöpfe meines Oberteils geschlossen hatte, umfasste ich schließlich den silbernen Türknauf vor mir und zog daran. Dahinter erwartete mich ein ovales Gesicht mit großen grünen Augen, die mich ungeduldig musterten. Marien, die das Zimmer unter mir bewohnte, war ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Ihre schokoladenbraunen Haare fielen ihr in geraden Bahnen über ihre schmalen Schultern und mit ihrem rosigen Teint und den roten Lippen könnte sie einem Modemagazin entsprungen sein, wenn sie nicht viel zu klein dafür gewesen wäre. Ich hingegen, war mehr als einen ganzen Kopf größer als sie und meine Haare waren hell, fast so hell, dass man sie als weiß hätte bezeichnen können. Sie reichten mir knapp bis zur Schulter. Auch war mein Gesicht kantiger und meine Augen eher grau, als blau. Noch vom Schlaf zerzaust, bildete ich einen starken Kontrast zu dem jungen, zurechtgemachten Mädchen, das nun tadelnd vor mir stand.

„Was brauchst du denn so lange? Ich habe sein Kommen schon vor einer halben Stunde gespürt!“

„Morgen Marien“, antwortete ich ihr gähnend und beobachtete amüsiert, wie meine ruhige Art sie dabei noch weiter aufregte. „Ich hatte einen langen Traum, aus dem ich einfach nicht aufgewacht bin. Geh ruhig schon mal vor, ich bin auch gleich da.“

„Also gut, aber beeil dich!“ Ich beobachtete müde lächelnd, wie das kleine Mädchen vor mir energisch kehrt machte und eilig die schmale Treppe hinunterlief. Ihr schimmerndes Haar wehte dabei wie eine Scherpe hinter ihr her und hob sich stark von dem gelben, mit Rüschen verzierten Kleid ab, das sie trug. Obwohl Marien mit ihren 16 Jahren ganze sieben Jahre jünger als ich war, kommandierte sie mich gerne herum, aber das störte mich nicht. Mit ihrer quirligen und offenen Art ergab sie das genaue Gegenteil von mir, trotzdem kamen wir eigentlich ganz gut miteinander aus. Um genau zu sein, war sie die einzige Freundin, die ich hatte.

Ich schloss die Tür hinter mir und machte mich eiligst an den Versuch, mein zerzaustes, leicht welliges Haar zu bürsten. Auch wenn man es mir vielleicht nicht ansah, war ich ziemlich aufgeregt, endlich wieder unseren Meister zu treffen. Nervös zupfte ich meine dunkelblaue Bluse zurecht, die ich extra für diesen Anlass ausgewählt hatte und beschloss, dass ich fertig war. Als ich dann die Treppen zum Erdgeschoss hinabstieg, war ich nahezu euphorisch und am Ende rannte ich die letzten Meter. Vor dem Arbeitszimmer des alten, aber gepflegten Herrenhauses blieb ich abrupt stehen und kostete noch einmal den letzten Moment des süßen Leidens aus, welches die Abwesenheit meines Meisters immer in mir auslöste. Marien war bereits dort, denn ich konnte ihre glockenhelle Stimme durch das dicke Holz der Tür vor mir wahrnehmen. Als ich daraufhin den tiefen samtigen Bass hörte, der ihr antwortete, bekam ich eine Gänsehaut.

„Möchtest du nicht hereinkommen?“

Erschrocken fuhr ich herum. Er stand plötzlich direkt vor mir. Die schwarzen Nebelschwaden, die durch seine Teleportation entstanden waren, waren noch nicht verflogen, was bedeutete, dass er sich innerhalb eines Wimpernschlags hinter mich bewegt haben musste. Ich starrte ihn einfach nur fasziniert an, als hätte ich ihn statt einer Woche, ein ganzes Jahr nicht gesehen. Sein langes, lockiges, dunkelbraunes Haar fiel ihm offen über die Schulter und betonte seine blasse Haut und die Augen von dunkelroter Farbe.

„Was ist los, Vida? Hast du mich nicht vermisst?“

Seine Worte lösten mich von meiner Starre, und ich fiel ihm überglücklich in die Arme. Er erwiderte die Umarmung zärtlich mit einem sanften Druck.

„Meister Irvin! Endlich seid ihr wieder zurück!“ Ich nuschelte es gegen seine Brust, doch ich wusste, dass er mich trotzdem verstand.

„Dann bin ich ja beruhigt.“ Mehr als ich es hörte, spürte ich daraufhin die Vibration in seinem Brustkorb, die sein Lachen auslöste.

„Ihr seid bestimmt hungrig von der langen Reise, Meister! Wenn Ihr möchtet, stehe ich gerne zur Verfügung“, erklang plötzlich Mariens Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, stand sie im Türrahmen und beobachtete uns. Ich hätte sie nicht ansehen müssen, um von ihrem selbstbewussten Gesichtsausdruck zu wissen, in dem auch ein kleines Stückchen Eifersucht lag. Ich nahm es ihr nicht übel, denn bei mir war es genauso, wann immer Meister Irvins Aufmerksamkeit jemand anderem galt als mir.

„Du hast recht, ich bin wirklich hungrig. Aber vorher will ich euch noch eure Geschenke geben!“

Nur widerwillig löste ich mich aus seiner Umarmung. „Ihr hättet Euch nicht schon wieder solche Mühe machen sollen, Meister!“

Grinsend winkte er ab. „Wieso denn Mühe? Es macht mir einfach Spaß eure Gesichter zu sehen, wenn ich sie euch überreiche. Was ist falsch daran?“

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und zuckte nur verlegen mit den Achseln. Auf einmal tauchte Marien direkt neben uns auf und drängte sich zwischen uns. „Was habt Ihr uns mitgebracht?“

Während ich beobachtete, wie aufgeregt meine Blutschwester um den Meister herumschwänzelte, musste ich unwillkürlich schmunzeln. Sie liebte es, von Irvin etwas geschenkt zu bekommen. Bisher hatte er es auch nie versäumt, für jeden etwas Passendes zu finden. Unser Meister fasste sich in die Innentasche seines weißen Jacketts und holte eine kleine schwarze Schachtel daraus hervor. Belustigt streckte er sie meiner Mitschülerin entgegen.

„Das hier ist für dich. Es ist eine ganz besondere Sorte Schokolade. Der Mensch, der sie mir verkauft hat, meinte, sie würde dir bestimmt schmecken.“

Mariens Augen leuchteten auf wie zwei grüne Smaragde. Fast ein wenig zu ehrfürchtig für meinen Geschmack, nahm sie die Schachteln entgegen. „Danke, Meister!“ Sie fiel ihm kurz in die Arme.

„Und was hast du Vida mitgebracht?“, fragte sie ihn neugierig.

Irvin sah zu mir herüber und hielt mir die offene Handfläche vor das Gesicht. „Etwas, das ihre Begeisterung für schwierige Zimmergenossen herausfordern wird.“

Während ich noch überlegte, was er damit meinte, erschienen auf einmal schwarze Nebelschwaden auf seiner Handfläche. Plötzlich tauchte darin eine kleine, eingetopfte Pflanze auf. Sie hatte merkwürdige gezähnte Blätter und ein saftiges, dunkles grün. Entzückt starrte ich sie an.

„Wie heißt sie?“ Ich sah zu Meister Irvin auf, der mich belustigt anlächelte.

„Dionea muscupila. Eine anspruchsvolle Pflanze, die Insekten frisst, indem sie bei Berührung ihre Fangapparat schließt.“

Meine Augen wurden groß. Ehrfürchtig nahm ich sie entgegen und musste mir eingestehen, dass ich Marien für ihre vorherige Reaktion nicht innerlich hätte tadeln dürfen. „Danke“, sagte ich nur und spürte plötzlich, wie Meister Irvin mein sorgsam gekämmtes Haar zerwühlte.

„Gern geschehen“, erwiderte er lachend, dann drehte er mir und Marien den Rücken zu und lief in Richtung Treppe. „Ich werde mich vor dem Abendessen noch etwas frisch machen. Treffen wir uns in einer Stunde?“

„Ja, Meister“, erscholl es gleichzeitig aus unseren Mündern. Der schöne Mann vor uns nickte, dann drehte er sich um und ging nach oben. Ich und Marien blickten ihm hinterher, bis er aus unserem Sichtfeld verschwand. Dann bemerkte ich, wie meine Mitschülerin sich verträumt die Schokoladenschachtel an die Lippen setzte und einmal tief seufzte.

„Meinst du, er wird dieses Mal länger bleiben? Er war schon vorletzte Woche kaum zu Hause gewesen.“

Ich starrte auf die kleine Pflanze in meiner Hand und zuckte mit den Achseln. „Du weißt, dass seine Forschungen ihm sehr wichtig sind. Aber ich habe irgendwie das Gefühl, dass er in den nächsten Wochen jetzt wieder jeden Tag nach Hause kommen wird.“

„Wirklich?“ Marien sah mich mit solch einer unschuldigen Begeisterung an, dass ich lächeln musste.

„Wirklich. Aber wenn du mir nicht glaubst, musst du ihn schon selbst fragen.“

Ich beobachtete, wie sie eine beschämte Schnute zog. „Das werde ich auch!“ Dann packte sie mich an der Hand und zog mich auffordernd mit sich. „Aber zuvor hilft mir die Musterstudentin noch bei den Hausaufgaben, ja? Ich habe bald eine Matheklausur und muss unbedingt lernen! Nicht, dass Meister Irvin noch mitbekommt, dass ich mich derart schlecht anstelle!“

Amüsiert schüttelte ich den Kopf. Marien vergaß manchmal noch, dass wir nichts vor unserem Meister verheimlichen konnten. Die Fähigkeit unsere Gedanken zu lesen, war für einen Vampir wie Meister Irvin so selbstverständlich wie das Teleportieren oder das Trinken von Blut.

„Tut mir leid, aber das müssen wir auf später verschieben. Ich bin heute mit dem Einkauf dran. Den muss ich vor dem Essen unbedingt noch erledigen, sonst sind die Läden bereits geschlossen.“ Ein Nachteil, wenn man mit einem Wesen der Nacht zusammenwohnt, ist sicher der, dass alle menschlichen Bedürfnisse deutlich schwerer zu befriedigen sind, wenn man hauptsächlich nachts wach ist, dachte ich kurz. Und, dass man viel zu wenig Sonne abbekommt. Als mein Blick wieder auf meine Blutschwester fiel, musste ich mich beherrschen, um bei Mariens beleidigtem Schmollmund nicht lauthals loszulachen.

„Wir lernen morgen. Das verspreche ich dir.“

„Also gut“, seufzte sie enttäuscht und ließ meine Hand los. „Dann eben Morgen.“

So schnell wie ich konnte, erledigte ich an diesem Tag den Einkauf. Ich konnte es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen und die Gesellschaft meines Meisters zu genießen. Es war Samstag und ich wusste, dass Irvin das ganze Wochenende zu Hause bleiben würde. Das war immer so, wenn er von einer seiner Konferenzen nach Hause kam. Von wem er wohl zuerst nach Blut verlangen wird?, fragte ich mich aufgeregt, während ich die Einkäufe für mich und Marien auf das Band an der Kasse legte. Eigentlich war Konkurrenzdenken für mich nicht üblich, dennoch musste ich zugeben, dass es mir eine gewisse Befriedigung und Freude brachte, wenn ich es war, von der der Vampir zuerst trinken würde. Gedankenverloren reichte ich dem Kassierer meine Bankkarte. Ich sollte mir lieber nicht zu viele Gedanken darum machen, sonst bin ich letzten Endes nur enttäuscht, wenn er Marien zuerst auswählt. Außerdem will ich nicht, dass er meine Gefühle darüber mitbekommt. So bemüht wie er darum ist, uns alle gleich zu behandeln, würde es ihm am Ende noch unnötig Sorgen machen.

Ich legte gerade die Tasche mit den Einkäufen in meinen Fahrradkorb, als ich plötzlich die Stimme Meister Irvins in meinen Gedanken hörte. Er flüsterte meinen Namen, so leise, dass ich ihn fast nicht verstand. Verwirrt sah ich auf, doch ich konnte ihn nirgendwo entdecken. Als Nächstes spürte ich auf einmal einen unangenehmen Ruck durch meinen gesamten Körper gehen. Es fühlte sich an, wie ein Gummiband, das an mir hängt, und das in die Länge gezogen wurde, bis es so stark gespannt war, dass ich es kaum aushalten konnte. Der Zug wurde immer stärker und ich spürte einen Druck in meinem Herzen, als hätte sich etwas Schweres auf meine Brust gesetzt. Und dann, schließlich, zerriss es einfach. Ich sank auf die Knie und klammerte mich mit zitternden Fingern an meinem Fahrrad fest. Es war ein furchtbares Gefühl. Mir brach der Schweiß aus und ich bekam eine Gänsehaut.

„Ist alles in Ordnung?“

Ich blickte auf und sah in das faltige Gesicht einer alten Frau. Sie trug ein graues Jackett und eine dazu passende, ebenfalls graue Hose, aus einem billigen Stoff. Eine abgenutzte Lederhandtasche hing an ihrem schmalen Unterarm und ihre Fingernägel waren in dem gleichen Zinnoberrot angemalt, wie ihr in die Jahre gekommenes Modeaccessoire. Die hellblauen Augen der alten Dame besaßen einen besorgten Ausdruck und ließen mich auf ihre Frage hin eilig den Kopf schütteln. Als unsere Blicke sich begegneten, ließ sie die Panik, die sie in meinen Augen sah, irritiert einen Schritt zurücktreten. Ich war in einem Schockzustand und brauchte einen Moment, um ihr antworten zu können.

„Es … Es geht schon wieder. Wahrscheinlich nur der Kreislauf“, log ich, ohne rot zu werden. Wie um es ihr zu beweisen, dass es mir gut ging, richtete ich mich wieder auf und lächelte sie unbeholfen an. Die Rentnerin nickte nur, aber ich konnte an ihrem Gesichtsausdruck sehen, dass sie mir nicht ein Wort davon glaubte.

„Sie sollten etwas essen, Liebes, Sie sind ja ganz blass! Diese jungen Frauen heutzutage machen doch ständig irgendwelche Diäten. Warten Sie …“ Sie begann in ihrer roten Lederhandtasche herumzukramen. Dann, ein paar Sekunden später, streckte sie mir ein orangenes, in Plastik verpacktes Bonbon entgegen. Während ich es betrachtete, versuchte ich verzweifelt, die aufsteigende Panik in mir zu unterdrücken. Was ist das? Ich fasste mir an die Stelle, wo mein Herz saß und erschauderte. Ich habe das ungute Gefühl, dass irgendwas mit Meister Irvin passiert ist. Ich sollte so schnell wie möglich nach Hause. Sofort.

„Hier bitte.“ Fast hätte ich die alte Dame vergessen, die mir immer noch auffordernd die farbenfrohe Süßigkeit vor die Nase hielt.

Ich schüttelte den Kopf. „Das ist doch nicht nötig, ich …“

„Jetzt nehmen Sie schon.“

Ich seufzte und nickte schließlich. Wahrscheinlich werde ich sie schneller wieder los, wenn ich mitspiele. Unter ihrem strengen Blick schob ich mir das Bonbon in den Mund, doch fast im gleichen Augenblick musste ich an mich halten, es nicht sofort wieder auszuspucken. Der Geschmack nach Asche legte sich über meine Zunge und ich musste mich konzentrieren, einen aufkommenden Würgereiz zu unterdrücken. „Danke“, presste ich mit einem angestrengten Lächeln hervor.

Nachdem die alte Dame wieder gegangen war, schloss ich kurz die Augen und hörte angestrengt in mich hinein. Ich versuchte, meinen Meister zu spüren, doch so sehr ich nach der Präsenz des Vampirs suchte, ich konnte sie nicht finden. Eine betäubende Angst machte sich in mir breit. Seit ich zum ersten Mal von seinem Blut getrunken hatte und er von meinem, konnte ich die Verbindung zwischen uns immer spüren. Manchmal besser oder schlechter, je nachdem, wie weit wir voneinander entfernt waren. Doch jetzt herrschte an diesem sonst so freudigen Ort nur eine kalte, erdrückende Leere. Ich öffnete die Augen und kramte hektisch den Schlüssel für das Fahrradschloss aus meiner Hosentasche. Das ist nicht gut, dachte ich, es muss etwas passiert sein … Endlich schafften meine zittrigen Finger, das Schloss zu öffnen. So schnell ich konnte, schwang ich mich auf den Sattel und fuhr, wie von der Tarantel gestochen, zurück zu unserem Haus. Die Sonne versank langsam hinter den Häuserdächern und tauchte währenddessen alles in ein sanftes Licht. Von Weitem sah das Haus aus wie immer. Vor dem gepflegten Vorgarten wuchsen die roten Rosen und Efeu rankte über die massive Fassade aus braunem Backstein. Dort angekommen ließ ich das Rad achtlos ins Gras fallen und rannte zur Haustür. Die Einkäufe purzelten dabei aus dem Fahrradkorb heraus, aber das war mir in diesem Moment völlig egal. Noch immer konnte ich die Präsenz meines Meisters nicht spüren, obwohl er eigentlich zu Hause sein musste. Noch nie war er einfach so gegangen, ohne jeweils uns beiden persönlich Bescheid zu geben. Ich wollte eigentlich sofort ins Haus stürmen, aber auf einmal hielt mich etwas davon ab. Verwirrt starrte ich auf die Türklinke, bis ich bemerkte, was mich daran so irritierte. Die Haustüre stand einen Spalt offen. Das war ungewöhnlich. Marien würde niemals so kurz nach der Rückkehr des Meisters freiwillig dessen Nähe verlassen. Und Irvin würde nicht nach draußen gehen, solange es noch hell war. Vampire mögen das Sonnenlicht nicht. Selbst an bewölkten Tagen sind sie nur ungern unter freiem Himmel anzutreffen. Vorsichtig hob ich die Hand und stieß sie mit einem Ruck auf. Der Flur, der sich vor mir ausbreitete, war düster und leer.

„Marien? Meister Irvin? Seid ihr da?“

Ich machte vorsichtig einen Schritt hinein. Sofort kam mir ein vertrauter Geruch entgegen. Es war der von Blut. Doch auch wenn meine Sinne durch das Vampirblut meines Meisters geschärft worden waren, musste es dennoch mehr als nur eine kleine Menge davon sein, wenn ich sie bereits hier wahrnehmen, aber nicht sehen konnte. Ich schauderte und lief weiter, dabei musste ich mich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es kam mir vor, als würde mich etwas zurückhalten wollen, weiterzugehen. Mein Instinkt oder eine Art Vorahnung, die mir auf dem gesamten Körper eine Gänsehaut verursachte. Trotzdem stand ich bald vor Irvins Arbeitszimmer. Die Tür war geschlossen, aber ich konnte den starken Blutgestank dahinter deutlich riechen. Mein Mund wurde furchtbar trocken. Langsam hob ich die Hand und legte sie auf den Türgriff. Erst nach ein paar Sekunden konnte ich mich dazu überwinden, die Klinke herunterzudrücken. Mit einem leisen Seufzer schwang die Tür auf. Was meine Augen dann erblickten, nahm mir für einen Moment den Atem. Mein Verstand kämpfte dagegen an und kurz kam mir der Gedanke, dass das alles nur ein Albtraum war, aus dem ich einfach nur aufwachen müsste. Aber ich schlief nicht. Und das hier war kein Traum, es war die brutale Realität.

Der ganze Raum war von Blut bedeckt. Es hing überall. An den Wänden und Bücherregalen, sogar an der Decke. Außerdem musste es einen Kampf gegeben haben, denn der gesamte Raum war verwüstet worden. Meister Irvins Schreibtisch lag in Trümmern auf dem dunkelgrünen Teppich. Und dann, war da noch etwas anderes. Ich bemerkte etwas hinter den Trümmern liegen. Es war Asche.

Ich keuchte erschrocken auf. Nur langsam ließ ich die Gedanken zu, die sich in diesem Moment unglaublich zäh in meinem Kopf formten. Das hier war nicht einfach nur Asche. Es waren die Überreste eines Vampirs. Meine Beine gaben nach und ich sank vor dem Aschehaufen auf die Knie. Vorsichtig wischte ich den grauen Staub zur Seite, um den darunterliegenden Stofffetzen freizulegen. Als ich erkannte, was es war, füllten sich meine Augen mit Tränen. Es war Meister Irvins Kleidung. Das hier waren seine Überreste. Er war Tod.

Ich hörte einen markerschütternden Schrei und zuckte zusammen. Dann erst wurde mir klar, dass ich es war, der ihn produziert hatte. Ein Schluchzen durchfuhr meinen gesamten Körper. Was ist hier nur geschehen? Warum ist Meister Irvin Tod? Wer hat das getan? Und wo ist Marien? Ist das ihr Blut, das überall im Raum zu sehen ist? Ist sie etwa auch Tod? All diese Fragen schwirrten in meinem Kopf herum und hinderten mich daran, klar denken zu können. Daher merkte ich nicht, dass ich schon längst nicht mehr allein war.

„Vida?“

Ich fuhr erschrocken herum, obwohl ich die Stimme sofort erkannte. Sie gehörte der Vampirin Mina, Irvins sehr alter Freundin. Stumm starrte ich sie an. Kein Wort kam über meine Lippen. Aber das musste es auch nicht. Nichts, was ich sagen konnte, hätte den Schmerz und die Pein, die ich gerade empfand, in mir zum Ausdruck bringen können. Ich sah den geschockten Ausdruck in ihrem schönen Gesicht. Die gelbroten Augen der alten und doch so jung aussehenden Vampirin weiteten sich, als sie begriff, was hier passiert sein musste. Doch sie hatte sich besser im Griff als ich.

„Lauren! Nimm Vida und bringe sie hier raus. Sofort!“

Erst jetzt bemerkte ich den jungen Vampirschüler hinter ihr. Ich kannte Lauren gut. Er war ungefähr so alt wie ich, aber bereits seit er siebzehn war in dem Dienst seiner Meisterin, die ihn irgendwann zu einem vollwertigen Vampir machen würde. Dadurch, dass er schon einige Jahre das Blut mit ihr teilte, besaß er deutlich ausgeprägtere Vampirfähigkeiten als ich. Und er begriff sofort, was seine Meisterin von ihm wollte.

„Natürlich, Meisterin Mina. Ich kümmere mich um sie.“ Er beugte sich zu mir herunter und zog mich mühelos fort von den Überresten meines Meisters. In seinem sonst so mürrischen Gesicht erkannte ich einen mitfühlenden Ausdruck. „Komm Vida, gehen wir. Meine Meisterin wird sich um alles kümmern, keine Sorge.“

Wir gingen aus dem Raum heraus, doch als wir an der Vampirin vorbeiliefen, blieb ich ruckartig stehen. Ich spürte Laurens fragenden Blick auf mir ruhen, doch meiner Aufmerksamkeit galt seiner Meisterin, deren blondes Haar in goldenen Wellen über ihre lange, schwarze Robe fiel.

„Was ist mit Marien? Ist sie etwas auch …?“

Die Vampirin drehte sich zu mir um und schüttelte den Kopf. „Sie ist nicht hier. Ich kann niemand weiteren in diesem Haus spüren, außer uns.“

„Aber all das Blut …“, stammelte ich verwirrt.

Mina blickte sich nachdenklich um. „Es ist zum Teil Mariens und zum Teil ist es das auch nicht.“

„Und wem gehört das andere Blut?“ Ich wusste, dass es nicht von Meister Irvin stammen konnte. Wenn ein Vampir starb, zerfällt auch sein Blut zu Staub.

„Es ist nicht menschlich. So viel kann ich mit Sicherheit sagen.“ Sie bemerkte den fragenden Ausdruck in meinen Augen und schüttelte den Kopf. „Lauren, bring sie bitte nach draußen. Das hier ist kein Ort mehr für sie.“

Erst nach ein paar Minuten wurde mir bewusst, was die Vampirin eigentlich damit gemeint hatte. Wir saßen gerade draußen, auf einer Bank im Garten, als Lauren mir ein Glas Wasser reichte. In diesem Moment der Erkenntnis rutschte mir das Gefäß durch meine Finger und zersprang, wie meine Seele zuvor, auf dem steinernen Boden in tausend Einzelteile. Ich bin vollkommen mittellos. Das Haus, meine Sachen, all das gehörte meinem toten Meister. Ich hatte nichts. Ich war allein. Es fröstelte mich plötzlich und ich drückte meine Arme enger an meinen Körper. Lauren musste es gemerkt haben, denn er zog sich kurzerhand seine Jacke aus und hing sie mir über die Schultern.

„Tut mir leid, wegen deinem Meister. Ich selbst kann mir nicht vorstellen, wie ich reagiert hätte, wäre das die Asche meiner Meisterin gewesen. Ich glaube, ich wäre wahnsinnig geworden.“

Ich starrte weiter auf die Scherben am Boden. Im Moment brachte ich es nicht fertig ihm in die Augen zu sehen, ohne einen Heulkrampf zu bekommen.

„Wer tut so etwas? Wer? Mein Meister war so sanft, fast wie ein Mensch. Er konnte niemandem etwas zu Leide tun. Warum hat man ihn getötet?“

Lauren setzte sich neben mich auf die Bank. „Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist, dass meine Meisterin sich darum kümmern wird, den Mörder Irvins zu finden und zur Strecke zu bringen. Und sie wird Marien finden. Bestimmt wird sie sich auch um dich kümmern. Vielleicht nimmt sie dich als ihre neue Schülerin auf? Dann wären wir eine Familie.“

Ich musste trotz meines Kummers kurz lächeln. Nicht nur, weil der sonst so ruhige und mürrische Vampirdiener vor mir so bemüht war, mich aufzumuntern, sondern weil ich kurz daran erinnert wurde, wie sehr ich meinen Meister eigentlich liebte. Denn Lauren liebte seine Meisterin genauso.

„Ich weiß nicht …“, antwortete ich zögernd. Eigentlich konnte ich mir nicht vorstellen die Schülerin eines anderen Vampirs zu werden. Ich wollte Meister Irvin und keinen anderen. Auch konnte ich mich gerade nicht im Geringsten mit dem Gedanken anfreunden einen Bund mit der hübschen Vampirin einzugehen. „Ich glaube nicht Lauren, aber Danke, dass du mich aufmuntern willst.“ Ich hob den Blick und starrte traurig hinüber zu dem alten Kirschbaum, der allein und einsam auf der großen und mit Wildblumen bewachsenen Wiese stand. Ich hätte auch so niemals hierbleiben können. Alles um ich herum erinnerte mich an meinen Meister. Der Schmerz, der sich in mir ausbreitete, fühlte sich an, als würde ich innerlich verbrennen. „Wenn ich nur wüsste, ob Marien noch lebt“, flüsterte ich verzweifelt. „Vielleicht würde das Loch in meiner Brust etwas heilen, wen es ihr nur gut geht.“

Es kamen viele Leute zu der Beisetzung, die in einem abgelegenen Turm nicht weit von Meister Irvins Haus stattfand. Er war bei den Vampiren und den anderen nicht-menschlichen Wesen sehr beliebt gewesen. So schüttelte ich viele Hände und hörte viele Stimmen in dieser Nacht, doch verstand ich weder ihre Beileidsbekunden noch ihre aufmunternden Worte. Alles wirkte auf mich leblos und grau. Die Töne waren nur ein dumpfes, monotones dahinplätschern im Hintergrund. Ich hatte das Gefühl zu ersticken.

„Mein Beileid zu deinem tragischen Verlust, junge Vida.“

Überrascht sah ich auf. Die Stimme war zu mir durchgedrungen, wie ein Pfeil, der unaufhaltsam durch die Luft zischte. Ich hatte die Töne der Stimme nicht nur von außen wahrgenommen, ich hörte sie auch in meinen Gedanken. Der Mann, der plötzlich vor mir stand, war in einem schwarzen, vornehmen Anzug gekleidet. Seine zu einem langen Zopf zurückgebundenen Haare waren ebenfalls pechschwarz. Er sah mich aufmerksam mit seinen dunkelroten Augen an, die durch seine schneeweiße Haut noch stärker hervortraten. Ich wusste sofort, wer er war. Eigentlich hätte ich dafür nicht erst aufsehen müssen. Es war klar, dass ich einen durchaus mächtigen und sehr alten Vampir vor mir stehen hatte. Nur solche konnten ohne den Bund des Blutes so einfach in die Köpfe anderer eindringen. Er reichte mir seine Karte.

„Ich bin Sefraim. Ein Mitglied des Verbundsrats.“

Meine Augen wurden groß. Er ist einer der mächtigsten Frauen und Männer des Zwielichts!, dachte ich ehrfürchtig und erinnerte mich daran, dass die Verwalter, wie die Ratsmitglieder ebenfalls genannt wurden, es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die Grenze zwischen dem Diesseits und der Anderswelt zu schützen. Die Anderswelt, so hatte es mir mein Meister einmal erzählt, war von Wesen bewohnt, die die Macht hatten, die gesamte Menschheit in kürzester Zeit auszulöschen. Früher, als die Grenze zwischen den Welten noch besonders dünn war, gab es viele, die ihnen zum Opfer gefallen waren. Doch Vampir, Werwölfe, Sirenen und andere Kreaturen, die mit der Zeit von den Menschen abhängig geworden waren, schlossen sich damals gegen jene zusammen, die ohne Nutzen und nur für sich selbst töteten. Das Zwielicht war geboren, eine Organisation, die dafür sorgte, dass sich die anderen, weitaus bösartigeren Kreaturen, von ihrer Nahrungsquelle, Gefäß oder was auch immer, fernhielten. Auch mein Meister hatte für den Verbundsrat bei der Grenzwacht gearbeitet. Er hatte mir einmal erklärt, wie man sich die Grenze zwischen den Welten vorstellen musste, aber ich hatte es nie wirklich verstanden. Irvin erzählte einmal, man müsse sich die Realität der Grenze, wie ein Labyrinth vorstellen, dass zwischen dieser und der Anderswelt existierte. Und je stärker und machtvoller das Wesen ist, das auf die andere Seite möchte, desto schwieriger wird es, den Weg hindurch finden können. Aber er sagte auch: Das einzige Wesen, dass dieses Labyrinth nicht betreten muss, ist der Tod. Du kannst zwar versuchen ihm zu entkommen, aber es gibt keinen Ort, den er nicht betreten kann. Also sei dir gewahr, deine Zeit hier zu nutzen. Wenn es geht, bis in alle Ewigkeit.

Mir fiel ein, dass ich jemanden noch eine Antwort schuldig war und sah erschrocken auf. Der Vampir vor mir war alles andere als ungehalten, aufgrund meiner schlechten Manieren. Er blickte mich mit einer so unendlichen Geduld an, dass ich mir sicher war, dass er um einiges älter sein musste, als ich es für möglich gehalten hatte. Und dann fiel mir auf einmal wieder ein, dass er meine Gedanken mitlas. Sein Lächeln wurde breiter. Schnell beugte ich peinlich berührt das Haupt.

„Natürlich seid Ihr das. Ich danke Euch für Euer Kommen, Verwalter Sefraim … Aber … Erlaubt Ihr mir eine Frage?“

Er nickte leicht und strahlte damit eine unfassbare Autorität aus. „Natürlich.“

„Versteht mich bitte nicht falsch, aber was sucht Ihr hier? Mein Meister war ein Verfechter des Zwielichts gewesen, doch tat er nichts anderes als all die anderen Wächter seines Ranges. Womit hat er die Ehre Eurer Anwesenheit verdient?“

Das Lächeln verblasste auf einmal auf dem edlen Gesicht. Plötzlich beugte er sich zu mir hinab und ich musste mich zusammenreißen, nicht zurückzuzucken.

„Irvin war einst einmal mein Schüler gewesen“, flüsterte er mir ins Ohr.

„Ihr seid sein Erschaffer!“, flüsterte ich überrascht zurück. Meister Irvin hatte mir einmal erzählt, dass sein ehemaliger Meister ein hohes Amt in der Organisation einnahm, aber nicht, dass er einer ihrer Anführer war.

Ihr seht also, ich bin in dieser Sache persönlich befangen, sprach seine Stimme erneut in meinem Kopf. Sie war mit einer so tiefen Traurigkeit durchtränkt, dass es mir selbst die Tränen in die Augen trieb. Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstand, und er zog sich wieder zu seinem vorherigen Abstand zu mir zurück.

„Als sein nächster Verwandter ist es meine Pflicht, sich um seine Nachkommenschaft zu kümmern und damit die Gebote unserer Rasse einzuhalten.“

Fragend sah ich ihn an. „Und was besagen diese Gebote?“

Er hob weder spöttisch die Augenbrauen noch zeigte er sich aufgrund meiner Unwissenheit überrascht. Stattdessen antwortete er mir mit ruhiger Stimme: „Die Schüler eines verstorbenen Meisters werden in die Obhut seines ehemaligen, letzten Schülers gegeben, der zu einem der Unseren wurde.“

Perplex starrte ich den alten Vampir an. Genau in diesem Moment kam der Bestatter mit der Urne meines Meister die Treppe des Turms hinaufgelaufen. Sefraim wandte sich ihm entgegen und nickte respektvoll. So konnte er den verunsicherten Ausdruck auf meinem Gesicht nicht sehen, doch ich war ziemlich sicher, dass er ihn auch so spüren konnte. Ich muss also nicht zurück? Ich habe einen Ort, wo ich hin kann?, schoss es mir auf einmal durch den Kopf und im selben Moment schämte ich mich für meine Selbstsüchtigkeit. Irvin ist mein Meister. Kein anderer könnte jemals seinen Platz einnehmen. Mein zu Hause ist mit ihm gestorben. Aber … Wenn ich nicht den Bund des Blutes mit einem neuen Meister eingehe, würde ich weit mehr verlieren als das. Ich müsste wieder zurück in die Menschenwelt, ohne meine Erinnerungen an das Zwielicht und all jene Wesen, denen ich dort begegnet bin. Außerdem habe ich keine andere Wahl als mich neu zu binden, wenn ich jemals zu einer der ihren werden möchte. Aber … Einen Meister zu haben mit dem man nicht harmoniert, kann für einen Schüler die Hölle bedeuten. Will ich das Risiko wirklich eingehen? Ich dachte immer, es wäre Meister Irvin, der mich irgendwann zu einer Vampirin machen würde. Aber wenn er oder sie ein ehemaliger Schüler von ihm war, kann der- oder diejenige nicht so schlecht sein, oder? Allerdings ... Hat mein Meister nie davon geredet, dass er einmal einen Schüler vor mir und Marien gehabt hatte. Es fröstelte mich plötzlich und das würgende Gefühl in meiner Kehle, dass mich schon die ganze Nacht über begleitet hatte, wurde noch stärker. Ich schob mein Unwohlsein auf die Entzugserscheinungen, die ich von dem Blut meines Meisters bekam. Das Vampirblut wurde von meinem Körper immer weiter abgebaut, bis ich wieder ein normaler Mensch sein würde. Ansonsten hätte ich mir in diesem Moment meine lähmende Angst eingestehen müssen, die mich wie die Klauen eines Dämons packte und nicht wieder losließ.

Der Vampirpriester setzte zu einem wehklagenden Gesang an und alle Anwesenden verstummten. Langsam und ehrfürchtig schritt er zu der gewaltigen Öffnung in der Turmwand herüber. Diese gab einen atemberaubenden Ausblick auf die Stadt und Berge frei, die ich vor Kurzem noch mein zu Hause genannt hatte. Die Sonne ging gerade auf und die ersten Strahlen kletterten über den Gebirgskamm. Der Bestatter trat an den Abgrund heran und öffnete die aus weißem Marmor gefertigte Urne. Nach wenigen Augenblicken wurde die Asche meines toten Meisters vom Ostwind davongetragen, hinab ins Tal. Irvins Nacht hatte geendet. Aber meine war erst am Beginnen. Und ich schwor mir feierlich, dass sie eines Tages vom Blut der Mörder meines Meisters durchtränkt sein würde. Auch wenn das bedeutete, ich müsste dafür durch die Hölle gehen.

Kapitel 2: Das Schloss

Sefraim persönlich holte mich von dem überschaubaren und ziemlich heruntergekommenen Flughafen, einer verschlafenen Kleinstadt im Nirgendwo ab. Als eine der wenigen Passagiere, die aus der winzigen Propellermaschine trat, konnte ich ihn schon von Weitem sehen. Er stand, gekleidet in einen weißen Anzug mit silberner Krawatte, in der Nähe der Landebahn. Geduldig lehnte er dort an der Tür eines schwarzen Mercedes und wartete auf mich. Die wenigen Strahlen der Abendsonne warfen lange Schatten auf die schlecht befestigte Straße und ließen die Schäden darin, wie tief klaffende, schwarze Löcher erscheinen. Die kühle, klare Luft hier vertrieb meine Müdigkeit durch den langen Flug mit einem Schlag und ließ mich leicht frösteln. Mit steifen Beinen stolperte ich schließlich die schmalen Stufen der Passagiertreppe herunter, während ich mich darauf konzentrierte auf den mit Tau bedeckten Stufen nicht auszurutschen. Wenn ich fallen und mir dabei den Hals breche würde, wäre das für mich so peinlich, dass mich meine Scham wahrscheinlich noch im Tod überleben würde.

Obwohl es fast Nacht war, trug der alte Vampir eine rote Sonnenbrille. Vielleicht um seine empfindlichen Augen vor der Sonne zu schützen, oder aber, einfach als Modeaccessoire. Ich wusste es nicht. Es war erst das zweite Mal, dass ich ihm begegnete, aber ich musste jetzt schon zugeben, dass mich Irvins ehemaliger Meister beeindruckt hatte. Er war nicht nur höflich, sondern auch ein äußerst aufmerksamer Vampir und mindestens genauso nett, wie Meister Irvin es gewesen war. Aber warum sollte es auch anders sein? Schließlich war Sefraim sein Lehrer gewesen. Ich schluckte schwer. Bei dem Gedanken an meinen ehemaligen Meister schnürte sich mir noch immer die Kehle zu. Ich versuchte angestrengt, nicht weiter an ihn zu denken. Stattdessen setzte ich weiter einen Fuß vor den anderen und lief auf den Verwalter des Zwielichts zu, der mir schon weitem aufmunternd zulächelte. Ich musste zugeben, dass ich es Sefraim hoch anrechnete, dass er so auf meine menschlichen Bedürfnisse Rücksicht nahm und mir mit der Reise noch etwas Zeit zum Verarbeiten meines Verlusts gab. Denn, schließlich, hätte er mich auch mühelos am Morgen des Begräbnisses vor dir Tür meines neuen Meisters oder meiner neuen Meisterin absetzen und sich damit schnell aus der Affäre ziehen können. Doch anstatt mich in Sekundenschnelle vor mein neues Heim zu teleportieren, öffnete er nun die Tür seines eleganten Fahrzeugs und ließ mich geduldig auf der Beifahrerseite einsteigen. Viel Gepäck besaß ich nicht, denn ich hatte mich entschieden, fast nichts aus meinem alten zu Hause mitzunehmen. Es waren zu viele schmerzliche Erinnerungen damit verbunden, sodass ich es einfach nicht hatte über mich bringen können, mehr als nur das Nötigste mitzunehmen. Mein Rucksack, der mit ein paar wenigen Habseligkeiten gefüllt war, stellte ich mir auf den Schoß. Sefraim hatte sich keine Mühe gemacht ihn mir abnehmen zu wollen. Wahrscheinlich war es seiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, wie sehr ich mich wie ein Rettungsanker an ihn klammerte. Der alte Vampir stieg ein und startete ohne ein weiteres Wort den Motor.

Wir waren schon über eine Stunde unterwegs und hatten die fremde Stadt und jegliche Zivilisation schon längst hinter uns gelassen, als er zum ersten Mal, seit unserem ersten Treffen, mit seiner geschmeidigen Stimme das Wort an mich richtete.

„Sein Name ist Avalon. Er lebt in einem abgeschiedenen Schloss in den alten, rumänischen Wäldern.“ Ich nickte stumm, hatte aber gleichzeitig eine Unmenge von Fragen in meinem Kopf. Allen voran, wie ich meinen neuen Meister einzuschätzen hatte. Sefraim redete währenddessen weiter: „Diese sind im Herbst übrigens selbst für Menschenaugen von einer besonderen, atemberaubenden Faszination. Ich denke sie werden dir gefallen.“

Sein Versuch, meine Gedanken von dem abzubringen, was ich eigentlich wissen wollte, ließ mich stutzig werden. Der alte Vampir bemerkte es und ein entschuldigender Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit. In Gedanken formulierte ich die Frage erneut, diesmal konkreter. Er wich meinem Blick aus und sah auf die Straße. Wenn er ein Mensch gewesen wäre, hätte mich diese Gestik nicht schockiert. Doch da er als Vampir wahrscheinlich mit verbundenen Augen noch genug wahrnehmen könnte, um den Wagen perfekt in der Spur zu halten, wusste ich, dass die Antwort nicht zu meinen Gunsten ausfallen sollte.

„Avalon hat sich bisher seiner Pflicht gegenüber dem Zwielicht entzogen. Es war der Wunsch deines alten Meisters gewesen, dass er seinen Platz dort einnehmen würde und ihm damit von seinem eigenen Dienst befreit, so wie es unsere Gesetze verlangen. Aber er lehnte es ab. Er verweigerte seine Pflicht und lebt lieber das Leben eines vogelfreien Vampirs.“

Erschrocken sah ich ihn an. Vogelfreie Vampire zogen sich oftmals nicht ohne Grund vom Zwielicht zurück. Ist er etwa ein Süchtiger?, schrie es plötzlich in meinen Gedanken. Gehört er zu den Vampiren, die sich nur einem unterworfen fühlen: ihrem Durst?

Sefraim starrte weiterhin nach vorne. „So lauten zumindest die Gerüchte, ja.“

Ich schluckte schwer und drückte den Rucksack auf meinem Schoß noch stärker an mich. Irvin hatte nie von ihm gesprochen. Jetzt weiß ich auch warum. So jemanden soll ich dienen? Allerdings, wenn ich nicht den Bund des Blutes mit ihm eingehe, muss ich wieder zurück ins Licht, in die Menschenwelt. Und ich würde das Zwielicht, die Welt, die ich für zwei Jahre meine eigene nannte, vergessen müssen. Die Vampire würden meine Erinnerungen an Meister Irvin für immer löschen. Und ich könnte niemals seine Mörder finden und für ihre Taten bezahlen lassen. Ich drückte den Rucksack so eng an mich, dass ich fast keine Luft mehr bekam.

Den Rest des Wegs verbrachten wir in Schweigen und ich war froh darum. Sefraim schaltete das Radio ein, um meinen Gedanken wenigstens ein bisschen Privatsphäre zu verschaffen. Als der Wagen dann langsamer wurde und schließlich zum Stehen kam, traute ich mich nicht, aufzublicken.

„Nimm dir so lange Zeit, wie du brauchst. Ich warte draußen auf dich.“ Ohne eine Antwort meinerseits abzuwarten, stieg der Vampir aus dem schwarzen Mercedes aus. Ich blieb, wo ich war, und versuchte das letzte bisschen Mut zusammenzukratzen, das noch in mir war. Als ich mich schließlich traute den Blick von den beigefarbenen Amateuren zu heben und das alte, in die Jahre gekommene Schloss sah, wurde mir ganz komisch zu mute. Sefraim stand dort vor einem riesigen, eisernen Tor. Es war nicht verschlossen und der Vampir stieß es so mühelos aus, als wäre es aus Watte, und nicht aus Eisen gefertigt worden. Dann trat er ein. Ich seufzte schwer, dann stieg ich ebenfalls aus. Die Luft war kühler als in der Stadt und prickelte unangenehm auf meiner Haut. Außerdem fiel mir sofort der Geruch nach verrottenden Blättern und feuchter Erde auf, der von dem angrenzenden Wald zu uns herüberwehte. Während ich zögerlich durch das offene Tor schritt, drehte sich der alte Vampir plötzlich auf halben Weg zu mir um. Er nickte mir aufmunternd zu, dann lief er weiter die mit Laub bedeckte Auffahrt entlang. Ich folgte ihm mit etwas Abstand. Die Türme des kleinen Schlosses ragten dabei drohend vor mir auf und ihr Anblick ließ mir einen eiskalten Schauer über den Rücken laufen. Ich fand, sie hatten Ähnlichkeit mit den Fangzähnen eines Vampirs, bereit, ihr Opfer zu verschlingen und es nie wieder loszulassen.

Drinnen war es überraschend sauber. Im Eingangsbereich verlief eine breite Treppe nach oben in das erste Geschoss und ein roter Läufer war auf den dunklen Holzstufen ausgelegt worden. Am Fuß der Treppe befanden sich, rechts und links am Geländer, zwei hölzerne Stauen eines geflügelten Hundes. Dicke, runde Kerzen standen auf ihnen und beleuchteten den großen, hohen Raum nur spärlich.

Als der Verwalter des Zwielichts plötzlich stehen blieb, folgte ich seinem Beispiel. Er drehte sich langsam zu mir um. Dabei fiel mir auf, dass seine Augen etwas fixierten, das weiter hinter mir Stand.

„Avalon. Ich dachte schon, du würdest mir die Freude verwehren, dich zu begrüßen.“

Erschrocken zuckte ich zusammen, während mir klar wurde, dass wir längst nicht mehr allein waren. Nervös beobachtete ich, wie Sefraim meinen zukünftigen Meister aufmerksam musterte. Ich hingegen, stand wie eingefroren da und rührte mich nicht. Solange das Mitglied des Verbundsrats auf eine Antwort wartete, konnte ich sehen, wie Sefraim unbewusst die Zähne bleckte. Anscheinend war das Verhältnis zwischen den beiden alles andere als harmonisch.

„Lass dieses Geplänkel und sag mir, was du hier zu suchen hast, Großvater.“ Die Stimme hinter mir war kühl und düster. Das letzte Wort sprach er so angewidert aus, dass mir der fehlende Respekt, dem er dem älteren Vampir entgegenschleuderte, den Atem nahm. Sefraim sagte nichts, aber ich konnte sehen, dass es ihn ebenfalls ärgerte.

„Und warum bringst du ein Menschenmädchen mit dir, die Irvins Geruch an sich kleben hat? Hattest du mir nicht erzählt, dass seine Schülerin ebenfalls das Zeitliche gesegnet hatte?“

Die Art wie er über Meister Irvin und Marien sprach, gefiel mir ganz und gar nicht. Seine Stimme war mit so viel Gleichgültigkeit erfüllt, dass mir der blanke Zorn durch die Adern schoss. Ich vergaß meine Unsicherheit und meine Angst für einen Moment völlig und drehte mich mit einem Ruck zu dem Vampir um. Als sich unsere Blicke trafen, durchfuhr ein kalter Schauder meinen gesamten Körper. Seine schrecklichen, roten Augen brannten sich tief in meine Seele und machten es mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die schwarzen, glatten Haare des Vampirs waren schulterlang und fiel ihm offen über den breiten Rücken. Im Licht der Kerzen hatten sie einen fast grünlichen Schimmer. Ich musste mir eingestehen, dass er recht gut aussah, aber an Meister Irvins Schönheit kam er nicht heran. Avalon trug ein schwarzes, langärmliches Shirt und dazu eine passende Hose in derselben Farbe. Beides lag eng an seinem Körper an und betonte seine muskulöse, schlanke Gestalt. Seine Füße waren nackt, aber viel zu sauber für jemanden, der aussah, als käme er gerade von draußen. Er erwiderte meinen musternden Blick mit einem arroganten Lächeln seiner schwungvollen, schmalen Lippen. Ich musste meine gesamte Willenskraft aufbringen, um seinen hässlichen Blick standhalten zu können. Zum Glück erhob dann Sefraim wieder das Wort und Avalons Augen ließen endlich von mir ab.

„Ich sagte zu dir, dass eine seiner Schülerinnen vermisst wird.“

Ein verächtliches Schnauben war von Avalon zu hören, was mir zeigte, dass er nicht am entferntesten daran glaubte, dass Marien noch am Leben war. Und, wenn ich es mir ehrlich eingestand, dachte ich das genau so wenig. Der Gedanke, dass ich irgendetwas mit diesem schrecklichen, wilden Vampir vor mir gemeinsam haben könnte, hinterließ einen bitteren Geschmack nach Galle in meinem Mund.

„Das hier ist Vida“, sprach Sefraim mit strenger Stimme. „Die andere Schülerin und Dienerin von Meister Irvin. Als Irvins letztes Kind der Nacht, ist es deine Pflicht, ihre Ausbildung fortzusetzen.“

Ich bemerkte, wie mich Avalon kurz erneut, und voller Abneigung, musterte. „Der Alte hatte sogar zwei Schülerinnen auf einmal? Eine konnte seinem Durst wohl nicht gerecht werden.“

„Sprich nicht so über ihn! Meister Irvin war ein besserer Vampir, als du es je sein könntest!“ Die Worte kamen einfach so über meine Lippen, aber ich bereute sie in diesem Moment kein bisschen. Jemand so arrogantes wie er, durfte am allerwenigsten so von ihm sprechen. Belustigt über mein selbstmörderisches Verhalten zuckten für einen Augenblick meine Mundwinkel nach oben. Nach all dem, was ich erlebt hatte, brannten mir wohl langsam die Sicherrungen durch.

Die beiden Vampire starrten mich überrascht an. Plötzlich, von einem Moment auf den anderen, stand Avalon direkt vor mir, nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Drohend bleckte er die Zähne.

„Ich wüsste nicht, wer Irvins kleinen Schoßhund erlaubt hat, den Mund aufzumachen.“

Auf einen Schlag wurde mir wieder bewusst, wen ich da eigentlich vor mir hatte. Die meisten Vampire, die ich kannte, waren zivilisiert, das hieß jedoch nicht, dass sie einen Menschen nicht wie ein Stück Papier in der Luft einfach zerfetzen konnten, wenn es ihnen beliebte. Vampire, die sich an die Gesetze des Zwielichts hielten, vermieden normalerweise unnötiges Blutvergießen. Doch vor mir stand ein Wesen der Nacht, das sich keinem Gesetz der Vampirgesellschaft unterworfen fühlte. Unweigerlich machte ich einen ängstlichen Schritt zurück. Die kalten Augen vor mir fixierten mich und mir drohte übel zu werden. Doch dann drängte Sefraim sich zwischen uns und löste Avalons Bann über mich.

„Du bist jetzt für sie verantwortlich, Avalon.“ Er trat noch näher an ihn heran. Seine sonst so samtige Stimme klang auf einmal drohend. „Ich habe dein abscheuliches Verhalten lange genug vor den anderen Mitgliedern des Verbundsrats beschönigt. Wenn du nicht kooperierst, kann ich auch ganz andere Seiten aufziehen.“

Ich beobachtete, wie Avalon bei diesen Worten beleidigt den Mund verzog. „Ich habe das Recht, mich den Gesetzen des Zwielichts zu entziehen. Schließlich bin ich ein freier Vampir und lebe mit den Konsequenzen meiner Entscheidung. Ich schulde weder Irvin noch Euch, Sefraim, irgendetwas.“

Ein Zischen drang daraufhin aus der Kehle des alten Vampirs und ich sah befriedigt, wie Avalon ein Zucken nicht unterdrücken konnte. Es war kein Geheimnis, dass Sefraim weit aus mächtiger war als der junge Vampir vor ihm. Auch wenn es durchaus nicht leicht erschien, einen Unsterblichen zu töten, war ich mir sicher, dass diese Kreatur der Nacht, gekleidet wie ein ausländischer Geschäftsmann, genau wusste, was er zu tun gehabt hätte.

„Vielleicht hast du keine Schuld gegenüber dem Zwielicht, aber die Schuld gegenüber dem Vampir, der dir dieses Leben geschenkt hat, kannst du dich nicht einfach entziehen, Avalon. Es ist eine Schuld, die jeder von uns trägt und die wir nie begleichen können. Ganz egal, was wir tun.“

Ich war überrascht zu sehen, wie Avalons Gesicht für einen kurzen Moment entgleiste. Der Augenblick war jedoch zu kurz für mich gewesen, um die aufblitzende Emotion wirklich zu erfassen. Am Ende bin ich mir selbst nicht sicher gewesen, ob ich mir das Ganze vielleicht einfach nur eingebildet hatte. Der Vampir taumelte ein paar Schritte zurück, dann blickte er mit hasserfüllter Miene kurz zu mir herüber, bevor er an meiner Wenigkeit vorbei, die Treppe hinauf stürmte. Die Tür krachte hinter ihm mit einem lauten Knall in den Rahmen. Sefraim seufzte nur und sah mich mitleidig an.

„Es tut mir leid, Vida, aber mehr kann ich nicht für dich tun. Mir sind die Hände gebunden. Ich wünsche dir viel Glück, Menschenkind. Suche dir ein Zimmer im Ostflügel. Von dort hast du den schönsten Ausblick auf den Wald.“ Mit diesen Worten sah ich, wie er sich langsam in schwarzen Nebel auflöste.

„Wartet!“, rief ich noch und stürmte zu der Stelle hin, wo Sefraim eben noch gestanden hatte. Doch meine Hände griffen nur ins Leere. Der Teleportationsnebel löste sich auf und ich war allein. Verlassen von allen die ich liebte, an einen Ort, an dem mich niemand wollte. Ich hörte von draußen das Aufheulen des Motors, als Sefraim den Wagen startete, dann den Rückwärtsgang einlegte, wendete und davonfuhr. In diesem Moment legte sich ein Gefühl von Ohnmacht, wie eine Kralle, um mein Herz. Ich stand für ein paar Augenblick nur da und starrte einsam und verloren ins Nichts.

Kapitel 3: Der Bund des Blutes

Ich folgte Sefraims Empfehlung und suchte mir ein Zimmer im Ostflügel. Die Wände dort waren mit dunklem Holz vertäfelt worden und die Einrichtung musste ungefähr genauso alt wie das Schloss selbst sein. Ein großes Jagdgemälde hing über einem alten Kamin und weitere Malereien aus Öl prangten verteilt an den vier Wänden meines neuen, kleinen Reichs. Das Zimmer besaß einen Erker, von dessen hohen Fenstern man wirklich einen malerischen Ausblick auf die herbstlich gefärbten Wälder hatte, die auf einer hügeligen Landschaft standen.

Erschöpft ließ ich mich auf das große Himmelbett am anderen Ende des Raumes fallen. Staub wirbelte dabei auf und kitzelte mich in der Nase. Anscheinend hatte in diesem Zimmer schon lange keiner mehr gewohnt. Ich starrte stumpf zur bemalten Decke hoch und verlor mich bald in den rankenden und verschnörkelten Mustern über mir. Langsam überfiel mich die Müdigkeit und ich hieß sie mit offenen Armen willkommen. Gerade wollte ich nichts lieber tun, als mich einfach nur der betäubenden Finsternis des Schlafs entgegenstrecken. Denn, nur so würde ich die düsteren Gedanken in meinem Kopf endlich zum Schweigen bringen.

Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte. Es war immer noch Nacht, so viel war sicher. Der Vollmond schien durch die Fenster und tauchte alles um ich herum in ein silbernes Licht. Ich richtete mich auf und erschrak kurz vor meiner undeutlichen Reflexion in dem großen Wandspiegel neben dem Bett. Mit klopfendem Herzen fiel mir auf, dass meine Nachtsicht bereits deutlich schlechter geworden war, aber sie reichte noch aus, um zu erkennen, wie furchtbar ich aussah. Dunkle Augenringe, spröde Lippen und strähnige Haare starrten mir entgegen. Als dann auch noch mein Magen zu knurren begann, beschloss ich, mich erst einmal um meine menschlichen Bedürfnisse zu kümmern. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen hatte. Aber wo sollte ich anfangen, zu suchen? Ich kannte mich in dem Schloss nicht aus und ein Vampir, der sich von nichts anderem als menschlichem Blut ernähren konnte, besaß sicherlich keinen vollen Kühlschrank. Ich wusste nicht einmal, ob es hier überhaupt Elektrizität gab! Ein Seufzer kam über meine Lippen und schmerzliche Erinnerungen stiegen in mir auf. Meister Irvin war ganz vernarrt in Technologie gewesen. Er meinte immer, dass sie eines Tages die Menschen und die Vampire vereinen würde und sie gemeinsam unter der Sonne leben würden. Mein Magen knurrte erneut, diesmal lauter. Ich wusch mir die Tränen aus den Augenwinkeln fort und stand auf. Als ich versuchte, den Schalter an der Wand zu betätigen, um den alten, verstaubten Kronleuchter an der Decke einzuschalten, tat sich leider überhaupt nichts. Ich seufzte schwer. In einer Schublade des großen Wandschranks fand ich schließlich eine Alternative. Ich verließ das Zimmer mit einer brennenden Kerze in der Hand und lief orientierungslos den kalten und düsteren Flur entlang. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen musste, und ließ mich notgedrungen einfach vom Zufall führen. Irgendwann sah ich Licht und erkannte zu meiner Erleichterung, dass es hier sehr wohl Elektrizität geben musste. Der Flur vor mir war hell erleuchtet. Die Wandlampen waren nicht besonders modern und ihre Glasfassung war bereits braun angelaufen, aber immerhin funktionierten sie. Dann plötzlich hörte ich etwas. Es war ein leises Stöhnen. Unsicher folgte ich dem Geräusch und stand bald darauf vor einer großen, verzierten Holztür. Das Stöhnen wurde noch lauter. Ich spähte neugierig durch den offenen Türspalt und erstarrte plötzlich. Ich sah eine Frau. Sie war nackt und drehte mir den Rücken zu. Die Unbekannte saß auf einem Bett, ähnlich dem, in meinem Zimmer und bewegte ihre Hüften in einer rhythmischen Bewegung auf und ab. Ihr Haar war hochgesteckt, doch es hatten sich einige Locken daraus gelöst und fielen ihr in den zierlichen Nacken. Ich wollte gerade beschämt den Blick abwenden, als ich auf einmal jemanden hinter der Vorderseite der Frau auftauchen sah. Es war Avalon. Er packte die Frau am Genick und drehte ihr den Kopf nach hinten. Sie stöhnte lustvoll auf. Dann sah ich das Aufblitzen seiner Reißzähne, die sich tief in ihren schlanken Hals bohrten. Wie gelähmt sah ich zu, wie er ihr das gesamte Blut aussaugte. Dabei rann ihr etwas davon über den Rücken und spritzte auf die weißen Bettlaken unter ihr. Das dunkle Rot lief Avalons Kinn herunter und ergoss sich so zäh wie Öl auf seiner nackten Brust. Als sie leblos vor ihm zusammensank, blickte er auf, direkt in meine Augen. Sein blutverschmierter Mund verzog sich zu einem hässlichen Grinsen. Daraufhin löste sich plötzlich meine Starre und ich taumelte wie von einem Schlag getroffen zurück. Die Kerze fiel mir dabei aus der Hand, ging aus und rollte noch ein Stück über das Parkett. Er hat sie getötet! Er ist ein Mörder! Ich fiel auf den Rücken, rappelte mich aber sofort wieder auf und rannte wieder in die Richtung davon, aus der ich gekommen war. Niemals!, schrie es in meinen Gedanken, niemals würde ich so jemanden dienen! Niemals werde ich Blut trinken, das durch den Tod anderer genährt wurde! Niemals! Panisch rannte ich den düsteren Flur entlang und suchte nach der richtigen Abzweigung zu meinem Zimmer. Als ich endlich die richtige Tür fand, schnappte ich mir meinen Rucksack, der einsam auf dem Bett auf mich gewartet hatte und stürmte wieder hinaus. Zu meinem Glück fand ich den Zugang zur Empfangshalle auf Anhieb. So schnell ich konnte, polterte ich die schmalen Treppenstufen herunter, Richtung Ausgang. Die Tür war schwer, doch ich brauchte nur einen schmalen Spalt, um hin durch zu schlüpfen.

Draußen schlug mir die kalte Nachtluft ins Gesicht. Ich hatte Glück, dass der Himmel wolkenlos war und die Sterne mir genug Licht spendeten, um mich orientieren zu können. Als ich mich durch das große Eisentor schob, fühlte ich das Brennen zweier Augenpaare in meinem Rücken. Aber ich ließ mir nicht die Zeit, mich umzudrehen. Stattdessen rannte ich in den dunklen Wald hinein. Ich lief so lange, bis mich meine Beine nicht mehr tragen konnten und ich schließlich stolperte. Hart landete ich zwischen den Wurzeln eines Baumes und schürfte mir dabei die Knie auf. Aber der Schmerz war nichts im Vergleich zu der Pein in meinem Innersten. Ich schluchzte laut auf, ließ mich auf die Seite fallen und vergrub den Kopf zwischen den Armen.

„Meister Irvin“, schluchzte ich in der Dunkelheit, „warum habt Ihr mich verlassen?“

Eine Weile lag ich einfach nur so da und ließ meinen Tränen, das erste Mal seit dem Tod meines Meisters, ihren freien Lauf. Auch an meine Blutschwester Marien musste ich denken und daran, dass sie höchstwahrscheinlich das Schicksal meines Meisters geteilt haben musste. Ich war so mit meiner Trauer beschäftigt, dass ich nicht merkte, dass ich irgendwann nicht mehr allein war. Das Geräusch von brechenden Zweigen ließ mich plötzlich erschrocken auffahren. Hektisch blickte ich mich um, konnte aber niemanden entdecken. Erst jetzt wurde mir langsam bewusst, wie furchtbar dumm ich mich verhalten hatte. Was wollte ich hier allein und nachts im Wald, noch dazu in einem Land, das ich nicht kannte? Hier könnte alles Mögliche lauern. Jemand wie ich, ein Mensch, der in Kontakt mit Wesen aus der anderen Welt stand, war für sie wie ein Leuchtsignal. Besonders jetzt, da ich nicht mehr durch den Bund des Blutes vor ihnen verborgen gehalten wurde. Ein weiteres Knacken ließ mich herumfahren. Mir war, als hätte ich etwas gesehen. Eine Gestalt, die sich im Schatten verbarg. Mein Mund wurde auf einen Schlag furchtbar trocken. Panisch rappelte ich mich auf und lief orientierungslos weiter in den Wald hinein. Dabei drehte ich mich immer wieder um, um zu erkennen, ob mich etwas verfolgte, doch ich konnte nichts dergleichen entdecken. Gerade wollte ich erleichtert aufatmen, als ich auf einmal gegen etwas Hartes stieß. Ich prallte wie ein Gummiball davon ab und landete unsanft auf dem Hosenboden.

„Ei ei ei, was haben wir denn da?“

Die Stimme klang alt und rau. Ich blickte erschrocken auf und starrte in die hässliche Fratze einer Baba Jaga. Die Hexe trug eine weite, aus Fellen gefertigte Robe und in ihren langen, weißen Haaren hingen Zweige und Moos. Schnell versuchte ich nach hinten weg zu robben und wieder auf die Beine zu kommen, doch ihre knochigen Hände schnellten blitzschnell nach vorne. Sie packte mich am Kragen und hob mich vor ihr ausgemergeltes Gesicht. Die Waldhexe stank so stark nach verrottendem Fleisch, dass mir übel wurde. In dem schwachen Mondlicht konnte ich ihr schauriges Lächeln sehen, dass ihre vielen kleinen, spitzen Zähne entblößte. Ihre Augen waren groß und quollen förmlich aus ihren knochigen Augenhöhlen heraus.

„Ei ei ei, wenn das nicht ein kleines Menschlein ist? Und auch noch ein so junges Ding.“ Sie fuhr sich mit ihrer langen Zunge gierig über den lippenlosen Mund.

„Lass mich sofort herunter … Ich bin … Die Dienerin eines Vampirs …“ Ihr Griff drückte mir die Luft ab und meine Füße baumelten frei in der Luft.

Die Baba Jaga zog mich näher an sich heran und schnupperte mit ihrer langen, faltigen Nase an mir.

„Du riechst in der Tat nach Vampir …“ Sie nahm den Zeigefinger ihrer linken Hand und ritzte mir mit ihrem scharfen, langen Fingernagel in die Haut meiner rechten Wange. Erschrocken keuchte ich auf. Dann streckte sie ihre lange Zunge heraus und leckte das herausquellende Blut auf. Ihr Schmatzen ließ mir einen Schauder über den Rücken laufen.

„Aber dein Blut ist rein. Du bist keine Vampirdienerin, kleine Lügnerin.“

Panisch versuchte ich mich aus ihrem Griff zu winden, aber sie war viel zu stark. „Ei, ei, ei“, kicherte die Hexe, „Du wirst sicher ein zauberhaftes Festmahl abgeben. Deine Knochen werde ich zu Staub zermahlen und für meine Flugsalben verwenden. Oh ja!“ Dann stutzte sie plötzlich und drehte mein Gesicht ins Mondlicht. „Ei, ei, ei, was habe ich doch für ein Glück! Ein wahrer Glücksgriff, ja das bist du.“ Ihr grausiges Grinsen wurde noch breiter. Ich strampelte noch heftiger und versuchte, die Dämonenfrau zu treten, doch sie stieß mich kurzerhand gegen den Stamm eines Baumes. Für einen Moment sah ich nichts Weiteres als Sterne, die vor meinen Augen explodierten. Ihre Hand umfasste meine Kehle, mit der anderen zerriss sie den Stoff meiner Jacke und meines Shirts.

„Lass mich deine Leber kosten, kleines Menschlein. Sie ist bestimmt köstlich, oh ja!“ Ihre Fingernägel bohrten sich kurz unterhalb meines Brustkorbs ins Fleisch. Ich keuchte vor Schmerzen laut auf. Sie wird mich töten und fressen, schoss es mir durch den Kopf. Das ist mein Ende. Die Klauen der Hexe gruben sich tiefer in meinen Körper und ich spürte das heiße Blut, das mir über die Haut lief. Dann sah ich auf einmal eine dunkle Gestalt hinter der Baba Jaga auftauchen. Im ersten Moment dachte ich, es wäre der Tod, der darauf wartete, mich mitnehmen zu können. Aber dann fiel das Mondlicht auf die