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Der letztberufene Apostel, Paulus von Tarsus, dessen Biographie Fik Meijer hier eindrucksvoll niederschreibt, gehört mit Petrus zu den Gründervätern des Christentums. Er wurde zum unermüdlichen Missionar und Verkünder der neuen Lehre und reiste rund um das Mittelmeer. Durch seine Briefe, die wesentlicher Bestandteil des Neuen Testaments sind, transformierte er das Leben Jesu eigentlich erst in eine neue Religion. Daher kann er als erster Theologe des Christentums gelten. Fik Meijer, Historiker und Mittelmeerarchäologe, zeichnet Leben und Wirken des Paulus ebenso nach, wie die historischen Hintergründe der Zeit. Er beschreibt die Wirkungsstätten des Apostels zwischen Tarsus, Jerusalem, Griechenland und Rom und schenkt uns ein eindrucksvolles Porträt der Mittelmeerwelt vor 2000 Jahren.
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|2|Historische Biografie
Herausgegeben vonManfred ClaussNikolas JaspertMichael Northund Volker Reinhardt
|3|Fik Meijer
Der letzte Apostel
Aus dem NiederländischenvonWolfgang Himmelberg
Die Übersetzung wurde gefördert durch denNederlands letterenfonds
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.dnb.de abrufbar.
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel„Paulus. Een leven tussen Jeruzalem en Rome“ by Athenaeum – Polak & Van Gennep (2012)
Der Philipp von Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG.(Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtDie Herausgabe des Werkes wurde durchdie Vereinsmitgliederder WBG ermöglicht.© 2015 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), DarmstadtRedaktion: Hellmayr & Boyxen, BerlinGestaltung und Satz: Janß GmbH, PfungstadtKarten und Pläne: Peter Palm, BerlinUmschlaggestaltung: Harald Braun, BerlinUmschlagbild: Paulus auf einem Fresko in der „Paulusgrotte“ in Ephesus.Der Apostel trägt eine blau-weiße Tunika und darüber einen Mantel.Die Darstellung des Apostels mit Bart und Halbglatze hat vielen Künstlern späterer Zeitenals Vorbild gedient. (Copyright: Österreichisches Archäologisches Institut)
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8053-4920-8
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:eBook (PDF): 978-3-8053-4921-5eBook (epub): 978-3-8053-4930-7
Buch lesen
Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Einführung
Bruchstückhafte Quellen
Die Apostelgeschichte
Die Paulusbriefe
Apokryphe Texte
Die Vorgeschichte
Tarsus
Der Geburtsort des Paulus
Paulus in Tarsus
Die Stadt des Herodes
Paulus’ Suche nach seinem Weg im Judentum
Paulus’ erste Kontakte mit Christen: Stephanus
Das Damaskuserlebnis
Die erste Missionsreise
Antiochia
Die Botschaft für Juden und Heiden
Aufs Meer
Salamis und Paphos
Antiochia in Pisidien
Juden und Heiden in Antiochia in Pisidien
Ikonion
Lystra und Derbe
Das Apostelkonzil in Jerusalem
|6|Die zweite Missionsreise
Galatien
Der Weg nach Makedonien
Der „Mann aus Makedonien“
Von Troas nach Philippi
Thessalonich
Athen
Korinth
Aquila und Priszilla
Die Zeltmacher
Die christliche Gemeinde von Korinth
Paulus und die Frauen
Gallio, der Bruder Senecas
Abreise aus Korinth
Die dritte Missionsreise
Das Artemision
Ephesus
Apollos
Die Krise in Ephesus und Umgebung
Artemis und Demetrius
Der Briefschreiber
Neue Briefe an die Korinther
Eine neue Strategie
Zurück nach Jerusalem
Der Empfang
Caesarea
Felix, Festus und Agrippa
Die Seereise des Paulus nach Rom
Der Kontext
Die Abreise aus Caesarea
Nach Myra
Kreta
Die erste Intervention des Paulus
|7|Die Prophezeiung des Paulus
Verwirrende Quellenangaben
Zwischenbilanz
Die Wunder auf Malta
Von Malta nach Puteoli
Von Puteoli nach Rom
Die letzten Jahre des Paulus
Eine andere Welt
Chronologie
Anmerkungen
Bibliografie
Karten
Textregister
Unter dem Hauptaltar der päpstlichen Basilika Sankt Paul vor den Mauern in Rom befindet sich der Sarkophag mit den Gebeinen des Apostels Paulus und in der Sakristei werden die Ketten aufbewahrt, in die er gelegt war, als er in der Nähe seiner endgültigen Ruhestätte enthauptet wurde. So lautet jedenfalls die christliche Überlieferung. Die Pilger bauen auf diese Tradition und besuchen Jahr für Jahr in großen Scharen den Ort, an dem das gewaltsam beendete Leben des Paulus lebendig gehalten wird. Fremdenführer erzählen ihre Geschichten von einem Juden aus Tarsus, der zuerst ein Christenverfolger war, nach seiner Bekehrung jedoch zum energischsten Verbreiter des Christentums wurde. Viele Jahre lang verkündigte er seine Botschaft im heutigen Syrien, in der Türkei und in Griechenland. Schließlich erreichte er auch Rom, wo er im Jahr 67 oder 68 unter der Herrschaft Kaiser Neros getötet wurde.
Das sind in wenigen Worten die Hauptpunkte der Lebensgeschichte des Paulus. Sie gleicht ein wenig einem Abenteuerroman mit einem tragischen Ende. Die Wirklichkeit ist natürlich viel komplexer. Paulus war der Repräsentant einer neuen Religion. Was er predigte, stand dem, was die Griechen und Römer glaubten, diametral entgegen, aber auch in einem gespannten Verhältnis zum Glauben der Juden. Er hatte sich eine fast unmögliche Aufgabe aufgebürdet: die Juden davon zu überzeugen, dass Jesus von Nazareth der verheißene Messias war, und gleichzeitig den Griechen, Römern und anderen Völkern deutlich zu machen, dass sein Gott allmächtig war und dass ihre (Ab-)Götter Ausgeburten eines verderblichen Aberglaubens waren. Paulus wusste, dass seine Botschaft auf Widerstand stoßen würde. Er musste bestehende Denkmuster durchbrechen und einer Welt voller Götter den Monotheismus predigen. Für ihn war das kein Hindernis, sondern im Gegenteil ein Antrieb, schließlich hatte er seinen Glauben, der in einem entlegenen Winkel des Reiches, in |10|Judäa und Galiläa, entstanden war, bis in den Kern des Römischen Reiches hinein kundgetan.
Dieses Buch ist das Ergebnis einer langjährigen Beschäftigung mit Paulus. Als Schüler war ich vor allem von seiner Beharrlichkeit fasziniert: Auch die widrigsten Umstände konnten ihn nicht davon abhalten, weit entlegene Orte zu erreichen. In der Apostelgeschichte las ich über seine Reisen und ich verschlang die Berichte der Abenteurer, die seinen Fußstapfen gefolgt waren und die Orte besucht hatten, in denen er gewesen war. Das Interesse an Paulus und seinen Reisen hatte mein Vater in mir geweckt, der Geschichtslehrer am Bonaventura Lyceum in Leiden war. In seinem Klassenzimmer hing eine Karte des Mittelmeerraumes, auf der diese Reisen eingezeichnet waren. Er konnte wunderbar darüber erzählen. Jetzt hängt diese Karte bei mir zu Hause und immer wieder werfe ich einen Blick darauf.
In den Augen meines Vaters war Paulus der ideale Missionar. Für ihn war der Apostel eine Inspirationsquelle. Häufig zitierte er aus seinen Briefen. Von kritischen Anmerkungen wollte er nichts hören. Ich hoffe, er wird mir verzeihen, dass „mein“ Paulus in vieler Hinsicht nicht dem Idealbild entspricht, das er sich von dem großen Glaubensverbreiter gemacht hatte. Paulus hatte nämlich auch seine unangenehmen Seiten: Er war eigensinnig, ein Besserwisser und ein Quengler, mit Sicherheit kein taktisches Genie. Diese komplexe Person mit ihren guten und schlechten Eigenschaften versuche ich in Paulus: Der letzte Apostel zum Leben zu erwecken.
Auf drei Missionsreisen hat Paulus in einem Zeitraum von 25 Jahren viele Menschen mit der Lehre Jesu Christi in Berührung gebracht. Dazu hat er mehr als 17.000 Kilometer zurückgelegt, zu Fuß, auf einem Wagen oder auf einem Schiff. Sicherlich wird er mit einem durchdachten Reiseplan aufgebrochen sein, um möglichst viele Menschen erreichen zu können. In den letzten 14 Jahren habe ich viele Orte besucht, an denen Paulus sich aufgehalten hat. 1999 reiste ich von Caesarea in Israel nach Rom, eine Überfahrt, die Paulus im Winter 60/61 als Gefangener zurückgelegt hatte (Apg 27–28). Aus dieser Reise ist meine Monografie Paulus’ zeereis naar Rome. Een reconstructie (Paulus’ Seereise nach Rom. Eine Rekonstruktion) hervorgegangen. Dieses Buch war vor allem ein nautischer Kommentar |11|zu einer der bemerkenswertesten Seefahrtsgeschichten aus der Antike. Danach habe ich mich in den Verlauf der Reiserouten des Paulus vertieft und mir die Frage gestellt, warum er bestimmte Städte ansteuerte, andere wiederum nicht. Auf dem Areopag in Athen, dem römischen Forum von Korinth und im Theater von Ephesus stand Paulus mir dann lebendig vor Augen. Dort wurde mir deutlich, weshalb seine Predigten in der einen Stadt Anklang fanden, seine Auftritte in der anderen jedoch in einem Fiasko endeten.
Meine Erkundungsreise beginnt in Tarsus, wo Paulus seine Jugend verbrachte, und endet in Rom. Ich folge ihm auf seiner Reise durch die mediterrane Welt und gebe kurze Darstellungen der Städte, in denen er sich aufhielt. Und jedes Mal stelle ich mir die Frage, inwieweit die Geschichte und die Zusammensetzung der Bevölkerung einer bestimmten Stadt eine Rolle spielten für das, was er auf seinen langen Missionsreisen tat und bleiben ließ. Das, was Paulus dazu in den Briefen sagt und in der Apostelgeschichte zu lesen ist, bringe ich zur Sprache, insofern es für die Form seiner Glaubensverbreitung kennzeichnend ist. Auf diese Weise soll mein Paulus zum Leben kommen.
Paulus: Der letzte Apostel ist die Darstellung meiner persönlichen Gedanken über diesen Apostel. Gleichzeitig habe ich mit großem Gewinn auf die umfangreiche Paulusforschung der letzten Jahrzehnte zurückgegriffen. Die Bücher und Artikel, die ich verwendet habe, sind in der Bibliografie aufgeführt, die im Übrigen nur einen Bruchteil der Literatur zu Paulus umfasst. Den Anmerkungsapparat habe ich bewusst klein gehalten. Der „Durchschnittsleser“ hat wenig davon, wenn zu jeder (Glaubens-)Frage die Erörterung in der modernen Literatur angegeben wird. Das würde nur ablenken. Eine Quellenangabe habe ich lediglich dort eingefügt, wo ich mich ausdrücklich auf die Gedanken anderer Autoren stütze.
In der deutschsprachigen Ausgabe dieses Buches folgt die Schreibweise der (Orts-)Namen aus dem Neuen Testament der „Einheitsübersetzung“ der Bibel, nach der auch wiederholt zitiert wird.
Ich habe dieses Buch allein geschrieben, jedoch mit anderen darüber gesprochen. Zwei Theologen haben mir in besonderer Weise geholfen. Dies Duisterhof hat mich auf Literatur hingewiesen, die mir die Augen für |12|den jüdischen Paulus öffnete – einen Paulus, der seinen Wurzeln sehr viel stärker verhaftet geblieben war, als ich es mir noch während der ersten Ideen zu diesem Buch vorgestellt hatte. Worte reichen nicht aus, um meinen Dank an Ary van den Heuvel zum Ausdruck zu bringen, der das ganze Manuskript gelesen und mich vor manchen Fehltritten bewahrt hat.
Zum Schluss möchte ich Frits van der Meij, Mark Pieters und Rob Zweedijk von dem Verlag Athenaeum – Polak & Van Gennep meinen Dank aussprechen. Sie haben meine Idee, ein Buch über Paulus zu schreiben, begeistert aufgenommen und mich bei der Arbeit tatkräftig unterstützt.
Manchmal wird der Lauf der Geschichte durch plötzliche, unerwartete Ereignisse heftig durcheinandergebracht. Wer hätte um das Jahr 33 vermutet, dass eine rätselhafte Wende im Leben eines radikalen Pharisäers so große Folgen für die Weltgeschichte haben sollte? Paulus, der unter seinem jüdischen Namen Saulus bekannt war, befand sich auf dem Weg nach Damaskus. Bei sich trug er Briefe des Hohepriesters in Jerusalem, die ihn ermächtigten, Christen zu verfolgen. Angsterfüllt wartete die christliche Gemeinschaft in dieser Stadt auf seine Ankunft. Sein Ruf war ihm vorausgeeilt. Doch es kam anders. Vor den Toren der Stadt wurde alles, was ihm bis dahin wichtig gewesen war, bedeutungslos. Er hatte eine Vision, in der Jesus ihn persönlich ansprach und aufforderte, sich der kleinen auserwählten Gruppe seiner Glaubensverkündiger anzuschließen. Der vorübergehend mit Blindheit geschlagene Saulus gab dieser Aufforderung Gehör, trat der jungen Glaubensgemeinschaft bei und verkündigte voll Eifer das Wort Gottes.
Die Erzählungen über den plötzlichen Sinneswandel des Paulus und die darauf folgende lange Periode der Glaubensverbreitung sind uns in Grundzügen aus zwei Quellen bekannt, die einander teils ergänzen, teils widersprechen: die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe. Beide gehören zum großen Korpus christlicher Texte: dem Neuen Testament, dem jüngeren der beiden „Bücher“ der christlichen Bibel.
Der andere Teil, der von den Juden Tanach genannt wird und von den Christen im Laufe der Zeit den Titel „Altes Testament“ erhielt, geht dem Neuen Testament voran. Das Alte Testament enthält die durchgehende Darstellung der Geschichte des jüdischen Volkes bis ins 2. Jahrhundert v. Chr., als die Juden einen eigenständigen Staat gegründet hatten. Es wird für gewöhnlich in drei Teile gegliedert: die Tora (Weisung), die Nevi’im (Propheten) und die Ketuvim (Schriften). Der Tanach ist größtenteils in |14|hebräischer Sprache verfasst. Im 3. Jahrhundert v. Chr. waren viele Diasporajuden dieser Sprache nicht mehr mächtig, doch der Tanach durfte nicht in eine heidnische Sprache übersetzt werden. Um diese Menschen dennoch in den Gottesdienst einzubeziehen, wurden ihnen die Texte durch eine Art Dolmetscher begreiflich gemacht, der in den Synagogen neben dem Vorleser stand und dessen Worte ins Griechische übersetzte oder paraphrasierte. Ihre Übersetzungen wurden im Laufe der Zeit aufgeschrieben, sodass es schließlich doch noch zu einer vollständigen Übersetzung des Tanach ins Griechische kam, die künftig Septuaginta genannt wurde. Diese Übersetzung wurde zur Heiligen Schrift der Diasporajuden, später auch der Christen, und war für sie ebenso maßgeblich wie das hebräische Original.
Die ersten fünf Bücher des Alten Testaments, die zusammen die Tora bilden, sind die grundlegendsten, werfen gleichzeitig aber auch die meisten Probleme auf. Wie andere Völker hatten auch die Juden ihre früheste Geschichte, ihre Sitten und Gebräuche von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Die Erzählungen über die gemeinsame Vorgeschichte der zwölf Volksstämme, die der Überlieferung nach in Kanaan lebten, wurden von Vater zu Sohn weitergereicht und im Laufe der Zeit von Geschichtsschreibern aufgezeichnet und bearbeitet, sodass eine mehr oder weniger „kohärente“ Darstellung zustande kam.
Die Erzählung greift sehr weit zurück. Das erste Buch der Tora, die Genesis, umfasst die Geschichte der Schöpfung, der Sintflut und die der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob. Im zweiten Buch, Exodus, wird das Leben des Mose ausführlich dargestellt: seine Geburt und sein Leben in Ägypten unter der Herrschaft des Pharao, die ägyptischen Plagen, der Auszug aus Ägypten und der Durchzug durch das Schilfmeer, die Wanderung durch die Wüste, der Bundesschluss und die Gesetzgebung am Sinai sowie der Bau der Bundeslade. Das dritte Buch, Levitikus, beinhaltet die Opfergesetze und die Reinheitsgebote, an die sich die Priester halten müssen. Das vierte Buch, Numeri, beschreibt die weiteren Erlebnisse des jüdischen Volkes auf der Wanderung durch die Wüste; daneben ist hierin eine vielfältige Sammlung an Gesetzestexten und Ergebnissen von Volkszählungen zu finden. Das letzte Buch, Deuteronomium, enthält eine Wiederholung und weitere Ausarbeitung früherer Gesetze und endet mit dem Abschied und dem Tod des Mose.
|15|Auf die Tora folgt eine Reihe von Schriften unter dem Titel Propheten. Sie beginnen mit dem neuen Führer Josua, dem Nachfolger des Mose. Traditionell wird zwischen den frühen Propheten (die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige) und den späten Propheten (Jesaja, Jeremia, Ezechiel und die zwölf kleinen Propheten) unterschieden. Der dritte Teil des Tanach, die Schriften, ist eine bunte Sammlung, in der zwölf Schriften zusammengefasst sind: die Psalmen, die Sprichwörter, das Buch Ijob, das Hohelied, das Buch Rut, die Klagelieder, das Buch Kohelet (Prediger), Ester, Daniel, Esra, Nehemia und die zwei Bücher der Chronik.
Im Leben des Paulus spielte vor allem die Tora eine wichtige Rolle, nicht nur in seiner vorchristlichen Periode vor seiner Bekehrung, sondern auch danach. Wiederholt verwies er auf den Bund, den Gott mit Mose geschlossen hatte. Jetzt hatte Gott in Christus einen neuen Bund mit Israel geschlossen. Dieser Bund galt nicht nur für die Juden; auch die Nichtjuden konnten diesem neuen Israel beitreten.
Der Umfang des Neuen Testaments beträgt nicht einmal ein Viertel des Alten Testaments. Es umfasst auch eine viel kürzere Zeitspanne, tatsächlich kaum 40 Jahre. Die Geschichte dieser vier Jahrzehnte kann anhand der 27 Texte des Neuen Testaments rekonstruiert werden: Dazu gehören die vier Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes, die Apostelgeschichte, die Offenbarung des Johannes und 21 Briefe. 13 dieser Briefe wurden von Paulus selbst oder seinen Anhängern geschrieben, als Verfasser der übrigen werden Petrus, Jakobus, Johannes und Judas genannt. Dank dieser Texte können wir uns ein Bild von der frühesten Geschichte der christlichen Gemeinden machen – von ungefähr 30 n. Chr., als Jesus zum ersten Mal öffentlich auftrat, bis ungefähr 70 n. Chr., als die Christen keine Splittergruppe mehr waren, sondern eine Glaubensgemeinschaft, die die Römer ernst nehmen mussten.
Das Neue Testament ist in griechischer Sprache geschrieben und es beginnt mit den vier Evangelien. Da die Evangelien gänzlich dem Leben Jesu gewidmet sind, ist diese Vorrangstellung verständlich, auch wenn es sich bei ihnen nicht um die ältesten Texte der Sammlung handelt. Der Lebenslauf der Hauptperson wird hier nicht von Anfang bis Ende genau und detailliert nacherzählt. Der historische Jesus ist aus diesen Texten kaum zu rekonstruieren. Stattdessen haben die Verfasser der Evangelien |16|ihre jeweils eigene Auswahl getroffen und interpretiert. Jeder hat auf seine Weise die Botschaft Jesu wiedergeben wollen. In groben Zügen weisen ihre Texte teils große Ähnlichkeiten auf, doch auch Unterschiede treten deutlich zutage. Während Matthäus und Lukas zum Beispiel mit der Geburt Jesu anfangen, lassen Johannes und Markus Jesus beginnend mit seinen ersten öffentlichen Auftritten auf der Bildfläche erscheinen. Bei allen Evangelisten werden die ersten 30 Jahre seines Lebens jedenfalls nur gestreift. Von der Zeit von seiner Geburt, vermutlich 4 v. Chr.,1 bis kurz vor 30 n. Chr., dem Beginn seiner Predigten in Galiläa, geben die Evangelisten nur ein bruchstückhaftes Bild. Wir lesen, dass Jesus als Sohn Josefs und Marias in Betlehem geboren wurde, dass er den größten Teil seines Lebens in Nazaret verbrachte und erst in seinen letzten Lebensjahren als Wanderprediger durch Galiläa und Judäa zog. Nachdem er sich zu erkennen gegeben hatte, ließ er sich von Johannes dem Täufer taufen. Danach verbrachte er 40 Tage in der Wüste und wurde von dem Teufel auf die Probe gestellt. In der letzten Periode seines Lebens trat er als apokalyptischer Prophet, der die baldige Ankunft des Königreiches Gottes verkündete, sowie als Heiler und als Exorzist auf. Er war ein charismatischer Rabbi, der sich durch seine kreative Auslegung der Gebote der Tora hervortat; jemand, der ein offenes Auge für die Sorgen und Bedürfnisse seiner Mitmenschen hatte. Nach einem triumphalen Einzug in Jerusalem wurde er von den jüdischen Autoritäten in einem Scheinprozess dem römischen Prokurator Pontius Pilatus überantwortet, der ihn als Aufrührer zum Tod am Kreuz verurteilte. Der vom Kreuz abgenommene Leichnam Jesu wurde begraben, schien jedoch einige Tage später aus dem Grab verschwunden zu sein. Für seine Anhänger, die Jünger, war das der Beweis für seine Auferstehung aus dem Tode.
Jesus hielt weise Reden, sprach in Gleichnissen und sammelte eine große Schar von Anhängern um sich; doch anders als Mohammed, der den Islam stiftete, begründete er keine neue Bewegung. Jesus entwickelte keine Blaupause für eine neue Gesellschaft. Er war eine gewinnende Persönlichkeit, aber kein Anführer, der gezielt eine Organisation aufbaute. So hätte man denn auch erwarten können, dass seine Bewegung nach seinem Tod schnell verschwinden würde. Seine Anhänger sahen das jedoch anders; sie begannen über die Erfahrungen zu sprechen, die sie mit ihm in |17|Jerusalem gemacht hatten, wo den Prophezeiungen zufolge das Reich Gottes errichtet werden würde. Sie organisierten gemeinschaftliche Mahlzeiten und lebten eingedenk der Worte Jesu in Armut und ohne Privatbesitz.
Mit dem Wachstum der Glaubensbewegung der Christen nahm auch das Bedürfnis zu, die mündlich überlieferten Erzählungen schriftlich festzulegen. So entstanden die Evangelien; wir müssen uns allerdings fragen, ob sie auch tatsächlich von den angegebenen Autoren verfasst wurden. Vermutlich wurden die Namen Markus, Matthäus, Lukas und Johannes erst später, im Laufe des 2. Jahrhunderts, hinzugefügt.
Liest man die Evangelien, zeigt sich schnell, dass es mit ihrem literarischen Anspruch nicht allzu weit her ist. Sie sind in einem einfachen Griechisch verfasst, sodass, wenn sie vorgelesen wurden, auch Menschen mit geringer Bildung den Darlegungen ohne allzu große Mühe folgen konnten.
In ihrer Mehrheit sind die Bibelgelehrten sich einig, dass das kurze Evangelium nach Markus das älteste ist. Es wurde vermutlich um das Jahr 70 aufgezeichnet. Das Evangelium nach Matthäus wird nicht viel später entstanden sein: zu Beginn des letzten Viertels des 1. Jahrhunderts. Lukas und Johannes werden ihre Evangelien ein oder zwei Jahrzehnte später geschrieben haben, kurz vor Ende des 1. Jahrhunderts. Wir dürften es auffällig finden, dass die aufsehenerregenden Ereignisse in den letzten Jahren des Lebens Jesu erst mehr als 40 Jahre nach seinem Kreuzestod niedergeschrieben wurden. In der Zwischenzeit war vieles passiert, was zu einem verzerrten Bild von Jesus geführt hatte. Er selbst hatte ja keine Schriften hinterlassen und alles, was durch seine Jünger und andere Getreue über ihn bekannt geworden war, begann in den folgenden Jahren ein Eigenleben zu entwickeln.
Jesus verkündete seine Botschaft in der Sprache seiner Zuhörer, dem Aramäischen. Das Hebräische, die Sprache des Alten Testaments, wird ihm sicherlich vertraut gewesen sein, doch Griechisch sprach er vermutlich nicht. Er brauchte diese Sprache auch nicht zu beherrschen, denn was er zu sagen hatte, richtete sich nicht in erster Linie an die Heiden, sondern ausschließlich an die Juden. Im Evangelium nach Matthäus scheint Jesus sich nicht unter die Heiden begeben zu wollen. Als er seine Jünger aussandte, gebot er ihnen:
|18|Geht nicht zu den Heiden, und betretet keine Stadt der Samariter, sondern geht zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Geht und verkündet: Das Himmelreich ist nahe. (Mt 10, 5–7)
In einer anderen interessanten Passage scheint Matthäus wiederum zu suggerieren, Jesus habe nur das Heil der Juden vor Augen gehabt und die anderen Völker „vernachlässigt“. Auf der Flucht vor den Pharisäern war Jesus ins alte Phönizien gelangt, in die Gegend zwischen Tyrus und Sidon, als eine nichtjüdische Frau aus ihrem Haus kam und ihm zurief, er möge Mitleid mit ihr haben, da ihre Tochter besessen sei. Jesus gab ihr keine Antwort. Seine Jünger kamen auf ihn zu und baten ihn, ihr zu helfen, um sie dann fortschicken zu können. Er antwortete: „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt.“ Als die Frau wenig später vor ihm niederfällt, zeigt Jesus sich zwar weitaus milder, doch der Tenor des Textes (Mt 15, 21–28) scheint zu sein, dass das Königreich des Himmels in erster Linie dem Volk Israel zugedacht ist.
Bemerkenswerterweise schlägt Matthäus gegen Ende seines Evangeliums (Mt 28, 19) einen anderen Ton an. Der auferstandene Christus scheint sich jetzt nicht mehr ausschließlich an die Juden zu richten, sondern sagt, dass alle Völker belehrt werden müssen. Matthäus konstruiert damit sozusagen einen Unterschied zwischen dem Jesus vor dessen Tod am Kreuz und dem auferstandenen Jesus und ebnet so den Weg für die Verkündigung des Glaubens unter den Heiden.2
Es ist nahezu unmöglich, den Wahrheitsgehalt der Evangelien an zeitgenössischen nichtchristlichen Quellen zu überprüfen, da es kaum welche gibt. Nur ein nichtchristlicher Text bietet uns nähere Informationen über die Historizität Jesu: das sogenannte „Testimonium Flavianum“, das Zeugnis, das der jüdische Historiker Flavius Josephus (siehe S. 42) in seinen Antiquitates Judaicae (Jüdischen Altertümern) über Jesus von Nazaret gibt:
Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf. Er war nämlich der Vollbringer ganz unglaublicher Taten und der Lehrer aller Menschen, die mit Freuden die Wahrheit aufnahmen. So zog er viele Juden und auch viele Heiden an sich. Er war der Christus. Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch |19|seine früheren Anhänger ihm nicht untreu. Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorherverkündigt hatten. Und noch bis auf den heutigen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort.3
Hier wird ausdrücklich gesagt, dass Jesus auch den Griechen („Heiden“) predigte, doch die „Echtheit“ dieses Textes ist umstritten. Einige Gelehrte denken, dass wir es hier mit einem authentischen Zeugnis des Josephus über Jesus zu tun haben, andere halten es dann doch für sehr merkwürdig, dass ein gläubiger Jude einen so unverkennbar christlichen Text geschrieben haben sollte. Ihrer Meinung nach hat jemand in den Text des Josephus eingegriffen und den Wortlaut in christlichem Sinne geändert, um auf diese Weise eine augenscheinlich unverdächtige, weil jüdische, Zeugenaussage in die zwischen Juden und Christen geführte Debatte über die Historizität Jesu einführen zu können. Insbesondere die hier kursiv gesetzten Worte sind ihnen zufolge spätere Interpolationen. Der Eingriff soll gegen Ende des 3. Jahrhunderts vorgenommen worden sein, denn Eusebius von Caesarea ist zu Beginn des 4. Jahrhunderts der erste, der diese Passage anführt.4
Lukas wird nicht nur als Autor eines der Evangelien genannt, ihm wird auch ein Text zugeschrieben, der die Entwicklung des Christentums in den Jahren nach Jesu Tod und Auferstehung beschreibt: die Apostelgeschichte. Ohne diese Schrift wüssten wir nicht, wie es den Christen nach Jesu Tod erging. Wir wüssten nichts über die Verbreitung des frühen Christentums in der jüdischen und griechisch-hellenistischen Welt und nichts über den Aufstieg der „Bewegung Christi“ zu einer echten Religion mit vielen Gemeinschaften in der östlichen Hälfte des Römischen Reiches. Der erste Teil der Apostelgeschichte spielt sich in Jerusalem ab, der mittlere in der griechisch-hellenistischen Welt und der letzte Teil in Rom. Auf diese Weise konnte der Verfasser zeigen, wie die „jüdische Sekte“ des Jesu von Nazaret über eine lange Wegstrecke bis ins Zentrum des großen |20|Weltreiches vorgedrungen war. Wir dürfen also froh darüber sein, dass es diese Schrift gibt, und ich werde mich im Folgenden häufig darauf stützen. Doch auch hier ergibt sich das gleiche Problem wie bei den Evangelien: Wir haben kaum andere Quellen. Vieles von dem, was in der Apostelgeschichte steht, ist nirgendwo anders zu finden. Vieles, was wir über Paulus wissen, kennen wir nur aus der Apostelgeschichte, einem Text, der gleichfalls aus christlicher Perspektive geschrieben wurde. Das müssen wir uns immer vor Augen halten, wenn wir das Leben der Apostel rekonstruieren wollen.
Die Apostelgeschichte unterscheidet sich insofern von den Evangelien, als der Verfasser sich nicht nur als Geschichtsschreiber profiliert, sondern sich auch stilistischer Kunstgriffe bedient, die wir aus den griechischhellenistischen Romanen kennen. Passagenweise liest sich die Apostelgeschichte tatsächlich wie ein griechischer Roman. Visionen, Wunderheilungen, Austreibungen, wundersame Fluchten, wütende Menschenmengen, die es auf Paulus abgesehen haben, und eine dramatische Seereise, die letztendlich ein gutes Ende nimmt – das alles kommt darin vor. Die literarische Form diente vor allem dem Zweck, ein breites Publikum in der griechisch-römischen Welt auf das Werk aufmerksam zu machen.
Der Titel Apostelgeschichte datiert aus dem 2. Jahrhundert, er wurde dem zweiten Teil einer zweiteiligen Geschichte des Ursprungs des Christentums gegeben. Der erste Teil dieses Diptychons war das bereits genannte Evangelium nach Lukas. Im frühen 2. Jahrhundert wurden die beiden Bücher voneinander getrennt. Das Evangelium wurde mit den drei Evangelien nach Markus, Matthäus und Johannes zum „Tetraevangelium“ (vierfachen Evangelium) zusammengefügt. Es lag nahe, diese Zuordnung vorzunehmen, zeigt doch das Lukasevangelium Ähnlichkeiten mit den anderen Evangelien, während die Apostelgeschichte „anders“ ist und als ein eigenständiges Werk betrachtet werden muss. Auch die Tatsache, dass beide Werke auf gesonderten Papyrusrollen geschrieben waren, kam der Trennung entgegen.
Wer das Werk geschrieben hat, geht aus der Apostelgeschichte nicht hervor. Die Einleitung, in der der Verfasser sich an einen Vertrauten richtet, lässt nur den Schluss zu, dass er und der Autor des Lukasevangeliums ein und dieselbe Person sind:
|21|Im ersten Buch, lieber Theophilus, habe ich über alles berichtet, was Jesus getan und gelehrt hat, bis zu dem Tag, an dem er (in den Himmel) aufgenommen wurde. Vorher hat er durch den Heiligen Geist den Aposteln, die er sich erwählt hatte, Anweisungen gegeben. (Apg 1, 1–2)
Im späten 2. Jahrhundert wird Lukas, den Paulus in seinen Briefen als seinen Weggefährten bezeichnet,5 zum ersten Mal als Verfasser der Apostelgeschichte genannt. Im Kanon Muratori, einem fragmentarischen Verzeichnis der Schriften des Neuen Testaments, das gegen Ende des 2. Jahrhunderts zusammengestellt wurde, ist zu lesen, dass Lukas „das dritte Buch des Evangeliums“ schrieb, während er Paulus auf seinen Reisen begleitete, dass er Jesus nicht leibhaftig gesehen hatte, und dass er der Verfasser der Apostelgeschichte, der „Acta apostolorum“, war.6 Um dieselbe Zeit wurde der Titel „Acta apostolorum“ auch von den christlichen Autoren Irenäus von Lyon und Clemens von Alexandria verwendet, und seither ist dieser Name in Gebrauch geblieben.7 Die eindeutigste Quelle, die Lukas als den Verfasser der Apostelgeschichte nennt, datiert aus dem 4. Jahrhundert: Laut Eusebius, Bischof von Caesarea und persönlicher Freund Kaiser Konstantins, hatte Lukas, Arzt und Reisegefährte des Paulus, inspiriert von Gott zwei Bücher geschrieben – das Evangelium auf der Grundlage der Zeugnisse anderer und die Apostelgeschichte, in der er festhielt, was er selbst erlebt hatte.8
Es lässt sich nicht genau feststellen, wann Lukas die Apostelgeschichte geschrieben hat. Die Aussage der christlichen Autoren des 2. Jahrhunderts, er habe wiederholt die „Wir-Form“ verwendet, um hervorzuheben, dass er Paulus auf mehreren seiner Reisen begleitete, bringt uns nicht viel weiter. Mal abgesehen von der Tatsache, dass, wie sich noch zeigen wird, diese Form an sich schon Fragen aufwirft, lässt die Beteiligung des Autors an Paulus’ Missionsreisen keine erkennbaren Rückschlüsse auf den Zeitpunkt der Niederschrift seiner Erzählung zu.
Weil im Evangelium nach Lukas auf die Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70 angespielt wird (21, 20–24), nimmt man an, dass sowohl sein Evangelium als auch die Apostelgeschichte nach diesem Jahr aufgezeichnet wurden. Vergleiche mit Passagen aus den Paulusbriefen zeigen übrigens, dass der Verfasser der Apostelgeschichte die Sammlung dieser Briefe, die uns heute zur Verfügung steht, nicht verwendet hat. |22|Man sollte erwarten, dass Lukas aus seinem Gedächtnis schöpfen konnte, da er sich in Paulus’ Gesellschaft befand, als dieser einige seiner Briefe schrieb. Doch aus seinem ganzen Werk geht hervor, dass er ihn zwar gut kannte, vor allem jedoch als einen eindringlichen Redner, der andere mit kraftvollen Worten von seinen Ansichten zu überzeugen suchte, und nicht als Briefschreiber. Da Paulus’ Briefe erst zu Beginn des 2. Jahrhunderts zu einem Korpus zusammengestellt wurden, muss die Apostelgeschichte vor dem Ende des 1. Jahrhunderts, zwischen 80 und 100, geschrieben worden sein. Aber es ist auch nicht auszuschließen, dass die Apostelgeschichte bereits in den 60er-Jahren verfasst wurde. Der Text endet nämlich ziemlich abrupt mit Paulus’ zweijährigem Aufenthalt in Rom, weshalb er noch zu Paulus’ Lebzeiten geschrieben worden sein könnte, im Jahr 62 oder 63 (siehe S. 294f.).
Eigentlich ist der Titel Apostelgeschichte nicht zutreffend. Die „echten“ Apostel treten nur in den ersten Kapiteln auf. Es gibt eine deutliche Zäsur; im ersten Teil ist der Apostel Petrus die Hauptperson, im zweiten Paulus. Petrus hat lange den von Jesus eingeschlagenen Weg fortgesetzt und sich ausschließlich den Juden zugewandt. In seiner ersten Ansprache (Apg 2, 14) redet er seine Zuhörerschaft mit „Ihr Juden und alle Bewohner von Jerusalem!“ an. Danach spricht er von den „Israeliten“ (Apg 2, 22) und dem „Haus Israel“ (Apg 2, 36). In dieser Phase der Geschichte werden ausschließlich Juden bekehrt. Petrus ist jedoch auch der Erste, der einen Nichtjuden bekehrt: den römischen Hauptmann Kornelius (Apg 10–11). Der Apostel musste sich dafür rechtfertigen, und dies tat er mit Vehemenz. Seine Brüder brachten schließlich nur noch diese Worte hervor: „Gott hat also auch den Heiden die Umkehr zum Leben geschenkt“ (Apg 11, 18). Der Wirkungsbereich der Apostel wird hier ausgedehnt. Die echte Initiative, das Wort Gottes auch Nichtjuden zu verkündigen, geht jedoch nicht von ihnen aus, sondern von einem Außenstehenden, von Paulus. In Kapitel 8 erscheint er, noch unter dem Namen Saulus, als Verfolger der Christen auf der Bildfläche, im folgenden Kapitel wird Paulus dann nach seiner Be rufung zur Hauptperson. Ab Kapitel 13 treten die anderen Apostel nur noch als seine Mitspieler auf.
Paulus ist hier also nicht einfach nur einer der zwölf Apostel, er wird als der „Apostel der Heiden“ präsentiert und seine Reisen stellen das |23|Hauptthema der Apostelgeschichte dar. Die ersten zwölf Kapitel können somit als eine Art Einleitung gelesen werden. Sie behandeln den „Beginn der Kirche“, die Verbreitung der Botschaft unter den Samaritanern9 und den Heiden, den Beginn der Verfolgungen und die Bekehrung des Paulus. Die Kapitel 13–20 beschreiben die drei Missionsreisen des Paulus und die Kontroverse, die zwischen den diversen Strömungen innerhalb der christlichen Gemeinschaft über die Aufnahme von Heiden in ihre Mitte geführt wurde. In den letzten acht Kapiteln (21–28) werden Paulus’ letzte Reise nach Jerusalem beschrieben, seine Festnahme und die Prozesse, schließlich seine Seereise nach Rom und die erste Phase seines Aufenthalts in dieser Stadt.
Lukas und Paulus müssen ein gutes Verhältnis zueinander gehabt haben, denn der Verfasser der Apostelgeschichte zeigt ein mehr als nur sachliches Interesse an Paulus’ Missionsarbeit. Er schreibt einfühlsam über Paulus als Person und setzt sich mit dessen Motivation auseinander, die ihn die Christen zuerst verfolgen und später ihren Glauben fanatisch verkündigen ließ. Paulus seinerseits erwähnt in seinen Briefen auch mehrmals Lukas, ohne übrigens nähere Angaben zu dessen Herkunft zu machen. Aufgrund seiner fundierten Kenntnis des Griechischen dürfen wir annehmen, dass Lukas in dieser Sprache aufgezogen wurde. Vermutlich gehörte er zu den Nichtjuden, die schon in einem frühen Stadium bekehrt wurden und sich wie Paulus für die christliche Sache einsetzten.
Der Bericht in der Apostelgeschichte lässt sich durch die Briefe, die Paulus auf seinen Missionsreisen geschrieben hat, teilweise ergänzen, modifizieren und korrigieren. Sie sind ebenfalls in griechischer Sprache verfasst. Da der in Tarsus aufgewachsene Paulus diese Sprache gut beherrschte, konnte er sich vielen Menschen gegenüber verständigen. Bei Zusammenkünften der christlichen Gemeinden wurden sie vorgelesen, um möglichst viele Gläubige zu erreichen. Die Briefe wurden abgeschrieben und an andere Städte weitergeleitet. So kamen sie im Laufe der Zeit in den Besitz von Menschen, die die Texte kommentierten und interpretierten.
|24|Wie bei den anderen Schriften des Neuen Testaments ist eine genaue Datierung nicht möglich. Mehr noch: Von längst nicht allen Briefen lässt sich mit Sicherheit sagen, dass sie tatsächlich von Paulus geschrieben wurden. In das Neue Testament wurden 14 „Paulusbriefe“ aufgenommen, in 13 dieser Briefe wird Paulus als Verfasser genannt. Sieben davon können ihm zweifelsfrei zugerechnet werden: Römer, 1 und 2 Korinther, Galater, Philipper, 1 Thessalonicher und Philemon. Die Urheberschaft der sechs anderen Briefe – Epheser, Kolosser, 2 Thessalonicher, 1 und 2 Timotheus und Titus – ist umstritten, doch heute wird hauptsächlich die Meinung vertreten, dass sie kürzere oder längere Zeit nach seinem Tod von Schülern des Paulus geschrieben wurden, die in seinem Sinne zu handeln glaubten und deshalb seinen Namen unter ihre Schriften setzten. Dass sie dabei möglicherweise eine Deutung seines Gedankenguts vermittelten, die Paulus selbst nicht niedergeschrieben hätte, nahmen sie in Kauf.
Der Römerbrief wird immer als der erste genannt, weil er mit 7094 Wörtern der längste ist. Mit 328 Wörtern ist der Brief an Philemon der kürzeste. Mit ihrer zeitlichen Reihenfolge hat der Umfang der Briefe jedoch nichts zu tun. Die meisten Paulus zugeschriebenen Briefe sind in die 50er-Jahre zu datieren und damit gehen sie der schriftlichen Niederlegung der ersten Evangelien weit voraus.
Die Bewohner der Stadt Thessalonich waren die Ersten, die ein Schreiben von Paulus empfingen. Im Jahr 49 hatte er in dieser Stadt die Basis für eine christliche Gemeinschaft gelegt. Etwa zwei Jahre später, als er über längere Zeit in Korinth predigte, wollte er die Thessalonicher wissen lassen, wie tief verbunden er sich ihnen fühlte. Sein zweiter Brief richtete sich an die Galater. Vermutlich schrieb er ihn 53 in Ephesus, wo er sich von 52 bis 54/55 aufhielt. Von Ephesus aus wandte er sich in diesem Jahr auch an die Philipper und die Korinther. Im Jahr 56, noch bevor er einen Fuß auf die Straßen Roms gesetzt hatte, sollte er auch den Bewohnern der Hauptstadt des Reiches Mut zusprechen. Mit seinen Briefen war Paulus der Erste, der sich schriftlich über den Glauben an Christus geäußert hat. Dabei hatte er Jesus nie als Prediger erlebt, sondern sich aus Erzählungen der Apostel und anderer Zeitzeugen ein Bild von ihm machen müssen.
Paulus lässt in seinen Briefen keinen Zweifel daran, wer er ist und welche Ziele er verfolgt. Er nennt sich einen Diener Jesu Christi, einen berufenen |25|Apostel, auserwählt, die frohe Botschaft Gottes zu verkünden. Über sein persönliches Tun und Lassen auf seinen Reisen sagt er nichts. Über seine Reiserouten können wir manchmal nur Vermutungen anstellen; ebenso können wir nur schwer nachvollziehen, wie er vorging, wenn seine Predigten in einer Stadt Anklang gefunden hatten und er eine neue christliche Gemeinde gründen konnte.
Was er jedoch in seinen Briefen zum Ausdruck bringt, sind Emotionen. Manchmal zeigt er sich mitfühlend und teilt die Sorgen und Ängste der Menschen, an die er sich wendet. Er kann jedoch auch austeilen und seine Widersacher beschimpfen, so zum Beispiel in seinem Brief an die Galater. Den Leuten, die dort Unruhe stiften, ruft er zu, sie „sollen sich doch gleich entmannen lassen“ (Gal 5, 12). Wenn es um die Glaubensverkündigung ging, die er sich aufgetragen hatte, gab es für Paulus kein Wenn und Aber und er scheute auch nicht vor harten und beleidigenden Worten zurück.
Paulus verkündete in seinen Briefen keine in sich geschlossene Theologie; er hatte keinen konsistenten Rahmen für alles und jedes zu bieten. Mit Ausnahme vielleicht des Römerbriefes sind seine Briefe Ansammlungen ungebundener Gedanken über Probleme, mit denen er auf seinen Missionsreisen konfrontiert wurde. Und diese Probleme unterschieden sich von Ort zu Ort. In Korinth spielten andere Dinge eine Rolle als in Thessalonich oder Ephesus. Für die Christen in diesen Städten waren Paulus’ Ratschläge ein willkommener Rückhalt. Im Verlauf der Zeit nahm der Aktualitätswert seiner Worte natürlich ab, da in diesen Städten gesellschaftliche Veränderungen eintraten und das Bedürfnis nach zeitgebundenen Empfehlungen verschwand. Der Popularität der Briefe tat das keinen Abbruch. Sie wurden in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen, mit der verblüffenden Folge, dass von heutigen Christen erwartet wird, Lehren aus Hilfestellungen zu ziehen, die ein reisender Glaubensverkünder vor fast 2000 Jahren kleinen christlichen Gemeinden in einer feindlich gesinnten heidnischen Welt gab.
Im 2. Jahrhundert war die Anzahl der Christen stark angewachsen und damit stieg auch das Interesse der Gläubigen an Geschichten über den Ursprung ihres Glaubens. Es kamen Erzählungen in Umlauf, in denen die historische Wirklichkeit einer idealisierten Darstellung der Dinge Platz gemacht hatte. Ein Beispiel sind die in griechischer Sprache geschriebenen „Paulusakten“ („Acta Pauli“). Teile dieser der Glaubensverkündigung und dem Tod des Paulus gewidmeten Erzählung wie etwa die „Akten des Paulus und der Thekla“ und das „Martyrium des Paulus“ sind auch in gesonderten Manuskripten überliefert.10
Die Übereinstimmungen mit dem Text der Apostelgeschichte sind klar erkennbar. Der Verfasser hatte die Reisewege des Paulus vor Augen, als er seine Sicht auf die Glaubensbotschaft des Apostels zu Papier brachte. Er folgt seinen Spuren zu den Städten, die er besuchte, und erzählt von den Widerständen, die er dort zu überwinden hatte. Doch die Unterschiede sind noch größer. Durchweg wird deutlich, dass die Zeiten sich geändert haben, dass die Empfehlungen für einen tugendhaften Lebenswandel, die Paulus in seinen Briefen gegeben hatte, auf eine ganz besondere Weise interpretiert werden.
Ein anderer Paulus wird hier vorgeführt. Er wird als ein Verfechter asketischer Keuschheit und Enthaltung dargestellt. Sätze wie „Gesegnet sind die, die Frauen haben, als ob sie sie nicht hätten“ und „Gesegnet sind die, die das Fleisch rein halten“ haben in der Folgezeit ein Eigenleben geführt und das Bild des Apostels gefärbt.
Spätere christliche Autoren gingen noch viel weiter und ordneten die historische Wirklichkeit ihren Bemühungen unter, Paulus’ Rolle in der Glaubensverkündigung noch nachdrücklicher hervorzuheben. Ein ganz außergewöhnliches Beispiel ist der frei erfundene Briefwechsel zwischen Paulus und dem römischen Philosophen Seneca. Gegen Ende des 3. oder zu Beginn des 4. Jahrhunderts wurden die 14 in lateinischer Sprache verfassten Briefe veröffentlicht, die im Mittelalter viele Leser fanden. Der Kernpunkt des Ganzen ist Senecas Bewunderung für Paulus’ Aufrufe zu einem moralisch sauberen Lebenswandel. Der Philosoph zeigt sich empfänglich |27|für die Vorstellungen des Paulus. Paulus seinerseits spornt Seneca im letzten Brief dazu an, fortan „als ein neuer Gesandter Jesu Christi“ zu wirken. Auch wenn diese Briefe ohne jeden historischen Wert sind, haben sie doch einen wesentlichen Beitrag zum Durchbruch des Christentums geleistet. Wenn sogar ein großer Philosoph wie Seneca sich dem neuen Glauben öffnete, dann konnten andere doch nicht zurückstehen: Dieser Gedanke leuchtete vielen Menschen ein.
Meine Suche nach Paulus’ Spuren beginnt in Tarsus, einer kleinen Stadt im Südosten der Türkei, etwa 15 Kilometer landeinwärts vom Mittelmeer. Die moderne Stadt bietet einen deprimierenden Anblick. Selbst die Sonne, die einen großen Teil des Jahres intensiv scheint, kann daran nichts ändern. Überall beherrschen schmuddelige alte Gebäude und eintönige Wohnblöcke das Bild. Es braucht schon etwas Fantasie, um sich vorzustellen, dass hier kurz nach 3000 v. Chr., vor fast 5000 Jahren, eine beachtliche geschichtliche Entwicklung ihren Anfang nahm. Damals ließen sich die ersten Menschen in der fruchtbaren Ebene in unmittelbarer Nähe des Flusses Kydnos nieder. Sie lebten vom Ackerbau, von der Viehzucht und vom Fischfang. Im 2. vorchristlichen Jahrtausend war Kilikien, die Region, in der Tarsus liegt, durch einen Vertrag mit dem Volk der Hethiter im anatolischen Hochland verbunden. Um 1200 v. Chr. war es mit der relativen Ruhe vorbei. Seevölker aus dem Norden destabilisierten die Länder um das Mittelmeer und zogen eine Spur der Verwüstung. Das Reich der Hethiter zerfiel und auch die alte Siedlung am Kydnos wurde zerstört.
Nachdem allmählich Ruhe in die Region zurückgekehrt war, bauten griechische Kolonisten die Stadt im 9. Jahrhundert v. Chr. wieder auf und nannten sie Tarsus. Neue Feinde, diesmal aus dem Osten, ließen jedoch nicht lange auf sich warten: die Assyrer. Sie eroberten Tarsus und hatten dort bis zum Ende des 7. Jahrhunderts v. Chr. das Sagen. Nach einer kurzen Periode der Unabhängigkeit eroberten die Perser unter König Kyros II. (559–530 v. Chr.) die Stadt. Unter ihnen wurde Tarsus zu einem wichtigen Rastplatz für Reisende auf dem Weg nach Syrien. 333 v. Chr. übernahmen die Makedonen Alexanders des Großen die Macht. Der Tod des jungen Königs, dem es zuvor gelungen war, Ost und West in einem großen |29|Reich miteinander zu verbinden, löste einen Machtkampf zwischen seinen potenziellen Nachfolgern aus. Gut 30 Jahre lang kam Kilikien wieder einmal nicht zur Ruhe. Diese kehrte erst zu Beginn des 3. Jahrhunderts v. Chr. ein, als Tarsus unter die Herrschaft der Könige des neuen Seleukidenreiches geriet. Unter ihnen erlebte die Stadt, strategisch günstig gelegen in nächster Nähe zum Mittelmeer und an den Karawanenstraßen nach Osten, einen großen Aufschwung.
Am Horizont von Tarsus taucht das unfruchtbare Bergland auf. Das Leben war hier schon immer hart. Ackerbau und Viehzucht brachten den Menschen kaum etwas ein und viele suchten ihr Heil als Wegelagerer und Piraten. Im 2. Jahrhundert v. Chr. hatte sich die Piraterie stark ausgebreitet. Die Römer, die aufsteigende Weltmacht im östlichen Mittelmeerraum, zögerten lange, gegen die Piraten vorzugehen: Der Schaden, verursacht durch die Überfälle auf schwer beladene Frachtschiffe, wurde durch die großen Menschenmengen kompensiert, die von den Seeräubern gefangen genommen wurden und über Sklavenhändler schließlich auf die Latifundien der römischen Senatoren gelangten. Zu Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. wurde es ihnen dann doch zu viel und sie beschlossen, durchzugreifen. 67 v. Chr. schlug ihr Feldherr und Admiral Pompeius die kilikischen Piraten nieder. In der Folge ordnete er die Region neu – das Seleukidenreich war inzwischen zerfallen – und machte Kilikien zu einer Provinz des Römischen Reichs.
Tarsus wurde zum wichtigsten Verwaltungszentrum der Region. Zahlreiche bedeutende Römer beehrten die Stadt mit ihrem Besuch. Dazu gehörte auch Iulius Caesar, der 47 v. Chr. nach Tarsus kam. Die Tarser waren so begeistert, dass sie ihre Stadt (zeitweilig) in Iuliopolis umbenannten. Marcus Antonius, ein Vertrauter Caesars, der nach dessen Tod im Jahre 44 v. Chr. zunächst mit Octavian und Lepidus ein Triumvirat bildete und nach dem Zerfall des Triumvirats einen Machtkampf mit Octavian führte, belohnte die Loyalität, die die Tarser Caesar und ihm gegenüber gezeigt hatten, mit manchen Privilegien – so etwa mit der Steuerbefreiung. Als Kaiser Augustus bestätigte sein Widersacher Octavian später diese Privilegien, sodass Tarsus über längere Zeit eine Vorzugsstellung genoss.
Von der langen Geschichte der Stadt ist heute nur noch wenig zu sehen. Die Überreste der alten Stadt sind unter der modernen Bebauung |30|verschwunden. Nur ein Teil der alten römischen Straße nördlich von Tarsus und eine Straße im Zentrum der Stadt erzählen noch von der fernen Vergangenheit. Wir müssen uns mit den Informationen der antiken Autoren behelfen, die allerdings in ihren Beschreibungen nie ins Detail gehen. Der Athener Xenophon gelangte um das Jahr 400 v. Chr. in die Stadt, da er als Söldnerhauptmann am Feldzug des persischen Prinzen Kyros gegen dessen Bruder Artaxerxes teilnahm, der nach dem Tod des Vaters den Thron bestiegen hatte. Auf dem Weg nach Kunaxa im heutigen Irak, wo der Thronstreit in einer Schlacht entschieden werden sollte, kamen die griechischen Söldner durch Tarsus. Xenophon schrieb begeistert von „einer großen und reichen Stadt“, ohne eine nähere Beschreibung zu geben.11 Dion Chrysostomos ließ sich im 2. Jahrhundert n. Chr. in nahezu gleichlautenden Worten aus,12 obwohl sich Tarsus in den 500 Jahren, die ihn von Xenophon trennten, zweifellos gehörig verändert und ein anderes Gesicht bekommen hatte. Auch die Einwohnerschaft war viel kosmopolitischer geworden. Anfangs hatten dort vor allem Griechen und Phönizier gelebt, doch vom 2. Jahrhundert v. Chr. an hatte es einen großen Zustrom jüdischer Kolonisten gegeben und im 1. Jahrhundert v. Chr. hatten sich auch römische Veteranen dort niedergelassen. Tarsus war zu einer mittelgroßen Stadt mit wohl 50.000 Bewohnern angewachsen. Zu den wichtigsten Pfeilern des Wohlstands gehörten Handel und Gewerbe.
Wie viele andere Städte der antiken Welt wäre vermutlich auch Tarsus in Vergessenheit geraten, würde es nicht mit zwei berühmten Persönlichkeiten der Weltgeschichte in Verbindung gebracht werden: Kleopatra und Paulus. Die ägyptische „Femme fatale“ kam nur auf eine Stippvisite nach Tarsus. 41 v. Chr. entflammte hier die Liebe zwischen der ägyptischen Königin aus dem ruhmreichen Geschlecht der Ptolemäer und dem römischen Feldherrn Marcus Antonius. Acht Jahre zuvor hatte sie sich in Alexandria, in einen Teppich eingerollt, Iulius Caesar präsentiert, drei Jahre nach seinem Tod segelte sie auf einem Schiff mit goldenen und |31|silbernen Relings und Segeln aus purpurner Seide in den Hafen von Tarsus ein. Die Mitglieder der Besatzung waren als Eroten und Nereiden herausgeputzt. Die Tarser strömten in Massen auf die Kais, um einen Blick auf dieses wundersame Schauspiel zu erhaschen, das am Beginn einer Liebesbeziehung stand. Leider war dieser kein gutes Ende beschieden, da das Liebespaar den Machtkampf gegen Octavian verlor. Octavian wurde A lleinherrscher im Römischen Reich, Kleopatra und Antonius nahmen sich das Leben.
Dass der Name der Stadt im Gedächtnis der Menschen geblieben ist, hat Tarsus an allererster Stelle einem anfänglich völlig unbekannten Juden zu verdanken. Zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. konnte keiner der Bewohner der Stadt auch nur ahnen, dass ein junger Mann in ihrer Mitte lebte, dessen Name in späteren Zeiten Millionen Menschen ein Begriff sein sollte. Er hieß Saulus/Paulus und wird häufig als „der Mann aus Tarsus“ bezeichnet, da für gewöhnlich davon ausgegangen wird, dass er dort das Licht der Welt erblickte.
Wie sich später noch häufig zeigen wird, liegt vieles im Leben des Paulus im Dunkeln; auch sein Geburtsort ist keineswegs genau bekannt. Auf den ersten Blick gibt es keinen Grund daran zu zweifeln, dass er in Tarsus geboren wurde. Lukas war jedenfalls fest davon überzeugt; er legte Paulus diese Worte in den Mund: „Ich bin ein Jude, geboren in Tarsus in Kilikien“ (Apg 22, 3). Paulus selbst hat sich in seinen Briefen nicht explizit über seinen Geburtsort geäußert, was merkwürdig scheint, weil er mehrere Male auf seine jüdischen Wurzeln zu sprechen kommt. In seinem Brief an die Philipper (3, 4–5) schrieb er: „Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus dem Volk Israel, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern.“ In seinem zweiten Brief an die Korinther ließ er wissen, er gehöre zu den Israeliten und sei ein Nachkomme Abrahams (2 Kor 11, 22). Kein Wort über Tarsus.
Die Aussagen in den Briefen an die Philipper und die Korinther werden für gewöhnlich als ein Hinweis darauf verstanden, dass Paulus sich als Jude in der Diaspora mit den Juden in Israel eng verbunden fühlte. In den Anspielungen auf seine Herkunft wird nicht mehr gesehen als die Bestätigung, dass er sich seines jüdischen Ursprungs voll bewusst war und ihn öffentlich bezeugen wollte. In fast allen Abhandlungen über Paulus |32|ist zu lesen, oft ohne nähere Erläuterung, dass Paulus in Tarsus als Sohn einer jüdischen Familie mit römischem Bürgerrecht geboren wurde. Wie sein Vater an dieses Bürgerrecht gekommen war, wird nicht gesagt. Man geht einfach davon aus, dass Paulus einer der wenigen angesehenen jüdischen Familien in Tarsus entstammte.13
Meiner Meinung nach ist es gar nicht so selbstverständlich, dass Paulus ein in Tarsus geborener Diasporajude war, dessen Familie seit geraumer Zeit bereits das römische Bürgerrecht besaß. Falls er tatsächlich aus einer angesehenen Familie stammte, hätte er sicherlich davon gesprochen, denn der Besitz des römischen Bürgerrechts war innerhalb der jüdischen Gemeinschaften in den griechisch-römischen Städten nur wenigen vorbehalten. Seine expliziten Äußerungen über Hebräer und Israeliten sind meines Erachtens darauf zurückzuführen, dass er sich seiner Herkunft aus ihrem Land bewusst war – nicht als Nachkomme von Juden, die schon vor langer Zeit ihr Land verlassen hatten, sondern als in Judäa oder Galiläa geborenes Kind, das irgendwann nach Tarsus gekommen war. Diese Annahme ist freilich spekulativ, da in den Texten aus dem 1. und 2. Jahrhundert keine entsprechenden Anspielungen zu finden sind. Sie beruht einzig und allein auf zwei Aussagen, die Hieronymus gegen Ende des 4. Jahrhunderts traf und die noch nicht einmal völlig übereinstimmen.14 Im Jahr 388 schrieb dieser Kirchenvater in einem Kommentar zu Paulus’ Brief an Philemon:
Es heißt, dass die Eltern des Apostels Paulus aus Gischala stammten, einem Landstrich in Judäa, und dass sie, als die ganze Provinz von den Römern verwüstet wurde und die Juden sich über die Welt verbreiteten, nach Tarsus verbracht wurden, einer Stadt in Kilikien. Der junge Paulus teilte das Los seiner Eltern. Nun begreifen wir auch, was er von sich selbst sagt: „Sie sind Hebräer – ich auch. Sie sind Israeliten – ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams – ich auch.“ [2 Kor 11, 22] Und an anderer Stelle: „Ein Hebräer [geboren] von Hebräern“, [Phil 3, 5] und an anderen Stellen wieder andere Dinge, die vermuten lassen, dass er eher ein Judäer denn ein Tarser war.15
Fünf Jahre später wiederholte Hieronymus diese „Enthüllung“ noch einmal in einem Buch mit Biografien berühmter Persönlichkeiten. Dort erzählt der Kirchenvater:
|33|Der Apostel Paulus, der vorher Saulus hieß, nicht zur Zahl der zwölf Apostel gehörig, kam aus dem Stamm Benjamin und aus Gischala, einem Ort in Judäa; nachdem dieser von den Römern eingenommen worden war, wanderte er mit seinen Eltern nach Tarsus aus.16
Diese beiden Aussagen können natürlich als Fiktion beiseitegeschoben werden, da sie gut drei Jahrhunderte später als die Apostelgeschichte niedergeschrieben wurden und Hieronymus sich insofern nicht gut informiert zeigt, als er Gischala in seinem ersten Text als einen Landstrich bezeichnet, im zweiten dagegen als eine Stadt, die er noch dazu nicht in Galiläa, sondern in Judäa ansiedelt. Doch dann stellt sich die Frage, welches Interesse Hieronymus daran gehabt haben könnte, eine von der gängigen Auffassung abweichende Darstellung zu geben und sich auf eine offenbar schon alte Überlieferung zu stützen, der zufolge Paulus nicht in Tarsus, sondern in Gischala geboren wurde.17
Die Texte des Hieronymus werfen auch ein Licht auf Paulus’ Geburtsdatum und seine ersten Lebensjahre. Über beides lässt sich nichts Sicheres sagen. Zwischen der frühesten Datierung seiner Geburt ins Jahr 6 v. Chr. und der spätesten ins Jahr 15 n. Chr. liegt eine Differenz von 20 Jahren. Sollte Paulus erst 15 n. Chr. zur Welt gekommen sein, wäre er um das Jahr 30, als Christus in Jerusalem gekreuzigt wurde, ein etwa 15 Jahre alter Junge gewesen, der sich zu jener Zeit dort aufgehalten hätte. Der 6 v. Chr. geborene Paulus wäre um diese Zeit ein Mann in den besten Jahren gewesen, der auf eine lange Ausbildung in Tarsus und in Jerusalem zurückblicken konnte. In diesem Fall wäre seine Bekehrung zum Glauben an Christus wenige Jahre später keine fixe Idee eines ungestümen Jugendlichen.
Meiner Meinung nach spricht alles für das frühere Geburtsdatum, im Jahr 6 v. Chr. oder kurz danach, weil dann all das, was Paulus selbst über seine Herkunft (und seine frühe Jugend) erzählt, in einen historischen Rahmen eingefügt werden kann, auch seine Bemerkung im Brief an Philemon (Vers 9) von 53, dass er ein presbytés, ein älterer Mann, sei. Er war damals ungefähr 59 Jahre alt.18