Paula M. - Henning Schramm - E-Book

Paula M. E-Book

Henning Schramm

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Beschreibung

'Wenn sie nicht als Tote weiter leben wollte, musste sie ihr Leben ändern. 'Sie ging auf den Balkon und atmete die kalte, wohltuende Luft der schwindenden Nacht ein. So wie die nahende Morgendämmerung die Trennungslinie zweier Zeiten markierte, so war sie jetzt dabei, eine Welt hinter sich zu lassen und einer neuen Zeit entgegenzugehen.' Paula M. - ein leidenschaftlicher, zeitkritischer Roman, der vom Schicksal einer kalten, erfolgreichen Managerin erzählt, die sich selbst und ihre überraschenden Wurzeln findet.

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Seitenzahl: 455

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Henning Schramm

Paula M.

Henning Schramm

Paula M.

Roman

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischen Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2012 byMorlant VerlagTaunusstr. 29D - 61184 KarbenE-Mail: [email protected]: www.morlant-verlag.de

ISBN: 978-3-947012-84-8

Wer gab dir, Liebe, die Gewalt?

Viola Alvarez

Für Ute

ERSTER TEIL

Das Glück besteht nicht darin, dass du tun kannst, was du willst, sondern darin, dass du immer willst, was du tust.Leo Tolstoi

I.

Es kommt darauf an, dass du auf etwas zugehst, nicht dass du ankommst;

denn man kommt nirgendwo an, außer im Tode.Antoine de Saint-Exupéry

Ihr Anrufbeantworter blinkte aufdringlich im Flur als Jette Kreutzer am Spätnachmittag nach Hause kam. Paulas Stimme klang bedrückt und farblos. Sie bat Jette, ihrem Großvater auszurichten, dass sie ihren Urlaub in Italien vorzeitig beenden und schon heute wieder zurückkommen werde.

Jette klingelte mehrmals an der Wohnungstür von Ernst Preuss, dem Großvater von Paula. Sie klopfte und rief durch die geschlossene Tür. Nichts rührte sich. Sie ging in ihre Wohnung zurück, um eine kurze Nachricht für ihn zu schreiben. Ernst Preuss hängt sehr an seiner Enkelin und wird sich über die Nachricht freuen, dachte Jette.

Die Nachricht in der Hand klingelte sie nochmals. Abermals blieb alles ruhig. Sie schloss die Tür mit einem Ersatzschlüssel auf, den Paula ihr vor langer Zeit gegeben hatte, und ging geradewegs zur Küche, die, wie sie wusste, am Ende des Flurs lag, um auf dem Küchentisch die Notiz für den Großvater gut sichtbar abzulegen. Im Vorbeigehen warf sie einen Blick durch die offenstehende Tür in Paulas Zimmer und blieb wie angewurzelt stehen.

Paula lag angezogen auf ihrem Bett. Jette betrat vorsichtig das Zimmer. Sie sah die leeren Packungen mit Tabletten auf dem Nachttisch und das Blut, das auf der roten Bettdecke von weitem nur schwer erkennbar war. Der Unterarm war blutverschmiert. Die Wunde war frisch. Paulas Brust hob und senkte sich. Kaum sichtbar. Sie atmete flach, aber sie lebte. Hastig lief Jette zum Badezimmer, wo sie einen Verbandskasten vermutete. Als sie am Schlafzimmer von Ernst Preuss vorbei kam, das ebenfalls offen stand, stockte ihr abermals der Atem. Er lag bewegungslos, wie aufgebahrt, auf seinem blütenweisen Bett. Sie ging hinein. Sie fühlte keinen Puls, er war tot.

Jettes Körper war wie paralysiert. Ihr Gehirn versagte ihr die Arbeit. Sie vergrub fassungslos den Kopf in ihren Händen. Entsetzen und Angst erfassten sie und schnürten ihr die Kehle zu. Sie hechelte panisch nach Luft, der Ohnmacht nahe. Sie versuchte, die Hyperventilation in den Griff zu bekommen und atmete tief ein und aus, bis sich der Nebel vor ihren Augen allmählich lichtete. Ihre Gehirnzellen bekamen wieder ausreichend Sauerstoff, um arbeiten zu können. Sie lief zu Paula zurück, schnürte deren Oberarm mit einer Krawatte ihres Großvaters ab und verband den Unterarm. Sie steckte ihr den Finger in den Mund. Erfolglos. Paula war zu geschwächt, um sich übergeben zu können. Das Gift der Tabletten in ihrem Magen konnte sein Zerstörungswerk in ihrem Körper ungehindert fortsetzen.

Nachdem der Notarztwagen sie beide in das Krankenhaus gefahren hatte, verbrachte Jette die Nacht fassungslos neben Paulas Bett in der Intensivstation des Universitätsklinikums Frankfurt.

Als Paula blinzelnd die Augen zu öffnen versuchte, wurde sie von einem grellen Neonlicht geblendet. Kalte Helligkeit umgab sie. Sie blickte auf eine schneeweiße Decke und ebensolche Wände. Eine Flasche und Schläuche kamen in ihr Gesichtsfeld. Sie hörte ein monotones Piepsen und Töne, die sie an Herzschläge erinnerten. Die Augen taten ihr weh von der Helligkeit, sie presste die Lider wieder zusammen. Sie überlegte, wo sie sein könnte. Zu Hause war sie nicht, sie besaß rote Bettwäsche und die Decke und Wände hatte sie beim Einzug helllila gestrichen. Sie strich mit den Fingern über den Bettbezug, der nach chemischer Reinigung roch, und über den kalten, groben Stoff des Nachthemds, der ihren frierenden Körper bedeckte. Am linken Arm spürte sie einen pulsierenden Schmerz. Sie fühlte, wie jemand ihre Haare aus der Stirn streifte und ihr Gesicht streichelte. Ihr Gehirn formte Bilder ihres Großvaters, bleich, kalt, tot.

Von weit her hörte sie eine Männerstimme. Die Worte blieben unverständlich. Sie vermischten sich mit einer weichen, hellen Stimme. Die helle Stimme kam ihr bekannt vor.

»Hörst du mich, Paula? Ich bin`s.«

Paula versuchte sich zu erinnern, wagte aber nicht die Augen zu öffnen. Sie wollte nicht in die Welt zurück. Jemand beugte sich über sie und flüsterte in ihr Ohr.

»Ich bin`s, deine Freundin Jette. Kannst du mich verstehen? Weißt du wer ich bin?«

Paula erkannte jetzt Jettes Stimme, reagierte aber nicht auf ihre Frage, wollte nicht reagieren.

Die tiefe Stimme des Mannes drang in ihr Ohr.

»Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«

Paula wollte nicht ihren Namen nennen, sie wollte nicht mehr Paula sein und schüttelte den Kopf.

Langes Schweigen. Nach einer Weile hörte sie, wie die männliche Stimme im Hintergrund des kleinen Zimmers, das sie nicht kannte und nicht kennenlernen wollte, etwas sagte. Sie konnte es nicht verstehen.

Bleischwere Müdigkeit machte sich in ihr breit. Die Stimme wurde immer leiser, ferner und verschwand schließlich ganz.

Paulas Kopfschütteln auf die Frage des Arztes legte sich schwer auf Jettes Brust. Schockiert sah sie den Arzt an. Sie konnte sich zusammenreimen, was es bedeuten konnte. Der Arzt versuchte behutsam, sie auf das Schlimmste vorzubereiten: Paula sei extrem geschwächt und es sei überhaupt ein kleines Wunder, dass sie noch leben würde. Ein Glück, dass sie so schnell entdeckt worden sei. Ein wenig später und sie hätte den Selbstmordversuch nicht überlebt. Leider hätten sie ihr Kind nicht mehr retten können und man müsse abwarten, ob die vitalen Körperfunktionen weiterhin stabil arbeiten würden und der Blutverlust sowie die Tablettenvergiftung keine Dauerschädigungen verursacht hätten. Er sah in Jettes verzweifeltes Gesicht und fügte, um sie zu beruhigen, hinzu:

»Es ist zwar ein bedenkliches Zeichen, dass sie nicht mehr weiß, wer sie ist, aber für eine genaue Diagnose ist es noch zu früh. Wir dürfen die Hoffnung nicht so schnell aufgeben.«

Sie wollte an Paula glauben, stand aber doch bestürzt vor dieser Tat ihrer Freundin.

Sie wusste, dass sie ihren Großvater über alles liebte, aber war sein Suizid ein Grund, sich selbst umzubringen? Oder hatte sie es im Schockzustand, in einer Affekthandlung angesichts seines Todes getan? Noch mehr war es ihr ein Rätsel, dass sich Paula in Erwartung eines Kindes, von dem Jette nichts geahnt hatte, das Leben nehmen wollte. Sie hat sich immer Kinder gewünscht. Wusste sie vielleicht selbst nichts von ihrer Schwangerschaft? Sie war erst im zweiten Monat. Äußerlich konnte man noch nichts erkennen. Hat ihr Freund von der Schwangerschaft gewusst? Bevor sie sich mit ihm in Verbindung setzen würde, musste sie das klären und zuerst mit ihr selbst sprechen – wenn sie das überhaupt jemals wieder konnte. Entsetzliche Vorstellungen hielten Jette im Klammergriff und die Gedanken drehten sich ausweglos im Kreis.

»Frau Majer ist wieder fest eingeschlafen. Das ist gut so, sie ist noch sehr schwach und braucht viel Ruhe. Jetzt gehen Sie erst einmal nach Hause. In den nächsten Stunden wird sie sicherlich nicht wieder aufwachen und Sie können nichts für sie tun. Hat sie eigentlich Verwandte, die wir benachrichtigen können?«

»Nein, alle ihre Angehörigen sind tot. Ihr Großvater, bei dem sie lebte, hat ebenfalls Selbstmord begangen. Frau Majer hat ihn tot in seiner Wohnung vorgefunden, als sie von einer Reise zurückkam, und dann selbst Hand an sich gelegt. Rufen Sie mich bitte unbedingt an, sobald sie Anzeichen des Erwachens zeigt, ich möchte bei ihr sein, wenn sie wieder in die Welt eintritt. Übrigens können Sie mich ruhig als so etwas wie ihre Schwester betrachten, auch wenn ich das nicht im biologischen Sinn bin. Ich bin die Einzige, die ihr volles Vertrauen hat.«

»Was Sie mir da über die Familie von Frau Majer sagen, ist ja schrecklich. Ich werde sie im Auge behalten und mich sofort an Sie wenden, wenn sie aufwacht oder etwas Unvorhergesehenes geschehen sollte. Das verspreche ich Ihnen. Sie ist bei uns in guten Händen, Sie können ganz beruhigt sein.«

»Das weiß ich, ich bin Medizinstudentin und habe hier in dieser Abteilung mein Praktikum absolviert. Ich kenne den Laden also etwas.«

»Dann müssten wir uns ja schon begegnet sein.«

»Ja, ich kenne Sie. Aber Sie können sich offenbar nicht an mich erinnern. Ich war ja nur eine unscheinbare, unbedeuten de Praktikantin, die ein vielbeschäftigter Arzt schon mal übersehen kann«, sagte sie mit leicht ironischem Unterton. Das angedeutete Lächeln nahm ihrem Gesichtsausdruck etwas von dem großen Schmerz, der sie bis dahin beherrscht hatte.

»Es ist unverzeihlich, dass ich mich nicht an Sie erinnern kann. Eine so hübsche junge Frau hätte mir eigentlich sofort ins Auge fallen müssen. Entschuldigen Sie bitte meine unentschuldbare Unaufmerksamkeit. Umso mehr werde ich mich dafür jetzt um ihre schwesterliche Freundin kümmern«, erwiderte er und verabschiedete sich von ihr mit einem festen, fast schmerzhaften Händedruck.

Jette Kreutzer ging zu Fuß zu ihrer Wohnung am Westendplatz. Sie hatte immer noch ihre unbequeme, für Spaziergänge viel zu warme und ungeeignete Motorradkluft an. Sie musste an den Motoradausflug denken, den sie gestern mit ihrer neuen Freundin unternommen hatte. Sie hatten das schöne Hochsommerwetter genutzt und eine Tour in den Spessart gemacht. Bei einer Rast auf der Bayrischen Schanze, einem beliebten Ausflugsziel der Biker im Herzen des Spessart, hatten die frisch Verliebten in einem schattigen Biergarten etwas gegessen und getrunken. Sie fühlten sich unbeobachtet und unbeschwert mitten in der Biker-Community, deren martialisch anmutender männlicher Teil sich überwiegend aus Vollbartträgern mit blickundurchlässigen, dunklen Sonnenbrillen zusammensetzte und sich nicht um sie kümmerte. Lediglich einige Familienvorstände, die mit ihrem Anhang ebenfalls einen Ausflug unternommen hatten, um die gerühmten Schweinshaxen oder Schnitzel zu verschlingen, warfen ihnen verschämt-irritierte Blicke zu, als sie sich küssten und ihre Verliebtheit offen zeigten.

Der Großvater tot, Paula womöglich für immer behindert – und ich frisch verliebt. Das passt doch nicht zusammen. Darf ich in solch einer Situation verliebt sein? Darf ich Glück empfinden? Kann Glück und Leid so unmittelbar nebeneinander in ein und derselben Person existieren?

Als Jette schließlich todmüde in ihre Wohnung zurückkam, ging sie als erstes unter die Dusche, um ihre Lebensgeister zu wecken und wieder Boden unter die Füße zu kriegen. Bevor sie frühstückte, machte sie dem aufdringlichen Blinken des Anrufbeantworters ein Ende. Ihre neue Liebe hatte mehrmals vergeblich versucht, sie zu erreichen. Jette rief zurück und heulte sich bei ihr aus. Die schweren, aus dem tiefsten Inneren herausströmenden Tränen taten gut und nahmen ein klein wenig von der Schwermut, die auf ihrer Brust lastete.

Nach dem Frühstück ging sie in Paulas Wohnung. Ernst Preuss war bereits abgeholt und in die Gerichtsmedizin gebracht worden. Die Polizei wollte ein Fremdverschulden ausschließen. Jette lüftete die Räume, steckte die Bettwäsche von Paula und ihrem Großvater in die Waschmaschine und versuchte, den Bettvorleger, auf dem noch Paulas Blutspuren zu sehen waren, zu reinigen. Jette hatte sich vorgenommen, für Paula zu sorgen, soweit es in ihren Kräften stand. Sie wollte ihr eine wirkliche Schwester sein.

Drei Wochen nach ihrer Einlieferung wurde Paula aus der Klinik entlassen. Sie war nicht mehr dieselbe. Physisch waren zwar keine bleibenden Schäden sichtbar geworden, in ihrem Auftreten jedoch war sie für Außenstehende kaum noch wiederzuerkennen. Es war in den ersten Wochen extrem schwer, überhaupt ein Gespräch mit ihr zu führen, so sehr kapselte sie sich nach außen ab. Trübsinnig und hölzern bewegte sie sich in einer Welt, mit der sie nichts mehr zu verbinden schien. Zärtlichkeiten von Jette wehrte sie beständig ab. Wenn Jette ihr über die Hand streicheln wollte, zog sie die ihre zurück.

Sie konnte ihr nicht verzeihen, dass sie sie nicht hat sterben lassen, und sie wurde für sie zur Projektionsfläche für all ihre Leiden und Zumutungen auf dieser Erde. Sie blieb kühl und reserviert gegenüber ihrer einst besten Freundin, und diese litt erbärmlich unter dieser Zurückweisung.

Nur einmal wurde in dieser ersten Zeit nach dem Klinikaufenthalt die hohe Mauer, die Paula um sich herum zementiert hatte, löchrig und Jette konnte zu ihr durchdringen. Sie saßen abends zusammen im Wohnzimmer, hörten Musik und waren dabei, ihre trübselige Stimmung mit ein paar Flaschen aus Großvaters Weinkeller zuzuschütten. Paula war auf dem Weg zur Küche, um eine weitere Flasche zu holen, als das Telefon klingelte. Erika, die Sekretärin aus Paulas ehemaliger Agentur, war am Apparat. Während des Telefonats hellte sich plötzlich Paulas Gesicht auf und ein Lächeln, das sie seit der Klinikentlassung nicht mehr gezeigt hatte, huschte über ihr Gesicht. Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, kam sie leichten Schrittes in das Zimmer und trank in einem Zug ihr volles Glas aus.

»Das ist doch endlich einmal ein positives Zeichen aus dieser beschissenen Welt da draußen. Diese Behnisch hat meinem Ex den Laufpass gegeben.«

Paula lachte hysterisch, unnatürlich krächzend und schrill.

»Aber das ist nicht alles. Seine Produktionsfirma hat ihn ebenfalls vor die Tür gesetzt, da er es mit der Agentur der Behnisch vermasselt hat. Die Behnisch, diese Schlampe, hat ihn vor allen Leuten runtergeputzt. Richtig so. Da hüpft einem doch das Herz! Geschieht diesem Scheißkerl gerade recht. Die Pest über ihn wäre noch besser.«

Sie schlug sich auf die Schenkel, strahlte vor Bosheit und Schadenfreude und prostete Jette zu, nachdem sie sich erneut nachgeschenkt hatte. Ihre Augen hatten einen heimtückischen, fast gewalttätigen Glanz. Jette starrte sie irritiert an.

»Mein Schatz, was wollen wir denn mit dem angebrochenen Abend anfangen? Bist du geil auf mich, Jette? Wills du mich ficken? Ich sehe so ein Funkeln in deinen Augen.«

»Ich bin nicht geil auf dich, ich liebe dich.«

»Das sagst du doch nur so. Im Grunde deines Herzens möchtest du mit mir schlafen. Diejenigen, die behaupten zu lieben, haben doch nichts anderes im Sinne als sich jemanden zu unterwerfen, um sich dann sexuell austoben zu können. Ich habe mir vorgenommen, mich nie mehr benutzen zu lassen. Falls mir irgendwann doch einmal der Sinn nach Sex kommen sollte, was ich mir im Moment allerdings nicht vorstellen kann, dann werde ich mir einen suchen, den ich ficken werde, und zwar ausschließlich zu meinen eigenen Konditionen, und ohne auch nur ein Milligramm von Gefühl oder Liebe zu investieren!«

Jette war entsetzt über Paulas grobe, vulgäre Sprache und die Menschenverachtung und Verbitterung, die darin mitklang.

»Was ist nun, was wollen wir machen?«

»Ich denke, wir sollten die Gelegenheit nutzen, zu reden;

miteinander und ohne aus der Luft gegriffene Unterstellungen.«

Paula sah sie mit hohlen Augen an.

»Wenn du zu nichts anderem Lust verspürst, gut, dann reden wir eben. Gibt es etwas Interessantes auf dieser Scheißwelt? Über was willst du denn reden? Über die Männer? Über die beschissene Liebe? Über Verständnis oder über Gefühle, die von aller Welt zertrampelt werden? Sag mir, worüber du mit mir sprechen willst? Es gibt nichts, aber auch gar nichts, über was es sich lohnen würde, zu labern. Alles ist gesagt, alles liegt klar vor aller Augen. Die Welt ist eine Kloake. Piss drauf, dann hast du dich wenigstens erleichtert. Aber nicht einmal das können wir Frauen ja zielgenau. Pissen ohne Ziel und Verstand, das ist der Frauen Glück in einem beschissenen Vaterland, ha, ha.«

Paula lächelte. Kein Lächeln, das im anderen ein Echo sucht, sondern weh tun will.

»Ich will über dich reden. Über Paulas Zukunft, über Paulas Möglichkeiten.«

»Ha, meine Liebe, was gibt`s über Paula zu reden? Nichts, nicht das Geringste! Und über meine Zukunft schon mal erst recht nicht. Du hast mir meine Zukunft genommen, in der ich mich schon fast eingerichtet hatte. Die Zukunft ist der Tod.«

»Schon recht, wir alle müssen sterben, aber vorher gibt es das Leben, das hat die Natur nun mal so eingerichtet. Ich habe dir nichts genommen. Der Tod ist nicht weg, sondern wird dich immer begleiten, ob du das willst oder nicht. Ich habe dir den Tod nur für später aufbewahrt. Solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn jedoch der Tod da ist, sind wir nicht mehr.So einfach ist das mit dem Leben und dem Tod. Bevor du wieder Kontakt zu ihm aufnimmst, musst du erst noch etwas für dein Leben machen.«

»Und wie ist das mit dem ungeborenen Leben? Mein Kind in meinem Bauch ist tot.Unwiederbringlich. Es kann nichts mehr aus seinem Leben machen.«

»Das ist entsetzlich, ja. Es tut mir unendlich leid für dich, Paula.«

»Es braucht dir nicht leid tun, ich hatte bereits an Abtreibung gedacht und bin nun der Entscheidung enthoben worden. Es ist besser, ich bringe mein Kind eigenhändig um, anstatt dies Handwerk den Ärzten zuzumuten. Es ist gut so, es hätte mich jeden Tag an diesen Scheißkerl erinnert. So, wie meine Mutter durch mich jeden Tag an ihren treulosen Ehemann gemahnt worden war.«

»Du hast immer noch die Möglichkeit ein Kind zu bekommen.«

»Jette, das glaubst du doch selbst nicht. Nie mehr werde ich ein Kind bekommen. Du kannst doch auch ohne leben, oder wie willst du schwanger werden ohne Mann.«

»Es gibt auch noch die künstliche Befruchtung, ganz zur Not würde ich mich vielleicht sogar von einem Leih-Mann befruchten lassen. Aber es stimmt, der Wunsch nach einem Kind ist bei mir gering ausgeprägt. Es gibt so vieles andere in der Welt, was mich mehr reizt.«

»Du bist zu beneiden, für mich stand der Kinderwunsch immer stark im Vordergrund, aber das ist jetzt aus und vorbei. Schade, ich werde mich damit abfinden müssen. Ich sage dir ja, ich habe keine Zukunft mehr, abgesehen vom Tod. Ich wüsste auch gar nicht, was ich machen sollte, ich kann doch nichts.«

»Von Nichtkönnen kann keine Rede sein. Du kannst, wenn du nur willst.Du musst wollen, dann hast du schon einen kleinen Zipfel vom Glück erhascht.Das Glück des Menschen besteht nicht allein darin, dass du tun kannst, was du willst, sondern hauptsächlich darin, dass du immer willst, was du tust.«

»Was kann ich denn, Zahlenkolonnen zusammenzählen, ja das kann ich. Und was sonst?«

»Du kannst studieren. Du hast alle Fähigkeiten dazu und durch die Erbschaft auch die finanzielle Möglichkeit.«

»Studieren? Ich habe doch noch nicht einmal das Abitur. Keiner in meiner Familie hat studiert.«

»Ich denke, es ist gut, sich aus Verhältnissen zu lösen, die einem die Luft nehmen. Werde, wozu du fähig bist, zu werden. Du kannst das Abitur nachmachen. Es gibt zum Beispiel das Hessenkolleg. Das ist für Leute wie dich wie maßgeschneidert.«

»Und was denkst du, zu was ich fähig bin bei meinem Drang zur Selbstzerstörung, meinem beklemmenden Drang, den ich im vollem Bewusstsein realisiert habe.«

»Deine Fähigkeiten musst du schon selbst entwickeln. Suche dir etwas, wo du auf eigenen Beinen stehen kannst, etwas, das dich unabhängig macht und das dir Spielräume für die Entwicklung deiner Möglichkeiten bietet. Ärztin zum Beispiel.«

»Damit ich mich beim nächsten Mal selbst retten kann.«

Jette überging die Bemerkung.

»Oder Rechtsanwältin, oder erfolgreiche Managerin. Ein bisschen mehr Geld zu verdienen, als man zum Überleben braucht, wäre förderlich für die Verwirklichung solcher Träume. Selbständigkeit oder zumindest eine relativ hohe Position natürlich auch. Je weniger du über dir hast, desto weniger wirst du angemacht und musst dir gefallen lassen, und das gilt, wie jeder weiß, ganz besonders für uns Frauen.«

»Bist du jetzt total übergeschnappt. Du hast wohl vergessen, dass ich nur eine kleine Buchhalterin bin, oder vielmehr war. Ich kann nichts.«

»Nichts bleibt so wie es war. Ich meine das sehr ernst. Du bist blitzgescheit und kannst alles, wenn du nur willst.«

Paula schüttelte zweifelnd den Kopf. Jette nickte ihr aufmunternd zu.

»Ich bin nicht du, aber wenn du unbedingt willst, werdʹ ich mir das einmal bei Gelegenheit durch den Kopf gehen lassen. Bist du zufrieden mit deiner Patientin?«

Sie nuckelte gelangweilt an ihrem Weinglas herum.

»Nicht ich muss wollen, du bist es, um die es geht. Ich studiere ja bereits, wie du vielleicht schon bemerkt hast. Prost, meine Liebe, und vergiss mich nicht, wenn du einmal ein hohes Tier bist.«

Sie redeten und tranken noch lange und es wurde spät, bis die Freundinnen, leicht angetrunken, ins Bett gingen. Paula blieb noch lange wach, fand keine Erlösung im Schlaf. Die trübsinnigen, hoffnungslosen Gedanken kreisten um ihr gescheitertes, junges Leben.

II.

Das Wesen der ersten großen Liebe ist, dass sie nicht überdauert, dass sie vergeht, ohne jemals wirklich zu vergehen.

Es ist die Vertreibung aus dem Paradies, die notwendig war, um ein Mensch zu werden.Wolfram Fleischhauer

Es war an einem Freitag. Er lehnte, die Beine locker übereinandergeschlagen, mit dem Rücken an der Wand und trank ein Bier, während er, etwas verloren wirkend, über die junge Gästeschar des Clubs hinwegblickte. Die schwarzen, in der Mitte gescheitelten Haare glänzten seidig im grellen Licht der Spotlights, die, wie Suchscheinwerfer von Flakgeschützen, hastig über die wogende Menge huschten. Paula Majer sah zu ihm hinüber, als er sich gerade eine Zigarette anzündete. Ihr Blick blieb auf seinem Gesicht haften. Er hatte ein kantiges, sehr männliches Gesicht mit stark hervortretenden, fast indianisch wirkenden Wangenknochen. Die schwarzen, ausdrucksvollen, exotisch anmutenden Augen signalisierten Sanftmut und auch Unsicherheit. Im Gegensatz zu den Augen hinterließ der etwas gedrungene Körperbau mit dem mächtigen Brustkorb, der sich unter dem enganliegenden T-Shirt deutlich abzeichnete, den Eindruck von ungebändigter, wilder Kraft.

Paulas Körper straffte sich. Sie hob kämpferisch ihr Kinn, streckte absichtsvoll ihre Brust nach vorn und nestelte an dem mit Spitzen besetzten Ausschnitt ihres Tops herum. Mit einem gewinnenden Lächeln im Gesicht versuchte sie, seinen Blick auf sich zu lenken. Als sich die beiden Augenpaare kreuzten, war ihr, als ob ein Stromstoß durch ihren Körper zuckte, ihr wurde siedend heiß, das Blut sackte ihr plötzlich aus dem Kopf und sie musste sich an einer Stange, die hinter ihr an der Wand entlang führte, festhalten. Benommen wandte sie sich von ihm ab und ging zur Toilette.

Sie schüttelte, überrascht über ihre Körperreaktion, den Kopf und betrachtete sich im Spiegel. Sie bekam ihre Gefühle nicht in den Griff, sie waren flüchtig wie ätherische Öle. Paula bändigte die schulterlangen, blauschwarzen Haare hinter den Ohren, strich sich die mit silbernen Strähnchen durchsetzten, bis über die Augenbrauen reichenden Pony-Fransen aus dem Gesicht und zog den Lidstrich nach. Sie musterte sich mit ihren nachtschwarzen Augen im Spiegel des kleinen Waschraums. Kritisch, prüfend. Einige kleine Sommersprossen, die auf ihrem dunklen, südländisch wirkenden Teint merkwürdig deplatziert wirkten, gruppierten sich um die Nasenwurzel. Früher fand sie die kleinen zartbraunen Flecken niedlich, heute versuchte sie, sie zu verstecken, weil sie ihrer festen Überzeugung nach ihrem Gesicht einen zu weichen und zu mädchenhaften Gesichtsausdruck verliehen. Sie arbeitete intensiv an ihrer erotischen Ausstrahlung, gleichzeitig war sie aber auch sehr bemüht, sich in der Öffentlichkeit als uneinnehmbare Festung zu präsentieren und ihrem Äußeren einen provokanten Touch zu geben. Die rechte Augenbraue und einen Nasenflügel hatte sie piercen lassen. Sie trug auch ein Intim-Piercing, der ihr erotisches Selbstgefühl stimulierte. Die linke Ohrmuschel zierten zehn, die rechte sieben wie auf einer Perlenschnur aufgereihte winzige Swarovski-Steine. Den Achtzehnten hatte sie schon gekauft. Er lag zu Hause bereit. Sie bezeichnete sie als ihre Alterssteine, jedes Jahr kam ein neuer hinzu. Auf die kräftigen, geschwungenen Lippen hatte sie schrilles Pinkrot aufgetragen, die Finger- wie auch die Fußnägel waren schwarzlila lackiert und die Wimpern künstlich verlängert. Zu dem bauchfreien schwarzen Top trug sie eine hautenge, dreiviertel lange rote Seidenhose und hochhackige Sandaletten.

Sie sprühte sich etwas kaltes Wasser in das glühende Gesicht. Ihr Blick verlor sich. Er ist hübsch, vielleicht sogar etwas zu hübsch für einen Mann, aber er hat einen tollen athletischen Körper, dachte sie.

Sie war sich nicht sicher, ob er nicht vielleicht homosexuell war. In der Disco wimmelte es von Schwulen und Lesben. Die Legierung von betonter Körperlichkeit und weicher Ausstrahlung sprächen für diese These.

Sie bewegte unsicher den Kopf hin und her.

Völlig unerwartet schlich sich plötzlich ein ganz anderes Bild in ihren Kopf. Die Konturen eines Mannes wurden sichtbar, die sich unauslöschlich in ihr emotionales Gedächtnis eingebrannt hatten.

Paula legte ihren Kopf leicht zur Seite und lächelte sich im Spiegel an. Bilder aus der Vergangenheit legten sich über die Gegenwart. Sie erinnerte sich an eine Liebesgeschichte aus ihrer Kindheit. Die romantischen Empfindungen, die sie damals beim Lesen gehabt hatte, durchfluteten in dem nüchternen Waschraum ihren Körper, jede Differenz zwischen Traum und Wirklichkeit ignorierend. Die Sätze einer Passage aus diesem Indianerbuch, die ihr besonders gefallen hatte, formten sich in ihrem Kopf:

»Tecumapese lag mit geschlossenen Augen auf der Wiese und dachte an Kumskaka, der mit seinen Freunden auf der Jagd war. Nachher, wenn die Dämmerung sich über das Land legen wird, wird er zu ihr in das Zelt kommen. Kumskaka wird sie in seine Arme schließen und sie mit dem, was er auf der Jagd erlegt hatte, beschenken. Er, der Schwarm aller Indianermädchen des Stammes der Shawnee und Sohn des Häuptlings, hatte sich aus der großen Schar Gleichaltriger für sie entschieden. Sie war stolz, glücklich und sehnsuchtsvoll. Heute Nacht wird sie seine Frau werden. Sie werden sich lieben, für ewig die Treue schwören und von der heutigen Nacht an für immer zusammen sein.«

FCK, ihr damaliger Lieblingsschriftsteller, von dem sie nur das Pseudonym-Kürzel kannte, hatte mehrere Bücher mit Geschichten über Indianer geschrieben, und sie hatte sie alle verschlungen. Sie waren damals für sie als Elfjährige fester Bestandteil ihrer Träume und Jungmädchenfantasien gewesen. Aber keine seiner Geschichten hatte sie so fasziniert wie die des jungen Indianerpaares Tecumapese und Kumskaka, die gemeinsam allen Widrigkeiten des entbehrungsreichen Indianerlebens getrotzt hatten und nie irgendwelche Zweifel an ihrer großen Liebe aufkommen ließen. Als sie, wie so oft, in der Stadtbücherei nach neuem Lesestoff Ausschau gehalten hatte, war sie auf ein Lexikon über Indianernamen gestoßen und erfuhr die Bedeutung von Tecumapese und Kumskaka, nämlich ›Sternschnuppe‹ und ›Fliegende Katze‹. Danach hatte sie ihre Mutter so lange gedrängt, bis sie ihr ein Kostüm schneiderte, das mit etwas Fantasie einer Sternschnuppe ähnelte. Das hatte sie manchmal, wenn sie allein zu Hause war, oder aber zum Fasching auf der Straße, getragen, auf dem Arm eine Plüschkatze, der sie selbst zartrosa Flügel angenäht hatte. Niemand wusste, was es bedeutete, wenn sie zärtlich über das weiche Kunstfell der Katze streichelte.

Paula verscheuchte die Gedanken an ihre Kindheit und gab sich wieder ganz der Gegenwart hin. Sie fragte sich, was dieser Mann mit den indianisch anmutenden Gesichtszügen da draußen in den Gängen des Technoclubs an sich habe, dass ihre Hormone verrücktspielten und sie beinahe in eine romantische Ohnmacht gefallen wäre. Sein Bild verdrängte alles andere in ihrem Kopf und jeder Gedanke an diesen Mann führte dazu, dass ihr Körper von einem prickelnden Gefühl erfasst wurde und sich ihre Nackenhaare hochstellten.

Sie fühlte sich beflügelt und wollte ihren Körper spüren. Wie sie es in ihrer Schulzeit schon oft gemacht hatte, entledigte sie sich ihres BHs und stopfte ihn in ihre kleine, rotlackierte Umhängetasche. Sie zog das kurze Top straff über den Busen. Sie legte noch etwas Lippenstift nach und zupfte einzelne Haare, die in dem grellen Licht der Toilette sichtbar geworden waren, von den Schultern. Bevor sie ging, räkelte sie sich nochmals voll Tatendrang vor dem Spiegel. Sie lachte sich zu. Sie fühlte sich wohl in ihrem Körper und sah im Spiegel eine erotische, begehrenswerte Frau. Sie spürte den seidigen Stoff auf ihren nackten Brüsten und als sie mit der Hand leicht über ihren Busen streifte, war ihre Haut wie elektrisiert und die feinen, kaum sichtbaren Härchen auf ihren Unterarmen richteten sich auf.

Die Beats, die man durch die Toilettentür nur gedämpft vernommen hatte, wummerten ihr nach dem Verlassen des Toilettenraums mit voller Lautstärke entgegen. Sie blieb einen Augenblick an der Tür stehen, bis sich die Augen wieder an das schummrige Licht gewöhnt hatten. Dann ging sie die steile Treppe hoch auf den Dancefloor der Haupthalle. Die mannshohen Lautsprecherboxen sorgten für eine kristalline Wucht des Sounds, der in den tanzenden Leibern aufgefangen wurde und sich in vibrierende, ekstatische Bewegungsimpulse umsetzte.

Paula ließ ihren Blick über die wogenden Körper auf der Tanzfläche gleiten. Sie ging zu der Stelle, wo ein überdimensionaler weiblicher Akt die ansonsten eintönig grau gehaltene Wand zierte. Sie streifte mit den Fingerspitzen über das Bild. Genau an dieser Stelle hatte er gestanden und ein Bier getrunken. Sie wartete. Sie wartete lange und vergebens.

Es war laut und eng und die Körper gönnten sich keinen Raum. Die Farben der Lichtstrahler in der kleinen Bar changierten zu der Musik. Sie holte sich ein Bier und schlenderte in den Biergarten, einem lauschigen Innenhof, in dem die erhitzten Jugendlichen durchatmen konnten. Es war gegen zwei Uhr, die Party begann jetzt erst richtig und das Gedränge erreichte seinen Höhepunkt. Paula ging in das Obergeschoss, eine Panorama Bar, in der sich überwiegend die Schwulen und Lesben tummelten und ihrem eigenen Begehren in die Augen schauten. Gestählte, halbnackte Körper bewegten sich im hämmernden Rhythmus der Gay-Community. Ihre Suche blieb auch hier erfolglos. Paula blieb bis gegen vier Uhr. Er blieb unauffindbar. Sie schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr nach Hause. Lange lag sie wach im Bett, unfähig, ihren Kopf zu leeren.

Am nächsten Tag lag ein DIN-A-4 Blatt ihres Großvaters mit seiner winzigen, kaum leserlichen Handschrift auf dem Küchentisch.

»Liebe Paula!

Hoffentlich hast du gestern einen schönen Abend gehabt.

Ich verbrachte leider, wie so oft, eine unruhige, schlaflose Nacht und habe dich gehört, wie du auf Zehenspitzen in dein Zimmer gegangen bist. Danke für die Rücksichtnahme. Zumal dieser Charakterzug meiner jungen ›zornigen Dame‹ ja nicht unbedingt auf den Leib geschneidert zu sein scheint. Das kommt wohl daher, dass deine quirlige und etwas unstete Mutter dir das Leben wahrscheinlich nicht immer leicht gemacht hat. Früh schon musstest du dich neben ihr behaupten, dich bemerkbar machen, damit du wahrgenommen wirst. Ich bewundere deine Energie, deinen Selbstbehauptungswillen und deine Hartnäckigkeit, die freilich manchmal auch in Sturheit umschlägt. Aber ich will nicht richten, das steht mir nicht zu, zumal du mit achtzehn Jahren eine erwachsene Frau bist.

Anscheinend hast du diese Energie auch beim Feiern, wie jetzt heute Nacht. Ich konnte das früher nicht, hatte allerdings auch kaum Gelegenheit dazu. Heute ist es anscheinend normal bis morgens um vier unterwegs zu sein. Die Zeiten waren anders, damals. Und heute? Wozu soll die Nacht gut sein, frage ich mich manchmal, jetzt im Alter. Zum Warten? Aber auf was? Auf den Schlaf, der nicht kommt? Auf den Tag, der morgen ist, wie er gestern war?

Verzeih, ich will nicht nörgelig sein. Du hast das bei deiner Oma so gehasst und ich möchte nicht, dass ich dir unausstehlich werde. Vielleicht ahnst du, warum sie so war. Sie war unglücklich und sie war zornig auf sich selbst, dass es ihr nicht gelang, einen Zugang zu dir zu finden – wo sie doch nur noch so wenig Zeit hatte, das Tor zu deiner jugendlichen Seele zu öffnen. Ich selbst war wie gelähmt und ratlos. Mir waren die Hände gebunden, weil sie mir untersagt hatte, dir die Wahrheit über ihren Gesundheitszustand sagen zu dürfen.

Umso mehr bin ich dankbar dafür, dass wir beide heute so einträchtig unter einem Dach nebeneinander leben können. Fast ein bisschen wie ein altes, eingespieltes Ehepaar, das sich gegenseitig nichts mehr beweisen muss. Entschuldige den vielleicht unpassenden Vergleich, aber mir fiel nichts Besseres ein, womit ich meine Gefühle ausdrücken kann, liebe Enkelin. Du bist ein prächtiges Mädchen und wirst deinen Weg, wenn du ihn einmal gefunden hast, unbeirrt gehen. Davon bin ich überzeugt.

Du hast die Zukunft noch vor Augen, für mich ist die Erinnerung alles, was mir bleibt und mich erfüllt. Vom Standpunkt der Jugend aus gesehen, ist das Leben eine unendlich lange Zukunft, vom Standpunkt des Alters aus eine sehr lange Vergangenheit.Leider entdecke ich auf meiner Erinnerungslandkarte in letzter Zeit häufiger einmal weiße Flecken. Aber das ist für einen Achtzigjährigen vielleicht ganz normal. Ich hoffe inständig, dass ich dir später einmal nicht als dementer Trottel zur Last falle, das wäre mir ein schrecklicher Gedanke.

Ich hoffe, dass du nach dem langen Feiern gut hast schlafen können. Ich nehme es stark an. Heute früh jedenfalls, als ich mich von dir verabschieden wollte, hast du geschlafen wie ein Murmeltier. Ich brachte es nicht übers Herz, dich zu wecken. Du lagst da, wie ein schwarzgelockter Engel, der gerade erfahren hat, dass er zum Erzengel befördert worden war. Ist dir was Schönes widerfahren: im Traum, in der Wirklichkeit?

Ich bin wieder einmal schrecklich abgeschweift, verzeih deinem alten, geschwätzigen Opa. Aber ich bin früh aufgewacht und hatte so viel Zeit bis zum Aufbruch. Eigentlich wollte ich dir nur mitteilen, dass ich den ganzen Tag mit Robert unterwegs bin. Du weißt schon, das ist der Jugendfreund deiner Oma (ja, auch sie hatte Amouren, auch schon, bevor ich zum Zug gekommen war), der auch mein Freund geworden ist, und von dem ich dir schon häufiger erzählt habe. Er hat mich zu einer Schifffahrt von Frankfurt nach Rüdesheim eingeladen. Wir beiden Alten werden die Vergangenheit wieder einmal etwas aufleben lassen und das eine oder andere Glas Wein trinken. Es kann spät werden (natürlich nicht so spät wie bei Dir!) und du brauchst mir nichts zum Abendessen bereitstellen.

Danke für alles, was du für mich tust und mir gibst. Ich kann es gar nicht oft genug sagen. Es ist so tröstlich, jemanden wie dich um sich zu wissen.

Dein dich immer liebender Opa.«

Als Paula den Brief zu Ende gelesen hatte, lag ein feuchter Schimmer auf ihren Augen. Sie war gerührt. Er fühlte mit ihr und wichtiger noch, er brauchte sie und sie war glücklich, gebraucht zu werden. Ein Gefühl, das sie lange entbehren musste, so dass das Verlangen nach Anerkennung in ihr wie ein Krebsgeschwür gewuchert war, und vieles andere verdrängt hatte.

Sie saß lange am Küchentisch und ihre Gedanken schweiften ab in ihre Kindheit. Sie war erst drei Jahre alt gewesen, als sich ihre Eltern trennten. Zwar hatte sie an Paulo, ihren chilenischen Vater, keine Erinnerungen mehr, aber die Mutter hatte ihr verbittert erzählt, dass er eines Tages mit einer Spanierin sang- und klanglos verschwunden war, nur ein Jahr, nachdem sie nach Deutschland zurückgekehrt waren. Er ließ nie wieder etwas von sich hören. Sie löschte ihn aus ihrem Kopf. Paula konnte die Mutter nicht ausblenden, sie verkörperte die Erinnerung an den Mann, der sie ins Unglück gestürzt hatte. Paula war das Kuckucksei, das ihr Paulo ungewollt in den Schoß gelegt hatte, wie sie sich ausdrückte, und das sie nun allein ausbrüten und großziehen musste.

Paula sehnte sich nach einem Vater und war damals insgeheim neidisch auf die Mitschüler, wenn sie von ihrem ›Papa‹ erzählten, der für sie da war, wenn er gebraucht wurde, der mit ihnen spielte, der ihnen die Welt erklärte. Die Männer, die ihre Mutter ins Haus schleppte, konnten die entstandene Lücke nicht schließen, wie auch die Mutter den fehlenden Vater nicht ersetzen konnte und wenig dafür tat, ihr das Gefühl zu vermitteln, einer Familie anzugehören und darin Geborgenheit finden zu können. Im Gegenteil, sie empfand sich häufig eher als störender Faktor im häuslichen Getriebe, denn als geliebtes Kind und Familienmitglied. Oft wurde sie von der Mutter außer Haus geschickt, damit diese sich mit ihren häufig wechselnden Liebhabern ungestört vergnügen konnte. Paula wuchs im Schlepptau einer Frau auf, die überzeugt war, vom Leben betrogen worden zu sein, und die einen Großteil ihrer Energie dafür verwendete, den von Paulo an ihr verübten Verrat vergessen zu machen. Sie suchte ihr Glück, von dem sie meinte, dass es ihr zustand, in immer neuen Männerbekanntschaften, aber nicht in ihrer Tochter.

Paula litt in ihrer Kindheit unter den Entzugserscheinungen nicht gewährter Liebe, Achtung und Aufmerksamkeit. Je häufiger ihr diese lebenswichtigen Essenzen vorenthalten wurden, desto mehr dürstete sie danach. Als Ersatz zur Befriedigung dieser Sehnsüchte dienten ihr Bücher. Sie gewährten ihr in der von der Mutter dominierten engen Welt Asyl. Die Mutter sah es nicht gerne, mehr noch, sie missbilligte es, wenn sie sich in ihre Bücher vergrub und, wie sie sich ausdrückte, dadurch jeden Sinn für die reale Welt verlor.

»Das viele Lesen verdirbt den Charakter und die Augen, mach was Praktisches, geh raus ins Freie zum Spielen«, war so ein Standardsatz, mit dem sie ihre Tochter in die Realwelt zu scheuchen versuchte.

Paula fand jedoch genügend Wege, die Wünsche der Mutter zu hintergehen. Sie las, wenn die Mutter außer Haus war, und das war häufig der Fall, oder aber abends oder manchmal auch nachts im Bett im Schein einer Taschenlampe unter der Bettdecke. Paulas Interesse an dem, was in der realen Welt und der phantasierten Welt der Bücher geschah, war über groß. Mangels Gesprächspartner befriedigte sie ihre Neugier, indem sie alles verschlang, was ihr an Lesbarem in die Finger kam, Tageszeitungen, Magazine, Sachbücher, sei es über Philosophie, Soziologie, Ökonomie, Psychologie, Geschichte oder Naturwissenschaft. Am liebsten aber waren ihr Geschichten, Erzählungen und Romane. Sie erfasste den Inhalt des Gelesenen mit ihrem fotografischen Gedächtnis ungemein schnell. Obwohl sie geradezu über die Seiten flog, vergaß sie nichts von dem, was sie einmal gelesen hatte und konnte das einmal Gelesene mühelos aus dem Kopf wörtlich wiedergeben. Ihre Seele war gefüllt mit Liebes- und Abenteuergeschichten aus aller Welt. Die virtuellen Welten der Bücher wurden ein Teil von ihr. Sie waren ihr manches Mal näher und wirklicher als die Wirklichkeit selbst und sie blieben immer, anders als die reale Welt, als fantasierte Lebenswelten für sie formbar. Mühelos konnte sie von einer Welt in die andere springen, und es war nicht immer ganz eindeutig, in welcher sie sich gerade befand, wenn sie mit jemandem sprach oder etwas erzählte. Fantasie und Wirklichkeit purzelten oftmals durcheinander und für Lehrer, Mitschüler oder auch ihre Mutter, war es oftmals schwierig, wenn nicht gar unmöglich, Wahrheit von Erfindung, Tatsache von Dichtung zu unterscheiden.

Paula stand vom Küchentisch auf, um unter die Dusche zu gehen. Sie räkelte sich entspannt unter dem heißen Wasserstrahl. Als sie aus der Duschkabine trat und das Wasser an ihrem Körper abperlte, spürte sie die Empfindsamkeit der Haut. Die kleinen Körperhärchen richteten sich auf. Ein leichtes, angenehmes Kribbeln zog sich von den Nackenhaaren über den Rücken bis zum Po hinunter.

Das Gesicht des unbekannten Clubbesuchers verdrängte die Gedanken und Bilder der Vergangenheit. Sie fragte sich zum wiederholten Mal, warum sie sich in diesen Mann verliebt hatte. Was war in ihrem Gehirn geschehen, das aus all den tausenden von Reizen, die dieser wie jeder andere Mann auch ausgesendet hatte, in Sekundenschnelle die entscheidenden Sympathieträger herausgefiltert und die undurchlässig geglaubte Pforte in ihr gehütetes Inneres mit einem geheimnisvollen Schlüssel geöffnet hatte.

Sie war fest entschlossen, auch wenn es Monate dauern würde, diesen Mann aufzuspüren. Etwas in ihr hatte sich für ihn entschieden und sie in einen kaum mehr kontrollierbaren Unruhezustand versetzt.

Sie ging von nun an jeden Abend in den Technoclub. Sie hatte immer dasselbe an. Sie setzte auf den Wiedererkennungseffekt und die Signalwirkung ihres Outfits, das letzte Woche zumindest seine Aufmerksamkeit geweckt hatte.

Es ist jetzt sieben Tage her seit sich ihre Blicke gekreuzt hatten. Sie schlenderte wie immer durch die verschiedenen Etagen des Clubs, trank ein Bier an der Bar, schäkerte mit dem Barkeeper und nahm ihre Tour durch die Clubräume wieder auf. Es war gegen zwei Uhr, als sie ihn entdeckte. Er stand mit einer Frau an der Bar im Obergeschoss. Sie starrte erregt auf das Paar, das sich interessiert zu unterhalten schien. Er sah genauso aus, wie sie ihn abgespeichert hatte.

Aber, Himmel noch mal, er ist schwul, ging es ihr durch den Kopf. Was hätte er sonst hier oben bei den Schwulen und Lesben zu suchen?

Als sie auf ihn zuging, drehten sich beide in ihre Richtung und fixierten sie. Seine Pupillen weiteten sich und er sah sie ungläubig an. Dann kniff er die Augen zu Schlitzen zusammen. An der Einbuchtung zwischen Nasenwurzel und Stirn zeigten sich zwei tiefe Längsfalten. In seinem Kopf schien es zu arbeiten.

Er versucht sich zu erinnern, mich einzuordnen, dachte Paula.

Er flüsterte seiner flachbrüstigen, stämmigen Nachbarin etwas ins Ohr. Diese musterte daraufhin Paula neugierig von oben bis unten. Paula war diese unverhohlene Begutachtung ihres Körpers unangenehm. Sie fühlte sich von deren Blicken entblößt. Die Frau hat sie nicht nur mit ihren Augen ausgezogen, ihr einladendes Lächeln sollte wohl auch andeuten, dass sie verstanden habe, warum sie sich hier oben bei den Lesben herumtreibe. Paula ärgerte sich über die Selbstverständlichkeit, mit der diese Frau von ihr Besitz zu nehmen versuchte. Ihr Ärger schlug unmittelbar in eine lauernde Angriffsbereitschaft um. Ihre Blicke schweiften im Wechselbad der Gefühle unruhig zwischen ihr und ihm hin und her, als er sie mit einer weichen, warmen Stimme ansprach:

»Hi, haben wir uns hier nicht schon einmal gesehen? … Ich glaube, es war letzte Woche. Letzten Freitag, richtig?«

Die Tonlage war höher als sie erwartet hatte und schien aus einem viel schmächtigeren Körper hervorzudringen, als dem, der sich ihren Augen darbot.

»Ja, wir haben uns letzten Freitag getroffen. Aber es war nicht hier.«

»Nicht hier im Club? Ich war mir fast hundertprozentig sicher, dass wir uns hier gesehen haben. Aber, wenn nicht hier, wo denn dann?«

Sie war jetzt ganz nahe bei ihm. Er roch angenehm. Er hatte ein Achselshirt an und unter der glatten, braungebrannten Haut seiner Arme traten deutlich die Sehnen hervor. Die muskulösen Arme hatte er vor der Brust gekreuzt.

»Doch, doch es war schon hier im Club, aber ein Stockwerk tiefer, nicht hier oben bei den Lesben.«

Sie blickte herausfordernd zu der Frau neben ihm und sagte mit sarkastischem Tonfall zu ihr gewandt:

»Ich muss dich leider enttäuschen. Ich bin nicht abonniert auf diese Etage.«

Diese musterte sie ein zweites Mal eingehend und grinste sie an.

»Schade. Hübsch bist du, zart, attraktiv. Ich hätte mir gewünscht, mit dir läuft etwas. Als du so auf uns zugekommen bist, hatte ich ein Supergefühl in mir verspürt«, gab die Brünette offen ihr Interesse an ihr preis.

Sie fuhr sich mit der einen Hand durch ihre streichholzlangen Haare und griff mit der anderen nach ihrem Cocktailglas, trank einen kräftigen Schluck und strahlte über das ganze Gesicht. Sie schien ihre Enttäuschung schnell verdaut zu haben oder konnte sie zumindest gut überspielen.

»Wenn nicht ich, meine Liebe, dann kommt aber doch hoffentlich mein lieber Freund zum Zuge. Er steht auf Frauen wie du eine bist: zierlich und seidig. Stimmt doch, oder?«, sagte sie zu ihrem Nachbar gewandt.

Sie stupste ihn an, spitzte ihre schmalen Lippen zu einem angedeuteten Kuss und machte ein eindeutiges Handzeichen.

Der Angesprochene blieb reglos und stumm stehen.

Paula war erleichtert, als sie vernahm, dass er nicht schwul war, und diese Person neben ihm nicht seine Freundin, oder genauer keine Freundin zum Vögeln.

»Ich denke mal, das bestimmst nicht du, wer mit wem was zu tun haben will. Ich suche mir selbst aus, ob und mit wem ich ins Bett gehen will, und ich nehme stark an, dein Begleiter wird sich das auch nicht von dir diktieren lassen wollen«, sagte sie mit scharfem Tonfall.

»Oh Gott, bist du eine empfindliche Mimose. Hast wohl was gegen Lesben, oder warum bist du so zickig?«

»Das ist doch jetzt sehr billig. Ich habe nichts gegen Lesben, aber gegen geile Weiber wie dich, die einen schon aus ziehen und sich mit jemandem im Bett liegen sehen, bevor man einen Atemzug vollendet hat.«

»Spiel dich nicht auf, es sieht doch jeder, was mit dir los ist, oder zumindest diejenigen, die Augen haben, zu sehen. Und ich habe solche Augen.«

»Ist mir da etwas entgangen?«, mischte sich jetzt, neugierig geworden, ihr Begleiter in das Gespräch ein.

Er erhob sich von seinem Barhocker und versuchte mit einem versöhnlichen Grinsen im Gesicht die Situation zu entgiften.

Er ist kleiner als ich gedacht habe, ging es ihr durch den Kopf, als er neben ihr stand. Sie, selbst ein Meter dreiundsechzig groß, reichte ihm bis zur Nasenspitze.

»Schon gut mein Lieber. Dir ist tatsächlich etwas entgangen. Aber was, das versteht ihr Männer sowieso nicht, dafür habt ihr einfach kein Organ. Ich räume jetzt das Feld. Mark, ich wünsch dir viel Spaß mit dem hübschen Ding hier«, sagte sie und ließ ihren schamlosen Blick nochmals provokant über Paulas Körper gleiten.

»Du bist spitz, stimmt’s? Ich hab‘ das gleich bemerkt. Leider nicht auf mich«, flüsterte sie Paula im Vorbeigehen ins Ohr und tippelte von dannen.

Paula fühlte sich durchschaut. Diese Frau hat entdeckt, was nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war. Sie hatte gut beobachtet. Natürlich hatte sie sich absichtsvoll präsentiert, um diesen Mann zu beeindrucken. Sie wollte ihn anmachen und verführen. Sie, die Liebeswaise, die an Liebe nicht mehr geglaubt hatte, hatte sich in dem Augenblick, als sie ihn sah verliebt und verspürte jetzt, in seiner unmittelbaren Nähe, eine Ahnung davon, was Liebe sein könnte. Und sie wünschte sich sehnlichst, dass er sie nicht nur begehren, sondern sich ebenfalls in sie verlieben möge.

Mark blickte etwas ratlos und alleingelassen hinter seiner Freundin her. Er fuhr sich reflexhaft mit der Hand durch sein Haar, legte seine Stirn in Falten und schien nachzudenken, was die Worte seiner Freundin bedeuten konnten.

Paula baute sich vor ihm auf, so dass ihr Dekolleté stärker in sein Blickfeld geriet, und blickte ihm mit liebenswürdiger Miene und dem charmantestes Lächeln, das ihr zur Verfügung stand, in die Augen.

»Vergiss das Gerede deiner Freundin, es war nicht wichtig, dir ist nichts entgangen. Wollen wir nach unten gehen?«

Er erwiderte ihren Blick und nach kurzer Zeit machte sich ein breites Grinsen in seinem Gesicht breit

»Ihr Frauen seid schon seltsame Wesen. Ich werde euch wohl nie verstehen.«

»Das brauchst du auch nicht. Wir verstehen uns oft selbst nicht. Wenn du aber versuchen würdest, uns zu entdecken, wärst du schon weiter, als sehr viele andere Männer.«

»Okay, lassen wir das. Wie heißt du?«

»Paula.«

Er sah sie musternd an.

»Was du auch sonst über Yvonne denken magst, in einem hat sie recht, du bist superhübsch. Ja, du bist so unnahbar schön, dass ich nie gewagt hätte, dich von mir aus anzusprechen.«

»Jetzt übertreib mal nicht, du machst mich ganz verlegen.«

»Nein, wirklich, es ist wahr, und du glaubst gar nicht, was für ein Stein mir vorhin vom Herzen gefallen ist, als du sagtest, dass du nicht auf diese Etage abonniert bist. Hast du Lust, mit mir nach unten in den Biergarten zu gehen, da können wir uns besser unterhalten? Ich denke, hier oben sind wir beide ohnehin fehl am Platz.«

Paula atmete durch. Sie schloss die Augen und für einen kurzen Augenblick verschwand die Welt um sie herum, sie spürte lediglich wie ihr Herz heftig gegen die Brust schlug und sie nur noch Körper war, ohne Sinn und Verstand. Sie schüttelte sich leicht, kam wieder in die Wirklichkeit zurück und ergriff beherzt seine Hand, um mit ihm in den Biergarten zu gehen.

Sie unterhielten sich angeregt, tanzten und tranken reichlich. Paula wurde von Stunde zu Stunde mehr von der Männlichkeit, der ungewöhnlichen zartfühlend-herben Art dieses Mannes berauscht. Sie lauschte seinen Worten und seinen Geschichten, verliebte sich in seine Stimme, die wie eine süße Melodie in ihrem Ohr klang, in seine Erzählkunst, bis schließlich diese einzelnen Sinneswahrnehmungen in einen großen Gefühlsrausch zusammenflossen.

Sie blieben bis das fahle Grau des frühen Morgens die Nacht verdrängt hatte. Mark, nicht mehr ganz fahrtüchtig, ließ sein Auto stehen. Paula nahm ihn auf ihrem Fahrrad mit. Sie fuhr mit ihm, vom ersten morgendlichen Gezwitscher der erwachenden Singvögel begleitet, zu seiner Wohnung und radelte dann beschwingt nach Hause.

Sie lag lange wach im Bett und dachte über sich und das seltsame Wesen Frau in ihr nach: Da läuft einem so ein Kerl über den Weg und urplötzlich ist alles anders und die Erdkugel kommt ins Schlingern. Die Vergangenheit wird gegenstandslos, die Gegenwart übermächtig und die still gehegten Visionen nehmen Gestalt an und werden körperlich.

Paula stellte fest, dass jeder Satz, jedes Wort von Mark tief in sie eingedrungen und die Unterscheidung zwischen Wichtigem und Unwichtigem vollständig aufgehoben war, und sie glaubte, dass ihre Empfindungen, die diese Worte hervorgerufen hatten, ein Zeichen für etwas waren, das ihre Zukunft für immer bestimmen würde. Sie schien am Ziel ihrer Träume angekommen zu sein. Sie sah in Mark den Mann verkörpert, den sie sich als Mädchen ersehnt hatte und dem sie sich nun öffnen könnte, ohne Angst haben zu müssen, verletzt zu werden.

Paula dachte zurück an die Zeit, als sie ein zwölf-, dreizehnjähriges Mädchen war und von der großen Liebe geträumt hatte, und wie sie damals ihre verträumten Gefühle auf FCK, den Autor ihrer Indianergeschichten, übertragen hatte. Er war ihr großer Star, wie für andere Mädchen ihres Alters damals John Travolta oder Silvester Stallone. Sie war überzeugt, dass ein Mann, der über Liebe so einfühlend schreiben konnte, selbst zu solch großer Liebe fähig sein musste.

So schön die Welt war, die sie in ihren Büchern erlebte, so schwer war für sie aber oft die Wirklichkeit, das Erleben des Alltags, wenn sie sich angefeindet, unverstanden und ausgegrenzt fühlte. Je weniger Anerkennung sie fand, desto rebellischer und provozierender führte sie sich auf. Zu ihrem eigenen großen Unglück hinkte sie gleichaltrigen Mädchen körperlich fast um ein Jahr hinterher, was ihr zusätzliche Hänseleien einbrachte, mit denen sie zu kämpfen hatte. Die verzögerte körperliche Entwicklung war für sie besonders schmerzhaft, als sie in ein Alter kam, wo bei den meisten Mädchen der Busen zu wachsen begann, sich bei ihr selbst aber nichts dergleichen anbahnte. Sie war eifersüchtig und beneidete insgeheim diese Mädchen, die mit ihren Brüsten die Blicke der Jungen auf sich ziehen konnten, obwohl viele dieser Mädchen, wie sie glaubte, nicht so hübsch waren, wie sie selbst. Sie fühlte sich ungerecht behandelt, nicht nur von den Mädchen, sondern auch von den Jungen, die sie mit hochnäsiger Nichtbeachtung straften. Sie kapselte sich ab, zeigte beiden die kalte Schulter. Die Folge war, dass sie nicht nur bei den Mädchen, sondern auch bei den Jungen den Ruf hatte, empfindlich, unzugänglich und überheblich gleichermaßen zu sein. Sie galt bald als Einzelgängerin und Sonderling, hatte keine feste Freundin und war im Kreise Gleichaltriger oftmals unwillkommen.

Dieses Gefühl hatte sie nicht nur in diesem Kreis, sondern oftmals auch bei ihrer eigenen Mutter. Diese hatte ihr ein schwankendes Fundament mit auf den Lebensweg gegeben. Sie wuchs auf in einer Atmosphäre von permanentem Beziehungschaos. Männer gingen ein und aus, Eifersuchtsdramen wechselten ab mit Versöhnungen, der Verliebtheit ihrer Mutter folgten Niedergeschlagenheit und Depressionen, auf sexuelle Euphorie folgte oftmals berechnende sexuelle Verweigerung. Alles das spielte sich unmittelbar vor Paulas Augen ab, und sie war diesem Treiben ihrer Mutter wehr- und hilflos ausgeliefert. Bei den Erziehungsversuchen ihrer Mutter spielten Äußerlichkeiten, Körperlichkeit und die Herausbildung eines Bewusstseins, das die Frau auf ihre Sexualität reduzierte, eine weitaus wichtigere Rolle als die Herausbildung von Innerlichkeit, Charakterstärke und Intellekt. In einem Alter, wo die tiefgründige Suche nach Stabilität und Identität einem Höhepunkt zustrebte, wurde ihr vermittelt, dass das Glück der Frau wesentlich außerhalb ihrer selbst lag, nämlich in den Händen der Männer, und sie musste gleichzeitig über ihre Mutter die Erfahrung machen, dass dieses von den Männern gewährte Glück äußerst zerbrechlich war und zumindest bei ihrer eigenen Mutter nie zu dem erhofften Ergebnis geführt hatte.

Als bei ihr im vierzehnten Lebensjahr endlich die ersehnten Merkmale weiblicher Reife unübersehbar geworden waren, spürte sie, wie die Blicke der Liebhaber ihrer Mutter manchmal unverhohlen musternd zwischen ihrem Körper und dem ihrer Mutter hin und her gingen. Paula suchte sich selbst und fand sich als sexuelle Konkurrentin ihrer Mutter wieder.

Ihre Mutter hatte in dieser Zeit einen gutaussehenden, schwarzhaarigen Liebhaber, durchtrainiert und muskulös. Paula gefiel der Typus Mann und sie kokettierte mit ihm, wie Lolita in dem Buch von Nabokov, das sie gerade las. Sie merkte, dass er Interesse an ihr hatte. Sie spielte mit seinen Gefühlen und empfand einen eigentümlichen Reiz, als sie sah, wie ihre Mutter eifersüchtig auf dieses Spiel reagierte. Als ihre Mutter eines Abends außer Haus war, kam er in ihr Zimmer. Sie lag schon im Bett und las, wie immer, ein Buch. Er tat so, als wollte er gute Nacht sagen und murmelte ihr säuselnd etwas ins Ohr. Dann gab er ihr einen harmlosen Kuss auf die Stirn und fuhr ihr über das Haar. Plötzlich schob sich seine Hand unter die Bettdecke. Er streichelte ihren Körper, ihre Brüste, ihr Geschlecht. Sie lag regungs- und willenlos da. Er beugte sich abermals über sie, Himbeergeruch drang in ihre Nase, während er versuchte, seine Zunge in ihren Mund zu pressen. Dann versuchte er, auch in ihr Geschlecht einzudringen. Sie biss und kratzte, stieß ihn weg. Er gab sein Vorhaben auf und ließ sie mit sich allein.

Sie sagte ihrer Mutter nie etwas von diesem Geschehen. Sie schämte sich und hatte Schuldgefühle vor ihr, aber auch vor sich selbst. Sie war nicht nur verwirrt und fassungslos über die Tat dieses Mannes, der versucht hatte, sie zu vergewaltigen und die Mutter mit der Tochter zu betrügen, sondern auch darüber, dass sie uneingestandene, angenehme Gefühle hatte, deren sie sich schämte. Sie war erschrocken darüber, wie nah Fantasie, die Fantasie Lolitas, und Wirklichkeit, die Wirklichkeit von Lust und Begehren, beieinander lagen und wie schnell sich Spiel in Ernst verwandeln konnte.

Erst lange Zeit nach diesem Ereignis, als sie sich in ihrem jungen Körper als Frau eingerichtet hatte, verlor sie die Scheu vor begehrlichen Blicken und verspürte einen angenehmen Kitzel, wenn ihr Körper bei den Männern Wirkung zeigte. Sie gefiel sich in dieser Zeit in sexuell besonders aufreizenden und provokanten Posen. Sie fand es prickelnd, in engen Pullis mit tiefem Ausschnitt ohne BH durch die Straßen zu schlendern und die Blicke der Männer auf sich zu ziehen.

Die Neigung, sich und ihren Körper zu präsentieren, wurde dazuhin durch ihre Mutter gefördert. Als sie die ansehnliche Figur ihrer damals fünfzehnjährigen Tochter entdeckte, schickte sie sie auf einen Schönheitswettbewerb. Der Erfolg war mäßig, aber Paula hatte es genossen, sich im Bikini oder einem hautengen Kleid den geilen Augenpaaren der Männer im Parkett auszusetzen.

Aber das alles war Oberfläche. Sie hatte in sexuellen Dingen seit dem Vergewaltigungsversuch ein klares Bild von sich entwickelt und zu diesem Selbstverständnis gehörte, geduldig auf die große Liebe zu warten, so wie ihre Indianerheldin Tecumapese auf Kumskaka gewartet hatte. Es war ihr fester Entschluss, sich nur dem zu öffnen und nur mit dem Mann zu schlafen, der es in ihren Augen wert war, eine Jungfrau in seinen Armen halten zu dürfen. Diese Verweigerungshaltung, die sich allerdings nur auf die Penetration bezog und nicht auf sonstige sexuelle Praktiken, war ihr streng gehütetes Geheimnis. Kein Mensch sollte von dieser, wie sie selbst wusste, etwas altmodischen und anachronistischen Einstellung jemals Kenntnis erhalten – außer natürlich irgendwann einmal der Auserwählte, der ihren großen Glückstraum mit Leben füllen sollte.

Dieser Mann war nun in Gestalt von Mark in ihr Leben getreten. Er sollte es sein, dem sie sich öffnen würde.

Es war September geworden. Über ein Monat war vergangen, seit sie ihre große Liebe entdeckt hatte. Die wärmenden Sonnenstrahlen mobilisierten ihre letzten Kraftreserven, so, als ob sie trotzig dem mit großen Schritten herannahenden Frühherbst zeigen wollten, wer Herr im Haus ist. Sie hatte sich bei ihrem Großvater eingehackt und bummelte mit ihm am Mainufer entlang. Sie beobachteten die Enten und Schwäne auf dem Wasser und die kreischenden Möwen, die in der Luft ihre Flugkünste zeigten. Beim Städelmuseum setzten sie sich auf eine Bank, um sich von dem Fußmarsch von der Gerbermühle bis hierher zum Holbeinsteg auszuruhen.

»Du machst in letzter Zeit einen überaus glücklichen Eindruck, Paula«, fing ihr Großvater das Gespräch an.

»Ich bin glücklich.«