Paulusstudien - Friedrich W. Horn - E-Book

Paulusstudien E-Book

Friedrich W. Horn

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Beschreibung

Die in diesem Band vereinten Paulusstudien bewegen sich um drei inhaltliche Schwerpunkte und Fragen: Gibt es Wandlungen und Veränderungen im Denken des Paulus? Sind diese kontextuell zu erklären oder deuten sie auf gedankliche Weiterarbeit hin? Paulus entwirft eine Ethik für heidenchristliche Gemeinden. Diese kennt Adaptionen vorgegebener Werte, setzt aber doch innerhalb der Eschatologie und der Christologie eigene und neue Ausrichtungen. Paulus tritt für das Recht heidenchristlicher Gemeinden ein. Dieser Schritt verlangt nach persönlichen und grundsätzlichen Klärungen des Verhältnisses zum Judentum und zu den judenchristlichen Gemeinden.

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Friedrich W. Horn

Paulusstudien

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-7720-0049-2

Inhalt

Dieses Buch widme ich ...VorwortEinführungDer Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum*1. Die frühesten christlichen Stellungnahmen zur Beschneidungsfrage2. Die Begründung des Verzichtes auf die Beschneidung3. Jüdische und judenchristliche Reaktionen4. Die Auswirkungen des Verzichts auf die BeschneidungPaulus, das Nasiräat und die Nasiräer*1. Act 18,18–221.1 Die lukanischen Aussagen1.2 Das Verhältnis zu jüdischen Aussagen über das Nasiräat1.3 Die historischen Zusammenhänge2. Act 21,15–272.1 Die lukanischen Aussagen und ihr Verhältnis zu jüdischen Aussagen über das Nasiräat2.2 Die historischen Zusammenhänge3. Theologische BewertungKyrios und Pneuma bei Paulus*1. Zur Begriffsgeschichte2. Die direkten Zuordnungen von κύριος, υἱὸς θεοῦ, ἔσχατος Ἀδάμ bzw. Ἰησοῦς Χριστός und πνεῦμα in den paulinischen Briefen2.1 „Wenn aber einer den Geist Christi nicht hat, ist dieser nicht sein“ (Römer 8,9c)2.2 „Der letzte Adam (wurde) zu einem lebenschaffenden Geist“ (1Kor 15,45b)2.3 „Der Herr aber ist der Geist“ (2Kor 3,17a)2.4 „Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“ (2Kor 3,17b)2.5 „Wir werden verwandelt von Herrlichkeit zu Herrlichkeit wie vom Geist des Herrn“ (2Kor 3,18)2.6 „Gott sandte den Geist seines Sohnes in unsere Herzen, der ruft Abba, Vater“ (Gal 4,6b)2.7 „Denn ich weiß, dass dieses mir zum Heil gereichen wird durch euer Gebet und die Unterstüzung des Geistes Jesu Christi“ (Phil 1,19)3. Ergebnisse und FolgerungenDie letzte Jerusalemreise des Paulus*1 Einleitung2 Die Kollektenreise des Paulus nach Jerusalem2.1 Die Absicht der Reise2.2 Die Aufforderung zur Fürbitte und die Situation des Paulus3 FolgerungenIst Paulus der Begründer des Christentums?*I. Begründer oder zweiter Begründer des Christentums? Zur ForschungsgeschichteII. Der historische Standort des PaulusIII. Paulus als Begründer des ChristentumsZur Literarkritik der Paulusbriefe*1. Der Weg zur Methode literarkritischen Arbeitens2. Aufsätze zur Literarkritik der Paulusbriefe3. Kritische WürdigungDie Kollektenthematik in der Apostelgeschichte*1. Die Kollektenthematik im Kontext des Apostelkonvents2. Die Anfänge der antiochenischen Kollekte3. Die Vorgeschichte der antiochenischen Kollekte4. Die Kollektendelegation der makedonischen und achaischen Gemeinden5. Der Verbleib der KollekteDie Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes und die vergänglichen Bilder der Menschen*1. Röm 1,23 im Kontext des Römerbriefs2. Der schlechte Tausch: Bilder eines vergänglichen Menschen, von Vögeln, Vierfüßlern und Kriechtieren (Röm 1,23)3. Die Polemik gegen die Verehrung von Menschen- und Tierbildern im hellenistischen Judentum4. Gottesverehrung, Bilder und EthikJuden und Heiden – Aspekte der Verhältnisbestimmung in den paulinischen Briefen1. Der Widerspruch Ernst Käsemanns2. Die Rechtfertigungslehre als Apologie der Heidenmission3. Das Modell von zwei Bünden – Aufnahme und Kritik4. Die Rechtfertigung des Gottlosen5. AusblickSummaryDie Nachfolgeethik Jesu und die urchristliche Gemeindeethik1. Theologie und Ethik des Neuen Testaments. Das Verhältnis beider Disziplinen zueinander innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft2. Glaubensüberzeugung und Lebensgestaltung, Zuspruch und Anspruch3. Das Doppelgebot der Liebe4. Besonderheiten der urchristlichen Gemeindeethik5. Anfragen und WürdigungPaulus* und der Herodianische Tempel**1. Einführung2. Heidenchristliche Gemeinden als Tempel Gottes3. Die Tempelfrömmigkeit des Paulus4. Tempeltheologische Aspekte im Kontext der KollektenreiseStephanas und sein Haus – die erste christliche Hausgemeinde in der Achaia1. Die Empfehlung des Stephanas und seiner Begleiter im Briefschluss des ersten Korintherbriefs2. Die οἰκία Στεφανᾶ – ἀπαρχὴ τῆς Ἀχαΐας3. Der Dienst an den Heiligen4. Die stellvertretende Leistung der Hausgemeinde des Stephanas5. Stephanas und PaulusDas apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Römer 15*I. Autobiographisches Reden in Röm 15,7–33II. Forschungspositionen1. Paulus als Diplomat2. Paulus als Ausleger und Erfüller der Schrift3. Paulus als Hermeneut existentieller TheologieIII. Die priesterliche Selbstvorstellung1. εἰς τὸ εἶναί με λειτουργὸν Χριστοῦ Ἰησοῦ εἰς τὰ ἔθνη (Röm 15,16a)2. ἱερουργοῦντα τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ (Röm 15,16b)3. ἵνα γένηται ἡ προσφορὰ τῶν ἐθνῶν εὐπρόσδεκτος (Röm 15,16c)4. ἡγιασμένη ἐν πνεύματι ἁγίῳ (Röm 15,16d)IV. Das apostolische Selbstverständnis des Paulus nach Röm 15Die Darstellung und Begründung der Ethik des Apostels Paulus in der new perspective*1. ‚Lutheran spectacles‘2. Indikativ und Imperativ3. Rechtfertigung und Heiligung4. Die jüdische Grundstruktur der paulinischen Ethik5. ἔργα νόμου6. Das Verhältnis zur Tora7. Heiligung – ein ethischer Begriff?8. SchlussDas Verhältnis von sakramentaler und ethischer Sprache in den Paulusbriefen*1. Sprachliche Voraussetzungen2. Die Verwendung der Belege im Corpus Paulinum3. Gal 3,274. Röm 13,145. Kol 3,10f6. Zum religionsgeschichtlichen Kontext der Metapher7. Die ethische Verwendung der MetapherGötzendiener, Tempelräuber und Betrüger1. Polemik im Römerbrief – Einführung2. Die Polemik gegen pagane Lebensweise in Röm 1,18–323. Die Polemik gegen Juden in Röm 2,17–244. Die conclusio in Röm 3,9–205. Die ‚Ketzerpolemik‘ in Röm 16,17–20a6. AuswertungWerke des Gesetzes, Werke des Fleisches, Werke der Finsternis1 Einleitung2 Begriffsgeschichtliche Klärungen3 Werke des Gesetzes4 Werke im Glauben4.1 Der juridische Kontext4.2 Der sakramentale Kontext4.3 Die Heiligung der Gemeinde5 FazitWollte Paulus ‚kanonisch‘ wirken?*1. Begriffsgeschichtliche Annäherungen2 Kor 10,12–18Gal 6,16Phil 3,16Ergebnis2. Die Briefe des Paulus als Kanon3. Das Anathema über ein anderes Evangelium4. Die Nicht-Einmischungsklausel im RömerbriefOrtsverschiebungen1. Ortsverschiebung: Die Gemeinde als gegenwärtiger Tempel2. Ortsverschiebung: Der wahre, jenseitige, himmlische Kult3. Ortsverschiebung: Gott und Christus als der zukünftige TempelPaulus und die Kardinaltugenden*1. Traditions- und begriffsgeschichtlicher Befund zum Kanon der Kardinaltugenden2. Die Kardinaltugenden als apostolischer Anspruch3. Tapferkeit4. Die Anthropologie des Paulus und die KardinaltugendenNicht wie die Heiden!1. Zur Sexualethik des Paulus2. Tabuzonen2.1 Inzest2.2 Πορνεία2.3 Prostitution2.4 Ehebruch2.5 Μαλακοί und ἀρσενοκοῖται2.6 Geschlechtsverkehr mit Engeln2.7 ErgebnisSachregister

Dieses Buch widme ich Hannah, Emmalie, Jonna und Ella.

Vorwort

Die in diesem Buch abgedruckten Aufsätze stellen eine Auswahl von Paulusstudien aus den vergangenen beiden Jahrzehnten dar. Diese wurden in chronologischer Reihenfolge angeordnet, durchgehend korrigiert und an ganz wenigen Stellen um zwischenzeitlich notwendig gewordene Hinweise ergänzt.

Ich danke Jutta Nennstiel sehr herzlich für alle Arbeit an diesem Band. Sie hat Aufsätze, die nicht digital vorlagen, neu geschrieben, sodann alle Dateien in das NET-Format überführt und durchkorrigiert, sie hat das Register erstellt und den Band in der ihr eigenen Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bis zur Abgabe an den Verlag betreut. Diesen Dank weite ich an dieser Stelle sehr gerne und von Herzen über dieses Buch hinaus aus auf die gesamte zurückliegende Zeit gemeinsamer Arbeit.

 

Mainz, im April 2017

Friedrich W. Horn

Einführung

Die in diesem Band vorliegenden Aufsätze stellen eine Auswahl von Paulusstudien aus den vergangenen beiden Jahrzehnten dar. Sie stehen in Verbindung mit meiner Lehrtätigkeit an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und sind in der Abfolge ihrer Publikationsjahre hier erneut wiedergegeben. Der erste abgedruckte Aufsatz gibt den Probevortrag wieder, mit dem ich mich 1994 in Mainz beworben habe. Das von mir herausgegebene Paulus Handbuch, Tübingen 2013, ist der Darstellung der Person und des Werks des Apostels gewidmet. Drei inhaltliche Schwerpunkte sind in den ausgewählten Paulusstudien gesetzt:

Seit meiner Habilitationsschrift beschäftige ich mich mit der Frage nach Wandlungen innerhalb der paulinischen Theologie. Diese Fragestellung wurde für mich seinerzeit von Georg Strecker an der Georg-August-Universität in Göttingen angestoßen und sie wurde damals auch von meinen Vorgängern als Assistent Georg Streckers, von Gerd Lüdemann und Udo Schnelle, aber auch von weiteren Doktoranden aufgenommen. Es geht hierbei primär darum, Wandlungen innerhalb der Briefe des Paulus zwischen dem 1. Thessalonicherbrief als dem frühesten Brief und dem Römerbrief als dem vermutlich letzten Brief des Paulus zu erkennen und zu beschreiben. Darüber hinaus aber ist noch weiter zurückzufragen in die vor den Gemeindebriefen liegende antiochenische Zeit des Apostels und sogar in seine vorchristliche, jüdisch-pharisäische Vergangenheit. Hier liegen grundlegende jüdische und frühchristliche Prägungen des Paulus und sie sind in seinen Briefen unschwer zu erkennen. Der Frage nach Wandlungen liegt aber im engeren Sinn die Einsicht zugrunde, dass das Damaskuserlebnis oder die Berufung des Paulus nicht der archimedische Punkt ist, der alle weiteren theologischen Einsichten in sich schließt. Vielmehr setzt das Damaskuserlebnis, in dessen Zentrum wohl die als Offenbarung interpretierte Anerkennung des gekreuzigten Jesus als des Christus steht, die Notwendigkeit frei, diese Einsicht gedanklich zu bewältigen. Die Briefe des Paulus sind Dokumente dieses Reflexions- und Selbstfindungsprozesses christlicher Theologie. Man sollte jedoch nicht meinen, es sei ein gedanklicher Entwicklungsprozess des Apostels stimmig zu rekonstruieren. Die Ausführungen des Paulus in seinen Briefen sind in hohem Maße kontextuell eingebunden und bisweilen auch als Reaktion auf Strömungen in den Gemeinden oder als Auseinandersetzung mit weiteren Aposteln zu verstehen. Zu dem Thema der Wandlungen innerhalb der paulinischen Theologie gehört auch die seinerzeit von Georg Strecker betonte Einsicht, dass die in allen Briefen des Paulus begegnende ‚in Christus-Vorstellung‘ so etwas wie die Konstante im Denken des Paulus darstellt.

Auch der zweite Schwerpunkt verdankt sich einer Anregung Georg Streckers. Dieser war an allen ethischen Fragen des Neuen Testaments im Kontext seiner hellenistischen Umwelt interessiert und er arbeitete an einer monographischen Darstellung der Ethik des Neuen Testaments, die jedoch wegen seines frühen Todes nicht abgeschlossen werden konnte. Georg Strecker hatte mir in der Dissertation die Aufgabe gestellt, die Ethik des Evangelisten Lukas zu untersuchen (Glaube und Handeln in der Theologie des Lukas, GTA26, Göttingen 1983. 21986). Der Titel dieser Studie bewegt sich noch ganz in der seinerzeit bestimmenden Fragestellung nach dem theologischen Ort der Ethik. Damit jedenfalls war ein ethischer Schwerpunkt gesetzt, der hernach auch in der Beschäftigung mit Paulus erhalten blieb. Seit 1982 habe ich in der Theologischen Rundschau die Literatur zur Ethik des Neuen Testaments besprochen (ThR 60, 1995, 32–86; ThR 76, 2011, 1–36.180–221). Mit der Berufung von Ulrich Volp im Jahr 2008 (Kirchengeschichte/Patristik) und Ruben Zimmermann im Jahr 2009 (Neues Testament) konnte in Mainz das Zentrum für Ethik in Antike und Christentum (EAC) begründet werden. Neben regelmäßigen Tagungen, den Mainz Moral Meetings, und der Arbeit in Doktorandengruppen bzw. in einem Graduiertenkolleg konnten ab jetzt regelmäßig Publikationen zu ethischen Themen vorgelegt werden. Diese sind teilweise in einer Untergruppe der Reihe WUNT als ‚Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik‘ erschienen.

Der dritte Schwerpunkt liegt in dem facettenreichen Thema Paulus und das Judentum. Durch die Berufung an die Gerhard-Mercator-Universität in Duisburg im Jahr 1992 wurde mir die Leitung des Forschungsschwerpunktes Geschichte und Religion des Judentums übertragen. Ich musste schnell erkennen, dass ich durch die Göttinger Studien- und Qualifikationszeit nicht auf die spezifischen Fragen vorbereitet war, die sich in Duisburg im Kontext des christlich-jüdischen Dialogs, wie er in der Evangelischen Kirche im Rheinland geführt wurde, vorbereitet war. Gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen Heike Omerzu und Claudia Büllesbach und mit meinem Mitarbeiter Hermut Löhr haben wir in diesen Jahren in Duisburg einen anderen Schwerpunkt gesucht und haben zu den Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit gearbeitet. Das Bild des hellenistischen Diasporajuden Paulus, eines römischen Bürgers und jüdischen Denkers, erfuhr durch diese Studien eine differenzierte Betrachtung. Auch die gemeinsame Arbeit an historischen, rechtlichen und theologischen Fragen zum Ende des Paulus findet einen Niederschlag in etlichen Beiträgen dieses Bandes. Durch die New Perspective on Paul, die mit großer zeitlicher Verzögerung in Deutschland rezipiert wurde, sind etliche Fragestellungen zum Judentum, zur jüdischen Matrix des Paulus und zur Gestalt seiner Theologie neu erschlossen worden. Man konnte und durfte diesen Fragen nicht ausweichen, zu grundsätzlich waren die Anfragen etwa an die Bedeutung der Rechtfertigungslehre und an die Ekklesiologie in der älteren deutschen Exegese. Vor allem hat mich interessiert, wie Paulus mit den sogenannten identity markers oder boundary markers des Judentums gegenüber der heidnischen Welt umgeht und welche Ethik er entwirft, wenn er nun seinerseits Heidenmissionar wird und christliche, vorwiegend heidenchristliche Gemeinden begründet.

Hier in diesem Band nicht aufgenommen sind Aufsätze und Artikel zur Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte, die sich auf die Religionsgeschichtliche Schule und deren Nachwirkung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beziehen. Sie sollen dennoch erwähnt werden, weil es eine Grunderfahrung der Arbeit vergangener Jahre war, Wesentliches aus dem Studium der Arbeiten dieser Theologengeneration empfangen und gelernt zu haben.

Der Verzicht auf die BeschneidungBeschneidung im frühen Christentum*

* Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum“, pp. 479–505, New Testament Studies, (1996) ©, Cambridge University Press 1996, reproduced with permission.

Die neutestamentlichen Schriften blicken mehrheitlich mit erheblichem zeitlichem Abstand auf die Anfänge des frühen Christentums zurück. Dieser Blick ist in keinem Fall von einem ausschließlich historischen Interesse geleitet, er dient vielmehr durchgehend der Selbstvergewisserung der eigenen Gegenwart. So erscheint die Verhältnisbestimmung zum Judentum in fast allen Schriften durch eine klare Abgrenzung gekennzeichnet. Der weitgehend negative Verlauf der christlichen Mission an Juden einerseits und der Fall Jerusalems im Jahr 70 n. Chr. andererseits haben diese neutestamentliche Sicht im Wesentlichen geprägt.

Gleichwohl ist für die Ausbildung von christlichen Gemeinden ein spannungsvolles Verhältnis zum Judentum geradezu konstitutiv. Es impliziert Nähe und Distanz zugleich. Man wird diese Frage auf mehreren Ebenen verfolgen, zugleich um die Gefahren eines simplifizierenden Geschichtsbildes und einer einseitigen Fragestellung wissen müssen. Das Judentum der neutestamentlichen Zeit ist eine ausgesprochen komplexe Größe. Und die Frage nach den Anfängen hat neben den theologischen gleichfalls sozialgeschichtliche, juridische oder auch politische Aspekte zu bedenken.

Ich möchte versuchen, an einem klar begrenzten Aspekt jüdischer Lebenswirklichkeit – der Beschneidung der männlichen Juden – aufzuzeigen, wie und weshalb es zu einem eigenständigen, spezifisch anderen christlichen Weg kam. Ich möchte somit Ihren Blick auf die konkreten Formen gelebter Religion lenken. Parallel hierzu wäre etwa nachzudenken über die Bedeutung der jüdischen Speisegebote, des Sabbatgebotes, der Frömmigkeitsübungen wie Fasten und Almosen. Es sind dies die sog. ‚identity markersidentity markers‘1 jüdischer Existenz im Gegenüber zur heidnischen Welt. Werden sie, wie von einem Teil des entstehenden Christentums, nicht mehr eingehalten, so hebt man das Unterscheidungskriterium auf und dispensiert sich zugleich vom jüdischen Gemeindeverband. Wir wissen, dass vor allem das Heidenchristentum, aber auch gebürtige Juden wie der Apostel Barnabas und Paulus von den Christusgläubigen aus dem heidnischen Raum keine Beschneidung verlangten. Wie kam es zu dieser Entscheidung, was hat diesen Weg begünstigt? Den Stellenwert des Themas mag ein Zitat von M. Hengel präzise anzeigen: „Der Kampf des Paulus gegen die Beschneidung und das Gesetz war […] in den Augen seiner judaistischen Gegner ein ‚Verrat am Judentum.‘“2 Dem religiösen korrespondiert ein politischer Aspekt: Heidenchristen sind ab jetzt von der jüdischen Alltagswelt (Tempelbesuch, Ehe mit einem Juden/einer Jüdin, Anspruch auf jüdische Wohltätigkeit, relative Sonderrechte im römischen Staat) a limine ausgeschossen.

1.Die frühesten christlichen Stellungnahmen zur Beschneidungsfrage

Es kann zunächst eine gewisse Eingrenzung getroffen werden. Die Frage der Beschneidung ist kein Thema der Verkündigung Jesu. Dieser Befund verdient Beachtung, weil Aussagen zu anderen sog. jüdischen ‚identity markersidentity markers‘, etwa das Verhalten am Sabbat, die Fastenpraxis, der Umgang mit Sündern, durchaus auf die Verkündigung Jesu zurückgehen und von der palästinischen Gemeinde in Apophthegmata aufgenommen worden sind. Allerdings ist sogleich zu sagen: die rechte Auslegung des Sabbatgebotes oder der Fastenpraxis stellt zur Zeit Jesu ein innerjüdisches Problem dar, in das Jesus eingreift. Die Beschneidung hingegen ist im palästinischen Judentum nahezu außerhalb jeder Diskussion.1 Dies bedeutet positiv: Wir müssen davon ausgehen, dass Jesus die Beschneidung selbstverständlich voraussetzt, gerade weil er sie nicht thematisiert.2

Die Abgrenzung – sozusagen nach hinten – ist andererseits mit dem ApostelkonventApostelkonvent gegeben, über den Gal 2,1–10$Gal 2,1–10 und Apg 15$Apg 15 berichten. Nach beiden Berichten war das Thema des Konvents allgemein die Heidenmission (Gal 2,2.9; Apg 15,12). Auf dem Konvent allerdings tritt eine Gruppierung – Lk nennt sie „einige von der Partei der Pharisäer, die gläubig geworden waren“ (Apg 15,5); Paulus sagt rückblickend „die falschen Brüder“ (Gal 2,4) – mit der Forderung der Beschneidung der bekehrten Heidenchristen auf (Apg 15,5b).3 Dies bedeutet: die Frage der Beschneidung allein war wohl nicht der direkte Anlass des Apostelkonvents, wurde aber zu einem zentralen Diskussionspunkt durch das Auftreten der „falschen Brüder“.4 Sind die „falschen Brüder“ erst durch das Auftreten des unbeschnittenen Heidenchristen Titus auf das Problem aufmerksam gemacht worden?5 Wohl kaum. Da der Kontakt zwischen der Jerusalemer Gemeinde und der Gemeinde Antiochias, als deren Delegaten Barnabas, Paulus und Titus nach Jerusalem ziehen, eng war, ist vielmehr anzunehmen, dass die „falschen Brüder“ auf dem Konvent bewusst Informationen aus Antiochia in die Diskussion bringen.6 Die präzise Identifizierung der ialschen Brüder fällt nicht leicht.7 Sie stehen in einer Linie mit den Leuten des Jakobus, die bald in Antiochia auftauchen (Gal 2,12), sind aber nicht mit ihnen zu identifizieren. Dies alles besagt nun für unsere Fragestellung: Die Person des Titus (Gal 2,3) und die Erwähnung (weiterer) unbeschnittener Delegaten aus Antiochia (Apg 15,5) zum Konvent sind ein klarer Hinweis, dass hier in Antiochia – einer hellenistischen Großstadt mit einem Anteil von ca. 50000 Juden und zusätzlichen Phoboumenoi (Jos.Bell 7,46) – eine Gemeinde aus unbeschnittenen und beschnittenen Christen existiert. Dies ist freilich nur möglich, wenn die trennenden Faktoren des jüdischen Zeremonialgesetzes missachtet werden. Der sog. Antiochenische Streit Antiochenischer Streit, der nach dem ApostelkonventApostelkonvent stattfand8 und über den Paulus in Gal 2,11–14$Gal 2,11–14 berichtet, zeigt am Beispiel der Speisefragen recht deutlich, dass in AntiochiaAntiochia ehemalige Heiden und Juden, die sich jetzt gemeinsam zu Christus bekennen, Speisegemeinschaft haben. Deutlicher aus der Perspektive des Zeremonialgesetzes gesagt: Reine und unreine Menschen essen Speisen, die zu verzehren einem Juden untersagt sind.9 Nicht nur in der Frage der Beschneidung, ebenso in Speisefragen wird die bislang verbindliche Vorgabe der jüdischen Tora ignoriert.

Was ist in Antiochia dadurch eigentlich geschehen? Die Beschneidung der männlichen Juden war im babylonischen Exil zu einem wesentlichen Unterscheidungsmerkmal von der umgebenden babylonischen Bevölkerung geworden, unter der die Beschneidung nicht üblich war. Die Beschneidung war gleichsam das äußerliche Zeichen der Zugehörigkeit zum Gott Israels. Die Priesterschrift hat diesem Brauch eine heilsgeschichtliche Verankerung gegeben, war doch nach Gen 17,11 die Beschneidung das „Zeichen des Bundes“. Hieran schließt sich der im Judentum gebräuchlich gewordene Ausdruck „Beschneidungsbund“ (berit mila) an. Es handelt sich also um mehr als nur um ein Abgrenzungszeichen in fremder Umwelt. Die Beschneidung erfuhr im Verlauf des Frühjudentums eine enorme theologische Aufwertung. Versuche, sie zurückzudrängen – so etwa durch die hellenistischen Reformer der Makkabäerzeit (1 Makk 1,15) oder aber das Verbot der Beschneidung durch den römischen Kaiser Hadrian10 – bewirkten letztlich eher das Gegenteil. Dass männliche Kinder einer jüdischen Mutter am achten Tag beschnitten werden, war – auch wenn positive Zeugnisse rar sind – wohl selbstverständliche Praxis in der Zeit des zweiten Tempels. Wenn männliche Heiden den Zugang zum Gott Jahwe und zum Volk Israel suchten, so haben sie als Proselyten u.a. die Bescheidung zu übernehmen. Und genau hier liegt der Punkt, wo die christliche Gemeinde in Antiochia sich abweichend verhalten hat. Dass Kinder aus jüdischen Familien, die Christen geworden waren, weiterhin mehrheitlich beschnitten wurden, ist wahrscheinlich. Allein die Heidenchristen, wie das Beispiel des Titus zeigt, haben diesem Brauch nicht mehr entsprochen. Ihr Zugang zur Heilsgemeinde verlief – drastisch gesprochen – nicht mehr über den Umweg einer vorgängigen Konversion zum Judentum. Ohne Beschneidung erfüllten sie nicht die an einen Proselyten gestellten Bedingungen. So aber befanden sich Beschnittene und Unbeschnittene in einer Heilsgemeinde, die nun nicht mehr durch die traditionellen „identity markers“ bestimmt war.

Wir besitzen keine direkten literarischen Zeugnisse aus der antiochenischen Gemeinde. Wenige wichtige Hinweise bietet wiederum die Apg. Hiernach sind die christlichen Hellenisten der Jerusalemer Urgemeinde nach der Verfolgung des Stephanus nach Phönizien, Zypern und AntiochiaAntiochia gezogen (11,19). Ein Teil dieser Hellenisten nimmt in Antiochia Predigttätigkeit gegenüber den Heiden auf (11,20). Der Jerusalemer Judenchrist BarnabasBarnabas kommt nach Antiochia (11,22). Er ist verantwortlich für die Übersiedlung des Paulus aus Tarsus, wohin er nach der Bekehrung zurückgegangen war, nach Antiochia (11,26). Beide bleiben ein Jahr (11,26) in Antiochia und werden sodann (13,1) von der Gemeinde förmlich zu einer Missionsreise ausgesandt (13–14), die sie bis in die Provinzen Pamphylien, Pisidien und Lykaonien führt. Aus dem Bericht der Apg, der in den Grundzügen historisch korrekt sein dürfte,11 wird deutlich, dass die antiochenische Gemeinde der eigentliche geistige Nährboden für die paulinische Theologie gewesen sein dürfte. Wenn die Paulusbriefe Formeln, Traditionsgut wiedergeben, dann wird unter den Texten Etliches mit gutem Grund als Erbe der antiochenischen Zeit zu verstehen sein. Die Gesprächslage auf dem Apostelkonvent setzt voraus, dass man nicht allein in Antiochia in einer Gemeinschaft von beschnittenen und unbeschnittenen Christen lebte, sondern diese Praxis auch auf der ersten Missionsreise zur Anwendung brachte. Hierbei werden Barnabas und Paulus die Anknüpfung an die SynagogeSynagoge gesucht,12 diejenigen aber, die sich zum christlichen Glauben, zu dem Gott Israels, der Jesus von den Toten auferweckt hat, bekehrten, nicht mehr als Proselyten mit der Beschneidung konfrontiert haben. Es ist denkbar, dass auch andere Hellenisten in ihrer Mission ähnlich verfahren sind.13

Diese Annahme wird belegt durch zwei unterschiedliche Aussagenreihen in den paulinischen Briefen, die zumindest in der Substanz nicht anders denn als Traditionen der antiochenischen Gemeinde zu verstehen sind. Die erste Reihe stellt zugleich die älteste christliche Aussage zur Beschneidungsfrage dar.

 

Die erste Reihe findet sich in 1 Kor 7,19; Gal 5,6; 6,15:

1 Kor 7,19:

$1Kor 7,19ἡ περιτομὴ οὐδέν ἐστιν καὶ ἡ ἀκροβυστία οὐδὲν, ἀλλὰ τήρησις ἐντολῶν θεοῦ

Gal 5,6:

$Gal 5,6ἐν γὰρ Χριστῷ Ἰησοῦ οὔτε περιτομή τι ἰσχύει οὔτε ἀκροβυστία ἀλλὰ πίστις δι ᾽ ἀγάπης ἐνεργουμένη

Gal 6,15:

$Gal 6,15οὔτε γὰρ περιτομή τί ἐστιν οὔτε ἀκροβυστία ἀλλὰ καινὴ κτίσις

Diese drei Formeln stellen jeweils in gleichem dreigliedrigem Aufbau und in weitgehend gleicher Sprache (abstrakt-kollektive Redeweise) den Zustand des Beschnittenseins bzw. den Zustand des Unbeschnittenseins als wertlos (1 Kor 7,19),14 als bedeutungslos (Gal 5,6),15 als „nichts“ (Gal 6,15) dar. Eingeleitet mit ἀλλά ist dem jeweils entgegengesetzt das Halten der Gebote Gottes (1 Kor 7,19), der Glaube, der durch die Liebe tätig ist (Gal 5,6), die neue Schöpfung (Gal 6,15). Es ist deutlich, dass diese Formeln in der Ablehnung jeglicher Relevanz des Zustandes der Beschnittenheit bzw. der Unbeschnittenheit eindeutig sind. Heiden müssen nicht darauf hingewiesen werden, dass ihr Zustand des Unbeschnittenseins wertlos ist. Also wenden diese Reihen sich an diejenigen, die diesem Unterscheidungsmerkmal einen Wert beimessen bzw. an diejenigen, die vor der Entscheidung stehen, sich dem Beschneidungsritual zu unterwerfen. Grundsätzlich schließen diese Formeln nicht den Weg der Beschneidung der heidnischen Konvertiten aus, allein kommt der Sache keinerlei Bedeutung mehr zu. Es würde sich gleichsam um einen profanen Akt handeln. Anders als Paulus in der galatischen Krise vertritt diese Reihe eine adiaphoristische Position. Da sie, wie die Nachsätze eindeutig zeigen, argumentativ im Rahmen jüdischen Denkens bleibt und keinesfalls mit der Nivellierung der Beschneidungsfrage die Tora insgesamt zur Diskussion stellt (vgl. nur 1 Kor 7,19: […] sondern das Halten der Gebote Gottes), so sprechen in ihr Judenchristen (und Heidenchristen, die diese Form von Toraobservanz akzeptieren) im Gegenüber zur Synagoge.16 In dieser Reihe werden sehr wahrscheinlich Grundsätze der antiochenischen Mission sichtbar.17

Die zweite Reihe findet sich in 1 Kor 12,13$1Kor 12,13; Gal 3,28$Gal 3,28; Kol 3,11. Hier allerdings kommt die Aufhebung des Gegensatzes von Beschnittenheit und Unbeschnittenheit in dem Paar „nicht Jude und nicht Grieche“18 zum Ausdruck, und er ist darüber hinaus bereits zugeordnet der Aufhebung des Gegensatzes von Sklave und Freiem (1 Kor 12,13; Gal 3,28; Kol 3,11$Kol 3,11), von Mann und Frau (Gal 3,28). Schließlich ist diese Aufhebung deutlich einem spezifischen Ort zugewiesen worden, nämlich der Taufe in den Christus hinein (1 Kor 12,13; Gal 3,27). In alledem muss diese Reihe deutlich einem sekundären Interpretationsstadium zugewiesen werden. Diese Tauftheologie ist bei Paulus erst ab der Korintherkorrespondenz nachzuweisen, und es ist problematisch, sie bereits in früheste Zeit zurückzuführen. Allerdings bezeugen diese Tauftraditionen zugleich noch die ältere Formel der Aufhebung des Gegensatzes von Beschnittensein und Unbeschnittenheit, ja in Kol 3,11 ist περιτομὴ καὶ ἀκροβυστία neben Ἕλλην καὶ Ἰουδαῖος gleichsam verstärkend zusätzlich genannt.

Paulus ist mithin kaum der Begründer der beschneidungsfreien Mission, wohl aber wird er derjenige, der sie im heidenchristlichen Raum durchsetzt. Bleiben wir aber noch bei dem Paulus vor der galatischen Krise, die ihn zu beißender Polemik gegen jeglichen Versuch, die Beschneidung in den christlichen Gemeinden einzuführen, treibt – bei dem Paulus, der in der antiochenischen Mission mitwirkt. Die hier gültigen Grundsätze bestimmen auch seine eigene Position auf der zweiten Missionsreise. In Korinth reklamiert er den jeweiligen Stand zu einem Adiaphoron: jeder soll in dem Stand seiner Berufung bleiben, sei er beschnitten oder unbeschnitten. Niemand soll versuchen, eine Änderung herbeizuführen. Dies ist die grundsätzliche Sicht, die Paulus in allen seinen Gemeinden bislang anordnet (1 Kor 7,17). Ist es ein rhetorischer oder theoretischer Zusatz, wenn Paulus hinzufügt (1 Kor 7,18): Der als Beschnittener Berufene soll diesen Stand nicht operativ zu verändern suchen, der als Unbeschnittener Berufene soll sich nicht nachträglich beschneiden lassen? Der Satz ist kaum durch spezifisch korinthische Erfahrungen begründet. Eher will es scheinen, als wolle Paulus eben die zwei Möglichkeiten ausschließen, die den Grundsatz, dass der Stand des Beschnittenseins bzw. der Unbeschnittenheit nichts wert sei, ignorieren.19

Dieser Grundsatz scheint nun aber durch die paulinische Praxis selbst in Frage gestellt zu sein. Denn nach Apg 16,1–5$Apg 16,1–5 hat Paulus zu Beginn der zweiten Missionsreise den Christ gewordenen TimotheusTimotheus, der Sohn einer Judenchristin und eines Heiden war, selbst beschnitten. Legt man den Maßstab des Galaterbriefs zugrunde, dann hätte Paulus – um mit seinen eigenen Worten zu sprechen (Gal 5,11) – das Ärgernis des Kreuzes aufgehoben. Daher wird die Notiz der Apg in der Literatur häufig als redaktionell dem lukanischen Anknüpfungsschema angelastet.20 Andererseits hat man erneut die Frage gestellt, ob Paulus den Verzicht auf Bestimmungen der Tora nur gegenüber Heidenchristen erwähnt hat, nicht aber gegenüber Judenchristen.21 Schließlich gibt es Überlegungen, die Beschneidung des Timotheus in die Zeit vor den Apostelkonvent zu verlagern, sodass Paulus hier in einer noch weitaus offeneren Haltung zur Beschneidungsfrage agiert hätte.22 Timotheus ist das Kind einer Mischehe. Das rabbinische Recht hat mit Blick auf Dtn 7,3–4 die Mischehe verboten und sie für ungültig erklärt (Qid 68b; Υεν45a).23 Die Kinder aus einer MischeheMischehe folgen der jüdischen Mutter und gelten somit als Israeliten (Υεν78a).24 Die nachträglich erfolgte Beschneidung entspricht demnach jüdischem Recht.25 Hat aber Paulus sich in diesem Fall dem jüdischen Recht unterworfen? Die Begründung, die Lukas in Apg 16,3 gibt – er beschnitt ihn wegen der Juden, die in jener Gegend waren – erscheint aus der missionarischen Perspektive des Lukas einsichtig. Da Paulus in seiner Mission nach Lukas immer an die örtliche Synagoge anknüpft, würde die Mitnahme eines Mitarbeiters, der noch in gewissem Maße jüdisch lebt, aber unbeschnitten ist, Unverständnis und Misstrauen erzeugen. Ein anderes Argument als dieses ist aber auch für Paulus nicht vorstellbar.26 Denn die Beschneidung des Timotheus widerspricht dem Grundsatz, den Paulus wenige Zeit später in Korinth geltend macht, dass Unbeschnittene und Beschnittene, wenn sie Christ geworden sind, in dem jeweiligen Stand bleiben sollen (1 Kor 7,18–19$1Kor 7,18–19). Die Existenz eines „unbeschnittenen Juden“ ist ein Sonderfall, der nicht auszugleichen ist mit der Bestimmung, dass Heidenchristen nicht die Beschneidung, Judenchristen nicht den Epispasmos wählen sollen (1 Kor 7,17–19). Der Charakter einer missionsstrategischen Maßnahme27 aber lässt deutlich werden, dass damit keinesfalls die christliche Taufe relativiert noch die Beschneidung als Forderung an Christen anerkannt ist. Der Stand der Berufung wird durch die Beschneidung auch für Timotheus nicht verändert.28 Nur wer von der scharfen Polemik des Galaterbriefs her argumentiert und sie zur Grundlage der gesamten paulinischen Theologie erklärt, muss die Historizität der Beschneidung des Timotheus in Frage stellen. Wer aber in Rechnung stellt, dass diese Auseinandersetzung und diejenige in Philippi noch vor Paulus liegen29 und dass der Sonderfall des TimotheusTimotheus mit dem Versuch, Heidenchristen nachträglich in den Abrahambund zu überführen, nicht verrechenbar ist, der wird die Historizität der Beschneidung des Timotheus für möglich halten.30

Hat die Beschneidung des Timotheus ein für Paulus abträgliches Nachspiel gehabt? Immerhin scheint der Sachverhalt nicht völlig peripher gewesen zu sein, da noch Lukas Jahrzehnte später Zugang zu einer diesbezüglichen Tradition hat. In Gal 5,11$Gal 5,11 setzt Paulus sich mit einer Aussage auseinander, die ihm scheinbar angehängt wird: er predige noch die Beschneidung. Die rechte Auslegung dieses Verses ist außerordentlich schwierig.31 Gehen wir davon aus, dass die in den galatischen Gemeinden aufgetretenen Gegner des Paulus zusätzlich zum Glauben die Beschneidung der Heidenchristen fordern, so hätte man dies auch für Paulus reklamiert. Hierbei würde das ἔτι in einem Sinne von dem, was zu Vorhandenem noch hinzukommt, verstanden. Die temporale Übersetzung, die einen Zustand, der immer noch andauert, beschreibt,32 hätte auf einen Sachverhalt im Leben des Paulus vor der galatischen Mission Bezug genommen. Hier könnte man an die vorchristliche Zeit des Paulus, in der er als Pharisäer in der Diaspora für die Beschneidung eingetreten ist, denken.33 Auch wird erwogen, die erste Mission in Syrien und Cilicien hätte hinsichtlich der Beschneidung noch nicht die vollen Konsequenzen gezogen.34 Aber es findet sich in der Literatur immer wieder der Hinweis, die Gegner in den galatischen Gemeinden hätten die Beschneidung des Timotheus durch Paulus für sich als Argument ausgenutzt und gegen Paulus gewendet.35 Nun geht eine Bezugnahme auf Timotheus aus der kurzen Aussage in Gal 5,11 keineswegs hervor. Die Kargheit der Notiz empfiehlt, sie nicht mit mehr zu befrachten, als sie im Kontext sagen will. Die Gegner in Galatien verfolgen mit ihrer Beschneidungspredigt auch persönliche Interessen: sie wollen, weil sie die Beschneidung predigen, möglichen Verfolgungen entgehen. Haben sie dabei auf Paulus als Bürgen der Beschneidung verwiesen, so hält Paulus dem entgegen: ich werde verfolgt, also kann ich kein Prediger der Beschneidung sein. Ob und gegebenenfalls welches eigene zurückliegende Verhalten er damit revozieren will, muss offen bleiben.

2.Die Begründung des Verzichtes auf die Beschneidung

Der beschriebene Verzicht auf die Beschneidung in den heidenchristlichen Gemeinden durch die von Antiochia ausgehende HeidenmissionHeidenmission ist nur verständlich als ein Zusammentreffen mehrerer Faktoren. Hierbei sind insbesondere nicht allein christliche Faktoren zu beachten, sondern zugleich sind die Situation des DiasporajudentumsDiasporajudentum und die heidnische Einstellung zum Brauch der Beschneidung wahrzunehmen.

Die Antike kennt eine weit zurückreichende Kritik an der Beschneidung, die in neutestamentlicher Zeit vor allem das Judentum trag (vgl. nur Poseidonios bei Strabo 16,2,35–37; Juv. Sat 14,98; 6,160; Petron. Satir 68,8; Persius Sat 5,184; Horat. Sat 1,9,69).1 Josephus berichtet in seiner Apologie Contra Apionem, er, der Ägypter Apion, spotte über die jüdische Beschneidung (2,13). Josephus hält ihm entgegen, dass ägyptische Priester ausnahmslos beschnitten seien, und er bemüht Herodot, um einen Altersbeweis für die Beschneidung zu führen (1,22). Philo geht in der Schrift De specialibus legibus im einleitenden Kapitel, das in den Handschriften die Überschrift Περὶ περιτομῆς trägt, auf den Brauch der Beschneidung ein, von dem er sagt, er werde von vielen Völkern belächelt. In seinen Ausführungen folgt Philo einer älteren apologetischen Tradition des hellenistischen Judentums, welche die heidnische Kritik schon längst verarbeitet hat. Aber es geht nicht nur um heidnische Kritik. Man hat sich ja auch im Judentum diesbezüglichen reformerischen Vorstellungen immer wieder geöffnet.2 Es war ein Kennzeichen der hellenistischen Reform in Jerusalem zur Zeit des Antiochus IV. Epiphanes, dass von Juden der Epispasmos, die operative Wiederherstellung der männlichen Vorhaut gesucht wurde (1 Makk 1,15; Jos.Ant 12,241). Wiederum Philo berichtet in De mirgatione Abrahami 89–93 von Juden, deren allegorische Auslegung des Pentateuchs den wörtlichen Sinn des Geschriebenen im Sinne eines Zeremonialgesetzes aufhebt, d.h. man hat – einer alttestamentlich-jüdischen Tradition der Spiritualisierung der Kultusbegriffe entsprechend (Jer 4,4; Dtn 10,16; Ez 44,7; 1 QS 5,5.26) – die Beschneidung nur noch allegorisch auf die Beschneidung der Lust und Begierde bezogen. Philo kann sogar in Quaestiones et solutiones in Exodum 2,2 (zu Ex 22,21) sagen, dass der wahre Proselyt jemand ist, der nicht seine Unbeschnittenheit (d.h. Vorhaut) beschneidet, sondern seine Begierden, Freuden und Leidenschaften der Seele.3 Jedenfalls ist auffällig, dass Philo in seiner Apologie der Beschneidung in De specialibus legibus 1,1–11 unter den vier Gründen, die für die Beschneidung sprechen, nicht die Beschneidung als Bundeszeichen erwähnt (anders allerdings in Quaestiones et solutiones in Genesim 3,49).4 Weiß er, dass dieser Brauch „ein Haupthindernis aller ApologetikApologetik gegenüber der griech-röm Welt“ darstellt?5 Die Apokalypse Assumptio Mosis, die um die Zeitenwende zu datieren ist,6 spricht von Juden, die die Beschneidung verleugnen (8,2). Jub 15,33 nennt die Unterlassung der Beschneidung bzw. die reduzierte Beschneidung als Möglichkeit, das Gebot zu umgehen. Die heidnische Umwelt hat diesbezüglich Tendenzen im Diasporajudentum wahrgenommen. Der römische Epigrammatiker Martial (*40 n. Chr.) berichtet zweimal von einem Verdecken der Vorhaut (Epigrammata 7,35, 82). Weitere heidnische Kritik, die aus der Zeit des römischen Beschneidungsverbots stammt, muss hier außer Betracht bleiben.

Eine entscheidende Rolle kommt in dieser Fragestellung natürlich der Praxis der ProselytenProselytenaufnahme im DiasporajudentumDiasporajudentum zu. Bekannt ist die gegen das Ende des ersten nachchristlichen Jahrhudnerts datierte Diskussion in Υεν46a zwischen Rabbi Elieser und Rabbi Jehoschua, ob für den Stand des Proselyten die Beschneidung oder das Tauchbad notwendig sind.7 Leicht erinnert man sich in diesem Zusammenhang an die aufsehenerregenden Sonderfälle, etwa die Bekehrung des Königs Izates II. von Adiabene durc den jüdischen Kaufmann Ananias, der ihn aus poltischen Gjründen zunächst von der Beschneidung abhält (Jos.Ant 20.34–48), der jedoch durch den gesetzesteuen Eleazar einige Zeit später auf eigenes Begehren hin die Beschneidung übernimmt.8 Im Alltag des Diasporajudentums wird man allerdings eine gewisse Variabilität, die auch die Vernachlässigung der Beschneidung bedeuten konnte, nicht ausschließen dürfen.9 Erst mit der Konsolidierung des rabbinischen Judentums nach dem zeitweiligen Beschneidungsverbot unter Hadrian und im Gegenüber zum Weg des Heidenchristentums erfährt die Beschneidung eine theologische und praktische Aufwertung, die sich vielfach in der rabbinischen Literatur niedergeschlagen hat.10

Die christliche MissionMission in der Diaspora wird in der Regel zunächst das Umfeld der örtlichen SynagogenSynagoge und jüdischen Gemeinden gesucht haben. Hier traf sie jedoch nicht nur auf „Volljuden“ und ProselytenProselyten, sondern vor allem auf die sog. Phoboumenoi, Gottesfürchtige, die von einem offiziellen Übertriff zum Judentum absahen, aber Inhalte des jüdischen Glaubens, etwa die monotheistische, bildlose Gottesverehrung oder ethische Prinzipien jüdischen Lebens anerkannten und sich zu eigen machten. Diese Gruppe ist von derjenigen der Proselyten, die den Übertritt mit der Beschneidung verbunden hatten, zu unterscheiden.11 Es ist zu vermuten, dass es überwiegend Frauen waren, die als Proselyten oder Phoboumenai den Anschluss an die örtliche Synagoge suchten.12 Daher war die Frage der Beschneidung ohnehin nur die Ausnahme.

Nach M. Hengel haben die Hellenisten, die sich der antiochenischen Gemeinde angeschlossen haben, eine vorgängige Praxis des Diasporajudentums fortgeführt, nämlich die Gottesfürchtigen nicht unter Androhung des Ausschlusses vom Heil zur Beschneidung zu zwingen.13 Diese Sicht entspricht einem breiteren Konsens in der Forschung. G. Bornkamm hat bereits gesagt:

„Die Mission der Diasporasynagoge verfuhr nach einigermaßen liberalen Grundsätzen und begnügte sich damit, die ‚Gottesfürchtigen‘ aus der heidnischen Bevölkerung, die sich zur Gemeinde hielten, auf das monotheistische Glaubensbekenntnis, ein Minimum von rituellen Geboten […] und auf die sittlichen Grundforderungen des Gesetzes zu verpflichten, ohne ihnen jedoch die Beschneidung und damit den Eintritt in den Stand des als volles Glied des jüdischen Volkes geltenden ‚Proselyten‘ zuzumuten“.14

Wenn die Bedingungen des Übertritts für den ProselytenProselyten im ersten Jahrhundert n. Chr. bereits relativ fixiert waren – Beschneidung, Tauchbad, Opferdarbringung15 –, dann hätte die heidenchristliche Mission in Hinblick auf die Phoboumenoi die Beschneidung nicht gefordert, die Taufe jedoch in zunehmend verchristlichter Interpretation und die Gabe, die möglicherweise mit der paulinischen KollekteKollektenaktion in einem Zusammenhang steht,16 zur Geltung gebracht. Die Anforderungen an die Phoboumenoi zur Konversion wären gleichsam minimalisiert und letztlich auf den Glauben an Gott in Jesus Christus konzentriert worden. Der Verzicht auf die Beschneidung im frühen Christentum wäre also denkbar gewesen auf der Grundlage von Phoboumenoi, die als judaisierte Heiden der christlichen Mission am ehesten zuneigten.

Freilich ist die Notwendigkeit der Beschneidung innerhalb des Judentums nur vereinzelt in Frage gestellt worden. Liberalere Einstellungen, auf die Philo und Josephus sich beziehen (s.o.), haben nach unserer Kenntnis das Beschneidungsgebot wohl im Einzelfall umgangen, aber doch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Die hellenistische Reform z.Z. des Antiochus IV. Epiphanes ist durch die Makkabäer wirksam zurückgewiesen worden. Es müssen daher für die Entscheidung der von Antiochia ausgehenden Mission zusätzliche Argumente beigebracht worden sein, um den Zustand des Beschnittenseins bzw. Unbeschnittenseins für indifferent zu erklären.

Betrachten wir erneut die drei Formeln aus antiochenischer Tradition. In 1 Kor 7,19$1Kor 7,19 und Gal 5,6$Gal 5,6 wird die Abwertung des Zustandes des Beschnittenseins mit einer veränderten Gewichtung innerhalb der Tora vorgetragen. Eben nicht dieser Aspekt des Zeremonialgesetzes gilt etwas, sondern das Beachten der ἐντολαὶ θεοῦ. Ja das Beschneidungsgebot wird faktisch aus den „Geboten Gottes“ ausgeklammert, da es ihnen gegenübergestellt wird. Es wird hiermit die Einheit der Tora aufgespalten. Verstehen wir Gal 5,6 als einen Kommentar zu dieser Stelle, so ist deutlich, dass jetzt das Liebesgebot die ἐντολαὶ θεοῦ zusammenfasst. Es ist hier bereits angelegt, was in der paulinischen Theologie eine klare Explikation erfährt: Das Liebesgebot ist die entscheidende Zusammenfassung der Tora, auf die die heidenchristliche Gemeinde verpflichtet wird.17 Hierin folgt die heidenchristliche Mission Vorgaben des hellenistischen Diasporajudentums, wenn auch die Antithese gegen die Beschneidung (als Teil des Zeremonialgesetzes) hier so nicht zu vernehmen ist.

Diese Antithese aber gilt es zu erklären. „Antiochia stolpert nicht zufällig ins Heidenchristentum. Nein, es vollzieht, theologisch durchdacht, einen folgenschweren Schritt, nämlich die Lösung vom Judentum“.18 Die dritte Formel der antiochenischen Gemeinde, die Paulus in Gal 6,15$Gal 6,15 zitiert, stellt in ihrer Antithese dem Zustand des Beschnitten- bzw. Unbeschnittenseins den Begriff der καινὴ κτίσις gegenüber. Es ist nicht mit letzter Sicherheit zu erweisen, ob es Paulus war, der an dieser Stelle den Begriff der NeuschöpfungNeuschöpfung in die Antithese eingetragen hat, oder ob er die Antithese insgesamt so aus der Tradition der antiochenischen Gemeinde übernommen hat. Für die letztere Annahme spricht, dass der Begriff bei Paulus nur hier und in 2 Kor 5,17$2Kor 5,17 verwendet worden ist, also eher am Rand der paulinischen Sprache steht. Dieser schmale Befund macht die Erklärung dessen, was der Begriff besagt, nicht leicht. Die Arbeit von U. Mell19 hat von daher mit Recht die Traditionsbildung des FrühjudentumsFrühjudentum20 als Interpretationshilfe herangezogen und gezeigt, dass hier gleichfalls der Begriff in antithetischer Verwendung, in kosmischer Ausweitung, in eschatologischer Akzentuierung, in soteriologischer Ausrichtung und in begrifflicher, nicht metaphorischer Fassung erscheint. Dieser weitgehenden Kongruenz steht ein Unterschied gegenüber: In (1 Kor 7,19; Gal 5,6 und) 6,15$Gal 6,15 ist die Wirklichkeit der Neuschöpfung radikal präsentisch gedacht, nicht aber mehr Gegenstand zukünftiger Erwartung. Die Interpretation der Gegenwart als Zeit der Neuschöpfung gründet – was jedoch auf der Ebene der paulinischen Redaktionsstufe erst ganz deutlich erkennbar ist – im Blick auf Christus. Daher heißt es da, wo die antiochenischen Traditionen in Taufaussagen überführt werden: Alle sind einer in Christus Jesus (Gal 3,28$Gal 3,28), wir sind alle in einen Leib hineingetauft worden (1 Kor 12,13$1Kor 12,13), alles in allem ist Christus (Kol 2,12$Kol 2,12). 2 Kor 5,17 benennt Christus als den heilvollen Ort nach der eschatologischen Wende. Schon in Gal 5,6 ist dieses „in Christus“ zur Begründung des Verzichts auf die Beschneidung genannt, und es hat von hier aus wohl auch nachträglich Einzug in die HSS zu Gal 6,15 gefunden. So sind es wohl schöpfungstheologische, am Begriff der καινὴ κτίσις hängende Überlegungen, zum anderen christologische Gründe, die zu einer Antithese gegen eine Wertigkeit des Standes der Beschnittenheit bzw. Unbeschnittenheit geführt haben. Dass mit der TaufeTaufe „in Christusin Christus“ hinein im hellenistischen Christentum der Ort gefunden wurde, der beide Begründungen in sich vereinte und von daher den Akt der Beschneidung überflüssig machte, ist evident, allein ist es problematisch, diese Inerpretation bereits für die frühe Zeit der antiochenischen Mission zugrunde zu legen. Die schöpfungstheologische Kritik an der vorgängigen Beachtung der trennenden Differenz zwischen dem Stand des Beschnitten- bzw. Unbeschnittenseins wird in den genannten TauftraditionenTauftradition klar bezeugt, insofern sie sogar die Aufhebung der schöpfungsmäßigen Differenzierung von Mann und Frau ansagen. Ob man zusätzlich Diskussionen in den gemischten Gemeinden zur Frage, weshalb das Judentum vor Abraham, also zur Zeit der Schöpfungsordnung, unbeschnitten war, voraussetzen darf, ist ungewiss, aber nicht auszuschließen. 21 Die christologische Kritik ist in ihrer Begründung schwerer zu fassen. Es ist ja keine notwendige Folgerung, dass das Christusgeschehen den Abrahambund aufhebt. Das Judenchristentum hat diese Konsequenz bekanntlich nicht gezogen. Fraglos aber ist das Christusgeschehen bereits in frühster Zeit als eine nicht partikulare, auf Israel begrenzte, sondern als eine universale, auch Heiden betreffende Wirklichkeit verstanden worden.22 Die Notwendigkeit eines unterscheidenden Zeichens zwischen Israel und den Völkern war hinfällig geworden. Was BundBund ist und wer dazugehört, wird nicht über den Beschneidungsbund definiert, sondern über die Christuszugehörigkeit. Beide Begründungen stehen einem Festhalten des Beschneidungsgebots kritisch gegenüber. Dennoch wird auch hier anzunehmen sein, dass das Gewicht des Faktischen, nämlich die Existenz unbeschnittener Christen erst im Vorfeld des und im Anschluss an den Apostelkonvent, nachträglich nach Begründungen des neuen Verhaltens hat suchen lassen. Die Existenz des Judenchristentums erinnert beständig daran, dass dieser Weg nicht zwingend war.

3.Jüdische und judenchristliche Reaktionen

Die erste deutliche Reaktion auf den von Antiochia eingeschlagenen und sodann vor allem durch Paulus durchgesetzten Weg findet sich in dem Einwand der „falschen Brüder“ auf dem ApostelkonventApostelkonvent. Sie klagen die Beschneidung der anwesenden Heidenchristen ein. Auch wenn Paulus es so darstellt, als habe man sich – in Anwesenheit dieser falschen Brüder – durch Handschlag mit dem Leitungsgremium der Urgemeinde (Gal 2,9) auf einen gemeinsamen Weg im Sinne der Zulassung der beschneidungsfreien Heidenmission verständigt, so zeigt die Folgezeit doch eine andere Entwicklung auf.

Dass der antiochenische Weg für das palästinische Judentum unannehmbar war, bedarf keiner Begründung. In der rabbinischen Literatur wird der heidenchristliche Weg nicht thematisiert. „Jedenfalls ergibt keiner der in der Forschung bisher angeführten rabbinischen Texte […] eine klare Bezugnahme auf christliche Standpunkte […]“1 Der halachische Status eines unbeschnittenen Christen glich demjenigen eines Nicht-Juden.2 Christliche Kritik an der Beschneidung stand in einer Tradition mit der paganen Kritik an der Beschneidung, bedurfte also keiner eigenständigen rabbinischen Reaktion. Inwieweit zelotischer Eifer, der die Beschneidung erzwingen wollte, bis in den heidenchristlichen Raum ausgestrahlt hat, ist ungewiss.3 Die Zwangsbeschneidungen der Makkabäer- und der auf sie folgenden Zeit (1 Makk 2,45–46, Jos. Ant 13,257–258: 318–319) mögen zu pauschalisierenden Urteilen über jüdischen Missionseifer geführt haben (vgl. Hippolyt. Elenchos 9,26). Über vereinzelte ähnliche Vorkommnisse berichtet Josephus (Vita 113; Ant 20,38ff.), allerdings nicht im Zusammenhang mit Christen. Natürlich ist bei der paulinischen Korrespondenz mit den Gemeinden in Galatien, in Korinth und Philippi zu fragen: Sind die hier auftretenden Gegner, für die ja in zwei Fällen eine Beziehung zur Beschneidungsfrage konstitutiv ist, Juden oder sind es Judenchristen? Meines Erachtens handelt es sich in jedem Fall um Judenchristen. Die eigentliche Reaktion des Judentums besteht in der umfassenden, positiven Darlegung der Beschneidung im rabbinischen Schrifttum, auch wenn es nie zur Ausbildung eines eigenen Traktats in der Mischna kam. Aber sie ist nicht allein durch den Weg des Heidenchristentums initiiert, ebenso als Antwort auf das römische Beschneidungsverbot und als Selbstdefinition nach den jüdischen Kriegen.

Unbeschadet der Beschlüsse des Apostelkonvents hat es ein JudenchristentumJudenchristentum gegeben, das die Forderungen der Tora inklusive Sabbatobservanz und Beschneidung einhielt und gleichzeitig Heidenmission betrieb.4 U. Luz hat in seinem großen Kommentar diese Sicht für die matthäische Gemeinde vorausgesetzt.5 Sodann ist aus nachpaulinischer Zeit auf die Judenchristen zu verweisen, die andere Christen zu Sabbat und Beschneidung überreden wollen (Justin. Dial 47,2–3).6 Im synkretistischen Judenchristentum der Ebioniten wird die Beschneidung dadurch begründet, dass ja auch Christus beschnitten war (Epiphanius Haer 30, 26,1–2).7 Auch für Elkesai ist neben dem Sabbatgebot und dem Gebet in Richtung Jerusalem die Beschneidung bezeugt (Hippolyt. Ref 9,14,1; Epiphanius Pan 19,3,5–6). Die Quelle AJII (in R I 33–71) der Grundschrift der Pseudoklementinen ist durchaus kultkritisch, aber sie bewertet die Beschneidung und die Reinheitsgesetze positiv (R I 33,5).8 Die zu Beginn des 3. Jh. geschriebene syrische Didaskalia erwähnt Judenchristen, die an Reinheitsvorschriften, Waschungen, Sabbat und Beschneidung festhalten (121–122, 136ff.). Freilich scheint es daneben bereits im 1. Jh. schon eine metaphorische Interpretation gegeben zu haben, die den Begriff der Beschneidung, wie etwa für die „kolossische Häresie“ zu vermuten, in einen mysterienhaften InitiationsritusInitiationsritus einordnet.9

Deutliche Spuren eines Judenchristentums, das für die Beschneidung der Heidenchristen eintritt, finden wir nach dem Apostelkonvent erstmals durch die Beschneidungsforderung der Paulusgegner in den galatischen Gemeinden (6,12–13$Gal 6,12–13).10 Welche Absichten diese Gegner insgesamt leiteten, ist nicht leicht zu entscheiden. Immerhin steht die Einhaltung von Speisegeboten nicht zur Debatte. Das von Paulus im Galaterbrief erstmals ins Gespräch gebrachte Abrahambeispiel lässt fragen, ob der Abrahambund/Beschneidungsbund in der Argumentation der Gegner eine wesentliche Rolle gespielt hat.11 Jedenfalls sind die Vorgänge in den galatischen Gemeinden nicht anders denn als judenchristliche Reaktion auf die beschneidungsfreie Heidenmission zu erklären. Eine genauere Verortung dieser Gegnerschaft ist ungewiss. Paulus stellt sie in eine Perspektive mit den Falschbrüdern des Apostelkonvents, eventuell auch mit den Jakobusleuten, die in Antiochia auftreten.12 Im Philipperbrief ist die Gegnerschaft, die noch nicht Fuß in der Gemeinde gefasst hat, nahezu ganz auf die Beschneidungsfrage reduziert. Der sog. Kampfbrief, der ab 3,2$Phil 3,2 vorzuliegen scheint, ist sozusagen eine präventive, wohl auch von den galatischen Vorgängen geleitete Maßnahme des Paulus im Gegenüber zu den judenchristlichen Missionaren. Paulus kämpft ihnen gegenüber im Galater- und Philipperbrief polemisch für die Grundsätze der antiochenischen, beschneidungsfreien Heidenmission. In seiner Polemik bedient er sich u.a. des paganen Vorwurfs, Beschneidung stehe mit Kastration bzw. Verstümmelung auf einer Stufe (Gal 5,12; Phil 3,213).

Wenn irgendwo, dann muss hier gefragt werden, ob die Begrifflichkeit „Gegner, Irrlehrer“ nicht abwegig ist. Man sollte versuchen, die Absichten dieser judenchristlichen Missionare von dem sie noch prägenden jüdischen Hintergrund her zu verstehen und sie nicht sogleich an dem Maßstab heidenchristlicher Theologie paulinischer Prägung zu messen. Predigen sie einen „Rückfall in ein an das Gesetz gebundenes Judenchristentum“?14 Wie sollten Heidenchristen zurückfallen in einen Zustand, in dem sie noch nie waren? Es muss diese judenchristliche Mission ernstgenommen werden als ein Versuch der Heidenmission, der unter Beibehaltung des jüdischen Rahmens und des Christusbekenntnisses Heiden in den Beschneidungsbund eingliedert.

In seinem wohl letzten Schreiben, dem Römerbrief, gibt Paulus in 3,1–8$Röm 3,1–8 die polemische Dialogsituation, in der er sich gegenüber dem Judentum (und Judenchristentum) befindet, wieder, indem er jüdische Einwände gegen seine Theologie zur Sprache kommen lässt. „Was ist der Nutzen der Beschneidung?“ (3,1b). Diese Frage ist nach den polemischen Ausführungen des Galaterbriefs verständlich, aber sie wird auch Paulus selbst bewegt haben.15 Paulus gibt im Wesentlichen zwei Antworten: a) In Röm 2,25–29$Röm 2,25–29 geht er von dem jüdischen Grundsatz aus, dass die Übernahme der Beschneidung verpflichtet, die Tora insgesamt zu erfüllen (Apg 15,5; Gal 5,3; Υεν47b). Röm 2,1–24 hat aber gerade dem Juden vorgehalten, dass seine Missachtung der Tora den Namen Gottes entehrt. Insofern befindet sich der beschnittene Jude mit dem unbeschnittenen Heiden auf einer Stufe, da beide unter der Anklage Gottes, die Tora nicht zu beachten, stehen. Eine Beschneidung, die vor Gott gilt, kann mithin nur eine Beschneidung des Herzens sein, die vom Geist Gottes vollzogen wird – ein innerer, kein äußerer Akt. Paulus knüpft hier an die in der jüdischen Überlieferung angekündigte Beschneidung des Herzens und Ausstattung mit dem Geist an.16 b) In der positiven Inanspruchnahme des Abrahambeispieles in Gal 3,1–29$Gal 3,1–29 hat Paulus jeglichen Bezug auf die Beschneidung in Gen 17 vermieden, wohl aber Abraham als Beispiel für Glaubensgerechtigkeit (Gen 15,6 in Gal 3,6) hingestellt. Nach Gal 3,3 gehört die Beschneidung auf die Seite der σάρξ; wie sollte sie auch eine positive Bedeutung haben? Bezeugt Röm 4 demgegenüber ein „bemerkenswertes theologisches Umdenken“?17 Die Beschneidung, die Abraham (Gen 17) nach der Zurechnung der Glaubensgerechtigkeit empfing (Gen 15), wird positiv erklärt als σφραγὶς τῆς δικαιοσύνης τῆς πίστεως (Röm 4,11).18 Hierbei ist der Charakter der Beschneidung als Erkennungszeichen aufgenommen, aber als nachträgliches Zeichen der vorgängigen Glaubensgerechtigkeit zugewiesen. Da die Glaubensgerechtigkeit aber Abraham als Unbeschnittenem zugesprochen wurde, damit von der Beschneidung gelöst worden ist, kommt der Beschneidung in der Zeit nach der universalen Offenbarung der Glaubensgerechtigkeit keine entsprechende Funktion als Zeichen oder Siegel mehr zu.19 Die Beziehung zu Abraham ist jetzt ausschließlich über die πίστις gegeben. Von einem eigentlichen Umdenken kann also keine Rede sein, wenn auch die Beschneidung jetzt, wie bereits in Phil 3,3, nicht mehr der σάρξ zugeordnet wird. Somit hat Paulus die Frage der Bedeutung der Beschneidung auf der Ebene der Schriftauslegung so erklärt, dass seine beschneidungsfreie Mission unter der Heidenwelt nicht gegen, sondern mit Abraham leben kann.

4.Die Auswirkungen des Verzichts auf die Beschneidung

Mit dem Verzicht auf die Beschneidung war der Faktor, der in der MissionMission des hellenistischen DiasporajudentumsDiasporajudentum eine beeinträchtigende Rolle gespielt hat, beseitigt. Im Sinne einer missionarischen Konkurrenz befand sich die heidenchristliche Kirche im hellenistischen Raum gegenüber dem Judentum in einem deutlichen Vorteil und war gegenüber paganen relligiösen Gemeinschaften in einer Ebenbürtigkeit.1 Zwar findet sich im frühen Christentum nicht nur eine Relativierung des Beschnitten- bzw. Unbeschnittenseins, sondern auch eine Polemik gegen den Versuch, Heidenchristen die Beschneidung auferlegen zu wollen. Diese Polemik greift in neutestamentlicher Zeit aber nicht über auf eine Polemik gegen die Beibehaltung des Beschneidungsbrauches im Judentum.2 Die schnelle Ausbreitung des Heidenchristentums drängte das JudenchristentumJudenchristentum an den Rand. In den neutestamentlichen Spätschriften wird die Beschneidungsfrage nicht mehr thematisiert, auch nicht in denjenigen Schriften, für die gelegentlich ein judenchristlicher Hintergrund behauptet wird (Jak, Hebr, 1 Petr, Offb). Paulus war nicht der Begründer der beschneidungsfreien Heidenmission, aber ihr Durchsetzer, was ihm von judenchristlicher Seite den Vorwurf der Apostasie eingetragen hat.3 Für Paulus wurde die Beschneidungsfrage im Brief an die galatischen Gemeinden das hermeneutische Mittel zur Ausarbeitung der Rechtfertigungslehre ohne Werke des Gesetzes.4 Innerhalb des Judenchristentums hat man an der Beschneidungspraxis bis heute festgehalten. Innerhalb des Heidenchristentums hat die TaufeTaufe als alleiniger Initiationsritus sich durchsetzen können. Für die Ablösungszeit der heidenchristlichen Kirche vom Judentum ist noch bezeichnend, dass man an der Vorstellung der Beschneidung mittelbar festhält, indem man sie spiritualisiert (Röm 2,28–29; Phil 3,3; Kol 2,11). Während für die Beschneidung nur schwer ein Bezug zum Christusgeschehen hergestellt werden konnte,5 hat man die Taufe auf den Name Jesu oder als Nachvollzug seines Sterbens und Auferstehens mit dem Heilsereignis verbinden können.

Der Weg des JudenchristentumsJudenchristentum hat sich zwischen der heidenchristlichen Kirche und der Formierung des rabbinischen Judentums nicht halten können und wurde von beiden Seiten zunehmend – aufgrund anderer Aspekte als des Festhaltens an der BeschneidungBeschneidung – als häretisch angesehen. Leicht wird vergessen, dass der Beschluss des Apostelkonvents nicht nur die Legitimität eines heidenchristlichen, sondern selbstverständlich auch die eines judenchristlichen Wegs anerkannt hat.

Es muss als zweifelhaft erscheinen, ob der Weg des Heidenchristentums ohne gewisse Umstrukturierungen und Vorgaben im hellenistischen Diasporajudentum möglich gewesen wäre.6

Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer*

* Zuerst erschienen: Friedrich Wilhelm Horn, „Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer“, pp. 117–137, Novum Testamentum (1997) ©, Koninklijke Brill NV/Leiden, 1997, reproduced with permission.

Der AbschlussNasiräat der paulinischen Missionsarbeit ist durch eine gewisse Tragik im Hinblick auf das Verhältnis zu seinem jüdischen Volk und zur judenchristlichen Gemeinde Jerusalems gekennzeichnet. Obwohl Paulus im Römerbrief, geschrieben unmittelbar vor seiner letzten Jerusalemreise, eine Erwählungstheorie für sein Volk, seine Stammverwandten nach dem Fleisch (Röm 9,3) entwirft, muss er doch im selben Schreiben seine Sorge um die Errettung von den Ungläubigen (ὰπειθοῦτες) in Judäa (Röm 15,31) aussprechen. Das Schicksal der in den heidenchristlichen, paulinischen Gemeinden gesammelten KollekteKollekte für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem (Röm 15,26; 1 Kor 16,1; 2 Kor 8,1–4; Gal 2,10), gedacht als sichtbares Zeichen der Verbundenheit mit der Muttergemeinde, entzieht sich unserer Kenntnis. Es ist möglich, dass die Kollekte nicht angenommen worden ist. Die Übernahme der Auslösungskosten für vier judenchristliche NasiräerNasiräer im Jerusalemer Tempel, ein in jüdischer Frömmigkeit hoch geachtetes Verhalten, und der hierfür erforderliche Purifikationsprozess führen zu einem Konflikt, in dessen Folge Paulus festgenommen und zum Prozess nach Rom gebracht wird. Obwohl die letzte Reise nach Jerusalem folglich unter dem Vorzeichen der Kompromissbereitschaft steht, kann sie das Paulus vorausgehende Gerücht, er lehre den Abfall von Mose und wiegle gegen das jüdische Volk und den Tempel auf (Act 21,21.28), nicht verstummen lassen.

Die historischen Umstände, die zur Festnahme im Tempelbereich geführt haben, werden von Lukas in groben Zügen festgehalten (Act 21–23). Unklarheit besteht jedoch hinsichtlich eines paulinischen Nasiräats und der Auslösung von vier Nasiräern. Der Erhellung der historischen Abläufe ist der folgende Beitrag gewidmet. Die die Forschung zumeist bestimmende theologische Frage, ob es denkbar ist, dass der im Galaterbrief vehement gegen Beobachtung jüdischer Gesetzesfrömmigkeit polemisierende Paulus nun in Jerusalem eben solche Frömmigkeit praktiziert, soll solange zurückgestellt werden, bis Klarheit gewonnen ist, was Paulus getan hat und was nicht.

Es liegt kein sicheres Urteil über die präzise Gestalt des von Paulus übernommenen Nasiräatsgelübdes bzw. die Übernahme der Auslösungskosten für die vier Nasiräer vor. Man hat innerhalb der älteren Exegese von einem „gordischen Knoten“ gesprochen.1 Die jüngere redaktionsgeschichtliche Forschung lastet diese Unklarheiten in der Regel Lukas an, der keine präzisen Vorstellungen von jüdischen Sitten und Gebräuchen gehabt habe.2 Methodisch wird so vorzugehen sein, dass zunächst die lukanischen Aussagen dargestellt werden. Sodann ist zu fragen, ob sie mit zeitgenössischen jüdischen Aussagen zum Nasiräat in Einklang gebracht werden können. Schließlich ist eine historische Einordnung vorzunehmen. Aussagen aus zwei Texteinheiten der Apostelgeschichte sind zu analysieren: 1) Act 18,18–22; 2) Act 21,15–27.

1.Act 18,18–22

1.1Die lukanischen Aussagen

Paulus$Apg 18,18–22 verabschiedet sich von der korinthischen Gemeinde, um mit Priszilla und Aquila auf dem Seeweg nach Syrien zu fahren. In der östlich von Korinth gelegenen Hafenstadt Kenchreä lässt er im Zusammenhang eines Gelübdes sein Haar scheren. Nach der Überfahrt durch die Ägäis bleiben Priszilla und Aquila in Ephesus. Paulus tritt die Fahrt nach Syrien alleine an, landet aber in der Hafenstadt Caesarea, die in paulinischer Zeit nicht zur Provinz Syrien, sondern zum prokuratorischen Verwaltungsbezirk Judäa zählte.1

In der lukanischen Darstellung stellt dies den Abschluss der sog. 2. Missionsreise (Act 15,36–18,22) dar, an die sich die sog. 3. Missionsreise ohne genaue Angaben über den Aufenthalt in der antiochenischen Gemeinde anschließt. Der Text deutet vieles nur an und lässt den Leser mit Fragen zurück. Was impliziert die eher beiläufige Erwähnung des Haarescherens im Zusammenhang eines Gelübdes, und auf welches Subjekt ist sie zu beziehen? Das absolut gebrauchte Verb κείρομαι bezeichnet das profane Haareschneiden bei Mensch (1 Kor 11,6) und Tier (Act 8,32). In Act 21,24 wird Lukas das Verb ξυράομαι (τὴν κεφαλήν) verwenden. ξυράομαι bedeutet im Medium „ganz kahl scheren, rasieren lassen.“2 Sowohl κείρομαι als auch ξυράομαι sind durch das zugeordnete εὐχή (Act 18,18; 21,23) zwingend als religiöse Handlungen gekennzeichnet. Dies allerdings ist bei ξυράομαι ohnehin naheliegend, da dieses Verb im alttestamentlich-jüdischen Sprachraum im Kontext des Nasiräatsgelübdes gebraucht wird (Num 6,9.18.19LXX; Jos, Ant 19,294; Bell 2,313). Es wird in der Literatur häufig vermutet, das in Act 18,18 erwähnte Scheren des Haares stehe in keinem Zusammenhang mit einem Nasiräat,3 was zumeist unter Hinweis auf die Differenz zu jüdischen Bestimmungen über ein Nasiräat zu belegen gesucht wird. Vielmehr handle es sich, so die ältere Literatur, um ein privates,4 möglicherweise in Anlehnung an heidnische Praktiken gewähltes Gelübde.5

Dies ist jedoch von der sprachlichen Seite her unwahrscheinlich. Lukas verwendet εὐχή in Act 21,23 zweifelsfrei als Begriff für das Nasiräatsgelübde.6 Daher und wegen des begründenden γάρ wird dieser Sprachgebrauch auch in Act 18,18 vorauszusetzen sein, auch wenn Lukas hier κείρομαι und nicht ξυράομαι liest. Das Scheren der Haare (Partizip Aorist: κειράμενος) steht zu dem Gelübde (Imperfekt: εἶχεν) in dem Verhältnis eines vorläufigen Abschlusses zu einer zuvor begonnenen Handlung.

Philologisch nicht wirklich eindeutig zu klären ist die Frage, ob Paulus oder Aquila sich die Haare habe scheren lassen. Von der syntaktisch engeren Stellung her ist an Aquila zu denken. Häufig hat man in der Literatur darauf verwiesen, dass die Namensumstellung (PriszillaPriszilla vor AquilaAquila) ein klarer Hinweis sei, „der an Deutlichkeit nichts zu wünschen läßt“7, den Namen Aquila mit dem Verb κειράμενος zu verbinden. Allerdings besagt die Stellung der Namen zueinander wenig. Die Voranstellung des Namens Aquila belegen Act 18,2; 1 Kor 16,19; diejenige des Namens Priszilla Act 18,18.26 (diff HSS); 2 Tim 4,19. Nicht nur die Handschriften D und h haben die Aussage auf Aquila gedeutet, ebenso eine Reihe namhafter Ausleger und Übersetzer (Vulgata, Theophylakt, Castellio, Hammond, Grotius, Alberti, Kuinoel, Wieseler, Oertel, Schneckenburger, Meyer, Overbeck, Preuschen, Wendt, Knopf, Greeven, Bauernfeind, Zahn). Wenn in dieser Frage eine Lösung herbeigeführt werden kann, dann so, dass im Kontext die Konsequenzen einer Deutung auf Aquila bzw. Paulus bedacht werden.

Schließlich gibt die Reiseroute des Paulus in Act 18,22$Apg 18,22 Fragen auf. Kann ἀναβάς, wie im gegenwärtigen Luthertext (1990), mit „ging hinauf nach Jerusalem“ übersetzt werden? ἀναβαίνω wird von Lukas nur Lk 2,42 (diff HSS