Mensch, sei Mensch! - Henning Schramm - E-Book

Mensch, sei Mensch! E-Book

Henning Schramm

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Beschreibung

Was sind die integrative und sinnstiftenden Urstoffe unserer Existenz? Wer sind wir und wie frei sind wir? Der vorliegende Essay-Band zu grundsätzlichen Fragen des Mensch-Seins wendet sich an interessierte Laien. Die Texte bieten einen guten Einstieg in den jeweiligen Themenbereich in klarer, übersichtlicher Form. Die oftmals komplexen Zusammenhänge sind leicht verständlich und spannend geschrieben. Das Buch enthält fünf Essays zu folgenden Themen-schwerpunkten: *Evolutionstherie und neueste Erkenntnisse der Neurobiologie - zur Bewusstseinsbildung. -*Die Entwicklung und Bedeutung von Glaubenssystemen und die Unfreiheit von Glauben. *Der Mensch zwischen Glauben, Vernunft und Poesie in Europa. *Die neoliberale Wirtschaftstheorie - eine Glaubensfrage? Die Finanz- und Wirtschaftskrise und Ansätze zu ihrer Überwindung.

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Was ist der Mensch?

Von der Naturgebundenheit zur Selbstbestimmung des Menschen

Materie des Lebens

Idee des Lebens

Der Mensch: Geist, Bewusstsein und kulturelle Intelligenz

Glaube, Mythos, Christentum

Über die Unfreiheit von Glauben

Glaube und Mythos

Das Christentum

Christentum versus Selbstbestimmung

Liebe in Zeiten Benedikts

Sakrale und profane Liebe: Wer bestimmt, was Liebe ist?

Freiheit und soziale Verantwortung

Glauben und Vernunft im Spannungsfeld kirchlicher und weltlicher Macht in Europa

Zum Verhältnis von Staat und Kirche in Europa

Säkularisierung und die Freiheit des Menschen

Verstand und Gefühl: Das moderne Bild des Menschen zwischen Vernunft und Poesie

Demokratischer Marktsozialismus (DMS)

Die Finanzkrise und Ansätze einer sozialen Ökonomie

No risk, no fun – die Eröffnung des Spielkasinos

Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode

Das Spiel ist aus Mr. Fuld

Die Erosion des Sozialen

Banken entmachten, Reichtum umverteilen, Demokratie erkämpfen

Leitlinien eines Demokratischen Marktsozialismus

Literaturhinweise

Einleitung

Heute, im Zeitalter von Gentechnik, von umwälzenden Neuerungen in der Informationstechnologie sowie einer um sich greifenden Globalisierung der Wirtschaft und Ökonomisierung der Gesellschaft, stellt sich die Frage nach der conditio humana mehr denn je. Die Idee der Aufklärung, die in der Einsicht begründet war, dass der Menschen im Vertrauen auf die Kraft seines vernünftigen Geistes sich selbst aus der Unmündigkeit und der Bevormundung durch weltliche und geistliche Autoritäten herauszuführen vermag, ist nach wie vor lebendig.

Wie in jener Zeit werden auch heute traditionelle Werte, Normen, Institutionen und die gesellschaftliche Verfasstheit insgesamt radikal in Frage gestellt und ihre Legitimation rationalen, vernunftgemäßen Kriterien unterworfen. Aber sind die Menschen im 21. Jahrhundert, die unvergleichlich tiefere naturwissenschaftliche Einsichten und Erkenntnisse in die Natur des Menschen haben, als alle Menschen jemals zuvor, heute freier und glücklicher? Was haben wir aus der Idee der Aufklärung gemacht? Haben wir uns von der ungerechtfertigten Bevormundung durch weltliche Autoritäten und geistlichen Dogmen tatsächlich befreit und sind mündige Bürger in einem frei verfassten Staat geworden? Wo liegen die Begrenzungen, wo die Gefährdungen für ein gutes, glückliches Leben heute, da wir in den westlichen Industriestaaten doch angeblich im materiellen Wohlstand leben und die Mehrzahl der Europäer von der Mühsal des täglichen Existenzkampfs enthoben ist?

Der abendländische Mensch – und um den geht es in diesem Essay-Band in erster Linie – ist wesentlich durch drei Grundbedingungen oder Meta-Phänomene bestimmt und geprägt worden.

Dies sind erstens die naturgegebenen Bedingungen des Menschen im Rahmen seiner evolutionären Entwicklung, die Frage nach dem Sinn des Lebens als solchem und der Spezifikation des menschlichen Lebens.

Das zweite Meta-Phänomen betrifft die Entstehungsbedingungen von Kultur und kultureller Evolution, der Frage nach dem Sinn von Glauben, Mythos, Spiritualität für die menschliche Gesellschaft.

Der dritte Pfeiler der Verfasstheit der Menschen in Europa heute ist die gesellschaftliche Ebene, die spezifisch europäische Lebensart, Zivilisation und Kultur, die sich im Spannungsfeld von kirchlicher und weltlicher Macht, von Rationalität, protestantischer (Arbeits-)Ethik und ökonomischem Denken historisch herausgebildet hat.

Alle diese Meta-Phänomene haben bis zum heutigen Tag große Wirkungen auf unsere Gesellschaft, unser individuelles Verhalten und unser Bewusstsein von Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Ohne Berücksichtigung dieser fundamentalen Bedingungen des Menschseins müssen die Fragen nach dem, was der Mensch ist, was ihn bewegt und treibt, was seinem Freiheitsgefühl und Autonomiebewusstsein Struktur gibt, fragmentarisch bleiben.

Eine prinzipielle Begrenzung der Freiheit und Autonomie erfährt der Mensch zunächst einmal durch seine tierische Herkunft, durch seine Eingebundenheit in die Naturprozesse allen Lebens. Diesem Aspekt wird in dem Essay ›Was ist der Mensch?‹ nachgegangen. Wie sind wir geworden, die wir sind? Wie hat sich Leben entwickelt und was sind die Begrenzungen des Lebendigen allgemein und des Menschen im Besonderen? Wer bin ich und inwieweit kann ich leben, der ich bin? Welchen Sinn hat Leben prinzipiell? Was ist Geist und was sind seine materiellen Grundlagen? Wie hat sich Bewusstsein und bewusster Geist mit der Fähigkeit zum Denken und der Hervorbringung von Kultur herausgebildet?

Grundsätzliche Fragen zum Menschsein also, welche die Wesensmerkmale des Menschen reflektieren. Eines Kultur-Menschen, der in freier, selbstbestimmter Verantwortung die Art und Weise seines Zusammenlebens sowie die grundsätzlichen Orientierungen und Werte aus dem Diskurs seiner Gesellschaftsmitglieder ableitet. Aber auch eines Menschen mit individuellen Bedürfnissen, mit Emotionen, mit Lust- und Glücksgefühlen, die, wie der bewusste Geist, integrative und sinnstiftende Wesensmerkmale des Menschlichen schlechthin sind.

In dem anschließenden Essay ›Glauben, Mythos, Christentum‹ wird der Versuch unternommen, die Entstehung und die Bedeutung von Glauben und Glaubenssystemen am Ursprung der Menschheitsgeschichte zu diskutieren. Es ist keine Gesellschaft auf der Erde bekannt, die nicht in irgendeiner Weise Mythen oder Glaubenssysteme hervor gebracht hat. In Europa entwickelte sich daraus das Christentum, das schließlich mit eiserner Hand und geistlichem Despotismus die Menschen viele Jahrhunderte lang geprägt und in geistiger Unfreiheit gehalten hat. Der totalitäre Herrschaftsanspruch und Dogmatismus insbesondere der katholischen Kirche führte dazu, dass Europa und seine Menschen viel Leid ertragen mussten, bis es schließlich den aufgeklärten Menschen in langen und oft auch blutigen Auseinandersetzungen gelang, die Macht, die die christlichen Kirche über die Menschen gewonnen hatte, einzudämmen. Die hegemoniale Herrschaft der Kirche über das Denken und die Seinsverfassung des Menschen musste einem säkularen Menschenbild Platz machen.

Der kirchliche Dogmatismus bezüglich der ›Weltwahrnehmung‹, der auch in die alltägliche, selbstbestimmte Lebensführung einzugreifen versucht, ist jedoch nicht von der Bildfläche verschwunden, sondern auch heute noch in der katholischen Kirche durchaus lebendig. In dem Essay ›Liebe in Zeiten Benedikts‹ wird solch ein Versuch der Rückgewinnung der begrifflichen Deutungshoheit durch die Kirche analysiert.

Als säkularer Machthaber wie auch als geistlicher Partner weltlicher Herrscher war die Kirche fast zweitausend Jahre ein wichtiger Pfeiler der europäischen Kultur, aber auch direkt und indirekt an der politischen und sozialen Unterdrückung der Freiheitsbestrebungen der Menschen in Europa nachhaltig beteiligt. Der übermächtige Einfluss der katholischen Kirche auf Politik und Gesellschaft wurde bis zum 17. Jahrhundert nahezu unhinterfragt akzeptiert. Europa musste einen langen, mit Religionskriegen gepflasterten Weg zurück legen, bis schließlich die Trennung von Kirche und Staat im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert politisch durchgesetzt worden war. In dem Essay ›Freiheit und soziale Verantwortung‹ wird diese geschichtliche Entwicklung Europas und dessen Fundamente, nämlich das römischen Rechtsdenken, die griechische Philosophie und das Christentum, beleuchtet. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den spezifischen Besonderheiten der europäischen Geschichte: der Kultur der Klöster, der Stadtkultur, der Universitäten als Ort geistiger Dispute, dem besonderen Verhältnis von Kirche und Staat und schließlich der geistigen und politischen Emanzipation Europas aus der Bevormundung durch die Kirche und den Feudalismus.

War es in der Vergangenheit der Glaubensdogmatismus der Kirche, der die Menschen in geistiger Unfreiheit gehalten hat, so scheinen heute die Gefährdungen der Freiheit und Selbstbestimmung durch die dogmatischen Glaubenssätze der neoliberalen (Un-)Kultur des ökonomischen Handelns ersetzt worden zu sein.

Diese Gefährdungen sind heute in erster Linie durch die Dominanz des Finanzkapitalismus zutage getreten und werden in dem Essay ›Demokratischer Marktsozialismus‹ behandelt. Dieser ausführliche Essay mit dem Charakter eines Manifestes führt den Leser unmittelbar bis in das Jahr 2012. Die demokratischen Errungenschaften der Aufklärung sind aktuell in starke Bedrängnis geraten. Die neoliberale Wirtschaftspolitik und die Finanzkrise bedrohen nicht nur den sozialen Wohlstand der europäischen Völker, sondern sie sind, so die These des Essays, eine Gefahr für die Demokratie und führen darüber hinaus zu einer sozialen Erosion der Gemeinschaft. Darf die Politik das, was wirtschaftlich effizient ist und unter rein ökonomischen Gesichtspunkten erfolgreich ist, zum Maßstab des Handelns machen? Nein, denn wenn man dieser Logik folgen würde, begäbe man sich in äußerst gefährliches Fahrwasser: Man könnte damit zum Beispiel auch die Sklaverei rechtfertigen.

Es scheint heute vielerorts so zu sein, dass der Glaube an eine gottgewollte Ordnung durch den Glauben an die Selbstregulierung der Gesellschaft durch marktwirtschaftliche Kräfte ersetzt und, um es ketzerisch zu sagen, das ökonomische Prinzip und Effizienz zum Götzen erhoben worden ist. Dieser marktwirtschaftliche Glaube, den Vogel Oikodizee1 nennt, ist durch die Finanzkrise 2008 nachhaltig ruiniert worden, genauso wie die Theodizee (Leibniz) – das Vertrauen in eine vernünftige, göttliche Weltordnung – durch das Erdbeben von 1755 in Lissabon zerstört worden ist. Jene Katastrophe markierte den Anfang vom Ende eines Glaubens, dass Gott alles zum Besten gerichtet hat, und auch die ersten Auflösungserscheinungen einer Ordnung, die auf eben diesem Glauben basierte. Wie damals die Vernunft anfing, die Welt zu erobern, sich Urteilskraft und Wissen gegen Glauben und Dogmen aufbäumten, so beginnt seit 2008, das ist meine Hoffnung, eine Art Säkularisierung und Entmachtung des neoliberalen Dogmatismus in der Welt Fuß zu fassen.

1 Joseph Vogel, Bloß keine neue Geldreligion, in: Frankfurter Rundschau vom 28. 9. 2011.

Was ist der Mensch?

Von der Naturgebundenheit zur Selbstbestimmung des Menschen

Materie des Lebens

Die evolutionäre Entwicklung des Lebendigen aus präbiologischen Systemen bis zu dem hochkomplexen Lebenssystem Mensch basiert auf physikalischchemischen Gesetzmäßigkeiten und die Naturwissenschaft kann mit berechenbarer Wahrscheinlichkeit zeigen, dass in dem Zeitraum von 4,53 Milliarden Jahren, so alt ist die Erde2, dieser evolutionäre Prozess von anorganischer Materie über einfache Lebenssysteme bis hin zu komplexen lebenden Organismen theoretisch und praktisch stattgefunden haben konnte. Leben ist also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit innerhalb des geophysikalischen Systems der Erde beziehungsweise des Kosmos entstanden.

Leben bekommt aus evolutionärer Perspektive Sinn erst durch sein Gegenteil, den Tod. Die Vergänglichkeit und die zeitliche Bedingtheit des Lebendigen sind konstitutiv für die Evolution und die Herausbildung immer komplexerer lebendiger Systeme. Man braucht schon sehr viel Phantasie, sich vorzustellen, wie unser Planet aussehen würde, wenn das Prinzip der Endlichkeit des Lebens keine Gültigkeit hätte. Die einzelnen Organismen würden sich ins Unendliche vermehren. Die Räume und die Reproduktionsmöglichkeiten für bestehende und nachkommende Generationen würden im Laufe der Zeit vollständig blockiert werden, so dass, um zu überleben, den nachkommenden Organismen theoretisch nur die Möglichkeit bliebe, genetische Baupläne zu entwickeln, die dazu befähigen, andere lebende Organismen zu töten, was zu einem furchtbaren Gemetzel aller gegen alle führen würde. Oder aber die Organismen würden ab einem definierbarem Zeitpunkt aus ‘Nahrungsmangel’ alle sterben.

Der in allen lebenden Organismen genetisch verankerte Alterungsprozess, über den bisher nur unvollständige Kenntnisse vorhanden sind, und die mit der Alterung einhergehende Sterblichkeit ist Bedingung für die hohe Zahl und die hohe Vielfalt an Lebensformen und Fähigkeiten der Organismen. Die Sterblichkeit lebender Systeme als solche ist aber nicht notwendigerweise konstitutiv für Leben. Wir wissen nicht, ob es bei der ersten Herausbildung des Lebendigen nicht vielleicht Leben gegeben hatte, das unsterbliche Eigenschaften hatte. Was wir wissen, ist, dass, falls es solches Leben gegeben haben sollte, dieses Lebenssystem ausgestorben ist. Vorstellbar wäre zum Beispiel, dass die Reproduktionsfähigkeit des Organismus verkümmerte, weil ja wegen dessen Unsterblichkeit diese Fähigkeit keine Bedeutung mehr hatte. Dieser Organismus verlor dadurch die Fähigkeit, sich veränderten geophysikalischen Bedingungen schnell genug anpassen zu können. Eine Naturkatastrophe oder eine dramatische Veränderung der geophysikalischen Gegebenheiten könnten dann dieses eigentlich unsterbliche Lebenssystem unwiederbringlich zerstört haben.

Überlebt haben die Lebenssysteme, die sich eine schnelle Reproduktion und eine damit einhergehende flexiblere Anpassung an geophysikalischen Umweltveränderungen erhalten haben. Dies waren offenbar Lebenssysteme, für die die Sterblichkeit konstitutiv war, weil dadurch die Selektion der reproduktionsfähigsten Systeme gefördert wurde. Neben der organismuseigenen Fähigkeit zum Stoffwechsel, ohne den keine Energie zur Erweiterung, Umformung und Erneuerung des zellulären Organismus zur Verfügung stehen würde, ist ein reproduktionsfähiges System aus evolutionärer Perspektive aber nur dann sinnvoll, wenn die Art der Vermehrung Veränderungen des Erbmaterials und damit Umweltanpassungen zulässt. Den größten Selektionsvorteil hätten danach Lebenssysteme, die einerseits die Stabilität des sich selbst regulierenden Organismus garantieren und andererseits die größtmögliche Variabilität im Hinblick auf veränderte Umweltbedingungen ermöglichen.

Der geniale ›Trick‹, der sich in der Natur heraus selektiert hat, ist, dass keine Entitäten, keine vollständigen Körper oder Formen reproduziert werden (die nur geringe Flexibilität hätten), sondern die ›Idee‹, die Anweisung, der Plan von einer Entität. Dieser Plan, niedergelegt in einer Art genetischem Schriftstück, ist im Rahmen bestimmter Parameter flexibel, veränderungs- und entwicklungsfähig, ohne die Grundstruktur des reproduzierten Organismus zu zerstören. Was wir heute beobachten können – die millionenfache Artenvielfalt und hochkomplexen Ausdifferenzierungen einzelner Organismen –, ist die Erfolgsgeschichte dieser ›Erfindung‹ der Natur, auf die nachfolgend etwas genauer eingegangen wird.

Noch Hippokrates stellte sich die Reproduktion zum Beispiel einer Tanne so vor, dass in einem Samenkorn einer Tanne eine vollständig ausgebildete Miniatur-Tanne enthalten sei, dass also bei der Vererbung fertige Organismen weitergegeben würden, die sich im weiteren Leben des Organismus nur vergrößern würden. Heute sind wir schon etwas weiter in die biochemischphysikalische Prozesse und Strukturen der Reproduktion und der Evolution der Arten eingedrungen und wissen, dass eben keine vollständigen Organismen und auch keine einzelnen Bausteine eines Organismus, sondern eine Art chemisch-physikalische ›Festplatte‹, auf der Informationen, die Idee eines Bauplans für einen spezifischen Organismus abgespeichert sind, die an die nächste Generation weitergegeben wird. Neueste Forschungen der Epigenetik lassen vermuten, dass auch die Gene selbst möglicherweise über ein ›Gedächtnis‹ verfügen, also Außenreize aus der Umwelt unmittelbar aufnehmen und Wissen ansammeln können. Das, was unsere Eltern und Großeltern erlebten, könnte ihre Nachkommen noch Jahrzehnte später unmittelbar beeinflussen, obwohl sie diese Dinge selbst nie erfahren haben3.

Physikalisch-chemisch gesehen kann Leben als ein Vorgang definiert werden, bei dem energiereiche Verbindungen in energiearme umgewandelt werden, wobei die Energiedifferenz für Wärme und zum Aufbau neuer und vermehrungsfähiger Systeme komplexer Organisationen verwendet wird. Kennzeichnend für das Leben ist also nach dieser Definition Stoffwechsel und Vermehrung eines Organismus. Diese rein materialistische Betrachtungsweise von Leben wird der Wirklichkeit des Lebens nur sehr unzureichend gerecht. Ein lebender Organismus ist mehr als strukturierte Materie, er basiert vielmehr auf einem komplexen System von Bauplänen und dazugehörenden Bausteinen. In den Bauplänen ist die Idee, der Informationsgehalt dessen, was werden soll, archiviert. Die Bausteine (zum Beispiel Eiweißmoleküle) bilden das für die Synthese oder die Materialisierung der Idee notwendige Material und energetische System.

Man kann sich das etwa wie den Bauplan eines Architekten für ein Haus vorstellen. Dieser Plan enthält alle wesentlichen Informationen, um ein Haus an jedem Ort und zu jedem Zeitpunkt erbauen oder wieder erbauen zu können. Mit einem Bauplan einer Kirche aus dem Mittelalter zum Beispiel, der in einer Bibliothek archiviert war und dessen (Zeichen-)Sprache wir verstehen, könnte heute die Kirche exakt so wieder erbaut werden wie vor tausend Jahren. Sie könnte aber auch modifiziert werden, um zum Beispiel moderne Materialien und energiesparende Arbeitsmethoden nutzen zu können, bliebe aber im Wesentlichen und der äußeren Erscheinung nach der mittelalterlichen Kirche gleich.

Vererbt auf die nächste Generation wird also, wie bereits gesagt, zunächst eine Art Dokument, in dem die Idee eines Bauplans niedergelegt ist. In einem zweiten Schritt materialisiert sich diese Idee und tritt uns als sinnlich wahrnehmbares Phänomen gegenüber. Der Zusammenhang von Idee und materiellen Erscheinungen hat die Philosophie von Platon bis Kant beschäftigt. Dieser Aspekt wird etwas später nochmals aufgegriffen. An dieser Stelle soll lediglich auf die Analogie philosophischer und naturwissenschaftlicher Betrachtungsweisen hingewiesen sein4.

Ich möchte hier den Aspekt von Idee und Materie am Ursprung organischen Lebens vorerst unter drei genuin naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten weiter verfolgen, die für das Verständnis von Leben und damit auch des Menschseins im erdgeschichtlich evolutionären Prozess wichtig sind.

Erstens: Jede Idee oder jeder Bauplan bedarf einer Sprache, Begrifflichkeit und Regeln, die archivierbar, vermittelbar und verstehbar sein müssen, damit der in einer Idee enthaltene Zweck erfüllt werden kann. Daraus ergibt sich die Frage, wie das Archiv des Lebendigen aussieht, in dem die Idee von der Form und dem Inhalt des Ganzen und den Regularien seiner Entstehung abgespeichert ist?

Zweitens: Wenn solche Baupläne des Lebens lokalisiert und deren chemischen Eigenschaften analysiert werden können (was ja heute der Fall ist), lässt sich dann mit naturwissenschaftlich hinreichender Wahrscheinlichkeit sagen, dass solch ein Bauplan unter den chemisch-physikalischen Gegebenheiten und Eigenschaften präbiologischer Systeme überhaupt entstehen konnte (wenn dies bejaht werden kann, wäre es ein Argument mehr gegen den Schöpfungsdogmatismus der Kirchen). Da nur relativ genau datierbare Zeiträume sowie nicht beliebiges Material und Kräfte für diese Entwicklung zur Verfügung standen, ist es keinesfalls zulässig, für die Entstehung des Lebens beliebig wahrscheinliche Ereignisse vorauszusetzen.

Drittens: Ist dieser Nachweis erbracht, muss schließlich gezeigt werden, dass die evolutionäre Entwicklung lebender Organismen von einfachen bis zu hochkomplexeren menschlichen Organismen und Zellstrukturen, in dem fest vorgegebenen Zeitrahmen prinzipiell stattfinden konnte.

Der entscheidende Punkt der Lebensentstehung ist, dass geeignete Trägermoleküle vorhanden sind, in denen sich Informationen ansammeln können, durch die chemische Vorgänge in bestimmte Bahnen gelenkt und katalysiert werden. Damit eine Weiterentwicklung stattfinden kann, müssen zudem diese Informationen auf andere Moleküle übertragbar und durch äußere Einflüsse modifizierbar sein. Damit ist der Anfang der Evolution eingeleitet.5 In dem Augenblick nämlich, in dem eine wechselseitiger Austausch einsetzt, findet ein Selektion in dem Sinne statt, dass aus einer größeren Zahl von Nukleinsäureketten diejenigen bevorzugt vermehrt werden, bei denen die Informationsübertragung am sichersten und schnellsten verläuft.

Belebte Materie besteht aus einer Zelle oder einem Verband von mehreren Zellen, die vermehrungs- und stoffwechselfähig sind. Das Entstehen einer bestimmten Zellstruktur, also eines speziellen Organismus, wird durch die in der DNS (Desoxyribonukleinsäure) gespeicherten Informationen, die chemische Reaktionen zur Entstehung bestimmter Molekülstrukturen initiieren (wie zum Beispiel der Proteine), gelenkt. Gewünschte Reaktionen werden unterstützt, unerwünschte unterdrückt. Die Nukleinsäure stellt also das Archiv dar, in dem die Baupläne des Lebens niedergelegt sind und die Entstehung materieller Formen und Strukturen gesteuert wird.

Die Anweisung über den Bau zum Beispiel der Proteine ist in der DNS in einer Art alphabetischer Schrift aufgezeichnet. Das Alphabet des genetischen Codes besteht aus vier Buchstaben6, die in Dreiergruppen aneinander gereiht sind. Anstelle von Worten mit variabler Buchstabenzahl unserer Sprache, kennt der genetische Code also nur ›Wort‹-Gruppen mit je drei ›Buchstaben‹, sogenannte Tripletts, die jeweils den Anfang beziehungsweise das Ende einer Informationseinheit markieren. Je nachdem wie die Tripletts aneinander gereiht sind, ergeben sich unterschiedliche ›Sätze‹ mit einem ganz spezifischen Informationsgehalt, der den Aufbau des Organismus steuert. 7

Wenn Nukleinsäuren8 und Proteine entscheidend für Leben sind, stellt sich die Frage: waren zu Beginn der Erdgeschichte Substanzen auf der Erde, wie zum Beispiel nukleotid-ähnliche Substanzen, energiereiche Phosphate und Kohlenhydrate, die zur Bildung von Nukleotiden und Proteinen notwendig sind?

Neuere Theorien weisen auch auf kosmische Entstehungsmöglichkeiten von Aminosäuren hin. In neueren experimentellen Untersuchungen, bei denen der Kern eines Kometen nachgebaut und entsprechenden Weltraumbedingungen ausgesetzt wurde, konnte im Jahre 2002 ein Forscherteam vom Max-Planck-Institut für Aeronomie 16 Aminosäuren nachweisen.

Idee des Lebens

Leben ist seinem Wesenskern nach ein autonomes, selbsterhaltendes und -regulierendes, wandlungs- und erfahrungsfähiges System mit eigenem Stoffwechsel und Energiehaushalt zum Aufbau, der Erhaltung sowie der Fortpflanzung seiner Art.

Im Folgenden soll versucht werden, kurz zu erläutern, welche Bedeutung diese Definition für die Idee des Lebendigen hat.

›Autonom‹ bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der lebende Organismus ein in sich geschlossenes System darstellt, das unabhängig von anderen Organismen existieren kann. Ein Virus würde in dieser Definition eine Zwitterstellung einnehmen, da es selbst keine Energie erzeugen kann, keinen eigenen Stoffwechsel hat und zur Fortpflanzung einer Wirtszelle bedarf. Stirbt die Wirtszelle oder befindet sich das Virus längere Zeit außerhalb der Wirtszelle, kann es nicht überleben. Allerdings kann es sich innerhalb der Wirtszelle fortpflanzen und seine Gene weitergeben, was sich in den verschiedenen Viruserkrankungen manifestiert.

Aufgabe eines jeden lebenden Organismus ist es, durch Sicherung der inneren Stabilität des organischen Systems sich selbst als fortpflanzungsfähige Entität zu erhalten. Wird der Bestand durch innere oder äußere Einflüsse gefährdet, muss das organische System fähig sein, darauf zu reagieren und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Stabilität wieder herzustellen.

Alle lebenden Organismen benötigen daher einen Regelkreis mit negativer Rückkoppelung (Homöostase). Das heißt, dass bei Überschreitung eines Toleranzrahmens in irgendeinem Bereich der organischen Entität, der die Existenz des Organismus oder die arterhaltende Leistung einzelner Systemmerkmale gefährden würde (Krankheit), ein ›selbstmindernder‹ Regler eingebaut ist, der das System wieder in die Ausgangssituation, in der das System stabil ist, zurückführt. Die Regelung durch so genannte Regelkreise oder Homöostasen10 ist eine Struktureigenschaft aller höher integrierten organischen Systeme.