Die Welt in Unruhe - Henning Schramm - E-Book

Die Welt in Unruhe E-Book

Henning Schramm

0,0

Beschreibung

Soziale Kälte und heiße Kriege, Vertrauensschwund mit Blick auf die Demokratie und ihrer Institutionen, Klimawandel und wirtschaftliche Unsicherheiten zeichnen ein düsteres Bild. Insbesondere befindet sich Deutschland mit dem Erstarken der AfD in einer tiefen politischen Krise. Das Versprechen der Demokratie, Menschlichkeit, Wohlbefinden und Wohlstand zu ermöglichen ist ins Wanken geraten. Populisten, Autokraten und Faschisten versuchen die Situation für sich zu instrumentalisieren. Neo-feudale kapitalistische Konzepte werden wieder hoffähig, angetrieben vor allem auch durch die antidemokratischen, radikalkapitalistischen US-Populisten Trump und Musk und andere Rechtspopulisten in Europa und der Welt. Das Buch greift in insgesamt zwölf Essays diese Probleme unter dem Kantschen Blickwinkel Was ist der Mensch, Was kann ich tun und Was darf ich hoffen auf und unterzieht sie einer detaillierten, kritischen Betrachtung. Der Band untersucht die derzeitige politische Situation im Spannungsfeld von Individuum, Demokratie, Kapitalismus und Populismus unter sozialpsychologischen, soziologischen, philosophischen und ökonomischen/kapitalistischen Aspekten. Was sind die Wünsche und Bedarfe der Menschen? Was muss sich ändern? Was kann die Demokratie dazu leisten? Wie müsste eine demokratieadäquate Ökonomie aussehen? Was gefährdet Demokratie? Was kann die Politik, die Gesellschaft und jeder Einzelne dafür tun, diesen Gefährdungen entgegenzuwirken und ein menschenwürdiges Leben in Zukunft zu ermöglichen? Das Buch wendet sich an politisch interessierte Leserinnen und Leser, die wissen wollen, wie Populismus funktioniert, warum er funktioniert und die Welt in den Autokratismus drängt. Es analysiert die Beziehung von Populismus und Kapitalismus und versucht den Blick für neue Handlungsansätze zu schärfen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 189

Veröffentlichungsjahr: 2025

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ÜBER DAS BUCH

Die Welt ist in Unruhe. Soziale Kälte und heiße Kriege, Vertrauensschwund mit Blick auf die Demokratie und ihrer Institutionen, Klimawandel und wirtschaftliche Unsicherheiten zeichnen ein düsteres Bild. Insbesondere Deutschland befindet sich mit dem Erstarken der AfD in einer tiefen politischen Krise. Das Versprechen der Demokratie, Menschlichkeit, Wohlbefinden und Wohlstand zu ermöglichen ist ins Wanken geraten. Populisten, Autokraten und Faschisten versuchen die Situation für sich zu instrumentalisieren. Neo-feudale kapitalistische Konzepte werden aus der Mottenkiste ausgepackt, angetrieben vor allem durch die antidemokratischen, marktradikalen US-Populisten Trump und Musk und andere Rechtspopulisten in Europa und der Welt.

Der Essay-Band greift diese Probleme unter dem Kant’schen Blickwinkel Was ist der Mensch, Was kann ich tun und Was darf ich hoffen auf und unterzieht sie einer detaillierten, kritischen Betrachtung und analysiert die Auswirkungen der derzeitigen politischen Situation für den Einzelnen und die demokratische Gesellschaft im Spannungsfeld von Individuum, Demokratie und Kapitalismus.

Was sind die Wünsche und Bedarfe der Menschen? Wie sieht der gesellschaftlichen Rahmen aus, in der sich die Wünsche der Menschen realisieren können? Was muss sich ändern? Was kann die Demokratie dazu leisten? Wie müsste eine demokratieadäquate Ökonomie aussehen? Was gefährdet Demokratie? Was kann die Politik, die Gesellschaft und jeder Einzelne dafür tun, diesen Gefährdungen entgegenzuwirken und ein menschenwürdiges Leben in Zukunft zu ermöglichen?

Informationen zum Autor und seinen Buchveröffentlichungen finden Sie am Schluss des Buches und unter

www.henningschramm.de

Für Ute

Homo sapiens

Der homo sapiens ist wirklich weise

In seinen Reden und Schriften.

Mit welch unerhörtem Fleiße

Hört man ihn ständig Frieden stiften

Und immer nur zum Besten raten.

Schon beinah göttlich in der Theorie,

Ist er in seinen Taten –

(Oft) dümmer als das Vieh.

Gerhard Schramm

Inhalt

Einleitung:

Die Welt in Unruhe

I Conditio humana

1 Was ist der Mensch?

2 Die Freiheit des Willens

3 Der Sinn des Lebens

II Was soll ich tun?

4 Gesellschaft und Emanzipation Kritische Theorie: Türöffner für eine bessere Praxis

5 Demokratie braucht Menschlichkeit und nicht Kapital

III Gefährdungen der Demokratie durch Populismus

6 Reflexionen über ein beschädigtes Leben am Beispiel der Corona Pandemie

7 Autoritarismus versus Demokratie Die Bedrohung der Demokratie durch Populismus

8 Eine kleine Philosophie der Lüge

9 Identität und Differenz

10 Wider den autokratischen Zeitgeist

IV Was darf ich hoffen?

11 Mehr Mut zu neuem Denken

12 Demokratie und die europäische Vision

Einleitung: Die Welt in Unruhe

Globalisierung, Internet und Informationstechnologie, Klimawandel, politische und soziale Verwerfungen und Kriege werden flankiert von einer fortschreitenden Kapitalisierung aller Lebensbereiche, in deren Gefolge sich neoliberale und neofeudale Marktwirtschafts- und Marketingprinzipien nahezu ungebremst ausbreiten und immer größere Teile der Erde umfassen. Begleitet wird dieser Trend von einem immer stärker um sich greifenden Lebensgefühl der Beliebig- und Unstetigkeit. Es manifestiert sich als Verlust von Stabilität und dem damit verbundenen Schwund von Gewissheiten und Orientierungskonstanten. Aber nicht nur die Instabilität wächst, auch das Tempo der Veränderungen hat an Fahrt zugelegt und umfasst immer mehr Lebensbereiche. Das, was gestern Gültigkeit besaß, ist heute überholt und morgen vielleicht schon wertlos, Abfall der Geschichte. Instabilitäts- und Globalisierungstendenz überlagern und verstärken sich gegenseitig. Dies hat möglicherweise explosive Auswirkungen auf das soziale und psychische Leben der Menschen nicht nur in den einzelnen Nationalstaaten, sondern auch für die Stabilität der Weltgemeinschaft insgesamt.

Das gegenwärtige Lebensgefühl, das sich im Zeitgeist spiegelt, ist geformt durch Vergangenheit und die Erwartungen an die Zukunft. Alle drei Ebenen des Daseins sind sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf individueller Ebene eng miteinander verwoben, sodass ohne Berücksichtigung dieser drei Zeitdimensionen Aussagen über die gegenwärtige Gesellschaft sowie Erkenntnisse darüber, wie Gesellschaft funktioniert unvollständig bleiben müssen. Eng damit ist die Frage nach dem Wesen des Menschen verbunden, da ohne Kenntnisse der Natur und Bedarfe des Menschen eine Entscheidung darüber, was für den Menschen gut und welche Gesellschaftsform für ihn adäquat ist, ohne Substanz ist. Der Aufklärer und Philosoph Kant, dessen 300. Geburtstag letztes Jahr gefeiert wurde, hat die Frage nach dem Wesen des Menschen (Was ist der Mensch) in den Mittelpunkt seiner Philosophie gestellt und die Klärung dieser Frage mit drei weiteren Fragen verbunden: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?

Die Verknüpfung der drei Fragen beruht auf der Grundannahme, dass die Verbindungslinie von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowohl durch Kausalität als auch Offenheit gekennzeichnet ist. Man kann Zukunft nur denken unter der Annahme, dass sie in irgendwie erwartbarer Art und Weise aus der Vergangenheit und Gegenwart hervorgeht. Die Gegenwart wie auch die Zukunft können so sein, wie sie sind, sie hätten aber auch anders sein können. Sie sind beeinflusst durch geschichtliche Gründe, aber sie sind nicht determiniert durch diese Gründe.

Gesellschaftliches und individuelles Handeln ist wesentlich Kontingenzbewältigung und basiert auf der These einer Nichtnotwendigkeit des Soseins des Bestehenden und der prinzipiellen Offenheit der Zukunft. Ein Denken in die Zukunft überschreitet Grenzen und begreift das Neue als etwas, das bereits in der Geschichte angelegt war und im Gegenwärtigen vermittelt ist.

Es stellt sich also allgemein die Frage nach dem Bedingungsrahmen meines Handlungspotenzials, an was kann ich mich in meinem Tun orientieren und was kann ich von meinem Tun erhoffen und erwarten. Handeln ist ohne Erwartungen an die Zukunft und Antizipation von Zielen nicht möglich. Da unser Wissen über die Welt immer unvollständig ist, vollzieht sich unter diesen Voraussetzungen das Handeln und das Urteilen, das einer Handlung vorweggeht, immer unter Unsicherheit. Irrtümer und Fehleinschätzungen geschehen, weil man urteilen muss, obgleich man nicht alles weiß, was dazu erfordert wird. Das macht die Handlungsentscheidung schwer und braucht Mut.

Um unter den Bedingungen, nicht alles wissen und trotzdem Ziele und Erwartungen an eine zukünftige Gesellschaft formulieren zu können, die einem intersubjektiven Willen entsprechen, braucht es etwas, was allen Menschen gemein ist, und einen Wert in sich hat, der konsensfähig ist.

Das ist einmal die Vernunft, die jeden Menschen auszeichnet, und zum anderen die prinzipielle Freiheit und Würde eines jeden einzelnen Menschen von Geburt an. Sich selbst Gesetze oder ‚Prinzipien‘ zu geben, ist die ethische Erfüllung der menschlichen Freiheit. Daraus leitet etwa Kant den Satz ab: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person erkennst als auch in der Person eines jeden anderen und diese andere Person einen Zweck in sich hat und niemals bloß Mittel ist. Jeder einzelne Mensch steht demnach für die gesamte Menschheit und eine universal geltende Ethik, unter die wir heute die universalen Menschenrechte subsumieren. Daraus leitet sich die für alle Menschen geltende Zielsetzung ab, gesellschaftliche Bedingungen herzustellen, die menschengerecht sind und es dem Individuum ermöglichen, Eigenverantwortung zu übernehmen und unter Berücksichtigung der anderen selbstbestimmt sein Leben zu gestalten.

Die Gesellschaft steht also auf dem Prüfstand, ob sie Wissensaneignung, Wahrheitsfindung, vernünftige Willensentscheidungen, autonomes Handeln und Freiheit ermöglicht.

Rousseau sah die Menschen überall in Ketten, obwohl sie frei geboren waren. Sie müssen mutig ihre Freiheit erkämpfen und bewahren. Wer sich selbst zum Wurm macht, darf sich nicht wundern, wenn er getreten wird. Die Aufklärer der damaligen Zeit richteten sich gegen eine bis dahin als gottgegeben angesehene Ordnung, in der Kirche und Monarchie die Menschen in Unfreiheit hielten. Beide repräsentierten eine Ordnung, die von unhinterfragbaren Mächten und Institutionen gestützt wurde. Dieses Tabu wurde in der Zeit der Aufklärung durchbrochen und gesellschaftspolitische Ziele wie mehr persönliche Handlungsfreiheit (Emanzipation), Bildung, Bürgerrechte, allgemeine Menschenrechte und Gemeinwohlorientierung des Staates wurden als neue mögliche gesellschaftliche und individuelle Lebensziele formuliert, die durch vernünftiges Handeln erreicht werden können.

Vernunft als eine spezifisch menschliche Fähigkeit ist allen Menschen angeboren und erlaubt es dem menschlichen Geist, seine Bezüge zur Realität zu organisieren und in einen diskursiven, rationalen und logischen Erkenntniszusammenhang zu stellen (zwei Dinge können nicht gleichzeitig richtig und falsch sein). Der Verstand muss durch Bildung befähigt werden, Dinge richtig zu erkennen und zu beurteilen und zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden. Um emanzipatorisch handeln zu können, müssen wir uns vermittels Vernunft und Verstand erarbeiten, wie die Welt funktioniert, was gut und schlecht ist. Fakten sind blind. Sie können das eine oder das andere bedeuten. Sie gewinnen Wert und Klarheit erst durch den Zusammenhang, in dem sie stehen. Wenn wir zu der Einsicht gelangen, dass etwas schlecht ist, sind wir aufgefordert, in eigener Verantwortung so zu handeln, dass wir die Ursache einer Handlung sind – und sollen das Handeln nicht an außer uns stehende Mächte delegieren.

Ziele, Antizipation von Zukunft und Handlungspotenziale ergeben sich nicht in einem luftleerem Raum, sondern aus kritischer Betrachtung des Hier und Jetzt unter Berücksichtigung der Bedürfnisse des Menschen.

Die erste grundsätzliche Frage unter dem Blickwinkel der ‚conditio humana‘ ist dann: Was sind die Bedarfe und Bedürfnisstrukturen, die allen Menschen gemein sind? Wie sehen sie aus und welche Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Gesellschaft ableiten?

Aufbauend auf diesen grundsätzlichen Fragen zum Menschsein, wird der Frage nachgegangen, wie der gesellschaftliche Rahmen, in dem wir diese Ziele realisieren zu können, aussieht. Welche Staatsformen bieten sich an? Was ermöglicht uns die Demokratie und was gefährdet Demokratie? Was kann, was soll der Staat und jeder Einzelne dafür tun, diesen Gefährdungen in Form von Lügen, Tatsachenverdrehungen, Drohungen, Hass und Hetze, Kraftmeierei und kapitalistischen Systemimperativen entgegenzuwirken und ein menschenwürdiges Leben in Zukunft zu ermöglichen?

I CONDITIO HUMANA

1 Was ist der Mensch?

Der Begriff ‚Conditio humana‘ bezieht sich auf die Grundbedingungen des menschlichen Seins und verweist auf die Endlichkeit und Verletzlichkeit menschlicher Existenz. Er beleuchtet die Bedingtheit und besondere wechselseitige Abhängigkeit der Menschen in einer Welt relativer Geschlossenheit und Begrenztheit, ebenso wie auf die Möglichkeiten und die Freiheit auf eine bestimmte Art und Weise zu sein und sein Leben zu gestalten.

Denis Diderot, ein wichtiger Vertreter der Aufklärung, hat den Lebenslauf aus seiner Zeitperspektive mit scharfer Zunge so beschrieben: Blöde geboren werden, unter Schmerzen und Schreien; Spielball von Unwissenheit, Irrtum, Not, Krankheiten, Bosheit und Leidenschaften sein; Schritt für Schritt zurückkehren zur Blödheit; vom Kleinkindergebrabbel zum Altersfasel; leben inmitten von Halunken und Scharlatanen; sterben zwischen einem Quacksalber, der einem den Puls fühlt, und einem Pfaffen, der einem das Hirn verwirrt; nicht wissen, woher man kommt, warum man gekommen ist, wohin man geht; das nennt man also das wichtigste Geschenk unserer Eltern und der Natur: das Leben.

Man kann das Leben so beschreiben wie Diderot, aber Leben ist sicher etwas mehr als das, was er hier sarkastisch, kurz und bündig über das Leben schreibt. Ich will versuchen, das Leben etwas breiter aufzufächern. Hannah Arendt versteht Leben als einen biologischen Lebensprozess, den Stoffwechsel, das sich immer verzehrende und immer erneuernde Leben der Gattung homo sapiens, den großen Kreislauf der Natur. In der Tätigkeit des Arbeitens, das Ruhens, Verzehrens, Konsumierens, Spielens, Zeugens nehmen wir an diesem Leben teil. Als Weltwesen erschaffen und gestalten wir eine künstliche, kulturelle Welt von Dingen.

Aus evolutionär-anthropologischer Perspektive liegt der Ursprung und Schlüssel der kulturellen Evolution des Menschen in dem »sozialen Ur-Talent«, der Soziabilität des Menschen begründet. Die spezielle Weise, wie Menschen lehren, lernen, zusammenarbeiten und einander helfen, unterscheidet uns ›ultra-soziale‹ Wesen von allen andern sozialen Tieren. Wir arbeiten also von Natur aus gerne mit anderen zusammen. Auch anderen zu helfen, Hilfsbereitschaft zu zeigen, liegt in unserer Natur. Basis eines solchen Verhaltens ist Vertrauen und Wir-Bewusstsein, das an der Wiege des modernen Menschen stand, und das den Homo sapiens zur kulturellen Intelligenz, zu einer einzigartigen Weitergabe von Erlerntem und kumulativer Kultur befähigte. Der Mensch ist im Kern also Kultur- und Sozialwesen.

Mit der kulturellen und neurophysiologischen Evolution bis zum homo sapiens war eine entscheidende Wende in der Entwicklung des Organismus verbunden. Der lebende Organismus war in der Lage, sich selbst zu reflektieren. Er konnte den Bauplan seiner selbst sichtbar und seiner Erfahrung und seinem Erkenntnisapparat zugänglich machen. Er konnte die Idee dieses Bauplans, die seine Existenz begründet, reflektieren und beginnen, über sein Leben nachzudenken. Der Mensch, mit all seinen spezifischen physiologischen Besonderheiten wie dem Skelettbau, der differenzierten Sprachentwicklung und der ‚theoretischen Kultur‘, ist am vorläufigen Ende der evolutionären Entwicklung des Lebendigen befähigt worden, ein Bewusstsein vom Ich herauszubilden. Ein Ich, das den Raum, die Klammer aller Erkenntnisse bildet. Das Bewusstsein, lokalisiert in Milliarden von Hirnzellen und ihren Verknüpfungen, synthetisiert die gedanklich präsente Erfahrung zu einer aufeinander bezogenen Einheit (Entität). Grundlage dieses Ichbewusstseins ist also das gespeicherte Wissen über die Summe der subjektiven Erfahrungen, die in unserem Gehirn gespeichert sind und bei Bedarf abgerufen werden können.

Die Erfahrbarkeit der Welt ist durch die Ausstattung des Organismus mit Sinneszellen begrenzt. Nur das, was mit den Sinnen erfahrbar und im Gehirn abgespeichert und erinnert werden kann, bildet die Erfahrungsebene des Ich, ist subjektiv wirklich. In diesem Prozess der Verarbeitung von Sinneseindrücken entsteht die Vorstellung von Welt – und vom Ich inklusive. Um mit Kant zu sprechen: Der Mensch bildet die Welt entsprechend der Struktur seines Denkvermögens und Erkenntnisapparats (Vernunft), gibt den ungeordneten Erscheinungen eine Ordnung und ›erfindet‹ Gesetzmäßigkeiten, die sich aus der Urteilskraft seines Verstandes herleiten.

Dadurch, dass sich der Mensch mit seinen kognitiven Möglichkeiten und seiner Fähigkeit zu Bewusstseins- und Ideenbildung von den unflexiblen, genetisch codierten und langsamen biologisch-evolutionären Prozessen des ›Machen-Könnens-von-Erfahrung‹ tendenziell entkoppeln konnte, hat er sich in stammesgeschichtlich sehr kurzer Zeit Spielräume geschaffen, die zu der enormen Ausdifferenzierung und Komplexität menschlicher Fähigkeiten geführt haben, die unter dem Begriff der kulturellen Evolution zusammengefasst werden. Entsprechend der Komplexität der Welt und des Menschen reicht eine dem rationalen Denken und der Vernunft verpflichtete wissenschaftliche Betrachtungsweise allein nicht aus, um den Menschen und seine soziale Lebenswelt in all seinen verwinkelten Facetten und differenzierten Erscheinungen erfassen zu können. Es bedarf zusätzlich der personalen und poetischen Komponente der Weltsicht, in der Sehnsüchte, Leidenschaften und Ängste (wie sie gerade in der Jetztzeit wieder vermehrt beobachtbar sind) artikuliert werden können. Eine Betrachtungsweise, die sich in Bildern von Gefühlen, Erleben, Initiative, Verlust und moralischem Empfindens ausdrückt.

Eine poetische Welt ist eine Welt des Nicht-Wissens, die Ängste und Unsicherheit hervorruft. Manches von dem Nicht-Wissen ist durch die Wissenschaft dem Wissen zugänglich gemacht und so dem ‚Göttlichen‘, dem ‚Heiligen‘ entzogen worden. Dies hat deren Macht über die Menschen eingeschränkt. Jedoch, vieles wissen wir auch heute nicht und dies Nichtgewusste (und auch Nichtbewusste) lebt zum Teil in Mythen und Poesie als bloße Möglichkeit weiter. Mythisches und mystisches Empfinden, ein Empfinden von Ehrfurcht vor einem Unbekannten, Unverfügbaren, einem Umgreifenden, wie zum Beispiel dem Universum, das sich unserem Wissen entzieht, ist ein wichtiger Aspekt des Menschseins.

Der Mensch muss sich dem Nicht-Wissen stellen. Um Ängste vor der Welt, die sich aus Ungewusstem und Unbewusstem bilden, zu mildern, braucht es selbstreflexive Ehrlichkeit und eine Portion Mut, um die verborgenen Impulse des ‚limbischen Systems‘ (in dem sich die Gefühlswelten bilden und gespeichert sind) an die Oberfläche treten zu lassen. Es braucht ein lassendes Denken, das sich von den Dingen etwas sagen lässt, ein Denken, durch das Chiffren, Codes wahrgenommen werden können. Wir fühlen, bevor wir denken. Damasio, von dem dieser Satz stammt, hat in seinen Forschungen aufgezeigt, in welch großem Umfang der Mensch von Gefühlen geleitet ist und wie stark der Mensch seine Welt und sich selbst in Form von Bildern wahrnimmt, die gefühlt werden und im Gehirn keine Verbalisierung erfahren (ich denke, dass in der politischen Diskussion diesem Aspekt heute weit größere Beachtung zukommen müsste).

Poetik ist in der Lage, eine solche Unverfügbarkeit, umgreifende Einzigartigkeit und Subjektivität auszudrücken und zu spiegeln. Personen eines Romans etwa haben Intentionen und Gründe dieses zu tun oder zu lassen. Und sie machen Fehler, sie sind nicht allwissend (nicht göttlich). Sie sind nicht unverfügbar, sondern werden von außenstehenden physischen, psychischen und sozialen Mächten bedrängt. Im Vordergrund der Ereignisse steht das subjektive Denken der handelnden Personen, deren nachvollziehbaren Fehlschläge, Missgeschicke und Schicksale wie auch deren Verhalten in diesem Beziehungsgeflecht.

In den letzten Jahrhunderten hat die westliche Welt zwei große Revolutionen der Weltsicht erlebt. Kopernikus hatte zu Beginn der Neuzeit das geozentrische Weltbild und Darwin hatte am Anfang des industriellen Zeitalters die anthropozentrische Perspektive revolutioniert. Mit der Evolutionstheorie und kraft unseres objektiven, wissenschaftlichen Denkens sind wir heute in der Lage, viele Aspekte der menschlichen Natur und Naturvorgänge zu verstehen, unser Wissen zu mehren und Mythen zurückzudrängen. Zusammen mit der Aufklärung und der Dominanz der objektiven, wissenschaftlichen Denkweisen führte das zu der Säkularisierung der westlichen Welt. Die religiösen Empfindungen, Lebensformen und Glaubenswahrheiten, die Jahrtausende die Weltperspektive geprägt hatten, sind damit natürlich nicht erloschen, sondern existieren als sakrale parallel zu den profanen Lebensformen und Denkweisen weiter.

Wissenschaftler, Philosophen, Poeten und Theologen, die sich mit dem Menschensein heute beschäftigen und das Wesen, das Besondere und Allgemeine des Menschen ergründen wollen, ist die Aufgabe gestellt, das Umgreifende, das Unverfügbare, die Essenz des Menschlichen und des Menschengeschlecht (auch im archetypischen Sinn) sichtbar zu machen. Dies kann nur gelingen, wenn sowohl die objektiv-wissenschaftlichen wie auch die subjektivpoetischen Dimensionen des menschlichen Seins Berücksichtigung finden.

Fragt man auf dieser Grundlage nach dem Sinn des menschlichen Lebens, so ergäbe sich aus naturwissenschaftlicher Perspektive als Antwort: Der Mensch lebt, weil die Natur ihn mit Lebenswillen ausgestattet hat, der in der Erhaltung des harmonischen Gleichgewichts des Organismus begründet und bei Erfolg mit Wohlgefühlen verbunden ist. Lust- und Glücksgefühle sind integrative und sinnvolle Urstoffe des Lebendigen. Sinnvolle Lebensführung darf also nicht auf asketische Aspekte zur Aufrechterhaltung und Reproduktion des Lebens reduziert werden, sondern impliziert gleichermaßen das Streben nach und das Erleben von Glück und gutem Leben.

Die relative Freiheit von der Naturgebundenheit durch den Prozess der Enkulturation und der eigenverantwortlichen, selbstbestimmten Gestaltung seiner Lebenswelt, wie auch der Wille zum Leben, das Streben nach Wissen und gutem Leben markieren einen Teil der menschlichen Existenz. Der andere Teil ist geprägt von seiner Emotionalität, seinen Leidenschaften, seiner ungeplanten Spontaneität und Liebe.

Der Bedeutungsgehalt von Letzterem ist im genetischen Sprachcode mit Fortpflanzung verknüpft, ein arterhaltendes Merkmal des Organismus, das für die Überlebenschancen der Art unerlässlich ist. Liebe ist also arterhaltend. Neueste Untersuchungen der Neurowissenschaften zeigen ebenfalls, dass Liebe ein zentrales Steuerungsmerkmal für das Paarungsverhalten darstellt. Beim Gedanken an den Geliebten werden Gehirnareale angeregt, die die Aufmerksamkeit fokussieren und Motivation unterstützen. Sie aktiviert gleichzeitig auch das Belohnungssystem im Zentrum des limbischen Systems und ruft Gefühle hervor, ähnlich wie nach dem Genuss von Kokain und anderen Opiaten. Wird die Liebe erwidert, erweckt sie in uns ein Gefühl des Rausches. Der Ausstoß von Dopamin, Noradrenalin und Endorphinen und die Aktivität im ventralen Tegmentum, dem zentralen Bestandteil des Lustzentrums im Gehirn, werden erhöht.

Wir leben in Gemeinschaft mit anderen Menschen und Lebewesen. Der Mensch ist im Wesentlichen soziales Wesen mit ausgeprägtem Wir-Bewusstsein und bedarf der Gesellschaft und Empathie anderer Menschen zur stabilen Entwicklung seiner Persönlichkeit und seines Ichs. Mitgefühl für Menschen ist deswegen ein unentbehrliches Leistungsmerkmal des menschlichen Organismus für die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung seiner personalen Integrität, der wechselseitigen zwischenmenschlichen Beziehungen und der Entwicklung seiner Soziabilität und Kultur.

Die Gesellschaft, wie auch immer sie im Einzelnen strukturiert sein mag, muss Möglichkeitsräume bieten, die der Soziabilität des Menschen entsprechen und so dem Wir-Gefühl wie auch der Freiheit des Willens des Menschen, die im nächsten Kapitel behandelt wird, gleichermaßen Rechnung tragen und zur Entfaltung bringen können.

2 Die Freiheit des Willens

Der absolut Freie lebt außerhalb der Gemeinschaft, der Sittlichkeit und der Moral in der Wüste seiner Einsamkeit.

Ohne Einsicht in die Notwendigkeit ist Freiheit nicht möglich. Die Kenntnis (Einsicht) in die real gegebenen Bedingungen (Notwendigkeit), so argumentiert Friedrich Engels, ermöglicht erst einen freien Willen, der darin besteht, sich für oder gegen das Notwendige zu entscheiden, das Notwendige zu tun oder zu lassen. Eine Willensentscheidung ohne Einsicht in die Notwendigkeit kann demnach nicht frei sein. Sie ist Selbsttäuschung oder ein manipulierter Willensakt.

Engels folgt darin Hegel, der Freiheit beschrieben hat als eine Phase ohne Zwang, aber unter Einsicht in die Notwendigkeit. Die von Hegel geforderte Einsicht in die Notwendigkeit hat eine innere und eine äußere Perspektive.

Die innere Perspektive besagt, dass Freiheit nicht bedeutet, als Person indeterminiert zu sein, sondern sich über die Art der Determiniertheit bewusst zu werden. Je mehr ein Mensch versteht, wie er selbst denkt und handelt und letztlich funktioniert, umso eher kann er sich von den ungewünschten Arten der Determiniertheit befreien und die gewünschten dann aufgrund einer freien Entscheidung bestehen lassen.

Die äußere Determiniertheit bezieht sich auf die gegebenen umweltbezogenen Notwendigkeiten. Die Freiheit entfaltet sich von vornherein nur innerhalb dieser Gegebenheiten, in die der Mensch hineingeboren worden ist. Die von Hegel geforderte Einsicht in die Notwendigkeit bedeutet allerdings nicht die Unterordnung unter eine fremd definierte, insbesondere obrigkeitsstaatliche Notwendigkeit, die man nur einzusehen brauche, sondern vernünftige Urteile über die die Freiheit einschränkenden Notwendigkeiten zu fällen.

In dieser äußeren Perspektive ähnelt der Ansatz der Existenzialisten demjenigen Hegels. Das besondere an der menschlichen Freiheit, wie sie Jean-Paul Sartre und Albert Camus unabhängig voneinander formuliert haben, besteht darin, dass der Mensch die Wahl hat, sich gedanklich in die Umstände zu fügen oder über diese im Rahmen der stets begrenzten menschlichen Möglichkeiten hinwegzuschreiten, seien sie natürlich, gesellschaftlich oder durch Naturgesetze bedingt. Da sich niemand, auch der Gefangene im Kerker nicht (er könnte sich theoretisch durch Suizid dem Zustand des Gefangenseins entziehen), in letzter Konsequenz mit den gegebenen Umständen abfinden muss, bleibt der zur Freiheit verdammte Mensch frei. Den als gegeben angesehenen hindernden Umständen wird von diesen Autoren keine freiheitsbegrenzende Qualität zugesprochen. Freiheit bedeutet dann aber notwendigerweise, an diesen Umständen, mit denen sich der Mensch nicht abzufinden bereit ist, zu leiden. Scheitern begrenzt die Freiheit nicht, sondern ist Teil der menschlichen Existenz und gehört somit zu seiner Freiheit.

Die innere Perspektive, die alle Gefühle und Wünsche, das Wollen, Urteile und Entscheidungen umfasst, bezieht sich also auf die Autonomie der Selbstsetzung und Selbstwerdung des Menschen unter Einbeziehung der äußeren Gegebenheiten, auf die Person als ein freies, vernünftiges, selbstbewusstes, würdiges Wesen, das für seine Taten selbst verantwortlich ist und Macht über sich selbst hat.

Eine Frage, die die Philosophen, aber auch die Sozialwissenschaft, Rechtswissenschaft und Neurowissenschaft seit jeher besonders beschäftigt, ist: Inwieweit ist das Wollen, der menschliche Wille bedingt oder unbedingt? In welchem Umfang hat der Mensch ein liberum arbitrium: einen freien Willen?

Stellen wir uns für einen Moment einen unbedingt freien Willen vor: Er müsste sich losgelöst von Körper, Charakter, Gedanken, Emotionen und Empfindungen, Fantasien und Erinnerungen und in einem Raum ohne Menschen, die mich beeinflussen können, entwickeln. Könnte ich solch einen Willen als meinen Willen identifizieren? Jeder vernünftige Mensch müsste zu dem Schluss kommen, dass dies nicht mein eigener Wille wäre. Es wäre ein Wille ohne meine Beteiligung, ein Wille, mit dem mein Ich nichts zu tun habe, in dem ich mich nicht wiederzuerkennen vermag. Und er wäre unberechenbar. Bedingungslose Willensfreiheit würde einen Willen als unbewegten, gottähnlichen Beweger (in Anlehnung an Aristoteles‘ göttlichen Ursprung der Welt) voraussetzen, der aus dem nichts entspringt. Solch ein Wille als erster Grund ist unter Berücksichtigung psychologischer, gesellschaftlicher als auch physiologisch-körperlicher Aspekte nicht denkbar. Das, was ich will, ist immer zum Teil auch bedingt. Wenn dem so ist, stellt sich die Frage, wie groß der Anteil der Bedingtheit an meiner Willensäußerung ist und wie das Ich mit der Bedingtheit umgeht.