Silver Blood - Bente Mott - E-Book

Silver Blood E-Book

Bente Mott

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Beschreibung

Vida hat ihre Gefühle für Avalon vergessen und wird zu einer Wächterin des Zwielichts ausgebildet. Doch dann wird eines der Ratsmitglieder ermordet und der Verdacht fällt auf eine Organisation, die sich in der Vergangenheit schon einmal gegen die Lebensart des Zwielichts aufgelehnt hat: Die Dämmerung des roten Mondes. Aber nicht nur die Führungsriege, sondern auch Vida selbst gerät in ihren Fokus und der wiederauferstandene Anführer der Rebellen, Zendris selbst, will sie für sich gewinnen. Als der Vampir ihr schließlich keine Wahl lässt, sich auf seine Seite zu schlagen, scheint bereits alles verloren zu sein - bis sich doch noch eine Chance auftut, das Blatt zu wenden. Als wäre die Reise, die Vida daraufhin antreten muss, nicht schon schwierig genug, wird sie dabei auch noch mit Avalons dunkler Vergangenheit konfrontiert.

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„Liebe hält die Zeit an und lässt die Ewigkeit beginnen.“

- Chuck Spezzano

Mit einem lähmenden Entsetzen beobachtete ich schockiert, wie sich Avalons blasse, schlanke Finger um den Hals des weißen Rabens schlossen. Nimmer wehrte sich verzweifelt, strampelte und flatterte mit ihren Flügeln, aber in ihren vor Angst weit aufgerissenen Augen konnte ich bereits die furchtbare Gewissheit sehen, die auch mich genau in dieser Sekunde erfasst hatte. Die Gewissheit, dass er nicht zögern und ich nicht schnell genug sein würde, ihn aufzuhalten. Der Rabe stieß ein schrilles Krächzen aus, als sein Genick mit einem schnellen Ruck gebrochen wurde. Der Körper, der zuvor noch voller Bewegung war, erschlaffte plötzlich, fiel in sich zusammen und regte sich nicht mehr. Fassungslos starrte ich auf den leblosen Vogelkörper, bevor meine Augen langsam immer weiter nach oben wanderten, bis sie schließlich den kalten Blick Avalons begegneten. Sein schönes und sogleich abstoßendes Gesicht glich einer ausdruckslosen Maske. Währenddessen schien mein Atem immer schneller und schneller zu werden und ich fletschte, in einem Ausdruck des Schmerzes und des Zorns, aggressiv die Zähne. Avalon bemerkte die aufkommende Gefahr und zog verärgert die Brauen über seinen Augen zusammen. Vorsichtig machte er einen Schritt zurück und sagte irgendetwas, doch ich war nicht in der Lage es zu verstehen. Denn genau in diesem Moment brach die blanke Wut aus mir heraus, wie Lava aus einem explodierenden Vulkan. Blitzschnell stürzte ich mich auf ihn.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Der erste Auftrag

Kapitel 2: Wiedersehen

Kapitel 3: Arden

Kapitel 4: Trauer

Kapitel 5: Der Garten

Kapitel 6: Zu Hause

Kapitel 7: Der Plan

Kapitel 8: Unter die Haut

Kapitel 9: Verrat

Kapitel 10: Die gefrorene Rose

Kapitel 11: Ein Geschenk

Kapitel 12: Die Reise

Kapitel 13: Eine Chance

Kapitel 14: Vergangenheit

Kapitel 15: Ein Wiedersehen

Kapitel 16: Die letzte Begegnung

Kapitel 17: Zerbrechlich

Kapitel 18: Todesmarsch

Kapitel 19: Verloren

Kapitel 20: Verstoßen

Kapitel 21: Ein Angebot

Epilog

Kapitel 1: Der erste Auftrag

Sefraim lief stolz und mit erhobenem Haupt an den in schwarz gekleideten Kadetten vorbei. Alle standen gerade und aufgereiht auf der kleinen Bühne und starrten mit wachem Blick nach vorne in die Menge. Der bleiche Vampir, gekleidet in einen dunkelroten, reichlich verzierten Anzug und einem langen, ebenfalls schwarzen Mantel, hatte dabei Ähnlichkeit mit einer exotischen, wenn auch äußerst tödlichen, Blume. Als Repräsentant und Verwalter des Zwielichts sah er jeden einzelnen, einschließlich mir, beim Vorbeischreiten direkt in die Augen. Sein Blick drückte einen stummen Willkommensgruß aus und bedeutete für viele den ersten Schritt, einmal einen hochrangigen Posten oder sogar einen Platz im Rat selbst einzunehmen. Doch während ich Schulter an Schulter mit den anderen angehenden Mitstreitern für das Zwielicht stand, fühlte ich mich doch etwas fehl am Platz, denn die meisten Anwärter hier hatten eine harte Zeit der Ausbildung hinter sich bringen müssen. Ich jedoch, hatte aufgrund meiner Erfahrung im Krieg gegen die Dämonenkönigin und meiner besonderen Fähigkeit als Silberblut, diese Stufe übersprungen. Ich erhielt sofort den untersten Wächtergrad einer Auszubildenden und sollte das, was mir an Wissen fehlte, eher in der Praxis erlernen.

Während ich etwas nervös die Massen an Vampiren, Werwölfen, Gestaltenwandlern und anderen Wesen des Zwielichts betrachtete, die in dem weitläufigen Saal unter den Katakomben Londons Platz genommen hatten, ertappte ich mich dabei, wie ich immer wieder suchend meinen Blick über die Anwesenden schweifen ließ. Wonach hielt ich nur Ausschau? Alle, die eine wichtige Rolle in meinem Leben spielten, waren gekommen. Irvin, Mariens und Serezars Sohn, stand auf seinen wackligen Kinderfüßen neben der Herrin von Venedig, gefolgt vom Rest des Rates. Lauren, mein alter Freund aus der Zeit, in der ich noch als Schülerin bei meinem ersten Meister gelebt hatte, war ebenfalls anwesend. Onishi, die Leibwächterin Sefraims, stand nicht weit entfernt von dem Vampir und behielt alles unter ihrem scharfen Blick im Auge. Zuletzt sah ich nach oben zu Nimmer, meinem weißen Raben, der sich in einer Nische in der Felswand niedergelassen hatte und leise vor sich hin krächzte. Da ihr Geist mit meinem verbunden war, konnte ich spüren, dass ihr der Aufenthalt unter der Erde alles andere als gefiel. Umso mehr rechnete ich es ihr an, dass sie mich trotzdem hatte begleiten wollen.

Als Sefraim mit seiner Rede begann, erwischte ich mich auf einmal erneut dabei, wie ich abschweifte und suchend in die Menge starrte. Habe ich jemanden vergessen?, fragte ich mich schließlich und ging in Gedanken noch einmal alle mir bekannten Anwesenden durch. Nein. Sie sind alle hier. Warum habe ich dann nur das Gefühl, dass jemand Wichtiges fehlt?

Genervt spürte ich, wie die Zweige der Bäume über meine Wangen kratzten und die feuchten Blätter mir meine weißblonden Haare durchnässten. Aber das war zu erwarten gewesen, wenn ich mit voller Geschwindigkeit durch einen dichten Wald preschte. Nicht erwartet, hatte ich hingegen das, was ich an diesem Tag verfolgen musste. Nicht weit von mir entfernt sah ich eine kleine Gestalt unglaublich schnell durch das Unterholz flitzen, von der ich nichts weiter erkannte, als einen unförmigen, rot-grünen Fleck. Als ich sah, wie dieser eine kleine Waldlichtung erreichte, wurde ich etwas langsamer – genau wie es unser Plan vorschrieb. Die Gestalt war gerade auf halben Weg über den offenen Platz, als plötzlich eine gewaltige Lawine aus Erde vom Boden aufgeschleudert wurde und der Kreatur vor mir den Weg abschnitt. Irritiert wollte sie zur Seite ausweichen, doch plötzlich stürzte sich etwas aus dem niederrieselnden Staub direkt auf sie. Ein kurzer, wütender Schrei erklang, von dem ich ausgehen konnte, dass er das Ende unserer überraschend anstrengenden Jagd symbolisierte. Ich trat näher zu der schwindenden Staubwolke und entdeckte Cassandras, der ein kleines, gnomartiges Männchen vor sich in den Waldboden drückte. Das rothaarige Geschöpf mit dem langen Bart zappelte und zeterte furchtbar, doch dem starken Griff eines Vampires konnte er unmöglich entkommen.

„Warum muss ich eigentlich immer den Lockvogel spielen?“, fragte ich den schlaksigen Blutsauger vor mir verstimmt. Cassandras blies sich eine Strähne seines welligen, lilafarbenen Haares aus der Stirn und grinste mich von unten triumphierend an.

„Weil ich der ältere und ranghöhere Wächter bin und du noch in der Ausbildung. Ganz einfach.“

Ich schnaubte bei diesen Worten nur frustriert und starrte dabei neidisch auf den silbernen Anstecker in Form eines Auges, der im Kragen seiner Uniform steckte. Es war das Zeichen für seinen erfolgreichen Abschluss als Wächterlehrling und bestehen der Abschlussprüfung, die auch mir noch bevorstehen würde. Seine schwarze Kluft war, bis auf das Abzeichen, fast identisch zu meiner eigenen und durfte nur von denjenigen getragen werden, die im Interesse des Verbundsrates unterwegs waren. Über dem Wappen des Zwielichts, Platons Seelenwagen, prangte ein Stern als Zeichen für Cassandras Rang als Wächter. Über meiner linken Brust war der Platz über demselben Abzeichen hingegen leer.

„Ihr verdammten Blutsauger! Lasst mich los, ihr Lumpenpack!“, hörte ich die kleine Gestalt unter ihm laut kreischen. Neugierig betrachtete ich den Kobold genauer. Er besaß ein rundes, harmloses Gesicht mit gelben Augen. Sein zierlicher Körper steckte in einem dunkelgrünen, an vielen Stellen geflickten Anzug und seine spitzen Ohren lugten unter den langen, roten Haaren hervor, die übergangslos eins wurden mit dem spitzen Bart, der ihm reichlich aus Wange und Kinn spross.

„Ist das …“, setzte ich an, aber Cassandras kam mir zuvor.

„Ja, das ist der Aufhocker, nachdem wir schon die ganze Nacht gesucht haben. Der Kleine hat uns ziemlich auf Trab gehalten, mittlerweile graut schon der Morgen.“

„Er sieht recht harmlos aus … Kaum zu glauben, dass er mehrere Wanderer und Waldarbeiter ins Koma gebracht hat.“

„Stinkende Dämonenbrut! Euch sollte man vierteilen und den Grimwölfen zum Fraß vorwerfen!“

Ich schüttelte den Kopf. „Du bist hier im Diesseits und nicht mehr in der Anderswelt, Kobold. Entweder du hältst dich an die Regeln oder wir müssen …“

Plötzlich bemerkte ich seitlich von mir eine blitzschnelle Bewegung. Instinktiv machte ich einen Satz nach hinten und konnte so dem Angriff noch in letzter Sekunde ausweichen. Doch Cassandras, der in seiner Haltung nicht so schnell reagieren konnte, war nun statt meiner das Ziel geworden. Der Vampir fluchte laut und versuchte noch auszuweichen, aber das kleine Geschoss traf ihm direkt gegen den Brustkorb. Dabei lockerte sich dessen Griff und der Aufhocker unter ihm kam schließlich frei. Dieser wollte natürlich seine Chance nutzen und sich sogleich aus dem Staub machen - doch nicht mit mir. Schnell sprang ich nach vorne und schnappte den kleinen Kerl an seinem ausgefransten Kragen. Während ich die koboldhafte Gestalt zeternd vor mir in der Luft baumeln ließ, beobachtete ich verblüfft, wie Cassandras verzweifelt versuchte einen zweiten, diesmal weiblichen Kobold, von seinem Rücken zu schütteln. Die Szene hatte fast etwas Komisches, während ich plötzlich bemerkte, wie die kleine Frau, die lockige, wenn auch verfilzte blonde Haaren besaß, plötzlich anfing, zu wachsen. Sie nahm so schnell an Größe zu, dass sie irgendwann Cassandras zu schwer wurde und er vornüberkippte. Seinen Namen alle Ehre gemacht, hatte der Aufhocker ihm seine Energie entzogen und diese für sein eigenes Körperwachstum benutzt.

„Wenn du ihn nicht frei lässt, werde ich ihm den Rest geben!“, rief mir die raue Frauenstimme entgegen.

„Flieh lieber, Jarinda! Lass nicht zu, dass diese verdammten Blutfetischisten uns beide bekommen!“

Aufgrund solch alberner Dramatik rollte ich nur mit den Augen. Cassandras war sein anfängliches Lachen ziemlich vergangen, während er angestrengt versuchte, mit dem Gewicht auf seinem Rücken wieder auf die Beine zu kommen.

„Ich glaube, hier wurde etwas eindeutig missverstanden“, sagte ich zu dem kleinen Männchen, dass zappelnd vor meiner Nase baumelte. „Wir sind nicht hier, um euch zu töten.“

„Ach ja?“, fragte mich der Kobold misstrauisch.

„Alles Lüge, glaub ihr kein Wort, Karsen! Sie will dich nur in die Falle locken!“, rief dessen immer noch wachsende Partnerin hinter ihm laut.

Ich schüttelte den Kopf. „In der Dämonenwelt ist man vielleicht so mit euch umgegangen, aber hier herrscht der Verbundsrat. Wir sind zivilisierte Geschöpfe der Nacht.“

Die Gestalt vor mir sah mich noch immer misstrauisch an. „Der Verbundsrat? Was soll das sein?“

„Euch wird im Hauptquartier alles erklärt werden. Wenn deine Freundin nun die Güte hätte, meinem Partner nicht das Rückgrat zu brechen? Dann können wir in Ruhe miteinander reden.“

Ich sah, dass ihn meine Worte nachdenklich stimmten. Schließlich nickte er zögerlich und gab der Koboldin mit einem Wink zu verstehen, sich zurückzuziehen. Widerwillig und mit einem lauten Fauchen tat sie, was er von ihm wollte.

Erleichtert atmete ich aus, während ich zusah, wie Cassandra sich wieder auf die zitternden Beine stellte. Dann machte er einen Satz und kam schwankend neben mir zum Stehen. Ich beäugte ihn besorgt aus den Augenwinkeln, während er an seiner Brusttasche herumnestelte, um eines der kleinen länglichen Gefäße herauszuangeln, dass noch nicht durch das Gewicht des Aufhockers unter ihm zerquetscht worden war. Als ich bemerkte, dass er wohl keines mehr fand, reichte ich ihm eines von meinen, die er dankend annahm. Während mein Partner sich das Blut zwischen die Lippen laufen ließ, trat ich zu dem Koboldpaar hinüber. Als der Mann mit dem Namen Karsen daraufhin von mir zurückwich, stellte sich die kleine blonde Frau, die nun fast so groß war, dass sie mir bis an die Schultern reichte, schützend vor ihn.

„Keine Spielchen!“, rief sie warnend. „Nun raus damit, was wollt ihr von uns?“

Ich seufzte, dann holte ich meine Dienstmarke mit meinem Rang und Namen hervor und zeigte sie ihnen.

„Ich und mein Partner Cassandras sind Wächter des Zwielichts. Somit unterstehen wir dem Verbundsrat, den Führern der Wesen der Nacht, die einst aus der Anderswelt hierherkamen oder von ihnen abstammen. Ihr werdet angeklagt, ohne Genehmigung Menschen die Energie abgesaugt zu haben. Doch wir werden der Sache nicht weiter nachgehen, und nur bitten, euch umgehend im Hauptquartier registrieren zu lassen. Dort wird euch mitgeteilt, wann und wie viele Menschen ihr in einem gewissen Zeitraum befallen dürft.“

Die beiden Kobolde sahen mich an, als würden sie nicht verstehen, was ich ihnen sagen wollte.

„Ihr wollt uns vorschreiben, wie wir uns ernähren sollen?“ Karsen schüttelte irritiert den Kopf. „Was für ein Vorteil würde uns das bringen?“

„Ganz einfach“, antwortete ihnen Cassandras, der sich nun wieder vollständig von dem Angriff des Aufhockers erholt hatte. Mit dem Handrücken wischte er sich kurz über die rot schimmernden Lippen. „Ihr müsst kein Wesen fürchten, das ein Teil unserer Gesellschaft ist und ihr steht damit unter dem Schutz des Zwielichts. Außerdem werden wir euch helfen, ein zu Hause zu finden.“ Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Solltet ihr jedoch ablehnen und weiterhin Menschen ohne Genehmigung befallen, werden wir euch jagen und töten.“

Seine Worte schienen Wirkung zu zeigen. Die beiden starrten ihn erst missmutig an, dann steckten sie ihre Köpfe zusammen und begannen leise miteinander zu tuscheln. Nichtsahnend, dass wir jedes ihrer Worte verstehen konnten, wussten wir schon, bevor sie die Stimme wieder erhoben hatten, wie ihre Entscheidung aussehen würde.

„Also gut,“ antwortete Jandara uns, „wir werden mit euch kommen. Was haben wir schon für eine Wahl?“, setzte die Koboldin noch scharf nach.

„Ihr werdet eure Entscheidung nicht bereuen“, versuchte ich ihren Missmut zu beschwichtigen.

„Was passiert jetzt?“, fragte mich Karsen misstrauisch. Ich ging in die Hocke und streckte auffordernd die Hand nach ihm aus.

„Jetzt … Zeigen wir euch eure neue Zuflucht.“

„Ich frage mich, wie lange wir noch niedere Dämonen jagen müssen. Ich will endlich mal wieder etwas Nervenkitzel verspüren“, sagte ich zu Cassandras, der neben mir stand und ebenfalls beobachtete, wie die beiden Kobolde von Akane, dem Fuchsgeist am Informationsstand in der großen Halle des Hauptquartiers, über ihren Papierkram aufgeklärt wurden. Der Vampir mit den fliederfarbenen Haaren und dem goldenen Lidschatten über seinen roten Augen zuckte nur mit den Achseln.

„Erst wenn wir die nächste Prüfung bestehen, werden sie uns schwierigere Aufträge zuteilen. Bis dahin sehe ich uns eher weiter Kobolde, Gnome und anderes Kleinvieh jagen."

„Vida! Cassandras!“

Wir drehten uns beide nach der uns wohlbekannten Stimme um. Zwischen den geschäftig umherwuselnden Wächter und den Mitgliedern des Zwielichts kam Lauren zu uns herübergelaufen. Ihm folgte eine Werwölfin, ebenfalls wie wir gekleidet in der Uniform einer Wächterin. Ich wusste, dass es sich dabei um seine Partnerin, Diane handelte, einer äußerst erfahrenen und angesehenen Kämpferin für das Zwielicht. Ich erinnerte mich, sie auch damals bei dem Fest zu Ehren der Gefallenen nach der Schlacht der Teufel gesehen zu haben. Sie war eine äußerst hübsche Frau, deren breiter, trainierter Körper, wie bei allen anderen Werwölfen nicht zu übersehen war. Ihr freundliches, herzförmiges Gesicht wurde eingerahmt von dunkelbraunen, lockigen Haaren, die ihr bis zu den Schultern reichten. Während ich die beiden musterte, fiel mir auf, wie verschmutzt ihre Uniformen aussahen. Die Kleidung der Wächter war für gewöhnlich aus einem besonderen, auf Nanotechnologie basierenden Stoff hergestellt, der sich bei mechanischer Zerstörung selbst reparieren und so seine ursprüngliche Form wiederherstellen konnte. Gerade für die Werwölfe, die sich manchmal recht schnell verwandeln mussten, war das äußerst praktisch, wenn sie nicht ständig ihre Kleidung zerfetzen mussten und später bei der Rückverwandlung wieder etwas hatten, was sie tragen konnten. Allein wegen dieser Tatsache verloren manche der Werwölfe jegliches Schamgefühl und wurden zu richtigen Nudisten. Ich fragte mich, wie oft Lauren daher schon einen Blick auf ihren muskelbepackten und doch grazilen Körper werfen konnte.

„Wie gehts euch? Nehmt es mir nicht übel, aber ihr seht aus, als hätte euch ein Oger einmal quer durch seine Bruthöhle gezehrt. Und genauso riecht ihre auch.“ Cassandras verzog halb im Scherz, halb ernst, in einer angewiderten Geste das Gesicht.

Diane lächelte selbstbewusst. „Nicht schlecht geraten, es war jedoch ein Nest von Ghulen, durch das wir kriechen mussten, weil Lauren unbedingt einen Überraschungsangriff machen musste.“ Sie boxte ihn neckisch und ihr Grinsen wurde noch breiter. „Aber ich muss zugeben, die Idee war nicht schlecht, außer dass ich noch tagelang nach Verwesung und Scheiße stinken werde.“

Lauren rollte nur mit den Augen. „Du hast dich schon letzte Woche über meinen Plan beschwert, als wir gegen die Mittagserscheinung gekämpft haben und trotzdem hat er funktioniert! Und ich habe nicht herumgemeckert, als ich am helllichten Tag die Sonne auf meiner Haut ertragen musste!“

Diane wollte gerade etwas erwidern, aber ich war schneller.

„Ich beneide euch um eure Aufträge. Ständig müssen wir uns nur mit Kleinigkeiten herumschlagen, die jeder Anfänger erledigen könnte.“

Lauren legte den Kopf schief und sah mich tadelnd an. „Wenn ich mich recht erinnere, hast du bei deiner Vereidigung darauf bestanden, wie jeder normale Anfänger behandelt zu werden, Silberblut. Ganz egal, was für besondere Fähigkeiten du besitzt.“

„Ich weiß“, antwortete ich genervt. „Aber ich dachte nicht, dass es so lange dauern würde, aufzusteigen.“

Mit etwas Neid betrachtete ich Laurens und Dianes Abzeichen, die einmal zwei und einmal drei Sterne über dem Emblem trugen.

„Da fällt mir ein ... Unsere Verabredung heute Abend steht noch?“, fragte Lauren und ich blinzelte aufgrund des Themenwechsels kurz überrascht.

„Natürlich. Irvin freut sich bereits darauf. Ich glaube, uns beide vor Mariens Grab über seine Mutter reden zu hören, tut ihm sehr gut, auch wenn er sie dadurch wahrscheinlich noch mehr vermisst als ohnehin schon.“ Ich dachte dabei an die anderen Male, als wir drei vor dem Grabstein meiner ehemaligen Blutschwester saßen und uns über sie, als auch über Meister Irvin unterhalten hatten. Die Gespräche über den Namensvetter des Jungen, der zu einem Viertel Teufelsblut in sich trug, waren für mich, ehrlich gesagt, mittlerweile ein wichtiger Teil geworden, um mit dessen Tod fertig zu werden.

Überrascht beobachtete ich, wie Laurens Lächeln langsam verblasste. „Und du hast ihm Bescheid gegeben? Du weißt schon …“

Ich blickte zu Boden und bemerkte, wie sich meine Laune auf einen Schlag verdüsterte. „Wenn du Avalon meinst, ich habe ihm mit dem Handy eine Nachricht geschickt. Er wird wie bei den letzten beiden Malen das Weite suchen, keine Sorge. Schließlich haben wir beide kein Interesse daran, uns zu begegnen.“

Ich sah, wie die Werwölfin neben ihm wissend das Gesicht verzog und bemerkte, dass es mir nicht passte, dass Lauren ihr anscheinend von der schlechten Beziehung zwischen mir und meinem ehemaligen Meister erzählt hatte.

„Ich will unseren netten Plausch ungern unterbrechen“, mischte sich Cassandras ein. „Aber wir haben noch den Papierkram zu erledigen. Wenn du also bald nach Hause willst, sollten wir anfangen, sonst …“

Vida!

Überrascht zuckte ich kurz zusammen, dann schloss ich die Augen. Die andere mussten an meiner Körpersprache erraten haben, dass mich gerade eine telepathische Nachricht erreichte, denn keiner von ihnen sagte auch nur ein Wort.

Sefraim!, sagte ich überrascht, was verschafft mir die Ehre?

Komm bitte sofort in die Vorhalle zum Gefängnis unterhalb des Hauptquartiers. Ich habe die Torwächter instruiert, sie werde euch passieren lassen.

Jawohl, Großvater. Aber wen meist du mit euch?

Bringe Cassandras mit. Und zu keinem anderen ein Wort.

Wir sind unterwegs, entgegnete ich noch, bemerkte aber gleichzeitig, wie die Verbindung abbrach. Überrascht öffnete ich die Augen und sah, wie die anderen mich neugierig anstarrten. Doch bevor sie irgendetwas fragen konnten, wendete ich mich dem androgynen Vampir neben mir zu.

„Wir müssen leider los. Es ist dringend“, sagte ich ihm und blickte dann zu Lauren und Diane, die mich unschlüssig anstarrten.

„Wir sehen uns später.“ Ich legte Cassandras die Hand auf die Schulter und teleportierte uns umgehend aus dem Raum hinaus. Als wir daraufhin, umgeben von schwarzem Teleportationsnebel, vor dem gewaltigen, unterirdischen Tor auftauchten, das von zwei riesigen, zweiköpfigen Hundestatuen flankiert wurde, bekam ich ein ungutes Gefühl. Irgendetwas an Sefraims Worten klang so, als würde der alte Vampir ein Gefühl von Wut verstecken. Etwas, das es schaffte, den ausgeglichenen und sanftmütigen Vampir zu verärgern, musste Schlimmes bedeuten. Cassandras sah erst den Zugang zum Gefängnistrakt, dann mich nachdenklich an.

„Mit wem hast du eben gesprochen? Und warum sind wir hier?“

„Sefraim hat mich gebeten, ihn dort drinnen zu treffen. Und er hat ausdrücklich gebeten, dass du mich begleitest.“

„Ich?“, fragte Casandras irritiert. „Was will den der ehrenwerte Sefraim von mir?“

Während ich seine Worte hörte, fiel mir wieder ein, wir unüblich es für die anderen Vampire war, mit einem Mitglied des Rats direkt in Kontakt zu treten.

„Ich weiß es nicht, aber wenn er es ausdrücklich sagt, wird es wohl wichtig sein“, entgegnete ich mit einem Schulterzucken, dann machten wir uns schließlich daran, durch das Tor zu treten, das sich in diesem Augenblick wie von Geisterhand öffnete. Mit einem mulmigen Gefühl beäugte ich dabei genauer die beiden Torwächter, die uns mit ihren steinernen Augen zu verfolgen schienen. Als das große Tor sich hinter uns wieder schloss, liefen wir einen langen Gang entlang. Dabei erinnerte ich mich, wie ich damals das erste und bisher einzige Mal mit Sefraim zusammen hier gewesen bin, um Avalon zu retten. Das musste jetzt schon fast zwei Jahre her sein.

Als ich die Hand ausstreckte, um die Tür zum Vorraum zu öffnen, griff ich auf einmal ins Leere. Der Eingang öffnete sich von der anderen Seite und zu meiner Überraschung tauchte Hinas hübsches, kleines Gesicht dahinter hervor, das mich und Cassandras einmal kritisch von Kopf bis Fuß musterte. Auf der anderen Seite spürte ich die Anwesenheit von vier Ratsmitgliedern, wobei ich den Eindruck hatte, dass noch jemanden weiteres anwesend sein könnte.

„Ich warne euch vor, das, was ihr gleich sehen werdet, ist nichts für schwache Nerven. Also reißt euch gefälligst zusammen.“

Ich erwiderte nichts, Cassandras hingegen nickt gehorsam, dann machte uns Hina endlich Platz und wir konnten eintreten. Wie schon bereits gedacht, sah ich Sefraim, der mich auch sogleich mit einem ernsten Nicken begrüßte. Donna Ferrana und Badrik waren ebenfalls anwesend, standen jedoch etwas abseits in dem runden Raum und starrten nachdenklich nach oben. Ich nahm sogleich den starken Geruch nach Vampirblut wahr, der im Raum hing, fragte mich jedoch nicht weiter, woher er kam. Schließlich wurden hier des Öfteren abtrünnige Vampire hergebracht, denen zum Ausbluten die Kehle aufgeschlitzt worden war. Nichtsahnend folgte ich den Blick der beiden und erstarrte augenblicklich, als mein Verstand plötzlich erfasste, was dort oben an der hohen, fensterlosen Wand hing. Es war der Körper einer Vampirin, der an den Händen mit dicken Eisennägeln an die Steinwand vor uns geschlagen worden war. Jedoch war sie nicht nur irgendeine unbekannte Blutsaugerin, es war Artemis, eine Verwalterin des Zwielichts und Cassandras Meisterin, die dort mit aufgebrochenem Brustkorb hing und leeren Blickes zu uns herunter starrte. Ihre Eingeweide baumelten zu ihren Füßen und ihr Blut lief von der Wand auf den gefliesten Boden hinab, bis es die feinen Schuhe der Herrin von Venedig und Badriks Strohsandalen erreichte. Beide bemerkten nicht, wie das Blut ihnen gegen die Füße lief, so fixiert starrten sie zu der Toten hinauf. Ihre Gesichter spiegelten Zorn und Verwirrung wieder, als würden sie nachdenken, wie um alles in der Welt jemand hier eindringen und Artemis töten konnte. Von der Leiche der Vampirin abgesehen, waren die Wände rundherum mit Parolen beschmiert worden. ‚Die Herrschaft der Vampire naht!‘, ‚Nieder mit den Menschen, es leben die Vampire‘, oder ‚die Dämmerung des roten Mondes wird kommen‘, stand dort, in unterschiedlichen Sprachen, auf den weißen Fliesen, offensichtlich mit dem Blut der toten Vampirin geschrieben. Als ich den ersten Schrecken verdaut hatte, blickte ich sogleich zu Cassandras. Dieser war, ähnlich wie ich, stehen geblieben und starrte erschrocken auf den geschändeten Leichnam seiner ehemaligen Meisterin. Seine Augen waren weit aufgerissen und drückten erst Unglaube, dann Verzweiflung und dann Wut aus.

„Was ist hier geschehen?", hörte ich seine sonst so ausdrucksstarke Stimme nun monoton fragen. Doch dahinter hörte ich den Schmerz und das Beben, das er verzweifelt versuchte, hinter einer gefassten Fassade zu verstecken. Besorgt legte ich meine Hand auf seine Schulter, doch mir kam es vor, als würde er meine tröstende Berührung in diesen Moment überhaupt nicht bemerken. Ich folgte seinem Blick und starrte Sefraim fassungslos an. Der alte Vampir schüttelte traurig den Kopf.

„Wir wissen es nicht genau. Jemand … Ist offensichtlich hier eingedrungen und hat Artemis überwältigt. Außerdem ist eine der Gefangenen entflohen. Wir haben jedoch noch keine Ahnung, wie diese Aktivität den Torwächtern so einfach entgehen konnte, noch wissen wir die Anzahl derer, die hier eingedrungen sind. Ich kann mir jedoch nicht vorstellen, dass nur eine Person Artemis das antun konnte.“

„Eine Gruppe also?“ Ich schielte erneut zu den Schmierereien an den Wänden hoch. Die Dämmerung des roten Mondes … Sind das vielleicht ...

„Ja“, beantwortete Sefraim meine Gedanken. „Es liegt nahe, dass die Rebellen hier ihre Finger im Spiel haben.“

„Die Rebellen?“, fragte Cassandras beherrscht. „Meint ihr damit die Aufständischen, die es ablehnen das künstliche Blut zu trinken?“

Sefraim seufzte, doch es war Hina, die für ihn antwortete. „Anscheinend waren sie hier, um sich Verstärkung zu holen. Severines Kammer wurde aufgebrochen, und ihr vertrockneter Körper mitgenommen. Genauso wie Artemis Herz.“

Bei den Worten blickte ich erneut zu dem Körper der Vampirin hoch. Tatsächlich war an der Stelle, wo ihr Herz sitzen musste, ein großes Loch zu sehen.

„Dann ist es vielleicht noch nicht zu spät?“, hörte ich Cassandras Stimme neben mir hoffnungsvoll fragen.

Ich beobachtete, wie Donna Ferrana zu uns herüberschritt. Ihre Füße hinterließen dabei blutige Abdrücke auf den weißen Fliesen. „Artemis ist eine alte und sehr machtvolle Vampirin. Ihr Herz schlägt noch, doch sollte es nicht bald an seinen Platz zurückkehren, wird ihr Körper zerfallen und endgültig zu Staub werden.“ Sie sah Cassandras an und ich meinte, einen Hauch Mitgefühl in ihren violetten, kalten Augen zu sehen. „Wir hätten sie schon längst dort heruntergeholt und euch diesen Anblick erspart. Doch ihr Körper ist zu instabil und der Zerfall könnte bei Bewegung nur noch schneller in Gang gebracht werden …“

Mein Partner nickte. „Wann ist es geschehen?“

„Noch nicht mal vor einer halben Stunde“, hörte ich Badriks gefühllose Stimme hinter Donna Ferrana hervorhallen. Der kleine Vampir starrte noch immer zu Artemis nach oben, doch seine Augen blickten nun fasst teilnahmslos über ihren geschundenen Körper.

„Dann können wir noch immer ihrer Teleportationsspur folgen!“, rief Cassandras aufgebracht.

Sefraim nickte. „Ich habe Onishi bereits beauftragt, genau das zu tun. Wenn jemand die Übeltäter aufspüren kann, dann sie.“ Er betrachtete den jungen Vampir vor ihm eindringlich. „Wir werden auf ihren Bericht warten. Erst dann entscheiden wir, was als Nächstes zu tun ist.“

Ich konnte sehen, dass diese Aussicht Cassandras alles andere als gefiel.

„Aber wäre es nicht sinnvoller, wenn wir alle losziehen und mögliche Spuren verfolgen? Uns läuft schließlich die Zeit davon!“

Sefraim betrachtete Cassandras nachsichtig. „Wenn sie bemerkten, dass sie verfolgt werde, haben wir vielleicht das Gegenteil bewirkt und sie beeilen sich, das zu tun, was auch immer sie mit Artemis Herz vorhaben. Außerdem müssen wir auch die Möglichkeit bedenken, dass sie es vielleicht nur mitgenommen haben, um uns zu ködern.“

„Eine Falle?“, fragte ich aufgebracht. „Aber … was wollen sie damit erreichen? Was oder wer ist ihr Ziel?“

Der alte Vampir schüttelte den Kopf. „Auch ich kann nur spekulieren. Wir müssen warten, bis Onishi zurück ist. Keiner kann so gut eins mit den Schatten werden wie sie. Wenn einer sie unbemerkt aufspüren kann, dann Onishi. Wir müssen ihr vertrauen.“

„Vertrauen?“ Cassandras Stimme klang scharf. „Soll ich einfach herumsitzen, während das Leben meiner Meisterin in den Händen irgendwelcher Kriminellen liegt?!“

„Du hast Sefraims Befehl gehört, Wächter des Zwielichts.“ Es war Badrik, der näher an uns herangetreten war. „Dies ist nicht die Zeit für Sentimentalitäten. Besinne dich auf deinen Rang und deine Pflicht.“

Ich sah, wie Cassandras erst die Zähne fest zusammenbiss und dann widerwillig nickte.

„Geht jetzt“, sagte Donna Ferrana. „Wir werden es euch wissen lassen, wenn wir mehr erfahren.“

Als Cassandras nicht reagierte, fasste ich ihm an die Schulter und antwortete an seiner statt.

„Wir werden darauf warten“, entgegnete ich, dann löste ich mich zusammen mit meinem Partner langsam in schwarzen Nebel auf. Kurz bevor wir verschwanden, blickte ich noch einmal zu Artemis entstelltem Körper hoch. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ihre traurigen Augen zu mir herunterblickten, als würden sie uns alle bemitleiden. Nur wusste ich damals noch nicht, warum.

Kapitel 2: Wiedersehen

Ich ließ Cassandras in einem der vielen Zimmer in Sefraims Palast unterbringen. Eigentlich wollte ich ihn ungern in seinem Zustand allein lassen, doch ich wusste, dass er, genau wie ich, eine kurze Verschnaufpause bitternötig hatte. Nach der Verfolgungsjagd mit den Aufhockern musste ich dringend duschen und meine Energiereserven wieder auffüllen. Außerdem wollte ich mir auch eine frische Uniform anziehen, bevor wir erneut aufbrechen würden. Als ich jedoch die Tür zu meinen eigenen Räumlichkeiten öffnete, wusste ich bereits, dass ich diese kleine Verschnaufpause nicht bekommen würde.

„Vida!“, rief eine glockenhelle Stimme meinen Namen. Der kleine Junge, der fröhlich von meinem Bett heruntersprang und auf mich zustürmte, besaß hellblondes, zu einem langen Zopf geflochtenes Haar und große, smaragdgrüne Augen. Unter seinem grauen T-Shirt und seinen kurzen, bunten Shorts kam seine glatte, kupferfarbene Haut zum Vorschein. Er war jedoch nicht der Einzige, der auf mich gewartet hatte. Nimmer krächzte zur Begrüßung laut und flatterte kurz mit ihren langen, weißen Schwingen, während sie auf ihrer für sie eigens angebrachte Sitzstange, neben dem Schreibtisch saß.

Müde erwiderte ich Irvins Umarmung. „Was machst du denn hier, Irvin? Hast du nicht Unterricht?“

Der Junge schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin fertig für heute“, sagte er mit einem frechen Grinsen auf den Lippen, das mich sehr an meine Freundin Marien erinnerte. Und auch schon wie bei ihr, konnte ich nicht anders, als es zu erwidern. Liebevoll fuhr ich ihm dabei über den Kopf, doch was ich dort spürte, ließ mich kurz erschrocken innehalten.

„Irvin! Bekommst du etwa … Hörner?“ Eigentlich hatte ich gehofft, dass seine Ähnlichkeit mit einem Halbteufel bei der Hautfarbe bleiben würde. Doch wenn er auch noch Hörner bekommen sollte, war seine Verwandtschaft zu dem höheren Dämonenvolk langsam, aber sicher unbestreitbar. Leider waren die meisten Mitglieder des Zwielichts nicht gut auf die Schergen der Dämonenkönigin zu sprechen, hatten sie doch Familie und Freunde damals in der Schlacht verloren. Irvin wird es mit seinem Aussehen alles andere als leicht in der Gesellschaft haben.

Irvin nickte währenddessen stolz. „Ja! Papa meinte, es wäre langsam Zeit dafür gewesen. Er hatte bereits als Baby welche gehabt.“

„Hatte er das … Wann hast du Serezar denn getroffen? Davon weiß ich ja gar nichts?“

„Gestern Abend, kurz nachdem du gegangen bist, hat er mich besucht.“

„Allein?“, fragte ich irritiert, doch Irvin schüttelte den Kopf.

„Nein, Soma hat ihn begleitet. Wie immer.“

Soma war die vampirische Aufpasserin, die den noch immer in seinen Freiheiten eingeschränkten Halbteufel wie einen Schatten begleitete. Ich nickte nur, dann seufzte ich kurz. „Ich muss mit Sefraim sprechen. Gehst du in den Garten und spielst etwas?“

„Darf ich ein Stück mit dir gehen?“, fragte er mit solchen Engelsaugen, dass ich ihm nicht lange widerstehen konnte.

„Warum nicht?“, entgegnete ich lächelnd, dann folgte ich dem Wirbelwind von einem Jungen, der sogleich nach draußen in den leeren Flur stolperte. Als ich zu ihm aufgeschlossen hatte, nahm Irvin ganz selbstverständlich meine Hand und wir liefen gemeinsam den Flur in Richtung Sefraims Büro entlang.

„Wie läuft es in der Schule?“, fragte ich ihn und musste ein amüsiertes Kichern unterdrücken, als ich seinen nachdenklichen, ernsten Blick bemerkte.

„Meister Drovos ist sehr streng, aber er kann auch manchmal ganz nett sein. Heute habe ich in der Pause mit Lukas und Daphne gespielt. Lukas hat sich in ein Kaninchen verwandelt und wir mussten ihn fangen.“

Ich nickte, während ich darüber nachdachte, wie es wohl für ihn werden würde, unter dem Schutz des Zwielichts aufzuwachsen. Die Schule, auf die Irvin ging, war an sich schon einzigartig, aber die vielen verschiedenen Dämonenrassen, die ihre Kinder dorthin schickten, machten sie noch einmal deutlich aufregender. Jeder wurde dort schon früh in seinen einzigartigen Fähigkeiten geschult. Irvin entwickelte sich bis jetzt jedoch eher wie ein ganz normaler Menschenjunge und war dadurch eigentlich wieder die Kuriosität unter den vielen verschiedenen Wesen, die sich dort aufhielten. Auch wenn der Rat, der noch immer nur aus Vampiren bestand, keinerlei Bezug zu Kindern hatte, wusste er jedoch genau, wie wichtig es ist, diese zu fördern und sie zeitgleich als Anhänger und Mitstreiter des Zwielichts zu erziehen. Dabei fiel mir Avalon ein und wie sehr er sich höchstwahrscheinlich dagegen gesträubt hätte, dass Irvin auf die Schule des Zwielichts gehen würde. Ich schüttelte bei diesem Gedanken den Kopf. Was spielt es für eine Rolle, was er darüber gedacht hätte? Ich bin ihn endlich los und das ist auch gut so. Ich treffe meine eigenen Entscheidungen. Da er mein Blut nicht trinkt, kann er mich nun nicht mehr einfach manipulieren, wie es ihm gerne passt. Avalon hält sich fern von mir und ich mich von ihm – und fertig.

Plötzlich bemerkte ich, wie Irvin auf einmal in seinen Erzählungen abbrach und prompt stehen blieb. Auch ich hielt an und beobachtete, wie er nachdenklich in den düsteren Gang links von uns starrte.

„Was ist, Irvin? Zu Sefraims Büro und dem Garten geht es hier entlang.“

Als der Junge nicht reagierte, wollte ich ihn schon mit mir ziehen, als er plötzlich meine Hand losließ und ein paar Schritte in die falsche Richtung lief.

„Irvin?“, fragte ich ihn verwirrt und blickte ebenfalls den leeren Gang entlang, konnte aber selbst mit meinen ausgezeichneten Vampiraugen nichts Ungewöhnliches feststellen.

„Es riecht nach Mamas Grab“, sagte der Junge schließlich und drehte sich verwirrt zu mir um. Überrascht schloss ich die Augen und konzentrierte mich. Tatsächlich konnte ich leicht den Geruch von Tannen und feuchten Laub riechen, der sich mit dem Blütenduft von Nachtkerzen vermischte. Kurz wunderte ich mich darüber, wie gut die Sinne des Teufelsjungen bereits ausgebildet waren, dann begriff ich, was Irvins Bemerkung eigentlich zu bedeuten hatte. Es gab nur einen logischen Grund, warum es plötzlich nach dem Ort roch, an dem Mariens Körper begraben war. Es lag daran, dass jemand hier war, der so lange dort gelebt hatte, dass er dessen Geruch praktisch in sich aufgenommen hatte. Und ich wusste, dass es nur eine Person gab, die das sein konnte. Jetzt, wo ich es wusste, nahm ich auch seine düstere Aura wahr, die sich in der ganzen Zeit kein Stück verändert hatte. Die einzige Ausnahme lag nun darin, dass sie nun weniger stark zu spüren war, als ich es gewohnt war. Anscheinend hatte er gelernt, sie wie Sefraim zu unterdrücken. Wenn ich daran dachte, dass es mein Silberblut war, dass ihn höchstwahrscheinlich die Macht dazu gegeben hatte, stieg augenblicklich ein Gefühl von Scham und Wut in mir auf. Doch viel Zeit, darin zu verweilen, blieb mir nicht. In schmerzlichen Erinnerungen gefangen, bemerkte ich zu spät, dass Irvin bereits losgerannt war. Als ich endlich aufsah, war er bereits um die nächste Ecke verschwunden. Noch immer zögerte ich, ihm zu folgen, doch als ich plötzlich Irvins kurzen Aufschrei hörte, bewegte ich mich, ohne nachzudenken. Mit einem blitzschnellen Satz war ich am anderen Ende des Ganges angelangt und starrte besorgt auf den spärlich ausgeleuchteten Weg vor mir. Was ich sah, verursachte eine merkwürdige Mischung an Gefühlen in mir. Ich sah, wie Avalon dort stand, den vor Freude jauchzenden Irvin vor sich ausgestreckt haltend und ihn mit einem leichten Lächeln auf den Lippen ansah. Als sein Blick zu mir wanderte, wurde sein Gesicht auf einen Schlag ernst und er stellte den kleinen Jungen wieder vor sich auf die Füße. Der Vampir trug eine dunkelblaue, fast bis zum Hals zugeknöpfte Jacke und dazu eine passende Hose. Sein schwarzes Haar fiel ihm wie immer offen über die Schulter und ließ seine Augen durch den Kontrast in einem noch intensiveren Rot erstrahlen. Während wir uns gegenseitig stumm musterten, blieb Irvin alles andere als ruhig.

„Warum hast du mich so lange nicht besucht?“, fragte er ihn und zog dabei auffordernd an seiner Hose, um seine Aufmerksamkeit zu erhaschen. „Ich habe dich vermisst, weißt du?“ Die Art, wie er sprach, erinnerte mich erneut an seine Mutter, die genau die gleiche, tadelnde und doch umsorgende Art gehabt hatte. Avalon blickte schließlich zu ihm herunter und kniff ihm einmal grob in die Wange.

„Autsch“, rief Irvin und rieb sich daraufhin mit der Hand über die Stelle.

„Ich war beschäftigt“, sagte er nur, doch die Worte reichten aus, um mein Herz für einen kurzen Augenblick schmerzhaft zusammenziehen zu lassen. Die negativen Gefühle, die ich ihm gegenüber empfand, drohten dabei an die Oberfläche zu kommen und wenn ich mich jetzt nicht zusammenriss, könnte es äußerst unschön werden. Gleichzeitig war ich enttäuscht, dass ich anscheinend noch immer nicht frei von Avalons Bann war, wenn er mich allein mit dem Klang seiner Stimme so aufwühlen konnte. Ich hatte sie schon so lange nicht mehr gehört, dass ich fast vergessen hatte, wie ihre Melodie klang.

„Geh in den Garten, Irvin. Sofort.“

Der Junge drehte sich zu mir um und seine Lippen verzogen sich zu einem dicken Schmollmund.

„Aber warum? Ich will noch nicht gehen. Ich will bei Avalon bleiben.“

„Irvin“, sagte ich eine Nuance schärfer, „Tu, was ich sage.“

Schließlich nickte der Junge beleidigt und sah noch einmal zu Avalon hoch. „Kommst du später und spielst mit mir?“

Der Blick meines ehemaligen Meisters wurde sanfter. „Wir werden sehen …“, antwortete er ihm.

Irvin schien diese wage Aussage zu reichen, denn auf einmal erstrahlte er.

„Bis später!“, rief er noch, während er sich umdrehte, und an mir vorbei, den Gang entlang rannte.

„Mach langsamer, du fällst noch hin!“, rief ich ihm nach, doch Irvin hörte mich schon nicht mehr. Ich lauschte kurz und nahm wahr, wie seine kleinen Füße gehorsam den Weg Richtung Garten einschlugen.

Als ich mich umdrehte, sah ich, dass Avalon mich direkt anstarrte. Von seinem kalten, raubtierhaften Blick bekam ich eine Gänsehaut. Eigenartigerweise konnte ich spüren, wie sehr sein Körper zu mir hingezogen wurde. Wie ein Sog, den ich unbewusst bildete und von dem ich wusste, dass es mein Blut war, dass ihn so lockte. Es war fast schon so, als würde ein Teil von mir wollen, dass er von mir kosten würde. Dass er seine Zähne in meinen Hals graben und wir eins wurden. Ein einzelner, pulsierender Organismus, der … Meine Kehle schnürte sich bei dieser Vorstellung schmerzhaft und gleichzeitig voller Abscheu zusammen. Seine Sucht ist noch immer stark, so stark, dass ich sie fast selbst spüren kann. Noch hat er sie unter Kontrolle. Doch … was wird passieren, wenn das nicht mehr so ist? Werde ich ihn dann töten müssen? Der Gedanke ließ mich trotz meiner Abneigung gegen Avalon bitter ausstoßen. Ich schätze, wenn es so ist, wäre ohnehin nicht mehr viel von ihm übrig. Sein Verstand wäre dann vollständig von seiner Gier besessen. Wahrscheinlich wäre es gnädig, ihm dann zu töten. Ein weiterer Schauer durchzog meinen Körper. Es war die Vorstellung, sein Blut an meinen Händen kleben zu haben, die in mir ein merkwürdiges Gefühl der Erregung entlockte. Ein letztes Mal sein Blut schmecken zu können … irritiert schüttelte ich den Kopf. Was war das?, fragte ich mich irritiert. Dieser Gedanke … angewidert nahm ich wahr, dass Avalon nicht der Einzige war, der wohl langsam den Verstand verlor. In diesem Augenblick wurde mir plötzlich schmerzlich klar, dass ein Teil von mir nie von ihm frei sein würde. Ich schluckte schwer. Aber immerhin habe ich mich unter Kontrolle. Meine Abscheu ihm Gegenüber ist größer als mein Verlangen. Er hingegen …

„Was suchst du hier?“, spie ich schließlich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Ich dachte, ich hätte mich das letzte Mal klar ausgedrückt?“

Während ich die Worte sprach, erinnerte ich mich an die letzte Begegnung, die ich mit meinem ehemaligen Meister gehabt hatte. Den Moment des Erwachens, den ich gespürt hatte, als ich ihn endlich für das Sehen konnte, was er war. Ein Egoist. Ein Manipulator. Ein Monster. Es war Donna Ferrana, die mich von seinem Bann befreit und mir die Wahrheit über Avalon gezeigt hatte. In diesem Moment war es mir wie Schuppen von den Augen gefallen. Avalon hat mich mit seiner Macht manipuliert, um mich auch nach der Verwandlung an sich zu binden. Das, was ich damals für ihn gefühlt hatte, waren nicht meine eigenen Gefühle gewesen. Er hatte sie mir eingepflanzt, damit er weiter mein Blut haben konnte. Selbst als Vampirin.

Ich sah ihn auffordernd an. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis er mir endlich antwortete.

„Der alte Blutsauger hatte mich herbestellt, um mit mir etwas zu besprechen. Etwas über Severine und die Dämmerung des roten Mondes, das er mir unbedingt hier sagen musste. Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, ist mir klar, was seine eigentliche Intention war.“

Er wendete seinen Blick ab und starrte auf seinen Schatten unter ihm.

„Bist du nun zufrieden, Sefraim? Gib zu, Opa, du hättest zu gerne einmal einen Grund gehabt, mir in den Gedärmen herumzuwühlen.“

Überrascht beobachtete ich, wie sich Avalons Schatten plötzlich in die Länge zog und sich eine dunkle Gestalt daraus erhob. Im nächsten Augenblick stand auf einmal Sefraim vor mir. Ein entschuldigendes Lächeln war auf seinen schwungvollen Lippen zu sehen.

„Ich bin also enttarnt. Deine Fähigkeiten scheinen sich gut zu entwickeln, mein lieber Enkelsohn.“

Avalons schnaubte abschätzig. „Wir sind hier fertig. Ich bin es zumindest“, sagte er noch, dann löste er sich plötzlich in schwarzen Nebel auf und war verschwunden. Sefraim und ich blieben zurück. Mein Gesichtsausdruck schien den alten Vampir wissen zu lassen, wie sehr mich sein kleines Experiment amüsiert hatte.

„Tut mir leid, Vida. Aber ich musste wissen, wie es aufgrund seines bedauernswerten Zustandes um ihn steht. Und eine andere Möglichkeit, euch beide zusammen zu bringen, erschien mir … schwierig.“

Ich war alles andere als begeistert, und obwohl ich ihm am liebsten meine Meinung dazu gegeigt hätte, wusste ich auch, dass es gerade Wichtigeres gab. Um Artemis und Cassandras willen schob ich meine Frustration zu Seite und fragte stattdessen: „Du hast Avalon von der flüchtigen Vampirin erzählt. Warum? Was hat er mit ihr zu tun? Wer ist sie, dass jemand diesen Aufwand für sie betreibt?“

Der alte Vampir seufzte. „Ich verstehe, dass du antworten willst, Vida. Aber momentan kann ich dir keine geben. Ich bin selbst noch nicht sicher, was vor sich geht. Und meine Vermutungen sollen dich nicht beunruhigen. Aber ich verspreche, sobald ich sicher bin, werde ich dir alles erzählen.“

Ich zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen. Natürlich wusste ich, dass mir keine andere Wahl blieb, als Sefraim zu vertrauen. Ich kannte meinen Großvater gut genug, um zu wissen, dass er mir nicht mehr verraten würde, selbst wenn ich nachbohren würde.

„Also schön. Aber wenn Onishi wieder hier ist, erwarte ich Antworten. Wenn nicht für mich, dann zumindest für Cassandras. Schließlich steht das Leben seiner Meisterin auf dem Spiel. Selbst wenn es nur Vermutungen sind, hat er ein Recht darauf, zu erfahren, was vor sich geht.“

Sefraim nickte. „Natürlich. Wenn du mich nun entschuldigen würdest, Vida? Ich habe noch einiges zu tun.“

Ich nickte, zum Zeichen, dass ich verstand. Schon im nächsten Augenblick war der alte Vampir verschwunden und ich stand allein in dem Gang aus weißem Marmor. Plötzlich überkam mich erneut ein kalter Schauder und ich musste mich an der Wand neben mir abstützen, um nicht den Halt zu verlieren. Mein Atem ging stoßweise, während ich versuchte zu verstehen, was gerade mit mir geschah. Doch so schnell der Anfall über mich gekommen war, so schnell war er auch schon wieder vorüber. Doch die Erinnerung daran, verblasste nicht so schnell und dieses Gefühl von Verlust und Trauer, das mich dabei überkommen hatte, begleitete mich noch lange.

Kapitel 3: Arden

„Cassandras? Darf ich reinkommen?“

Ich hörte es auf der anderen Seite ein kurzes Rascheln, dann erscholl Cassandras knisternde Stimme: „Klar, komm rein.“

Mein Partner saß auf dem Bett. Er trug ein hellblaues Shirt und schwarze Shorts. Von seinen violetten, lockigen Haaren tropfte das Wasser. Der Vampir sah mich mit seinen roten Augen traurig an, als würde er sich bereits sicher sein, dass es für seine Meisterin keine Rettung mehr geben würde.

„Gibt es etwas Neues?“ Eine kurze Flamme der Hoffnung flackerte dabei in seinem Gesicht auf, doch als ich den Kopf schüttelte, erstarb diese sogleich.

„Nein, Cassandras, tut mir leid. Ich habe gerade mit Sefraim gesprochen. Allerdings …“

„Was?“, hakte er sogleich nach. Ich wusste, dass ich jetzt keine andere Wahl hatte, als weiterzusprechen.

„Avalon war hier gewesen. Sefraim hatte ihn herbestellt, um … na ja, um ehrlich zu sein, damit er sieht, ob mein ehemaliger Meister mir sofort an die Kehle springen würde, wenn er mir gegenübersteht. Wie es aussieht, hat er noch genug Widerstandskraft in sich. Bis jetzt. Aber zuvor - und das ist das interessante - hatte er mit Avalon über Severine gesprochen. Ich glaube, Sefraim hat eine Vermutung, wer deine Meisterin angegriffen und diese Vampirin befreit haben könnte. Nur will er es mir noch nicht sagen …“

„Avalon?“, fragte Cassandras ungläubig. „Er weiß also vielleicht etwas …“

Als Cassandras plötzlich mit neuem Elan aufsprang, musterte ich ihn misstrauisch.

„Was ist los? Was hast du vor?“

Der Vampir sah mich mit einem freudlosen Lächeln an. „Was wohl? Ich werde hier verdammt noch mal nicht weiter rumsitzen! Wenn der Süchtige etwas wissen könnte, was mir hilft, meine Meisterin zu retten, werde ich nichts unversucht lassen. Und dann werde ich mich eigens auf die Suche nach ihrem Herzen machen. Schließlich war ich einmal mit Meisterin Artemis verbunden. Wenn jemand ihr Herz aufspüren kann, dann wohl ich, oder?“

Erschrocken sah ich ihn an. „Aber, Sefraim hat ausdrücklich befohlen, dass du nichts unternehmen sollst! Außerdem ist es doch bisher nur eine Vermutung …“

„Eine, die er jedoch so plausibel findet, dass er Avalon einweiht. Nein, ich bin mir sicher, der Verwalter weiß mehr als er zugeben wollte.“ Er sah mich traurig an. „Du weißt doch am besten, wie ich mich gerade fühle, oder? Was hättest du getan, wenn es Meister Irvins Herz gewesen wäre?“

Ich sah ihn an, sagte aber nichts. Die Erinnerungen, die in mir aufstiegen, waren so schmerzhaft, dass sie mir für einen Moment die Stimme raubten.

„Ich gehe entweder mit dir oder ohne dich. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich die Macht des Silberblutes gerne hinter meinem Rücken wissen würde.“

Kurz dachte ich über seine Worte nach, dann seufzte ich.

„Als schön, ich begleite dich. Aber … mehr auch nicht. Egal, was Avalon sagt, wir warten auf Onishis Rückkehr.“

„Ich kann nichts versprechen“, entgegnete der junge Vampir prompt. „Falls mir das, was dein ehemaliger Meister zu sagen hat, hilft Artemis Herz schneller zu finden, werde ich nicht mit dir zurückkommen.“

Ich musterte meinen Wächterkollegen vor mir plötzlich mit anderem Blick. Er hatte den Schwur abgelegt dem Verbundsrat treu ergeben zu sein. Was er tat, war direkt gegen ihre Anordnung … Und doch … wusste ich, dass er recht hatte. An seiner Stelle hätte ich genau das Gleiche getan.

„Versprich mir nur, alles genau zu überdenken. Vielleicht findet Onishi ihr Herz ja genau in dem Moment, indem wir uns aus dem Raum teleportiert haben. Und dann wärst du nicht hier, um es zu erfahren.“

Cassandras nickte nur, dann streckte er mir auffordernd die Hand hin. „Ich kenne seinen Aufenthaltsort nicht. Du wirst den Weg vorgeben müssen.“

Ich starrte für einen Augenblick auf seine ausgestreckten schlanken Finger, dann schluckte ich schwer. Ich war alles andere als bereit, meinem ehemaligen Meister erneut gegenüberzutreten. Doch … ein Freund brauchte meine Hilfe. Was hätte ich anderes tun sollen?

Wir tauchten direkt vor der wuchtigen Eingangstür des Schlosses auf. Es war Nacht, und ein milder Wind strich über unsere feinfühlige Vampirhaut. Erstaunt bemerkte ich, dass auch hier Sommer war. Ich bin schon so lange nicht mehr an diesem Ort gewesen, dass ich vergessen habe, welche Jahreszeit hier herrschen muss. Irvin und ich sollten mal wieder Mariens Grab besuchen und … Verdammt! In diesem Moment fiel mir ein, dass ich mich ja eigentlich bereits mit Lauren verabredet hatte, um zusammen mit Irvin, zu Mariens Grab zu gehen. Und das heute Abend. Nach allem, was passiert war, hatte ich das komplett vergessen. Ich hoffte, dass Lauren nicht allzu sauer auf mich sein würde, wenn ich unsere Verabredung platzen lasse, schließlich hatte ich einen guten Grund dafür. Mit diesem Gedanken blickte ich nach oben und sah, dass in dem obersten Stockwerk der flackernde Docht einer Kerze brannte. Gleichzeitig spürte ich seine bekannte Präsenz.

„Es wird nicht lange dauern, bis er uns bemerkt“, sagte ich und überkreuzte ablehnend die Arme vor der Brust. „Vergiss nicht, ich bin nur dabei, um aufzupassen, damit du keine Dummheiten tust. Alles, was du mit Avalon bereden willst, musst du ihn selbst fragen.“

Cassandras lächelte mich an. Erneut sah ich dabei keine Freude in seinen Augen. „Ich werde es mir merken.“

Schon im nächsten Moment schnellten unsere Köpfe zu der Stelle, direkt vor der Eingangstür, an der sich plötzlich schwarzer Nebel bildete. Im nächsten Moment stand Avalon vor uns. Er trug eine lange schwarze Hose und ein locker sitzendes, weißes Hemd. An seinen Fingern klebt der Geruch von Druckerschwärze und sein Atem roch nach der Flasche eines sehr rauchigen Whiskeys. Es war offensichtlich, dass er in seinem Zimmer gesessen und mit einem Whiskey in der Hand gelesen hatte. Ich wusste noch von meiner Zeit als seine Schülerin, dass kein Tag verging, an dem er seine Nase nicht in ein Buch gesteckt hatte.

„Ich hasse Besuch. Und erst recht, wenn er unangekündigt erscheint.“ Seine dunkelroten Augen leuchteten feindselig, während er den Blick über uns schweifen ließ. Plötzlich grinste er. „Aber ich hätte nicht gedacht, dass zwei seiner Wächter solch ein ungehorsam an den Tag legen würde. Wir überaus unanständig von euch. Mir scheint, Sefraim hat seine Schafe nicht mehr unter seiner absoluten Kontrolle. Wie überaus beruhigend.“

Natürlich hat er direkt durchschaut, warum wir hier sind … Ich sagte jedoch nichts und überließ Cassandras das Feld. Mir war es schon unangenehm genug, ihm erneut Gegenüber stehen zu müssen. Ich wich seinem Blick aus und starrte stattdessen auf den verwilderten Vorgarten.

„Es tut mir leid, wenn ich Euch störe, Meister Avalon. Aber ich muss wissen, warum Sefraim euch bezüglich der entflohenen Vampirin informiert hat. Wer ist sie, dass sie so wichtig scheint, dass jemand all den Aufwand für sie betreibt? Und wo hin könnten die Diebe mit dem Herz meiner Meisterin geflohen sein?“

Avalon sah ihn einen Moment ernst an, dann kicherte er plötzlich düster.

„Ich werde mal nicht so sein. Wenn ich Sefraim damit ärgern kann, dass ich euch alles verrate, ist das für mich Lohn genug. Also stelle eine spezifische Frage.

„Wer ist Severine?“, schoss es Cassandras sogleich aus dem Mund,

„Severine …“ Ich sah, wie sich Avalons Lippen zu einem mürrischen Ausdruck verzogen. „… ist ein Stück Dreck, das es nicht verdient hat, noch unter den Lebenden zu weilen, aber dank dem Verbundsrat, wurde sie nicht getötet, sondern nur gefangen gehalten. Bis jetzt natürlich.“ Neugierig sah ich die Abscheu und den Hass in Avalons Augen aufleuchten. Ich ahnte, dass die beiden wohl eine vergangene Fehde verband.

„Sie war in der Vergangenheit einmal ein äußerst wichtiges Mitglied der Dämmerung des roten Mondes gewesen“, sprach der Vampir indes weiter. „Jene Gruppe, die anscheinend nun ihr Coming Back feiert. Und sie haben ihre Macht gleich einmal damit demonstriert, dass sie es geschafft haben, ein Mitglied des Verbundrats zu töten.“

„Sie ist noch nicht tot!“, rief Cassandras aufgebracht. „Ich muss wissen, wo ihr Herz sein könnte. Habt Ihr eine Vermutung?“

„Vielleicht“, antwortete Avalon knapp. „Ich weiß, dass sie damals im Norden Schottlands eine geheime Basis hatten. Vielleicht sind sie dort.“

Ich sah, wie bei diesen Worten der Hoffnungsschimmer auf Cassandras Gesicht zurückkehrte.

„Warum hat Sefraim uns das nicht erzählt?“ Ich wusste, dass ich in dem Moment meine eigene Regel brach, aber ich konnte nicht anders. Ich musste wissen, warum der Verwalter diese Heimlichtuerei aufgeführt hatte.