Patriot - Alexej Nawalny - E-Book

Patriot E-Book

Alexej Nawalny

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Beschreibung

Die eindringliche und bewegende Autobiographie eines furchtlosen Oppositionsführers, der den höchsten Preis für seine Überzeugungen zahlen musste. Nawalny begann mit der Arbeit an PATRIOT im Jahr 2020, kurz nach dem Giftanschlag auf ihn. Es ist die umfassende Geschichte seines Lebens: seine Jugend, seine Berufung zum Aktivisten, seine Ehe und Familie sowie sein Einsatz für Demokratie und Freiheit in Russland angesichts einer Supermacht, die ihn unbedingt zum Schweigen bringen will. PATRIOT zeigt Nawalnys absolute Überzeugung: Der Wandel ist nicht aufzuhalten. Er wird kommen. Anschaulich und mit spannenden Details, einschließlich bislang unveröffentlichter Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, schildert Nawalny seinen politischen Werdegang, die zahlreichen Anschläge auf ihn und seine Vertrauten und die hartnäckigen Kampagnen, die er und sein Team gegen das zunehmend diktatorische Regime zu führen wagten. Nawalnys Witwe, Julija Nawalnaja, sagt: "Dieses Buch ist nicht nur das Zeugnis von Alexejs Leben, sondern auch von seinem standhaften Kampf gegen die Diktatur – ein Kampf, für den er alles gab, einschließlich sein Leben. Die Leser werden den Mann kennenlernen, den ich zutiefst geliebt habe – einen Mann von umfassender Integrität und unbeugsamem Mut. Seine Geschichte wird nicht nur sein Andenken ehren, sondern auch andere Menschen inspirieren, sich für das Richtige einzusetzen und nie die Werte aus den Augen zu verlieren, die wirklich zählen." Geschrieben mit der Leidenschaft, dem Esprit, der Aufrichtigkeit und dem Wagemut, für die er zu Recht bewundert wurde, ist PATRIOT Nawalnys Abschiedsbrief an die Welt: eine bewegende Darstellung seiner letzten Jahre, die er im brutalsten Gefängnis der Welt verbrachte, eine Mahnung, warum die Grundsätze der individuellen Freiheit so wichtig sind, und ein mitreißender Aufruf, das Werk fortzuführen, für das er sein Leben gab.

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Seitenzahl: 796

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Alexej Nawalny

Patriot

 

Aus dem Englischen von Rita Gravert, Norbert Juraschitz und Karin Schuler

 

Inhalt

Teil I Dem Tode nahe

Kapitel 1

Kapitel 2

21. September 2020

Teil II Heranwachsen

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

24. Juli 2023

Teil III Die Arbeit

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Alexejs Schlussworte im Yves-Rocher-Prozess

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Teil IV Gefängnis

2021

21. Januar

22. Januar

23. Januar

24. Januar

25. Januar

26. Januar

27. Januar

28. Januar

29. Januar

30. Januar

31. Januar

1. Februar

2. Februar

3. Februar

4. Februar

5. Februar

6. Februar

7. Februar

8. Februar

9. Februar

10. Februar

11. Februar

12. Februar

13. Februar

14. Februar

15. Februar

16. Februar

17. Februar

18. Februar

19. Februar

20. Februar

21. Februar

22. Februar

23. Februar

24. Februar

25. Februar

3. März

8. März

9. März

10. März

11. März

12. März

13. März

14. März

15. März

16. März

18. März

19. März

20. März

21. März

22. März

23. März

24. März

26. März

28. März

29. März

31. März

1. April

2. April

3. April

4. April

5. April

6. April

7. April

9. April

10. April

11. April

19. April

20. April

23. April

24. April

25. April

1. Mai

2. Mai

4. Mai

13. Mai

16. Mai

25. Mai

9. Juni

24. Juli

5. August

30. September

11. Oktober

21. Oktober

18. November

2022

17. Januar

9. Februar

22. Februar

24. Februar

26. März

3. April

5. April

15. Juni

1. Juli

15. August

24. August

2. September

7. September

8. September

20. Oktober

17. November

21. November

2023

12. Januar

17. Januar

20. Februar

8. März

15. März

4. Juni

19. Juni

4. August

27. September

19. Oktober

13. November

1. Dezember

6. Dezember

26. Dezember

31. Dezember

2024

9. Januar

17. Januar

Epilog

Tafelteil

Teil IDem Tode nahe

Kapitel 1

Sterben tat wirklich nicht weh. Wenn es nicht mein letzter Atemzug gewesen wäre, hätte ich mich niemals neben der Flugzeugtoilette auf den Boden gelegt. Wie Sie sich vorstellen können, war er nicht unbedingt sauber.

Ich flog von Moskau ins sibirische Tomsk und war eigentlich ganz zufrieden. In zwei Wochen fanden Regionalwahlen statt, und meine Kollegen von der Stiftung für Korruptionsbekämpfung (russisch abgekürzt: FBK) und ich hatten die feste Absicht, der herrschenden Partei Einiges Russland in verschiedenen sibirischen Städten eine herbe Niederlage zu bereiten. Damit wollten wir die wichtige Botschaft aussenden, dass Wladimir Putin selbst nach zwanzig Jahren an der Macht nicht allmächtig und in jenem Teil Russlands noch nicht einmal besonders beliebt war – obwohl natürlich auch den Menschen dort von den Fernsehmoderatoren rund um die Uhr das Loblied auf den Führer der Nation vorgesungen wurde.

Seit mehreren Jahren schon durfte ich nicht mehr bei Wahlen antreten. Der Staat erkannte die politische Partei, die ich anführte, nicht an und hatte ihr kürzlich erst zum neunten Mal in acht Jahren die Registrierung verweigert. Irgendwie gelang es uns nie, »die Formulare korrekt auszufüllen«. In jenen überaus seltenen Fällen, in denen es dem einen oder der anderen von uns gelang, ihren Namen auf den Wahlzettel zu bekommen, griff man zu den absurdesten Vorwänden, um ihnen die Wählbarkeit abzusprechen. Unser Netzwerk – mit auf dem Höhepunkt nicht weniger als achtzig Regionalbüros eines der größten im Land und ständig den Angriffen des Staates ausgesetzt – stand daher vor der schizophrenen Herausforderung, Wahlen zu gewinnen, von denen es ausgeschlossen war.

In unserem autoritären Land, in dem es das Regime seit mehr als zwei Jahrzehnten zu seiner Priorität erklärt hat, dem Wahlvolk den Glauben einzuimpfen, dass es machtlos sei und nichts verändern könne, war es nie leicht, die Menschen dazu zu überreden, sich aufzuraffen und wählen zu gehen. Allerdings war ihr Einkommen sieben Jahre hintereinander gesunken. Wenn wir auch nur ein Drittel all derer, die genug von dem Regime hatten, in die Wahlkabinen locken könnten, hätte keiner von Putins Kandidaten eine Chance. Doch wie brachte man die Menschen zum Wählen? Durch Überredung? Indem man ihnen Belohnungen anbot? Wir entschieden uns dafür, die Leute richtig wütend zu machen.

In den letzten paar Jahren hatten meine Kollegen und ich eine nie endende Seifenoper über die Korruption in Russland gedreht. In jüngster Zeit war fast jede Folge zwischen drei und fünf Millionen Mal auf YouTube aufgerufen worden. Angesichts der Realitäten in Russland vernachlässigten wir von Anfang an den leisetreterischen journalistischen Ansatz mit seinen endlosen Einschränkungen – »angeblich«, »möglicherweise«, »mutmaßlich« –, die juristische Berater so lieben. Wir nannten einen Dieb einen Dieb, Korruption Korruption. Wenn jemand ein riesiges Anwesen besaß, sagten wir das nicht nur, sondern filmten es auch mit Drohnen und zeigten den Besitz in all seiner Pracht. Außerdem brachten wir seinen Wert in Erfahrung und glichen ihn mit dem bescheidenen Einkommen ab, das der Funktionär, dem es gehörte, offiziell angab.

Man kann sich alle möglichen theoretischen Gedanken über Korruption machen, doch mir war ein direkterer Ansatz lieber – indem ich etwa die Hochzeitsfotos des Pressesprechers des Präsidenten unter die Lupe nahm und mich beim Moment, als er die Braut küsst, auf die spektakuläre Uhr konzentrierte, die unter seiner Manschette hervorblitzte. Von einem Schweizer Anbieter ließen wir uns bestätigen, dass die Uhr 620000 Dollar kostet, und enthüllten das den Bürgern unseres Landes, von denen ein Fünftel unter der Armutsgrenze von 160 Dollar im Monat lebt, die man eigentlich besser als Elendsgrenze bezeichnen müsste. Und nachdem wir unsere Zuschauer ausreichend mit der Schamlosigkeit des korrupten Funktionärsapparats in Rage gebracht hatten, verwiesen wir sie auf eine Website, auf der aufgelistet war, wen sie in ihrer Region wählen sollten, wenn sie das Luxusleben ihrer Bürokraten nicht länger bezahlen wollten.

Es funktionierte.

Mit Bildern aus dem Leben der »bescheidenen Patrioten, die unser Land regieren« unterhielten wir unsere Zuschauer und entfachten gleichzeitig ihre Wut. Wir erklärten die Mechanismen der Korruption und forderten praktisches Handeln, um Putins System maximal zu schaden. Das Material ging uns nie aus.

Beim Blick aus dem Flugzeugfenster dachte ich darüber nach, dass wir jetzt genug Bildmaterial hatten, um zwei oder drei YouTube-Videos über die Korruption in sibirischen Städten hochzuladen. Mehrere Millionen Menschen würden sie sehen, mehrere hunderttausend in Nowosibirsk und Tomsk würden sie nicht nur anschauen, sondern sich auch so darüber aufregen, dass sie unserem Aufruf, zur Wahl zu gehen und gegen die Kandidaten der Putin-Partei zu stimmen, folgen würden.

Ich musste grinsen, als ich daran dachte, wie die staatlichen Behörden, die wussten, was wir vorhatten, versuchten, unseren Plan zu sabotieren. Für Beamte auf allen Ebenen waren meine Reisen quer durch Russland ein rotes Tuch. Sie betrachteten meine Besuche als eine Bedrohung und dachten sich endlose Strafanzeigen aus, um meine Rundreisen im Land zu behindern; ein Angeklagter in einem Strafprozess darf sich nicht allzu weit von seinem Wohnort entfernen. Seit 2012 hatte ich ein Jahr unter Hausarrest verbracht und mehrere weitere unter der gerichtlichen Verfügung, Moskau nicht verlassen zu dürfen.

Zwei Monate zuvor war auf Veranlassung des staatlich kontrollierten Propagandakanals Russia Today ein weiterer lächerlicher Prozess mit dem Vorwurf der »Beleidigung eines Kriegsveteranen« gegen mich eröffnet worden. Damit ging wieder die Anordnung einher, Moskau nicht zu verlassen. In meinen Augen war diese Beschränkung illegal, also ignorierte ich sie und flog zu dieser letzten Recherchereise nach Sibirien. Meine Kollegen und ich brachten Hunderte Gigabyte Filmmaterial von dort zurück, darunter Interviews mit der lokalen Opposition und ein Video über die Residenz eines regierungstreuen Parlamentsabgeordneten auf einer Privatinsel. Das Material war verschlüsselt auf den Server geladen worden und wartete darauf, geschnitten zu werden.

Ich freute mich auf die Chance, Einiges Russland in Tomsk zu besiegen und ihm in Nowosibirsk zumindest eine blutige Nase zu verpassen. Es war ein befriedigender Gedanke, dass wir trotz der zunehmenden Einschüchterungsversuche – in den letzten beiden Jahren waren unsere Büros mehr als dreihundertmal durchsucht worden von Menschen mit schwarzen Masken, die Türen aus den Rahmen sägten, alles durchwühlten und Telefone und Computer beschlagnahmten – nur stärker geworden waren. Je mehr ich mich darüber freute, desto mehr ärgerten sich natürlich der Kreml und Putin persönlich. Das provozierte ihn wahrscheinlich zu dem Befehl, »aktive Maßnahmen zu ergreifen«. Diesen Ausdruck verwenden Offiziere des Geheimdienstes (früher der KGB, heute der FSB) gewöhnlich in ihren Memoiren. Man beseitigt das Problem, indem man die Person beseitigt.

Im ganz normalen Leben können alle möglichen schlimmen Dinge passieren. Womöglich wird man von einem Tiger gefressen. Ein Angehöriger eines feindlichen Stammes rammt einem eine Lanze in den Rücken. Man amputiert sich versehentlich einen Finger, weil man seiner Partnerin seine Kochkünste vorführen will, oder verliert ein Bein, weil man unachtsam mit der Kettensäge hantiert. Vielleicht fällt einem ein Ziegelstein auf den Kopf oder man stürzt aus dem Fenster. Und dann sind da noch all die Herzinfarkte und anderen Tragödien, furchtbar, aber nicht unbedingt überraschend.

Ich hoffe, dass nur sehr wenige meiner Leserinnen und Leser von Lanzen durchbohrt werden oder aus dem Fenster fallen, doch man kann sich leicht vorstellen, wie sich das anfühlen würde. Unsere Lebenserfahrung und unsere Beobachtung anderer Menschen versetzen uns in die Lage, solche Empfindungen lebhaft nachvollziehen zu können. Das dachte ich jedenfalls, bevor ich in jenes Flugzeug stieg.

 

Aus Rücksicht auf die Konventionen der Detektivgeschichte werde ich versuchen, alles, was an jenem Tag geschah, so genau wie möglich zu schildern – nach dem altehrwürdigen Prinzip, dass selbst das winzigste Detail den Schlüssel zur Lösung des Rätsels liefern könnte.

Wir schreiben den 20. August 2020. Ich liege im Bett in meinem Hotelzimmer in Tomsk. Der Wecker klingelt um halb sechs Uhr morgens. Ich bin sofort wach und gehe ins Bad. Ich dusche. Ich rasiere mich nicht. Ich putze mir die Zähne. Der Deoroller ist leer. Ich reibe mit der trockenen Plastikkugel über meine Achselhöhlen, bevor ich den Roller in den Mülleimer werfe, wo ihn ein paar Stunden später meine Kollegen finden werden, als sie mein Zimmer durchsuchen. Ich wickle mich in das größte Handtuch, das im Badezimmer hängt, gehe zurück ins Zimmer und überlege, was ich anziehen soll. Ich brauche Unterwäsche, Socken, ein T-Shirt. Weil ich einer von denen bin, die in eine leichte Benommenheit verfallen, wenn sie Klamotten aussuchen müssen, starre ich für vielleicht zehn Sekunden auf die Dinge in meinem offenen Koffer.

Ein etwas peinlicher Gedanke kommt mir in den Sinn. Kann ich das T-Shirt von gestern noch einmal anziehen? Schließlich werde ich in fünf Stunden zu Hause sein, wo ich wieder dusche und mich umziehe. Aber nein, das wäre nicht gut. Es könnte meinen Kollegen auffallen, und die würden denken, dass der Boss sich wie ein Landstreicher aufführt.

Das Hotel hat meine Wäsche am Tag zuvor geliefert, also nehme ich ein T-Shirt und Socken aus dem Paket. Im Koffer ist saubere Unterwäsche. Ich ziehe mich an und schaue auf die Uhr: 5.47 Uhr. Ich darf das Flugzeug nicht verpassen: Es ist Donnerstag, und der ist mir heilig. Jeden Donnerstag, komme, was da wolle, gebe ich um 8 Uhr abends live meine Meinung zu den Ereignissen der vergangenen Woche in Russland zum Besten. Russland der Zukunft mit Alexej Nawalny ist einer der beliebtesten Videostreams des Landes und wird live von 50000 bis 100000 Menschen gesehen. Dazu kommen bis zu 1,5 Millionen spätere Aufrufe im Netz. In diesem Jahr ist die Zahl der Zuschauer nie unter eine Million gefallen. (Wenn nicht Donnerstag wäre, würde ich noch ein paar Tage in Sibirien bleiben. Heute werden eine Kollegin und ein Kollege mit mir reisen. Mehrere andere bleiben noch, um die Aufgabe zu Ende zu bringen.)

Es ist 6.01 Uhr, ich hasse es, zu spät zu kommen, doch wie üblich habe ich nicht alles eingepackt: Mein Gürtel liegt auf dem Stuhl. Ich muss den Koffer öffnen, ihn hineinlegen und das tun, was jeder kennt, der schon einmal versucht hat, einen übervollen Koffer zu schließen. Ich lehne mich mit meinem ganzen Gewicht darauf, ziehe den Reißverschluss zu und flehe ihn im Geiste an, doch bitte nicht aufzuspringen, sobald ich meine Hand wegnehme und zu drücken aufhöre.

Um 6.03 Uhr bin ich unten in der Hotellobby, wo meine Pressesprecherin Kira Jarmysch und mein Assistent Ilja Pachomow schon warten. Wir steigen in das Taxi, das Ilja bestellt hat, und machen uns auf zum Flughafen. Unterwegs hält der Fahrer an einer Tankstelle; das ist ein bisschen ungewöhnlich, weil das Auftanken ja normalerweise zwischen zwei Fuhren passiert, aber ich mache mir keine weiteren Gedanken darüber.

Am Flughafen finden wir dasselbe idiotische Arrangement vor wie überall in Russland. Man muss mit seinem Gepäck durch einen Metalldetektor gehen, noch ehe man das Gebäude betritt. Dazu muss man sich an zwei Schlangen anstellen und zwei Checkpoints passieren. Es geht alles sehr langsam, und immer hat irgendjemand vor einem vergessen, sein Handy aus der Tasche zu nehmen. Der Scanner piept. Er hat auch vergessen, seine Uhr abzulegen. Der Scanner piept noch einmal. Während ich den Idioten im Geist verfluche, gehe ich durch den Scanner – und natürlich piept er. Ich habe die Uhr nicht abgenommen. »Entschuldigung!«, sage ich zu dem Passagier, der in der Schlange hinter mir steht, und lese in seinen Augen all das, was auch ich zehn Sekunden zuvor gedacht habe.

Aber durch solche Kleinigkeiten lasse ich mir nicht die gute Laune verderben. Bald werde ich wieder zu Hause sein, die Arbeitswoche wird hinter mir liegen und ich werde das Wochenende mit meiner Familie verbringen. Ein großartiges Gefühl.

Schon bald stehen Kira, Ilja und ich im Terminal, eine klassische Gruppe von Geschäftsreisenden am frühen Morgen. Noch eine Stunde bis zum Start. Wir schauen uns um und überlegen, wie wir uns die Zeit vertreiben können, bis unser Flug aufgerufen wird.

»Warum gehen wir nicht eine Tasse Tee trinken?«, schlage ich vor. Und das tun wir.

Ich hätte meinen Tee eleganter trinken sollen, denn drei Tische entfernt sitzt ein Typ, der heimlich ein Video aufnimmt. Er wird meine schlechte Haltung unter der Überschrift »Nawalny am Flughafen Tomsk gesichtet« auf Instagram posten. Später wird man den Post unglaublich oft aufrufen und Sekunde für Sekunde analysieren. Man sieht darauf eine Kellnerin, die mir mit bloßen Händen den Tee in einem roten Pappbecher reicht. Niemand sonst berührt den Becher.

Ich gehe in einen Laden am Flughafen namens »Souvenirs aus Sibirien« und kaufe Süßigkeiten. An der Kasse versuche ich mir eine witzige Bemerkung auszudenken, mit der ich die Schachtel zu Hause meiner Frau Julija überreichen werde. Mir fällt nichts ein. Egal, es ist ja noch Zeit.

Das Boarding beginnt, und um 7.35 Uhr zeigen wir unsere Pässe und steigen in den Bus, der uns die 150 Meter zum Flugzeug fahren wird.

Der Flug ist ausgebucht, und im Bus wird es ein bisschen turbulent. Ein Mann erkennt mich und bittet um ein Selfie. Sicher, kein Problem. Daraufhin verlieren auch andere ihre Hemmungen, und vielleicht noch einmal zehn Personen drücken sich an mich, um ein Foto zu machen. Ich lächle glücklich in die Handys anderer Leute und frage mich wie immer in solchen Momenten, wie viele von ihnen wohl wirklich wissen, wer ich bin, und wie viele einfach nur einen Schnappschuss machen für den Fall, dass ich tatsächlich jemand sein sollte. Dies ist ein perfektes Beispiel für Sheldon Coopers Definition eines B-Promis in The Big Bang Theory: »Wenn man erklärt, wer er ist, erkennen ihn plötzlich viele.«

Als wir ins Flugzeug einsteigen, werden noch einmal Fotos gemacht, und Kira, Ilja und ich sind unter den Letzten, die ihre Plätze einnehmen. Das macht mir ein bisschen Sorgen, denn ich habe einen Rucksack und einen Koffer, die verstaut werden müssen. Was, wenn alle Gepäckfächer über uns schon voll sind? Ich will nicht der arme Passagier sein, der in der Kabine herumirrt und schließlich die Crew bitten muss, einen Platz für sein Handgepäck zu finden.

Letztendlich löst sich alles in Wohlgefallen auf. Der Koffer verschwindet im Fach über mir, und den Rucksack schiebe ich unter meinen Fensterplatz. Meine Kollegen wissen, dass ich sehr gern am Fester sitze, so dass sie mich abschirmen können, wenn jemand womöglich die politische Situation in Russland diskutieren möchte. Im Allgemeinen rede ich gern mit den Leuten, aber nicht im Flugzeug. Die Hintergrundgeräusche sind immer so laut, und die Vorstellung, dass mir jemand mit zwanzig Zentimeter Abstand ins Gesicht brüllt: »Sie untersuchen Korruption, stimmt’s? Nun, lassen Sie mich von meinem Fall erzählen«, finde ich nicht wirklich schön.

Russland ist auf Korruption gegründet, und jeder kann ein Lied davon singen.

Meine sowieso schon gute Laune steigert sich noch, weil ich mich auf dreieinhalb herrlich entspannte Stunden freuen kann. Zunächst werde ich eine Folge Rick and Morty schauen, dann lesen.

Ich schnalle mich an und ziehe meine Sneaker aus. Das Flugzeug rollt über die Startbahn.

Ich wühle in meinem Rucksack, ziehe Laptop und Kopfhörer heraus, öffne das Verzeichnis mit den Rick-and-Morty-Videos und wähle zufällig eine Staffel und dann eine Folge. Ich habe wieder Glück; es ist die Folge, in der sich Rick in eine Essiggurke verwandelt. Ich liebe sie.

Ein Steward schaut missbilligend, bittet mich aber nicht, den Laptop zu schließen, wie es eine überholte Regel zur Flugsicherheit fordert. Das ist eine der Vergünstigungen, wenn man ein B-Promi ist. Es läuft alles wirklich gut heute.

Und dann läuft es nicht mehr gut.

Dank des freundlichen Stewards weiß ich mittlerweile exakt, in welchem Moment ich spürte, dass irgendetwas nicht stimmt. Nach 18 Tagen im Koma, 26 Tagen auf der Intensivstation und 34 weiteren Tagen im Krankenhaus zog ich Handschuhe an, wischte ein paarmal mit einem Desinfektionstuch über den Bildschirm meines Laptops, schaltete ihn an und stellte fest, dass seit dem Start der Folge 21 Minuten vergangen waren.

Es muss schon etwas wirklich Außerordentliches passieren, damit ich beim Start nicht Rick and Morty schaue – Turbulenzen wären nicht genug –, aber jetzt schaue ich auf den Bildschirm und kann mich nicht konzentrieren. Etwas sehr, sehr Seltsames und Falsches geschieht mit mir. Ich muss den Laptop schließen. Eiskalter Schweiß läuft mir über die Stirn – so viel, dass ich Kira, die links neben mir sitzt, um ein Papiertaschentuch bitte. Sie ist ganz in ihr E-Book versunken und nimmt, ohne aufzusehen, eine Packung Taschentücher und reicht sie mir. Ich ziehe eines heraus. Dann ein zweites. Da stimmt definitiv etwas nicht. So etwas habe ich noch nie erlebt. Es ist noch nicht mal ganz klar, was ich da durchmache. Es tut nichts weh. Ich hab nur das seltsame Gefühl, dass gerade mein ganzes System versagt.

Ich komme zu dem Schluss, dass ich luftkrank geworden sein muss, weil ich beim Start auf einen Bildschirm geschaut habe. Unsicher sage ich zu Kira: »Irgendetwas stimmt nicht mit mir. Könntest du ein bisschen mit mir reden? Ich muss mich auf den Klang einer Stimme konzentrieren.«

Das ist zweifellos eine komische Bitte, doch nach einem Moment der Überraschung beginnt Kira mir von dem Buch zu erzählen, das sie gerade liest. Ich bekomme mit, was sie sagt, aber es bedarf einer fast körperlichen Anstrengung. Meine Konzentration schwindet von Sekunde zu Sekunde. Ein paar Minuten später sehe ich nur noch, dass sich ihre Lippen bewegen. Ich höre Töne, verstehe aber nicht, was sie sagt, obwohl Kira mir später erzählt, dass ich etwa fünf Minuten lang durchgehalten, »aha« und »hmhm« gemurmelt und sie sogar gebeten habe, mir zu erklären, was sie gesagt hat.

Ein Steward schiebt einen Wagen durch den Gang – Getränke. Ich versuche zu überlegen, ob ich wohl etwas Wasser trinken sollte. Laut Kira stand er abwartend da. Ich schaute ihn schweigend zehn Sekunden lang an, bis es ihr und ihm allmählich peinlich war. Dann sagte ich: »Ich glaube, ich muss aufstehen.«

Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich mir kaltes Wasser ins Gesicht spritzen sollte, um mich ein bisschen besser zu fühlen. Kira stieß Ilja an, der im Sitz am Gang schlief, und sie ließen mich raus. Ich ging in Socken. Vielleicht hätte ich die Kraft gehabt, meine Sneaker anzuziehen, aber es war in dem Moment einfach egal.

Glücklicherweise war die Toilette frei. Jedes Handeln bedarf der Reflexion, obwohl wir das normalerweise gar nicht bemerken. Jetzt aber musste ich eine bewusste Anstrengung unternehmen, um zu verstehen, was passierte und was ich als Nächstes tun musste. Dies ist die Toilette. Ich muss die Verriegelung finden. Da sind Dinge mit verschiedenen Farben. Dies ist wahrscheinlich der Riegel. In diese Richtung schieben. Nein, in die andere. Okay, da ist der Wasserhahn. Ich muss draufdrücken. Wie mache ich das? Meine Hand. Wo ist meine Hand? Ah, da ist sie. Wasser. Ich muss es mir ins Gesicht spritzen. Im Hinterkopf habe ich nur einen Gedanken, der keine Mühe erfordert und alles andere verdrängt: Ich halte das nicht länger aus. Ich wasche mir das Gesicht, setze mich auf die Toilette und mir wird zum ersten Mal klar: Ich bin erledigt.

Ich dachte nicht: Ich bin wahrscheinlich erledigt. Ich wusste, dass es so war.

Versuchen Sie, mit einem Finger der einen das Gelenk der anderen Hand zu berühren. Sie fühlen etwas, weil Ihr Körper Acetylcholin ausschüttet und ein Nervensignal Ihr Gehirn von der Aktion in Kenntnis setzt. Sie sehen die Hände mit den Augen und identifizieren sie mit Ihrem Tastsinn. Jetzt machen Sie dasselbe mit geschlossenen Augen. Sie sehen Ihre Finger nicht, können aber problemlos sagen, wann Sie Ihr Handgelenk berühren und wann nicht, weil Ihr Körper, nachdem das Acetylcholin ein Signal zwischen den Nervenzellen übertragen hat, Cholinesterase abgibt, ein Enzym, das das Signal beendet, wenn die Arbeit getan ist. Es zerstört das »verbrauchte« Acetylcholin und mit ihm alle Spuren des an das Gehirn übermittelten Signals. Wenn das nicht so wäre, würde das Gehirn immer wieder, Millionen Mal, das Signal empfangen, dass das Handgelenk berührt wird. Das würde einem DDoS-Angriff (Distributed Denial of Service) auf eine Website ähneln: Ein Klick, und die Seite öffnet sich; eine Million Klicks pro Sekunde, und der Server bricht zusammen.

Um mit einem DDoS-Angriff fertig zu werden, kann man den Server neu aufsetzen oder einen größeren installieren. Bei menschlichen Wesen ist die Lösung nicht so einfach. Bombardiert mit Milliarden falscher Signale verliert das Gehirn komplett die Orientierung, kann nicht verarbeiten, was passiert, und fährt schließlich herunter. Nach einer gewissen Zeit stellt die Person das Atmen ein, das letztendlich auch vom Gehirn kontrolliert wird.

So funktionieren Nervenkampfstoffe.

Ich unternehme noch eine Anstrengung und gehe im Geiste meinen Körper durch. Herz? Keine Schmerzen. Magen? Alles okay. Leber und innere Organe? Nicht das leichteste Unwohlsein. Gesamtzustand? Furchtbar. Dies ist zu viel, und ich bin dem Tode nahe.

Mit viel Mühe spritze ich mir noch einmal Wasser ins Gesicht. Ich will zu meinem Platz zurück, glaube aber nicht, dass ich allein aus der Toilette komme. Ich schaffe es einfach nicht, den Riegel zu finden. Ich kann alles klar und deutlich sehen. Die Tür ist vor mir. Die Verriegelung ist auch da. Ich habe genug Kraft. Doch den dummen Riegel im Fokus zu behalten, ihn zu ergreifen und in die richtige Richtung zu schieben, ist sehr schwierig.

Irgendwie schaffe ich es hinaus. Es stehen schon ein paar Leute im Gang, und ich merke, dass sie nicht glücklich sind. Ich war wahrscheinlich länger auf der Toilette, als es mir vorkam. Ich bewege mich nicht wie ein Betrunkener – ich schwanke nicht, niemand zeigt auf mich. Ich bin einfach ein Passagier wie alle anderen. Kira erzählte mir später, dass ich mich von meinem Fenstersitz aus ziemlich normal an ihr und Ilja vorbeigequetscht habe und auf den Gang getreten sei. Ich hätte nur sehr blass ausgesehen.

Ich stehe im Gang und sage mir selbst, dass ich um Hilfe bitten muss. Doch um was kann ich den Steward bitten? Ich kann nicht einmal genau sagen, was mir fehlt oder was ich brauche.

Ich schaue zurück zu den Sitzen, gehe dann aber in die andere Richtung. Jetzt stehe ich vor der Bordküche, fünf Quadratmeter mit Wägelchen für die Mahlzeiten – der Ort, zu dem man auf einem langen Flug geht, wenn man etwas zu trinken braucht.

Echte Schriftsteller sind ganz besondere Menschen, wissen Sie. Wenn ich gefragt werde, wie es sich anfühlt, an einem Angriff mit einer chemischen Waffe zu sterben, kommen mir zwei Assoziationen in den Sinn: die Dementoren in Harry Potter und die Nazgûl in Tolkiens Herr der Ringe. Der Kuss eines Dementoren tut nicht weh: Das Opfer spürt nur, wie das Leben entweicht. Die wichtigste Waffe der Nazgûl ist ihre entsetzliche Fähigkeit, ihr Gegenüber willen- und kraftlos zu machen. Auf dem Gang werde ich von einem Dementor geküsst, und neben ihm steht ein Nazgûl. Ich fühle mich überwältigt von der Unmöglichkeit, zu verstehen, was da gerade passiert. Das Leben entgleitet mir, und ich habe nicht den Willen, dem zu widerstehen. Ich bin erledigt. Dieser Gedanke wird rasch übermächtig und ersetzt das vorherige Ich halte das nicht länger aus.

Der Steward schaut mich fragend an. Es ist offenbar derselbe, der so getan hat, als sähe er meinen Laptop nicht. Ich versuche noch einmal, Worte zu finden. Zu meiner Überraschung gelingt es mir, den Satz: »Ich bin vergiftet worden und werde sterben«, herauszubringen. Er schaut mich ohne Erschrecken oder auch nur Sorge an – er hat sogar fast ein Lächeln auf den Lippen. »Was meinen Sie?«, fragt er. Sein Gesichtsausdruck wandelt sich radikal, als er sieht, dass ich mich zu seinen Füßen auf den Boden der Bordküche lege. Ich falle nicht hin, breche nicht zusammen, verliere nicht das Bewusstsein. Aber ich habe einfach das unbedingte Gefühl, dass es sinnlos und dumm ist, auf dem Gang zu stehen. Schließlich sterbe ich, und Menschen sterben – korrigieren Sie mich, wenn ich mich irre – im Liegen.

Ich liege auf der Seite. Ich starre die Wand an. Ich fühle keine Peinlichkeit oder Angst mehr. Die Menschen beginnen herumzurennen, und ich höre Schreckensrufe.

Eine Frau brüllt mir ins Ohr: »Sagen Sie, fühlen Sie sich schlecht? Sagen Sie, haben Sie einen Herzanfall?« Ich schüttle schwach den Kopf. Nein, mit dem Herzen habe ich keine Probleme.

Ich habe gerade noch genug Zeit zu denken: Alles Lüge, was so über den Tod gesagt wird. Es ist nicht so, dass mein ganzes Leben im Schnelldurchlauf an mir vorbeizieht. Auch die Gesichter meiner Liebsten tauchen nicht auf. Ebenso wenig Engel oder ein blendendes Licht. Ich sterbe mit Blick auf eine Wand. Die Stimmen verschwinden, und die letzten Worte, die ich höre, sind die einer Frau: »Nein bleiben Sie wach, bleiben Sie wach.« Dann sterbe ich.

Spoileralarm: Ich bin natürlich nicht gestorben.

Kapitel 2

Wenn Sie denken, dass man mehr oder weniger plötzlich aus einem Koma erwacht, wie das Kino es uns weismachen will, muss ich Sie enttäuschen. Ich wäre nur zu glücklich, wenn ich Ihnen erzählen könnte, dass ich in der einen Minute im Flugzeug starb und in der nächsten die Augen aufschlug und mich in einem Krankenhaus wiederfand, im Blick meine geliebte Frau oder zumindest eine Schar Ärzte, die besorgt auf mich herabschauten. So war es nicht. Die Rückkehr ins normale Leben dauerte mehrere Wochen voller unangenehmer und hartnäckiger Visionen. Der ganze Prozess war eine Art sich hinschleppende und überaus realistische Reise durch die Höllenkreise. Es würde mich nicht überraschen, wenn dieses Konzept von Menschen erdacht worden wäre, die im Koma gelegen und die gleichen Dinge gesehen haben wie ich. Mich quälte eine ununterbrochene Abfolge von Halluzinationen, durch die ich hin und wieder einen kurzen Blick auf die Realität erhaschte. Im Laufe der Zeit wich das Halluzinieren allmählich der Realität.

Aus den ersten paar Tagen kann ich mich nur an einzelne Momente erinnern. In einem sitze ich in einem Rollstuhl und jemand rasiert mich. Ich kann nicht mal einen Finger bewegen. In einem anderen wäscht eine freundliche Person, offenbar ein Arzt, mir die Hände. Er sagt zu mir: »Alexej, bitte, sagen Sie irgendein Wort. Ich werde es aufschreiben und Ihnen zeigen.«

Diese Bitte wiederholte er jeden Tag, und ganz allmählich begann ich zu verstehen, was gemeint war. Zuerst wurde mir klar, dass ich Alexej war, dann, dass dies eine Übung war und der Arzt von mir verlangte, einfach irgendein Wort zu sagen. Meine Stimmbänder waren intakt, das Problem war nur, dass mir keine Wörter einfielen. Ich versuchte es wirklich, konnte aber nicht zu dem Teil meines Gehirns vorstoßen, der für das Denken von Wörtern zuständig war. Um alles noch schlimmer zu machen, konnte ich dem Arzt nicht erklären, dass mir kein Wort einfiel, denn auch das erforderte Wörter, und ich hatte einfach keine im Kopf. Um einfache Fragen der Krankenschwester zu beantworten, nickte ich, aber mich an ein ganzes Wort zu erinnern und es auszusprechen – das überstieg meine Kräfte.

Langsam verstand ich besser, was vor sich ging, und konnte sogar das eine oder andere Wort sprechen. Dann bekam ich einen Bleistift in die Hand gedrückt, und man bat mich, etwas aufzuschreiben. Damit begannen die Qualen von neuem: Ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie man schreibt.

Der für mich zuständige Arzt besuchte mich häufiger als alle anderen. Er war ein sehr berühmter und angesehener Neurochirurg aus Japan, ein Professor. Er redete ausführlich mit mir, erklärte mir ruhig und behutsam, was geschehen war, welche Behandlung mich erwartete, wie lange ich für die Rehabilitation brauchen und wann ich endlich meine Familie sehen würde. Ich war unglaublich beeindruckt von seiner Professionalität und Autorität. Er war auch der erste Mensch, an den ich mich nach meinem Erwachen aus dem Koma deutlich erinnern kann. Er war groß, gutaussehend, wenn auch mit Geheimratsecken, ernsthaft und unglaublich intelligent. Doch aus irgendeinem Grund war er auch unglaublich traurig.

Die Krankenschwestern erzählten mir später, dass sein zweijähriger Sohn bei einem Unfall gestorben sei, in Japan von einem Auto überfahren. Der Professor hatte versucht, ihm das Leben zu retten, hatte ihn selbst operiert, doch tragischerweise war der Junge in seinen Armen gestorben. Bei einem seiner Besuche las mir der Professor ein Haiku vor, das er im Gedenken an seinen Sohn geschrieben hatte. Noch nie in meinem Leben hatte ich etwas so Schönes gehört. Nachdem er gegangen war, konnte ich diese herzzerreißenden Zeilen nicht aus dem Kopf bekommen und weinte ihretwegen mehrere Tage lang.

Wenn jedoch der Professor bei mir war, setzte ich eine tapfere Miene auf, nicht zuletzt, weil wir einen Plan besprachen, der mich wieder auf die Beine bringen sollte, was mir wirklich wichtig war. Nächste Woche, so erklärte mir der Professor, würde ich neue, bionische Beine bekommen anstelle meiner alten, die ich offenbar verloren hatte. Danach würde er eine knifflige neurochirurgische Operation durchführen, um mein Rückgrat zu ersetzen. Das neue wäre eine gewaltige Verbesserung, denn es hätte vier gigantische mechanische Tentakel an den Seiten, genau wie Doctor Octopus aus Spider-Man. Ich war hin und weg.

Stellen Sie sich meine Enttäuschung vor, als man mir sagte, dass es keinen japanischen Professor gab, dass alle unsere Pläne und langen Unterhaltungen nur eine einzige große Halluzination gewesen waren, hervorgerufen durch die gleichzeitige Gabe von sechs verschiedenen psychotropen Medikamenten. Ich war so verblüfft, dass ich das gesamte Krankenhauspersonal sehen wollte. Vielleicht hatte ich ein bisschen was durcheinandergebracht, und er war kein Neurochirurg, sondern, sagen wir, Fachmann für Wiederbelebung. Leider gab es in der ganzen Charité, meinem Krankenhaus, niemanden, auf den die Beschreibung passte. Ich tat so, als würde ich akzeptieren, dass das Ganze, wie meine Ärzte und meine Familie versicherten, nur in meiner Vorstellung existiert hatte. Allerdings verbrachte ich mehrere Stunden damit, berühmte japanische Neurochirurgen zu googeln, für den unwahrscheinlichen Fall, dass es einen gab, dessen Sohn bei einem Verkehrsunfall gestorben war. Und schließlich musste ich mich wohl oder übel mit der Tatsache abfinden, dass ich mir drei Tage lang die Augen über ein Haiku ausgeweint hatte, das ich mir selbst ausgedacht hatte.

Ich erinnere mich nicht mehr an den ersten Besuch von Julija nach dem Koma. Es gab nicht diesen Moment, in dem jemand in mein Krankenzimmer trat, ich meine Augen öffnete, eine schöne Frau sah und dachte: Oh, Julija ist hier. Das ist so großartig! Ich erkannte niemanden, und ich hatte keine Ahnung, was um mich herum passierte. Ich lag einfach da, unfähig, mich zu konzentrieren. Allerdings erinnere ich mich, dass es jeden Tag einen besten Augenblick gab, wenn »Sie« plötzlich an meinem Bett stand. »Sie« wusste besser als alle anderen, wie ich mein Kissen haben wollte und wie sie mit mir reden konnte. »Sie« jammerte nicht: Oh, armer Alexej. »Sie« lächelte und lachte, und dann fühlte ich mich besser.

An der Wand meinem Bett gegenüber auf der Intensivstation hing ein großes Whiteboard. Darauf war etwas gezeichnet, doch sosehr ich mich auch anstrengte, konnte ich nicht erkennen, was es war. Ich starrte auf die Tafel, bis ich plötzlich sah, dass kleine Herzen darauf gemalt waren. Einige Zeit später merkte ich, dass es immer mehr Herzen wurden. Noch später begann ich sie zu zählen und erkannte, dass Julija mich in der ganzen Zeit, die ich auf der Intensivstation verbrachte, besucht und jeden Tag ein neues Herz gemalt hatte. Mit dem Blick darauf schaffte ich es eines Tages, selbst etwas zu schreiben, auf ein Stück Papier, das Julija mir gegeben hatte. Als sie es mir zeigte, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen worden war, stand kein Text darauf, sondern nur etwas, das der Linie eines Kardiogramms ähnelte. Eine Zeitlang konnte ich nur von oben nach unten schreiben. Ein paar Wochen später lernte ich, wieder richtig, also horizontal, zu schreiben, doch noch lange danach brachte ich ständig die Reihenfolge der Buchstaben in den Wörtern durcheinander.

Einmal, als ich die Realität schon besser im Griff hatte und mir sogar allmählich die ersten englischen Wörter einfielen, bat ich die Schwester um einen Schluck Wasser. Sie sagte, sie würde mir das Wasser sofort geben, sobald ich das Wort aufgeschrieben hätte, und hielt mir einen Stift hin. Ich konnte »water« auf Englisch sagen, hatte aber keine Ahnung, wie man das Wort schrieb, egal, wie sehr ich mich abmühte. Ich wurde allmählich wütend und wollte endlich etwas zu trinken haben. »Versuchen Sie noch einmal, es zu schreiben«, sagte die Krankenschwester nachdrücklich. Ich kritzelte etwas auf das Papier, wurde ärgerlich und schrieb in einem Wutanfall das Wort auf, das plötzlich aus meinem Unterbewusstsein auftauchte – »fuck«. Mit einem gewissen Gefühl der Rache, aber eher doch stolz gab ich der Schwester den Zettel. Sie schaute mich mitleidig an. Ich hatte »fkuc« geschrieben.

Ich versuche, meine Erinnerungen in der zeitlichen Abfolge zu schildern, aber eigentlich war alles ein einziges Mosaik aus Bruchstücken von Wirklichkeit und Träumen: der japanische Professor, Stift und Papier, dass ich keine Beine habe, die Herzen auf dem Whiteboard, dass ich einen schrecklichen Unfall hatte, Julija, dass ich im Gefängnis bin.

Da saß ich also auf einem Stockbett in einer Gefängniszelle. Die Gefängnisregeln waren auf die Wände rundherum geschrieben, nur waren es nicht die üblichen Regeln, sondern Worte aus den Liedern von Krovostok, einer berühmten russischen Rap-Gruppe. Die Aufseher befahlen mir, die Regeln, also die Liedtexte, vorzulesen, immer wieder, tausendmal. Es war Folter, und im Traum war ich wütend. Viel später, als ich meine sieben Sinne wieder beisammen hatte, erwähnte ich dies in einem Interview, und die Jungs von Krovostok schickten mir auf Twitter eine Antwort: »Ljoscha[1], sorry für den schlechtenTrip!«

In meinem Krankenzimmer hing ein riesiger Fernseher an der Wand – eine weitere Plage, nur unwesentlich weniger schrecklich als meine immer wiederkehrenden Trugbilder. Während ich mein Bewusstsein allmählich wiedererlangte, versuchte das medizinische Personal alles Mögliche, um mich zu unterhalten. Eines Tages kamen sie auf die Idee, dass ich vielleicht gern Fußball sehen würde. Das Problem war, dass mich Fußball nicht die Bohne interessierte. Nach einiger Zeit merkte mein Kollege Leonid Wolkow, der mich besuchte, dass da etwas nicht stimmte. »Warum lassen Sie ihn Fußball schauen? Er hasst es.« Der Fernseher wurde sofort ausgeschaltet, und obwohl ich damals nicht allzu viel mitbekam, spürte ich eine große Erleichterung.

Julija und Leonid versuchten mehrmals, mir zu erzählen, was geschehen war. Eine Weile drangen sie damit kaum durch. Es war, als klopften sie an eine verschlossene Tür, hinter der sich mein Gehirn befand, das nicht antwortete. Sie erzählten mir von der Vergiftung; davon, wie ich im Flugzeug ohnmächtig geworden war; vom Krankenhaus in Omsk, das von FSB-Offizieren nur so wimmelte; davon, dass das Regime meiner Verlegung lange nicht zugestimmt hatte; vom Transport nach Deutschland … aber ich saß nur da und starrte vor mich hin. Sie erzählten mir lang und breit, dass Putin versucht hatte, mich zu ermorden, während ich in Sibirien unterwegs war; dass unabhängige Labors die Vergiftung bestätigt hatten, und das auch noch mit dem gleichen chemischen Wirkstoff, den der russische Geheimdienst verwendet hatte, um die Skripals in Salisbury zu vergiften. Und dann, als einmal mehr das Wort »Nowitschok« fiel, schaute ich sie plötzlich direkt an und sagte: »Warum, zum Teufel? Das ist einfach so bescheuert!«

Leonid sagt, dass er in dem Moment wusste, dass ich wieder gesund werden würde.

Allmählich wurde mir wirklich klar, was geschehen war, und mir fiel auch wieder ein, warum wir in diesem Flugzeug gesessen hatten. Egal, wie faszinierend und packend die Einzelheiten des gescheiterten Mordanschlags waren – mich interessierte weit mehr, wie die Wahlen in Tomsk und Nowosibirsk ausgegangen waren. Hatten wir unsere Recherchen auf YouTube veröffentlicht? Hatten die Leute sie angeschaut? Hatten sie gewählt? Hatten wir es geschafft, Einiges Russland zu besiegen? Wie viel Prozent hatten unsere Kandidaten bekommen? An dem Abend, an dem die Stimmen ausgezählt wurden, bat ich Julija, mir meinen kompletten Twitter-Feed laut vorzulesen. Dann diktierte ich mit verwaschener Stimme Botschaften, die sie an unsere Kollegen senden sollte.

Die Wahlergebnisse waren besser, als wir hatten hoffen können. In Tomsk hatten neunzehn der siebenundzwanzig Kandidaten, die wir unterstützten, gewonnen, darunter die Koordinatorin unseres lokalen Hauptquartiers, Xenia Fadejewa, und ihr Stellvertreter Andrej Fatejew. In Nowosibirsk wurden zwölf Kandidaten, die unsere Unterstützung hatten, gewählt, darunter der Leiter unseres Büros vor Ort, Sergej Bojko.

Dennoch war ich nicht völlig in der Realität angekommen, bis man mir erlaubte, das Bett zum ersten Mal zu verlassen und ein paar Schritte zu tun. Das durfte ich lange Zeit nicht, weil ich flüchten wollte und sogar mehrere Versuche dazu unternommen hatte. Während ich langsam wieder zu Sinnen kam, bemerkte ich, dass immer Leute vor meinem Zimmer standen und mich durch die Scheibe in der Tür beobachteten. Sie sahen nicht wie Ärzte aus, und nachdem ich erfahren hatte, was passiert war, erklärte man mir auch, dass sie Wachen waren. Einmal versuchte ich Julija dazu zu bringen, ihnen die Waffen zu klauen und mir bei der Flucht zu helfen. Ich verspürte das dringende Bedürfnis, mich abzusetzen. Aber da ich die Waffen nicht bekam, beschloss ich, die Sache selbst in die Hand zu nehmen: Als ich allein war, riss ich all die Katheter und Schläuche ab, die an mir hingen, blutete das Zimmer voll und versuchte aufzustehen. Sofort stürmten die Ärzte herein und hatten mich in Nullkommanichts wieder angeschlossen. Aber so leicht gab ich nicht auf – in den nächsten Tagen unternahm ich noch mehrere Ausbruchsversuche.

Als ich schließlich mit Erlaubnis der Ärzte selbst das Bett verlassen durfte und sehr zögernd die paar Schritte zum Waschbecken ging, fiel mir plötzlich alles wieder ein. Ich wollte mich waschen, aber meine Hände gehorchten mir nicht, und da tauchte vor meinem geistigen Auge sehr lebhaft die Erinnerung daran auf, wie ich ein paar Wochen zuvor versucht hatte, mir das Gesicht auf der Toilette im Flugzeug von Tomsk nach Moskau zu waschen. Ich wankte zum Bett zurück, legte mich hin, starrte an die Decke und fühlte mich furchtbar. Ich war wie ein schwacher alter Mann, unfähig, die drei Meter bis zum Waschbecken ohne Probleme zurückzulegen, unfähig, einen Wasserhahn aufzudrehen. Ich hatte Angst, dass das immer so bleiben würde.

Anfangs sah es auch tatsächlich so aus. Die Rückkehr ins normale Leben erforderte gewaltige Anstrengungen. Eine Physiotherapeutin übte jeden Tag mit mir. Sie war ein netter Mensch, aber sie zwang mich, die schwierigsten Dinge zu tun, die ich in meinem Leben je getan habe. Sie forderte mich auf, mich an einen Tisch zu setzen, und stellte mir zwei Tassen hin, eine mit Wasser gefüllt, die andere leer. Dazu reichte sie mir einen Löffel und wies mich an, ihn zu benutzen, um Wasser von der vollen in die leere Tasse zu schöpfen. Inzwischen konnte ich schon ganz gut sprechen und sagte: »Na gut, ich kann fünf Löffel schaffen, für Sie.« Aber sie forderte das Unmögliche: »Nein, ich brauche sieben.« Am Ende gelang es mir, unter immensen Schwierigkeiten tatsächlich sieben Löffel voll Wasser von der einen in die andere Tasse zu transferieren. Ich war kaputt wie nach einem Marathon.

Dann musste ich lernen, normal zu gehen, Dinge festzuhalten und meine Bewegungen zu koordinieren. Ich musste hundertmal am Tag einen Ball fangen. Dass war unglaublich strapaziös. Viele Wochen lang konnte ich mich nicht einmal aus dem Stand auf den Boden legen und von dort wieder aufstehen. Das schaffte ich maximal dreimal hintereinander, und es war sehr harte Arbeit.

Ich glaube, der tollste Moment auf der Intensivstation war der Tag, an dem unsere Kinder Dascha und Sachar aus Moskau eingeflogen kamen. Dann aber hatten wir einen klassischen peinlichen Moment. Sie konnten mich nicht umarmen, weil ich über und über mit Kabeln und Schläuchen behängt war. Und wir wussten auch nicht, worüber wir in einer solchen Situation sprechen sollten, deshalb saßen sie einfach nur im Zimmer, und ich schaute sie an und war im siebten Himmel.

Der 23. September war mein letzter Tag in der Charité, wo ich mehr als einen Monat verbracht hatte. Wir machten uns fertig und packten alles zusammen, und zum ersten Mal tauschte ich die Krankenhauskleidung gegen normale Klamotten. Ich sollte um drei Uhr entlassen werden, wurde dann aber gebeten, bis sechs zu warten, weil mein Arzt mich noch ein letztes Mal sehen wollte. Die Tür ging auf, und mein Arzt kam herein, gefolgt von einer Dame, die mir vage bekannt vorkam.

Es war Kanzlerin Angela Merkel. Das war eine komplette Überraschung. Ich wusste natürlich schon, dass sie eine wichtige Rolle bei der Rettung meines Lebens gespielt hatte, indem sie Putin die Erlaubnis abrang, mich nach Berlin verlegen zu lassen. Ich wollte ihr die Hand schütteln oder sie sogar umarmen (seit der Vergiftung war ich zeitweise ziemlich emotional), aber dann fiel mir ein, dass meine Jogginghose und mein T-Shirt das strenge deutsche Protokoll schon genügend auf die Probe stellten und dass ich mein Glück nicht überstrapazieren sollte. Die nächsten anderthalb Stunden redeten wir vor allem über russische Politik. Merkel war erstaunlich gut informiert, und ich war sehr beeindruckt, wie genau sie über unsere Recherchen Bescheid wusste, besonders über die jüngsten in Sibirien.

Merkels Besuch bei mir war eine sehr berührende persönliche Geste und ein kluger politischer Schachzug. Natürlich würde Putin sich darüber ärgern. Beim Abschied dankte ich ihr für alles, was sie getan hatte. Sie fragte nach meinen Plänen. Ich sagte, dass ich gern so schnell wie möglich nach Russland zurückkehren würde, und sie erwiderte: »Es gibt keinen Grund zur Eile.«

Dennoch war ich besessen von dem Gedanken, nach Moskau zurückzukommen, so schnell ich konnte. Ich wollte das neue Jahr unbedingt zu Hause begrüßen. Julija bremste mich: »Warten wir besser, bis du dich ganz erholt hast.«

Wir blieben noch vier weitere Monate in Deutschland.

21. September 2020

Ein Post über die Liebe

Julija und ich hatten am 26. August Hochzeitstag. Wir sind seit zwanzig Jahren verheiratet. Ich bin eigentlich ganz froh, dass ich ihn verpasst habe und dies heute schreiben kann, weil ich jetzt ein bisschen mehr über die Liebe weiß als vor einem Monat.

Ihr habt die Szene hundertmal in Filmen gesehen und Schilderungen davon in Büchern gelesen: Ein Mensch liegt im Koma, und ein anderer bringt ihn durch seine Liebe und unablässige Fürsorge wieder ins Leben zurück. Und natürlich war es bei uns genau so, in strenger Übereinstimmung mit dem Kanon klassischer Filme über Liebe und Koma schlief ich – und schlief – und schlief. Julija@yulia_navalnaya kam mich besuchen, sprach zu mir, sang mir Lieder vor und spielte Musik für mich. Ich kann nicht lügen: Ich erinnere mich an nichts davon.

Aber ich will euch sagen, woran ich mich erinnere. Vielleicht kann man es eigentlich nicht als richtige Erinnerung beschreiben. Es ist mehr eine Sammlung meiner allerersten Sinneswahrnehmungen und Emotionen. Die allerdings waren mir so wichtig, dass sie sich für immer meinem Gehirn eingeprägt haben.

Ich liege hier. Man hat mich schon aus dem Koma geholt, aber ich kann niemanden erkennen und verstehe nicht, was passiert. Ich kann nicht sprechen und weiß nicht, was Sprechen ist. Mein einziger Zeitvertreib ist es, darauf zu warten, dass »Sie« kommt. Wer »Sie« ist, da bin ich mir unsicher. Ich weiß noch nicht einmal, wie »Sie« aussieht. Wenn ich es trotz der Schwierigkeiten, mit meinen Augen einen Gegenstand zu fokussieren, schaffe, etwas zu erkennen, gelingt es mir nicht, das Bild zu speichern. Aber »Sie« ist anders, so viel steht fest. Also liege ich einfach da und warte auf »Sie«. »Sie« kommt und ist die Hauptperson im Raum. »Sie« streicht mein Kissen glatt und sorgt dafür, dass ich bequem liege. »Sie« hat keine leise, mitleidige Stimme, sondern spricht fröhlich und lacht. »Sie« erzählt mir etwas. Wenn »Sie« in der Nähe ist, ziehen sich meine idiotischen Halluzinationen zurück. Es fühlt sich gut an, wenn »Sie« da ist. Dann geht »Sie«, und ich bin traurig und warte wieder auf »Sie«.

Ich zweifle nicht einen Moment daran, dass es eine wissenschaftliche Erklärung dafür gibt. So etwas wie: Ich hörte die Stimme meiner Frau, mein Gehirn schüttete Dopamin aus, und ich fühlte mich besser. Jeder Besuch war buchstäblich therapeutisch, und das Warten auf sie steigerte die Dopaminausschüttung noch. Doch egal, wie beeindruckend die naturwissenschaftliche und medizinische Erklärung klingt, ich weiß jetzt sicher, einfach aus eigener Erfahrung, dass Liebe heilt und einen ins Leben zurückbringt.

Julija, du hast mich gerettet, und das sollte in die Lehrbücher für Neurobiologie aufgenommen werden.

Teil IIHeranwachsen

Kapitel 3

Die Soldaten auf der Straße waren komplett in merkwürdige weiße Anzüge gehüllt. Sie trugen Gasmasken, die sie wie eine seltsame Tierart aussehen ließen. Ich komme aus einer Militärfamilie, und natürlich hatten wir eine Gasmaske zu Hause, doch deren einziger Zweck war es, von Kindern, die uns besuchten, aufgesetzt zu werden. Sie rannten in der Wohnung herum, taten so, als wären sie Elefanten, und quietschten vor Vergnügen. Das konnte man höchstens drei Minutenaushalten, denn unter der Maske wurde es sehr heiß.

Die Soldaten spielten nicht, sie hatten ganz sicher keinen Spaß. Seltsamerweise hielten sie die Autos an und ließen sie erst weiterfahren, nachdem sie ihre Reifen mit einem besonderen Metallstab überprüft hatten. Ich war neun und schaute durch das Fenster des Lada 6, den mein Vater besaß. Es ist eine meiner lebhaftesten Kindheitserinnerungen. Die weißen Anzüge überraschten meine Eltern auf den Vordersitzen nicht. Sie erklärten mir, dass sie die Soldaten vor Strahlung und gefährlichen Chemikalien schützen sollten. Dies war nötig, weil es jüngst eine Explosion im siebenhundert Kilometer entfernten Kraftwerk Tschernobyl gegeben hatte. Wir lebten in einer Militärsiedlung nahe Obninsk, einer Stadt mit Zugangsbeschränkungen, in der der erste sowjetische Kernreaktor stand. Gerade waren wir unterwegs, um dort Lebensmittel einzukaufen, denn in der Stadt war die Versorgungslage wegen all der Atomwissenschaftler, die dort lebten, besser als normal. »Versorgung« war ein wichtiger sowjetischer Ausdruck, den ich schon kannte. Er gab an, wie groß die Auswahl an Dingen in den Läden war. Ein paar Menschen in den Untiefen des staatlichen sowjetischen Planungssystems hatten dafür gesorgt, dass es in einem Lebensmittelladen in Obninsk mit rund 60 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit Wurst gab als in dem einzigen Laden unserer Armeeeinheit.

Die Metallstäbe in den Händen der Soldaten dienten dazu, die Strahlung an den Reifen der Autos zu messen. Die Regierung hatte noch nicht zugegeben, dass die Katastrophe von Tschernobyl auf Nachlässigkeit zurückzuführen war, und so wurde als offizieller Grund für diese auffälligen Kontrollen die Suche nach Saboteuren angegeben. Aus diesem Grund waren angeblich auch die Sicherheitskräfte in allen Städten, in denen ein Atomkraftwerk stand, verstärkt worden. Wenn Spione (amerikanische natürlich) durch das Land fuhren, um ein Kraftwerk nach dem anderen hochgehen zu lassen, würden unsere Streitkräfte sie anhand der Spuren von Radioaktivität an ihren Reifen entdecken.

Meine Mutter erklärte allerdings, dass selbst die Dümmsten in unserer Stadt den wahren Grund für die Kontrollen kannten. Die Atomwissenschaftler aus Obninsk, die in Tschernobyl arbeiteten, hatten das Ausmaß der Katastrophe sofort begriffen. Obwohl in den Nachrichten Lügen verbreitet wurden, hatten viele von ihnen schleunigst ihre Familien eingepackt und waren nach Obninsk zurückgefahren. Diese Maßnahmen dienten dazu, sie zu identifizieren: Ihre Autos, ihre Kleidung und sie selbst gaben Strahlung ab. Die Behörden erzählten Lügen darüber, dass es keine Bedrohung gebe, und versuchten gleichzeitig verzweifelt, die Ausbreitung der Strahlung einzudämmen.

»Genug jetzt davon«, sagte mein Vater wütend. Er wollte nichts mehr davon hören.

In fast jeder Kleinstadt, jedem Dorf in der ehemaligen UdSSR gibt es ein Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg Gefallenen. Meistens stehen darauf die Namen der Menschen aus dem Ort, die nicht mehr zurückgekehrt sind. Auf dem Monument in Salissja, einem Dorf nur wenige Kilometer entfernt vom Atomkraftwerk in Tschernobyl, las man unter anderem die Namen »Nawalny, Nawalny, Nawalny, Nawalny«. Keine Ahnung, welche davon Verwandte von mir waren und welche nur den gleichen Nachnamen trugen.

Mein Vater wurde in diesem Dorf geboren. Nach der Schule trat er in die Armee ein und besuchte eine Militärakademie. Er lebte nie wieder in der Ukraine, diente vielmehr in verschiedenen Militärsiedlungen in Russland. Seine beiden älteren Brüder und seine Mutter blieben in Salissja. Ich besuchte sie dort jeden Sommer, und meine Verwandten spöttelten unweigerlich über den dünnen, blassen Moskauer Städter, der ich war, und malten sich aus, wie sie mich mit fettem ukrainischen Schweinespeck mästen würden. Den ganzen Sommer überbekam ich Essen in Mengen vorgesetzt, die einen Sumo-Ringer vor Neid erblassen lassen würden. Ich verwandelte mich in einen sonnengebräunten ukrainischen Jungen vom Dorf, der sein Russisch fast vergaß.

Meine Großmutter war religiös. Sie sprach Gebete, die ich auswendig lernte, ohne auch nur im Geringsten zu verstehen, was sie bedeuteten. Im Herbst wurde ich meinen Eltern zurückgegeben, und mein Aussehen diente als Beleg in einer endlosen, nicht ganz ernst gemeinten Debatte am Mittagstisch über die relativen Vorzüge und Schwächen von Ukrainern und Russen. Meine Mutter, die in Archangelsk, im Norden Russlands, zur Welt gekommen und in Selenograd, einem Moskauer Verwaltungsbezirk, aufgewachsenwar, hatte hier eindeutig einen schweren Stand. Zum soundsovielten Mal gefragt, ob ich nun Ukrainer oder Russe sei, tat ich mein Bestes, eine klare Antwort zu vermeiden. Es war wie die Frage, wen man mehr liebt, Mutter oder Vater – eine sinnvolle Antwort gibt es nicht.

Tschernobyl war von Salissja aus die nächstgelegene größere Stadt. Dort ging man einkaufen, viele Leute aus dem Dorf arbeiteten dort. Dort war auch die nächste noch bestehende Kirche, wo mich meine Großmutter ohne Wissen meines Vaters taufen ließ. Wie jeder Offizier der Sowjetarmee war er zwangsläufig Mitglied der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und damit per definitionem Atheist. Meine Großmutter fürchtete, es könnte herauskommen, dass sein Sohn getauft worden war, und er würde dann aus der Partei geworfen. Allerdings fürchtete sie Gott noch mehr, und so brachte sie mich trotzdem zur Kirche. Natürlich blieb das nicht lange ein Geheimnis. Meine Eltern erfuhren bald durch andere Familienmitglieder von der Taufe, doch sie waren, anders als Großmutter erwartet hatte, nicht wütend, sondern nur belustigt darüber, dass sie sich solche Sorgen gemacht hatte.

Salissja war ein Paradies auf Erden. Es gab einen Bach und Bäume, die voller Kirschen hingen. Wenn die Hirten die Kühe zurück ins Dorf getrieben hatten, war ich für Großmutters riesige Kuh verantwortlich und brachte sie in Ausübung meiner Pflichten in die Scheune. Dabei fühlte ich mich ziemlich erwachsen. Ich war umgeben von den fröhlichsten, wundervollsten Menschen: meinen Onkeln, Tanten, Cousinen, Paten und anderen Verwandten, deren genauer Status und Verwandtschaftsverhältnis zu mir nicht zu ergründen waren.

Am 26. April 1986, um halb zwei Uhr morgens, wurde dieses Paradies zerstört, als sich im vierten Kernreaktor des Kraftwerks Tschernobyl eine Explosion ereignete. Für den Rest der Welt war es eine gewaltige nukleare Katastrophe. Für die UdSSR war es einer der Gründe für den Zusammenbruch des Landes, das schon unter der Wirtschaftskrise seines »voll entwickelten Sozialismus« ächzte. Für den ukrainischen Zweig unserer Familie war es eine schreckliche Tragödie, die ihr altes Leben hinwegfegte. Für mich war es das erste Ereignis, die erste Lektion in meinem Leben, die einen prägenden Einfluss auf meine Einstellung hatte. Die Strahlung mochte weit weg sein, doch die Scheinheiligkeit und die Lügen überschwemmten das ganze Land.

Ein paar Tage nach der Explosion war sich die Sowjetregierung des Ausmaßes der Kontaminierung schon voll und ganz bewusst. Dennoch wurden die Menschen in den Dörfern rund um Tschernobyl, darunter auch meine Verwandten, auf die Felder geschickt, um Kartoffeln zu pflanzen. Erwachsene und Schulkinder gruben in der Erde, auf die sich gerade der radioaktive Staub gelegt hatte. Natürlich wussten die Dorfbewohner, dass etwas nicht stimmte. Viele arbeiteten in Tschernobyl, und selbstverständlich hatten einige von ihnen Freunde, die im Kraftwerk beschäftigt waren. Die Nachricht von der Explosion verbreitete sich blitzschnell.

Die Behörden leugneten die Katastrophe natürlich rundheraus. Es lag auf der Hand, dass das Regime etwas verbarg, aber das durfte man nicht öffentlich sagen. Im Jahr 1986 konnte sich niemand vorstellen, dass es die Sowjetunion und ihren gewaltigen Apparat der Gedankenkontrolle bald nicht mehr geben würde. Wenn man also gesagt bekam, man solle Kartoffeln pflanzen, pflanzte man Kartoffeln. Es war das Gefährlichste und Schädlichste, was einem hätte einfallen können, aber wichtig war, keine Panik in der Bevölkerung zu schüren!

Die völlig schwachsinnige Standardreaktion der sowjetischen – und später der russischen – Behörden auf jede Krise ist, die Bevölkerung »zu ihrem eigenen Besten« endlos zu belügen. Sonst, so die Logik, bricht Anarchie aus, die Menschen rennen panisch auf die Straße, lassen Gebäude in Flammen aufgehen und bringen sich gegenseitig um!

Tatsächlich aber ist nichts davon je geschehen. In den meisten Krisen ist die Bevölkerung durchaus bereit, sich vernünftig und diszipliniert zu verhalten, vor allem, wenn man den Leuten die Situation erklärt und ihnen sagt, was zu tun ist. Stattdessen besteht, wie ich es seitdem in weniger dramatischem Ausmaß viele Male erlebt habe, dieerste offizielle Reaktion ausnahmslos darin, Lügen zu verbreiten. Die Funktionäre ziehen keinen praktischen Nutzen daraus; es ist einfach eine Regel: In einer unangenehmen Situation lügt man. Man spielt den Schaden herunter, leugnet alles, blufft. Später kann alles erklärt werden, doch jetzt, im Moment der Krise, haben Funktionäre keine andere Option, als zu lügen, denn die angeblich vollkommen verblödete Bevölkerung ist nicht bereit für die Wahrheit.

Es ist sinnlos, in der Tschernobyl-Affäre auch nur nach einem Funken Rationalität Ausschau zu halten. Auf gar keinen Fall durfte man den Menschen sagen, dass sie eine Woche im Haus bleiben und nur nach draußen gehen sollten, wenn es unbedingt nötig war. In Kiew, der Hauptstadt der Ukraine mit mehreren Millionen Einwohnern, wurde nur fünf Tage nach der Explosion eine Parade zum 1. Mai abgehalten, aus denselben Propagandazwecken – um zu demonstrieren, dass alles in Ordnung war. Wir wissen heute, wie diese Entscheidungen zustande kamen. Die Führer der Kommunistischen Partei, die in ihren Büros saßen, wollten vor allem sicherstellen, dass weder das sowjetische Volk noch – Schreck lass nach – Ausländer irgendetwas über die Atomkatastrophe erfuhren. Die Gesundheit von Zehntausenden wurde einer großangelegten Vertuschungsaktion geopfert, die lächerlich war, weil der starke radioaktive Fallout von Laboren überall auf dem Globus gemessen wurde.

Als ich viele Jahre später nach einer weiteren Verhaftung gerade wieder Zeit in einer Sonderhaftanstalt absaß, las ich in meiner Zelle eine Sammlung frisch veröffentlichter Archivmaterialien. Es waren Geheimberichte des KGB, Abteilung Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, der stolz eine außergewöhnliche Operation dokumentierte. Es ging um einen Journalisten von Newsweek, der die Ukraine einige Zeit nach dem Unfall besucht hatte. Etwa zwanzig Personen waren an dieser Operation beteiligt, darunter auch Angehörige von besonderen Milizeinheiten und pensionierte KGB-Agenten. Der KGB hatte dafür gesorgt, dass ausnahmslos jeder, mit dem der Journalist sprach, Geheimdienstoffizier war, und alle seine Gesprächspartner hatten ihm versichert, dass die Folgen des Unfalls minimal seien und die Öffentlichkeit von der Effizienz, mit der Partei und Regierung das Problem gelöst hätten, beeindruckt und erfreut sei. Gewaltige Ressourcen waren zum Einsatz gekommen, um einen einzigen Reporter zu täuschen, weil dies eben das Richtige war. Wir konnten feindlichen Journalisten ja wohl kaum erlauben, die sowjetische Realität zu verleumden, indem sie die Fakten verdrehten. Deshalb verdrehten wir die Fakten lieber selbst ein bisschen.

Keiner dieser Tricks war überzeugender als die berüchtigten Lebensmittelläden in Nordkorea, in denen Plastikattrappen strategisch so ausgelegt werden, dass Ausländer, die vom Flughafen in die Stadt gefahren werden, sehen können, dass es Bananen und Orangen im Überfluss gibt. Seit Jahren machen die Ausländer jetzt schon fröhlich Fotos von diesen Läden, sie gelten als touristische Sehenswürdigkeit: Hey schau mal da drüben! Die berühmten Fake-Früchte!

Paradoxerweise wussten die Menschen in Washington, London und Berlin mehr darüber, was wirklich geschah, als diejenigen, die in der kontaminierten Zone lebten. Unsere Familie kannte nicht die ganze Wahrheit, aber wir wussten weitaus mehr als die meisten: Als die Partei und die Regierung die »verabscheuungswürdigen Unterstellungen der Propaganda Washingtons« über eine Explosion in Tschernobyl standhaft leugneten, riefen unsere Verwandten an und erzählten uns, alle in der Region wüssten, dass es eine Explosion im Kraftwerk gegeben habe und es überall von Soldaten wimmele.

Dann begann der Albtraum. Bald wurden alle im 30-Kilometer-Umkreis um das Kraftwerk evakuiert, und egal mit welch glühenden Worten das Staatsfernsehen eine gut koordinierte Operation beschrieb, wir wussten es schon besser. Unsere zahlreichen Verwandten waren über die ganze Ukraine verteilt worden, in alle möglichen freien Unterkünfte, etwa Lager der Jungen Pioniere, die gerade leer standen. Die Menschen waren verzweifelt. Für sie war es unerträglich, zum Verlassen ihrer Höfe gezwungen zu werden, einer Heimat, die sie sich mit eigenen Händen aufgebaut hatten, zumal sie nach sowjetischen Standards als wohlhabend gelten konnten. Im Vergleich mit ihnen waren wir die armen Verwandten, obwohl mein Vater immerhin in der Armee war und sein Einkommen damit über dem Durchschnitt lag. Während wir ein normales sowjetisches Leben in einer Militäreinheit lebten, mit einer Wohnung und einem Gehalt, waren sie mit ihren Obstgärten und Kühen und privaten Äckern wesentlich besser dran, zumindest was die Lebensmittelversorgung betraf. Jetzt mussten sie mit ihren Kindern in einen Bus steigen und auf Dauer wer weiß wohin fahren, nur mit ihren Ausweispapieren und ein paar Kleidungsstücken im Gepäck. Kühe muhten und Hunde bellten, genau wie in Filmen über den Krieg. Ein paar Tage später gingen Soldaten durch die Dörfer und erschossen die Hunde. Eine verhungernde Kuh stirbt einfach, doch Hunde werden wild, bilden Rudel und greifen womöglich die wenigen verbliebenen Menschen an.

Das gewaltige Chaos der Evakuierung konnte nicht verborgen bleiben. Eine unserer besonders häufig erzählten Familiengeschichten vermittelt einen Eindruck vom Ausmaß der Dummheit und der Konfusion. Ein paar Stunden vor der Umsiedlung erinnerte sich meine Großmutter an den Fisch, den sie auf dem Dachboden zum Trocknen aufgehängt hatte. Sie war gerade dabei, alles zu verlieren, doch ihr jüngster Sohn liebte getrockneten Fisch so sehr, und sie war fest entschlossen, ihm welchen zukommen zu lassen. Sie packte den Fisch in ein Paket, brachte es zur Post, schrieb unsere Adresse darauf und verschickte es. Menschen in Schutzanzügen zogen durch die Straßen und Lautsprecher warnten, dass alles kontaminiert sei und keinesfalls mitgenommen werden dürfe, sofern es nicht wirklich lebenswichtig war. Doch zu ihrer Verwunderung nahm die Poststelle, deren Stunden ebenfalls gezählt waren, die Sendung an. Der Fisch kam ganz normal in unserem Haus in der Region Moskau[2] an. Er sah sehr lecker aus, und mein Vater beschloss, ihn bei einem Bier zu genießen. Erst als meine Mutter sich aufregte, holte er schließlich einen Geigerzähler. Der Fisch war so radioaktiv, als wäre eine Atombombe auf ihn gefallen. Meine Mutter brachte ihn in den Wald und vergrub ihn dort.

Insgesamt wurden 116000 Menschen evakuiert. Sie brauchten neue Unterkünfte, neue Jobs und mussten für den Besitz entschädigt werden, den sie zurückgelassen hatten. Selbst für ein reiches, entwickeltes Land wäre das eine große Herausforderung gewesen. Für die UdSSR mit ihrer Planwirtschaft war es ein Albtraum. Man brauchte neue Häuser; man brauchte neue Autos.

Ronald Reagan erzählte gern Sowjetwitze. Hier ist einer von ihnen: »Wissen Sie, in der UdSSR