Person und Religion - Ciril Rütsche - E-Book

Person und Religion E-Book

Ciril Rütsche

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Beschreibung

"Der Verfasser erwirbt sich mit dieser Arbeit ein großes Verdienst, indem er die Tradition der realistischen Phänomenologie und deren Vertreter Dietrich von Hildebrand in Erinnerung ruft. Denn wenn dieser Ansatz in den letzten Jahrzehnten gegenüber der analytischen Philosophie stark zurückgetreten ist (dies gilt jedenfalls für Deutschland, aber nur bedingt für die USA), so verdient sie doch Interesse. Die Religionsphilosophie von Hildebrands ist praktisch noch gar nicht bearbeitet worden, sodass der Verfasser auf diesem Gebiet Pionierarbeit leistet. Der Argumentationsgang der Arbeit ist durchweg transparent und kohärent. Aus verstreuten Quellen wird die Religionsphilosophie von Hildebrands Schritt für Schritt rekonstruiert, sodass am Ende das gesamte Theoriegebäude vor Augen steht. Die Untersuchung leistet aber nicht nur eine immanente Rekonstruktion, sondern arbeitet durch zahlreiche Abgrenzungen (Husserl, Thomas, Kant, Feuerbach, Dawkins etc.) das Profil dieses Ansatzes heraus. So stellt die vorliegende Abhandlung einen echten Forschungsbeitrag dar." Prof. Dr. Johannes Brachtendorf

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Ciril Rütsche

Person und Religion

Eine Darstellung der Religionsphilosophie Dietrich von Hildebrands

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

 

 

© 2017 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-7720-0025-6

Inhalt

VorwortEINLEITUNG1 Die immanente Weltanschauung und der Szientismus2 Sinn und Transzendenz3 Die verschiedenen Bedeutungen von „Transzendenz“4 Das Thema der Arbeit5 Forschungsziel und Methode6 Was ist „Realistische Phänomenologie“?6.1 Die Vorboten des phänomenologischen Realismus6.2 Husserls Beiträge zur Beantwortung der „Kardinalfrage der Erkenntnistheorie, die Objektivität der Erkenntnis betreffend“6.3 Die Grenzen der husserlschen Phänomenologie als Ausgangspunkt des phänomenologischen Realismus7 Von Hildebrands „Was ist Philosophie?“ als grundlegende Schrift zur Methode der Realistischen Phänomenologie und die Frage nach der Originalität seines Beitrags7.1 Welche Art von Erfahrungsunabhängigkeit bedingt das apriorische Erkennen?7.2 Die Differenzierung der Seienden in drei grundsätzlich verschiedene Arten als Wegbahnung zum apriorischen Erkennen8 Stand der Forschung9 ZusammenfassungI DAS WISSEN UM DAS TRANSZENDENTE1 Immanuel Kant und der Schritt von der Transzendenz zum transzendentalen Immanentismus1.1 Humes Kritik am Kausalprinzip und Kants kopernikanische Wende1.2 Von den Unterschieden zwischen analytischen und synthetischen Urteilen und Erkenntnissen a priori und a posteriori1.3 Was also versteht Kant unter „synthetischen Urteilen a priori“, und wie steht es mit der Möglichkeit derselben?2 Dietrich von Hildebrands Kritik an Kants transzendentalem Immanentismus und seine Begründung der Transzendenz in der Erkenntnis2.1 Die Äquivokation des Begriffs der Erfahrung2.2 Die verschiedenen Arten des Soseins und der Unterschied zwischen empirischer und apriorischer Erkenntnis2.2.1 Das epistemologische Apriori als absolut gewisse Erkenntnis höchst intelligibler und wesensnotwendiger Sachverhalte2.2.2 Sind die apriorischen Erkenntnisse blosse Tautologien?2.3 Absolute Gewissheit bei der Erkenntnis eines individuellen Sachverhalts?2.4 Die Frage nach dem Gewissheitskriterium, die Seinsweise der notwendigen Wesenheiten und ihr metaphysischer Ort2.5 Das überaktuelle Wissen und die Religion3 Die Frage nach der Erkennbarkeit der Aussenwelt und ihr Botschaftscharakter4 ZusammenfassungII DIE ERKENNTNIS GOTTES1 Der kosmologische Gottesbeweis und das apriorische Erkennen2 Die Ursache des Person-Seins3 Gott als Inbegriff aller Werte3.1 Das Seiende und der Wert3.2 Die Wertfamilien3.3 Die Werterkenntnis3.4 Die Werte als Hinweis auf den Inbegriff aller Werte4 Warum hielt von Hildebrand das ontologische Argument für ungültig?4.1 Das Argument in der Darlegung durch Anselm von Canterbury4.2 Gaunilo und die erste Kritik am ontologischen Argument4.3 Die Einwände gegen das ontologische Argument durch Thomas von Aquin und Immanuel Kant4.4 Die reinen Vollkommenheiten als Gültigkeitsgrund des ontologischen Arguments4.5 Dietrich von Hildebrands implizite Bejahung des ontologischen Arguments4.6 Was spricht eigentlich dafür, dass die Werte in Gott gründen, ja brauchen die Werte überhaupt einen Seinsgrund? – Einige Gedanken zum werttheoretischen Gottesbeweis5 Die Probe aufs Exempel: Prüfung der (Un-)Vernünftigkeit dreier moderner bzw. postmoderner Kritiken an der Religion5.1 Der Mensch als Seinsgrund Gottes in Ludwig Feuerbachs anthropologischer Theologie5.1.1 Feuerbachs Thesen5.1.2 Feuerbachs erkenntnistheoretische Prinzipien5.1.3 Die Zurückweisung des ontologischen Gottesbeweises5.1.4 Die Begründung seiner Behauptungen5.1.5 Kritik an Feuerbachs Religionskritik5.2 Ludwig Wittgensteins Behauptung der Unsinnigkeit religiöser Aussagen5.2.1 Sprache und Wahrheit5.2.2 Sind die religiösen Aussagen tatsächlich unsinnig?5.2.3 Das Ineinander von Philosophie und Religion5.3 Richard Dawkins und der „Neue Atheismus“5.3.1 Thesen und Begründung5.3.2 „Omne vivum ex vivo“5.3.3 Bewusstsein als Evolutionsemergent?6 ZusammenfassungIII DER MENSCH UND SEIN ANGELEGTSEIN AUF DIE RELIGION IN DENKEN, FÜHLEN UND WOLLEN1 Augustinus, Boethius, Locke, die Annäherung an das Wesen der Person und die Frage nach der unübersteigbaren Vollkommenheit des Personseins2 Das Zusammenwirken und gegenseitige Befruchten von Vernunft, Wille und Herz und das geistig-intentionale affektive Leben der Person3 Die affektiven Antworten und die mitwirkende Freiheit4 Ist die Religion dem Menschen ein Bedürfnis?5 Bedeutsamkeit und Motivation5.1 David Hume und der ethische Naturalismus oder Die Motivation durch das subjektiv Angenehme5.2 John Stuart Mill und der qualitative Utilitarismus oder Die Motivation durch das modifiziert subjektiv Angenehme5.3 Aristoteles und die Motivation durch das objektive Gut für die Person5.4 Dietrich von Hildebrand und die Motivation durch den Wert5.4.1 Der Wert und das subjektiv Befriedigende im Vergleich5.4.2 Das objektive Gut für die Person5.4.3 Warum ist der Wertethik der Vorzug zu geben vor der eudaimonistischen, der hedonistischen und der utilitaristischen Ethik?6 Die objektive Gebührensbeziehung, die sittlich bedeutsamen Werte und der Unterschied zwischen Wert und Gut7 Die Wertantwort8 Peripherie und Tiefe9 Die verschiedenen Bereiche der Träger sittlicher Werte9.1 Die Grundstellung und die moralischen Zentren9.2 Die Sphäre der Antworten auf individuelle Güter9.3 Die Sphäre der Handlungen9.4 Die Sphäre der Grundhaltungen9.5 Die Grundintention, die Grundhaltung und die sittliche Identität der Person10 Daniel Dennett und die Bedingungen der Personalität11 Wert und Glück12 ZusammenfassungIV DIE LEBENDIGE VERBINDUNG DES MENSCHEN MIT GOTT1 Die Bewegungsumkehr der Liebe oder Gott als Initiator des Dialogs1.1 Die Forderungen der sittlich bedeutsamen Werte und das Gewissen1.2 Die reduktionistische Erklärung des Sigmund Freud1.2.1 Dostojewskis Starez Sossima im Lichte der Theorie Freuds1.2.2 Die Forderung des Gewissens, die angemessene Antwort und das Glück1.3 Der „ordo amoris“ und das Phänomen der Wertblindheit1.3.1 Die Grundstellung und die totale konstitutive Wertblindheit1.3.2 Die Antworten auf individuelle Güter und die Subsumptionsblindheit1.3.3 Die Handlungen und die Abstumpfungsblindheit1.3.4 Die kategorialen Grundhaltungen und die partielle Wertblindheit1.4 Hat Feuerbachs Nichterkennen der Existenz Gottes moralische Gründe?1.5 Sossimas Wandel1.6 Intersubjektiver Konsens in ethischen Fragen? Kants „kategorischer Imperativ“ im Vergleich mit einigen der einschlägigen Prinzipien der phänomenologischen Wertethik1.6.1 Kants kategorischer Imperativ in der Kritik durch Dietrich von Hildebrand1.6.2 Änderte Kant seine philosophische Grundrichtung?1.6.3 Schelers Kritik am allgemeingültigen Sollen1.7 Erstreckte sich Schelers und von Hildebrands Übereinstimmung in der Zurückweisung der Kant’schen Ethik auch auf die Religionsphilosophie?1.7.1 Schelers werttheoretische Begründung der Religionsphilosophie1.7.2 Pantheismus und Selbstdeifikation2 Die Antwort des Menschen2.1 Die Ehrfurcht als Grundlage und Anfang der „religio“ und die Wachheit als allgemeine Resonanzfähigkeit des Geistes2.1.1 Die Ehrfurcht2.1.2 Die Wachheit2.2 Die übernatürliche oder die christliche Sittlichkeit2.3 Einige spezifisch religiöse Akte und Haltungen2.3.1 Die Reue2.3.2 Die Demut2.3.3 Die Dankbarkeit2.4 Die Gottesliebe als höchste Wertantwort2.4.1 Die Bestimmung des menschlichen Glücks bei Thomas von Aquin2.4.2 Die Gottesliebe im Verständnis von Dietrich von Hildebrand und seine Kritik an der Deutung der Gottesliebe bei Thomas von Aquin2.5 Die beiden Vollkommenheiten der Wahrnehmung – das Notionsthema und das kontemplative Thema2.6 Die religiöse Kontemplation2.7 Die weitere Entwicklung des Dialogs2.7.1 Das Verhältnis von sittlichem Sein und ethischer Werterkenntnis2.7.2 Die geschenkhafte Umwandlung der Person2.7.3 Die Nächstenliebe3 Die Kirche als vollkommenste Gemeinschaft und als höchstes objektives Gut für die Person4 Über die in die Ewigkeit verlaufenden Sinnlinien menschlicher Existenz4.1 Unsterblichkeit und ewiges Leben4.2 Die metaphysische Gebührensbeziehung5 ZusammenfassungV SCHLUSSLiteraturverzeichnisVerwendete Werke Dietrich von HildebrandsEine Auswahl an Schriften über Leben und Werk Dietrich von HildebrandsQuellen- und Literaturverzeichnis zur EinleitungQuellen- und Literaturverzeichnis zu Abschnitt I: Das Wissen um das TranszendenteQuellen- und Literaturverzeichnis zu Abschnitt II: Die Erkenntnis GottesQuellen- und Literaturverzeichnis zu Abschnitt III: Der Mensch und sein Angelegtsein auf die Religion in Denken, Fühlen und WollenQuellen- und Literaturverzeichnis zu Abschnitt IV: Die lebendige Verbindung des Menschen mit GottRegister

Vorwort

Das Werk Person und Religion. Eine Darstellung der Religionsphilosophie Dietrich von Hildebrands von Dr. Dr. Ciril Rütsche ist meines Wissens das erste über dieses Thema. In der Einleitung wird der Forschungsgegenstand nicht rein historisch als Darstellung der Religionsphilosophie Hildebrands und deren Hintergründe aus anderen Gebieten der Philosophie, sondern im Sinne eines echten „symphilosopheins,“ eines Mit-Philosophierens mit Hildebrand, bestimmt. So etwa schreibt der Autor gleich zu Beginn der Einleitung:

Da die absolute Wahrheit in von Hildebrands Weltanschauung einen archimedischen Punkt einnahm und er ihre Erkennbarkeit auch zu begründen wusste, wird in dieser Arbeit zugesehen, ob und wenn ja, inwiefern die Religion Gegenstand philosophischen Erkennens ist und damit als vernünftig erwiesen werden kann.“ Oder, etwas später in der Einleitung; „Bietet die Relation zwischen Mensch und Gott die epistemologische Möglichkeit, gewisse Züge mit absoluter Gewissheit erkennen zu können? Das muss sich erweisen … Wobei dies freilich, wie bereits an dieser Stelle festgehalten werden kann, in erster Linie davon abhängt, ob der Mensch die objektive Wahrheit erkennen und sich und seine Welt transzendieren kann, wie auch, ob Gottes objektive Existenz sich überhaupt begründen lässt.

Und wiederum, noch deutlicher:

Das Forschungsziel besteht in diesem Rahmen schliesslich im Aufweis der Religion als einem Dialog zwischen Mensch und Gott. Kann von diesem Dialog erwartet werden, dass er die entscheidenden Fragen des Menschen zu beantworten, sein Bedürfnis nach Transzendenz zu befriedigen und sein Leben sinnvoll zu gestalten vermag? Um diese Frage beantworten zu können, ist es angezeigt, dass in einem ersten Schritt die Möglichkeit der Erlangung transzendenter Erkenntnisse begründet wird. Eine Aufgabe, die in wesentlichen Stücken in der Überwindung des Immanentismus und Subjektivismus Kantscher Prägung besteht, wobei auch der Erfahrung Rechnung zu tragen sein wird (vgl. Abschnitt I). Im Anschluss sei geprüft, wie es um die Erkenntnis Gottes und die dagegen erhobenen Einwände bestellt ist (vgl. Abschnitt II), um sodann das Wesen und die Gottfähigkeit des Menschen zu besprechen (Abschnitt III), sie daraufhin als mit Leben gefüllte Realität zu untersuchen und schliesslich die religiösen Aussagen und Überzeugungen betreffend den Zustand nach dem irdischen Tod kognitiv zu deuten und auf ihre Vernünftigkeit hin zu erörtern (Abschnitt IV). Was alles, wie gesagt, auf der Grundlage der philosophischen Einsichten Dietrich von Hildebrands unternommen wird. In die Diskussion werden dabei solch namhafte Denker einbezogen wie Thomas von Aquin, Immanuel Kant, Ludwig Feuerbach, Friedrich Nietzsche oder Max Scheler, um hier nur einige zu nennen.

Nach einer Darstellung der Grundzüge der „realistischen Phänomenologie“ und ihrer Loslösung von Husserls 1913 vollzogenen transzendentalen Wende und der Absichtserklärung des Autors, auf dem methodologischen Fundament der realistischen Phänomenologie im Sinne Hildebrands die systematischen, von ihm aufgeworfenen Fragen zu behandeln, bestimmt Rütsche den näheren Gegenstand seiner Arbeit noch einmal in einem doppelten, historischen und systematischen Sinn:

Er will die Forschungslücke schließen, die auf dem Gebiet der Erforschung der Religionsphilosophie Hildebrands besteht. Diese wurde von Hildebrand selber nie in der Religionsphilosophie gewidmeten systematischen Publikationen, sondern nur in verschiedenen handgeschriebenen Vorlesungsmanuskripten aus dem Nachlass relativ systematisch dargestellt.

Zugleich will er jedoch Hildebrands sich vom Autor selber weitgehend zu eigen gemachte Philosophie auf eine Kritik der Religionskritik anwenden: „Ausstehend ist auch eine unterscheidende Inblicknahme der gegenwärtig gleichsam in der Luft liegenden Kritiken an der Religion im Lichte der philosophischen Beiträge von Hildebrands. Zur Behebung dieser und weiterer Mängel will die vorliegende Untersuchung einen Beitrag leisten.“

Der erste Abschnitt, „Das Wissen um das Transzendente“, behandelt den allgemeinen phänomenologischen Realismus Hildebrands, der dessen Erkenntnistheorie kennzeichnet, die von Dietrich von Hildebrand selber in seinen Schriften Der Sinn philosophischen Fragens und Erkennens, What is Philosophy?, aber auch in den Prolegomena zu Ethik, zu Das Wesen der Liebe, sowie in „Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt“ und anderen Werken ausführlich dargelegt wurde.

Rütsche faßt die Hauptinhalte der Erkenntnistheorie Hildebrands nicht nur sehr treffend zusammen, sondern stellt ihren Grundriß, wiederum im Sinne eines Mit-Philosophierens, synthetisch, aber sehr präzise dar. Im Mittelpunkt von Rütsches sehr gründlicher Darstellung der Kritik Hildebrands am Erfahrungsbegriff Humes und Kants und seiner Begründung eines philosophischen Realismus steht die Frage, wie – auf Grund der Hildebrand’schen Unterscheidung dreier verschiedener Arten von Wesenheiten – eine Einsicht in das transzendente Fundament synthetischer Urteile a priori möglich ist. Rütsche teilt die der Kantischen konträre Position Hildebrands, daß die sogenannte „Erkenntnis a priori“ in dem Geist transzendenten notwendigen Wesenheiten, die dem erkennenden Subjekt zugänglich sind, den Grund ihrer Möglichkeit besitzt, nicht in subjektiven Strukturen oder Denknotwendigkeiten des Subjekts. Damit ereignet sich bei Hildebrand eine radikale und scharsinnig rational durchdachte Abkehr von dem Subjektivismus der Kantischen, Hume’schen, sowie dem Großteil nachfolgender Philosophien.

Auch die an Hildebrands Darlegung des realistisch verstandenen Cogito-Arguments1 anschließenden Darlegungen des Autors zu einer dem erkennenden Subjekt transzendent existierenden realen Welt – der eigenen Person, der „Außenwelt“ und anderer Personen – nehmen in diesem Abschnitt der Arbeit Rütsches eine wichtige Rolle ein.

Der zweite Abschnitt, „Die Erkenntnis Gottes“, faßt die von Hildebrand nirgends gesamtheitlich dargelegten Beiträge zusammen, die in verschiedensten Werken verstreut vorliegen, nun aber von Rütsche in ihrer systematischen Einheit dargestellt und in einen Dialog mit verschiedenen Formen des Atheismus und der Religionskritik im 19. Und 20. Jahrhundert von Feuerbach bis Richard Dawkins gebracht werden.

Dabei erörtert Rütsche im Kontext der in Hildebrands Philosophie steckenden Schlüssel zu Widerlegung des dem „neuen Atheismus“ zugrundeliegenden radikalen Materialismus auch wesentliche Analysen Hildebrands zur philosophischen Anthropologie und entwickelt insbesondere seine Einsichten in die Geistigkeit der Person und der menschlichen Seele, sowie seine Kritik des Materialismus, noch weiter als sie von Hildebrand selber formuliert wurden. Er betont die besondere Rolle der Werte und ihrer „Frohen Botschaft“, die Hildebrand mehr als Hinweise auf Gottes Existenz, denn als Beweise auffaßt. Rütsche versucht nachzuweisen, wie auf dem Boden der auf Anselm und Duns Scotus entwickelten Lehre der „reinen Vollkommenheiten“ Hildebrands philosophische Theologie echte Gottesbeweise hätte bieten können und auch dem ontologischen Gottesbeweis hätte zustimmen müssen, und wie dieser sich gleichsam logisch aus Hildebrands Position ergibt, obwohl Hildebrand selber ihn in seinen Schriften abgelehnt hat.2

Im dritten Abschnitt, „Der Mensch und sein Angelegtsein auf die Religion in Denken, Fühlen und Wollen“ behandelt Rütsche zunächst den metaphysischen Personalismus Hildebrands, der auf der „unübersteigbaren Vollkommenheit des Personseins“ beruht. Dabei ergänzt Rütsche Hildebrand durch die von Anselm und Scotus entwickelte Lehre der reinen Vollkommenheiten und deren Weiterentwicklung in der nachhildebrand’schen realistischen und metaphysischen Phänomenologie und überwindet einige Einwände gegen den Charakter des Personseins als unübertreffliche Vollkommenheit. Diese erkennen zu können stellt die Bedingung für die Wahrheit der These Hildebrands über Gott als absolute Person und für die christliche trinitarische Gotteslehre dar.

Um die Beziehung der menschlichen Person zu Gott, um die es in diesem Abschnitt geht, darzustellen, geht Rütsche ausführlich auf Hildebrands ethische Grundthese der „Wertantwort“ als Rückgrat des moralischen Lebens der Person ein. Deren Anwendung auf die Religionsphilosophie führt dazu, in erster Linie nicht von einem menschlichen Religionsbedürfnis zu sprechen, wie dies viele immanentistische Religionspsychologien und Religionsphilosophien tun, sondern den tiefsten religiösen Akt der Gottesliebe, der Anbetung und des Lobpreises Gottes als Antwort des Menschen auf Gott um seiner selbst willen zu sehen, weil Gott Liebe und Lobpreis gebühren.3 Nur in der Hingabe an das in sich Wertvolle und an Gott als dessen Inbegriff um seiner selbst willen kann es auch zum wahren Glück und der höchsten Selbstverwirklichung der menschlichen Person kommen.

In seiner Analyse des Wesens der Person stützt Rütsche sich im Sinne einer echten Aneignung der philosophischen Einsichten Hildebrands insbesondere auf dessen ethische Untersuchungen und seine sehr originellen und wesentlichen, wenn nicht revolutionären, Beiträge zum „Herzen“ als Sitz menschlicher Affektivität und als drittes, dem Intellekt und Willen nicht unterlegenes, geistiges Zentrum der Person.

Der vierte Abschnitt, „Die lebendige Verbindung des Menschen mit Gott“, erörtert ein weites Spektrum der Beiträge Hildebrands zur Religionsphilosophie und zur Erkenntnis des Wesens verschiedener religiöser Akte und Haltungen wie der Demut, der Reue, der Gottes- und Nächstenliebe, und insbesondere der Hildebrand’schen These, daß wir in der Caritas und anderen christlichen Tugenden eine zutiefst neue moralische Vollkommenheit finden, welche die Tugenden, die nicht auf die von der Christlichen Offenbarung offenbarte Schau Gottes und des Menschen antworten, überragen. Diese Haltungen und Tugenden werden zwar vom Glauben an die Mysterien der christlichen Religion motiviert, besitzen jedoch echte, philosophischer Einsicht zugängliche Wesenheiten, welche es auch einem Nichtchristen, wie Bergson, erlaubten, eine überlegene moralische Qualität und Sublimität der christlichen Mystiker und Heiligen anzuerkennen.4 Diese sich an einige Analysen Schelers anlehnenden, aber nach Umfang und Qualität weit über dieselben hinausgehenden Untersuchungen Hildebrands ermöglichen es dem Christen, eine innige Verbindung zwischen seiner Vernunft und seinem Glauben wahrzunehmen.

Ein Schlußteil faßt die wesentlichsten Ergebnisse der Arbeit zusammen.

Dem Autor gelingt eine sehr gute und umfassende Darstellung verschiedener Grundinhalte der Philosophie Hildebrands und deren Anwendung auf die Religionsphilosophie, sowohl auf die philosophische Gotteserkenntnis als auch auf die Erforschung der Beziehung des Menschen zu Gott. Das Werk Rütsches holt so weit aus, und behandelt so viele erkenntnistheoretische, ethische, anthropologische, ästhetische und andere Aspekte der Philosophie Hildebrands, daß man es geradezu als eine Summa Philosophiae Hildebrandianae bezeichnen darf.

Als besonderes Verdienst des Buches erweist sich der Nachweis der inneren notwendigen Zusammengehörigkeit der erkenntnistheoretischen, anthropologischen und ethischen Beiträge Hildebrands, die erst die Personhaftigkeit Gottes, und damit das Fundament der göttlichen Akte gegenüber dem Menschen (aus christlicher Sicht Inkarnation, Erlösung, Auferstehung, Gericht) und der Antwort des Menschen auf Gott aufklären können. Zugleich ist eine so weit ausholende Studie Rütsches notwendig, um Hildebrands transzendente Interpretation der religiösen Akte des Menschen als Antwort auf Gott um seiner selbst willen verständlich zu machen.

Das ganze Werk zeichnet sich insbesondere durch seinen echt philosophischen Gehalt aus und ist weit entfernt von einer bloßen Wiedergabe der Gedanken eines anderen Autors. Damit bricht die Arbeit die in modernen akademischen Kreisen herrschende Unsitte, die Philosophie weitgehend bloß historisch abzuhandeln oder sie als wenig mehr als eine Analyse der Sprache zu betreiben, ohne die Sachen selbst, um die es geht, zu erforschen.

Die außerordentlich gründliche und sachlich korrekte Darstellung der Religionsphilosophie Hildebrands und deren erkenntnistheoretischer, ethischer und anthropologischer Fundamente besticht insbesondere dadurch, daß sie, unter Berücksichtigung des gesamten umfangreichen und einschlägigen publizierten Werkes Hildebrands auf vier Gebieten der Philosophie, die ethischen Hintergründe von Hildebrands Religionsphilosophie einbezieht.

Die gründliche Berücksichtigung und sorgfältige Zitierung verschiedener Texte aus den 503 Mappen unveröffentlichter und (nicht leicht lesbarer) überwiegend handgeschriebener deutscher und englischer Schriften, die sich im Nachlaß Hildebrands befinden, erhöht den Wert des vorliegenden Werkes ebenso wie die gründliche Berücksichtigung einschlägiger Teile der Sekundärliteratur über Hildebrand.

So schließt Rütsche eine wesentliche Forschungslücke durch synthetische und systematische Darstellung eines Teiles der Philosophie Hildebrands, der hauptsächlich nur in Nachlaßschriften (insbesondere Vorlesungen über Religionsphilosophie) vorliegt und der hier zum ersten Mal zusammenhängend dargelegt wird.

Weitere Vorzüge des Werkes sind eine gelungene Verbindung historischer und systematischer Analysen im geschilderten symphilosophein mit Hildebrand selbst, sowie ihr in der angegebenen freundlich-kritischen Weise über Hildebrands Beiträge Hinausweisen.

Ihre gute Gliederung und ausgezeichnete, hilfreiche Zusammenfassungen jedes Abschnittes machen das Werk auch als Lehrbuch höchst geeignet.

Prof. Dr. Dr. h.c. Josef Seifert

EINLEITUNG

1Die immanente WeltanschauungWeltanschauung und der SzientismusSzientismus

Was im Jahre 1620 mit Francis Bacons grosser Erneuerung der Wissenschaften (instauratio magna) und seiner Reduzierung des Wissens von einem Selbstzweck zu einem Mittel zum ZweckZweck begann und über die kontinuierliche Erschliessung zu einer immer besseren Beherrschung der Gesetzmässigkeiten der empirischen WirklichkeitWirklichkeit führte (victoria cursus artis super naturam1), das mündete wider Erwarten weder in die erhoffte Wiederherstellung der „Verbindung zwischen dem GeistGeist und den Dingen“2 noch in eine Vermenschlichung des Menschen und seiner Lebenswelt. Immer deutlicher hat sich im Verlauf der vergangenen Jahrhunderte gezeigt, wie das anfänglich berechtigte Motiv, das menschliche Leben durch die Erlangung von WissenWissen auf dem Wege des Experiments und der InduktionInduktion zu verbessern, den Übeln abzuhelfen und den Weg zu bahnen für Erfahrungen in bisher unbekannten Gebieten,3 seine positive Gestalt verliert, wenn es auf Gegenstände angewandt wird, die nach einer anderen Erkenntnismethode verlangen. Werden die Methoden, die bei den NaturwissenschaftenNaturwissenschaften berechtigt und zielführend sind, auf die Geistes- und Sozialwissenschaften übertragen, so zeitigt dies weder positive noch neutrale, sondern nicht zu übersehende negative Folgen.

Unter dem BegriffBegriff der „WissenschaftWissenschaft“ werden gegenwärtig fast ausschliesslich die NaturwissenschaftenNaturwissenschaften verstanden, welche in einer ebensolchen Dominanz auch das heutige WeltbildWeltbild prägen. Da die Naturwissenschaften sich allerdings nur mit bestimmten Aspekten der WirklichkeitWirklichkeit befassen, vermögen sie kein befriedigendes Weltbild zu liefern. Ein solches wird erst im SzientismusSzientismus geboten, welcher für ein Weltbild steht, in dem die empirische Wirklichkeit als ganze Realität angesehen und insgesamt nur das als wirklich verstanden wird, was Gegenstand der Naturwissenschaften ist oder dazu gemacht werden kann. Welche Konsequenzen die Übertragung der naturwissenschaftlichen Methoden auf die Geistes- und Sozialwissenschaften hat, zeigt sich z.B. bei Willard Van Orman QuineQuineWillard Van Orman (1908–2000), der der ErkenntnistheorieErkenntnistheorie – in einem Artikel mit dem vielsagenden Titel Naturalisierte Erkenntnistheorie – einen „Platz innerhalb der Psychologie und somit innerhalb der empirischen Wissenschaften“4 zugewiesen hat. Nur insofern, so wird im Rahmen einer immanenten Betrachtung der Wirklichkeit behauptet, trägt die philosophische Disziplin der Erkenntnistheorie überhaupt wissenschaftliche Züge, als jegliche BedeutungsgebungBedeutungsgebung für Wörter auf BeobachtungenBeobachtungen basiert und diese wiederum die SinnesrezeptorenSinnesrezeptoren als empirische Grundlage haben. Dass der Szientismus reduktionistisch und materialistischmaterialistisch ist,5 lässt sich auch an der Philosophie des GeistesPhilosophie des Geistes ersehen, in der die mentalen Phänomene häufig auf GehirnvorgängeGehirnvorgänge reduziert werden.6 „Auch die Wissenschaft vom menschlichen Geiste,“ so musste Konrad LorenzLorenzKonrad in einem Artikel aus dem Jahre 1973 zeitkritisch feststellen, „beginnt zu einer biologischen Wissenschaft zu werden“.7 Auf dem Programm des Szientismus steht die naturwissenschaftliche Beschreibung der Naturwissenschaften, stehen die Fragen über die Naturwissenschaften, über ihre Methoden, Leistungen und Geltungsansprüche.

Der szientistische Zugang übergeht ganz offensichtlich den wissenschaftlichen Zugang von AristotelesAristoteles, der im VII. Buch seiner MetaphysikMetaphysik darauf aufmerksam gemacht hat, dass das Ganze (οὐσία) mehr ist als die Summe seiner Teile.8 Der SzientismusSzientismus geht jedoch nicht auf das Ganze, in seiner analysierenden und zerlegenden MethodeMethode dringt er nie bis zur Qualität des Ganzen durch, sondern bleibt beim bloss Quantitativen der Elemente stehen. Denn die NaturwissenschaftNaturwissenschaft beginnt mit der Beschreibung, ordnet die beschriebenen Erscheinungen ein und abstrahiert die in ihnen vorherrschenden Gesetzmässigkeiten. Das ExperimentExperiment dient dabei zur VerifizierungVerifizierung der abstrahierten NaturgesetzeNaturgesetze. Dabei verkennt der Szientismus jedoch, dass ohne vorhergehende, apriorische Zwecksetzung keine Experimente durchgeführt werden und keine Messdaten zustande kommen können. Denn die Messgeräte der naturwissenschaftlichen Experimente sind selbst nicht Gegenstand naturwissenschaftlicher Erfahrung, vielmehr müssen die Kriterien für ein gelungenes Experiment vorweg als gültig gesetzt werden. Der Szientismus baut auf der Anerkennung der jüngsten naturwissenschaftlichen Lehren auf, setzt sie als gültig und kommt von da her zu einer nachträglichen Interpretation der Forschungsmethoden und -ergebnisse. Dass der Szientismus das WahrheitsproblemWahrheitsproblem damit durch den Glauben an die jeweils aktuellsten Methoden und Theorien als gelöst betrachtet, ist offenkundig. Er deduziert die Grundlagen aus den als gültig geglaubten bzw. unterstellten Ergebnissen, und nicht die Grundlagen aus den Ergebnissen.

Was aber, wenn ein Seiendes kein Gegenstand der NaturwissenschaftenNaturwissenschaften ist und auch nicht dazu gemacht werden kann? Wie werden im Rahmen eines immanenten oder szientistischen Weltbildes beispielsweise die objektiven WerteWerte oder die MenschenwürdeMenschenwürde verstanden? Konsequenterweise gibt es in einem szientistisch geprägten WeltbildWeltbild keine objektiven Werte, sind die Werte doch gerade kein Gegenstand der Naturwissenschaften. „Die Naturwissenschaften verzichten auf die Frage nach dem SinnSinn, sie haben ihn als eine überflüssige Kategorie aus ihrem Weltbild aussortiert.“9 Objektive Geltung haben in den Naturwissenschaften nur Fakten. Was es gibt, sind nur subjektive Bewertungen, und die lassen sich aus den Anlagen, den Erfahrungen und den Lebensbedingungen des einzelnen Menschen erklären.

Das Eintreten für die MenschenwürdeMenschenwürde und die MenschenrechteMenschenrechte ist sicherlich einer der positivsten Züge unserer Zeit. Diese verlieren aber ihren SinnSinn, wenn es keine objektiven WerteWerte gibt, wenn der Wert eines Menschen immer nur der Wert für ihn selbst ist. Und wenn die Aufklärung in der Abschaffung der Pflichten eine Befreiung gesehen hat und noch immer sieht, dann wird dabei übersehen, dass es ohne Pflichten auch keine Rechte gibt, denn das Recht einer PersonPerson einer anderen gegenüber ist ja nichts anderes als eine Pflicht der letzteren Person der ersteren gegenüber.10 Das aber wird nur allzu gerne ausgeblendet!

Die immanente WeltanschauungWeltanschauung ist offensichtlich keine Frucht echt wissenschaftlicher Erkenntnisse und der SzientismusSzientismus allenfalls ein Programm für weitere Forschungen. Mit seinem methodischen Zugang und seinen wissenschaftstheoretischen Prinzipien verfehlt der Szientismus aber gerade das, wofür der MenschMensch eigentlich und ursprünglich in die Welt des Wissens hinausgetreten ist, nämlich die grossen Fragen des menschlichen Daseins zu beantworten. Gerade diese Aufgabe aber haben die NaturwissenschaftenNaturwissenschaften bislang nicht erfüllt, ja können sie von ihrem methodischen Zugang her auch prinzipiell nicht erfüllen. Denn wie soll der Mensch im Rahmen einer immanenten Weltanschauung in befriedigender Weise verstanden werden, wenn er nur ein Produkt der biologischen und kulturellen EvolutionEvolution ist, dessen WesenWesen bestimmt ist durch seine biologischen ErbanlagenErbanlagen und sein kulturelles LebensmilieuLebensmilieu? Wie, wenn die Zukunft des Menschen sein TodTod ist, er ganz der empirischen NaturNatur angehört und keinerlei Anteil an einer Natur hat, die der VergänglichkeitVergänglichkeit enthoben ist? Dessen Leben wohl ein Ende, aber kein ZielZiel und keinen SinnSinn hat, der sich seine Ziele vielmehr immer selbst setzen und über den Sinn selbst entscheiden muss, wie Jean-Paul SartreSartreJean-Paul (1905–1980) in seinem Hauptwerk Das Sein und das Nichts behauptet hat11, für den der Mensch zur Hoffnungslosigkeit verurteilt ist, weil alle menschlichen Tätigkeiten im Grunde äquivalent sind?

In einer rein immanenten Weltsicht hat auch GottGott keinen Platz, denn die Welt gilt nach diesem Denkmodell in Verbindung mit den neuesten (natur-)wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht als SchöpfungSchöpfung eines liebenden Gottes, sondern als Ergebnis eines Urknalls, das sich durch Mutation und SelektionMutation und Selektion immer weiter und immer höher entwickelt. Die radikalen Konsequenzen der Verabschiedung oder besser: der Abschaffung Gottes hat Friedrich NietzscheNietzscheFriedrich (1844–1900) deutlich gesehen und in der Geschichte vom tollen Menschen auf eindrückliche Weise geschildert:

Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche GottGott! Ich suche Gott!‘ – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle MenschMensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ‚Wohin ist Gott?‘ rief er, ‚ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‘ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. ‚Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!‘ – Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: ‚Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?‘12

Nietzsches Versuch, die mit dem Tode Gottes eintretende SinnlosigkeitSinnlosigkeit zu überwinden, führte ihn in Also sprach Zarathustra zum WillenWillen zur Macht und zum Übermenschen.13 Doch führte auch sein Aufruf, die Menschen sollten selbst WerteWerte in die Dinge legen und ihnen SinnSinn schaffen, nicht über den NihilismusNihilismus hinaus.14

2SinnSinn und TranszendenzTranszendenz

Wie NietzscheNietzscheFriedrich und viele andere aufmerksame Beobachter des Wandels der Zeiten, so hatte auch Edmund HusserlHusserlEdmund (1859–1938) die Feststellung gemacht, dass die Ausschliesslichkeit, in der „sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die ganze WeltanschauungWeltanschauung des modernen Menschen von den positiven Wissenschaften bestimmen“ und von dem ihr verdankten WohlstandWohlstand blenden liess, „ein gleichgültiges Sichabkehren von den Fragen [bedeutete], die für ein echtes Menschentum die entscheidenden“ und „die brennenden sind: die Fragen nach SinnSinn oder SinnlosigkeitSinnlosigkeit dieses ganzen menschlichen Daseins“.1 Sie konkretisieren sich für HusserlHusserlEdmund in den Fragen nach der ErkenntnisErkenntnis, nach den Werten, nach der ethischen HandlungEthische Handlung, nach der FreiheitFreiheit, nach der UnsterblichkeitUnsterblichkeit und schliesslich nach GottGott, „der ‚absoluten‘ VernunftVernunft als der teleologischen Quelle aller Vernunft in der Welt, des ‚Sinnes‘ der Welt“2.

Die Folgen dieser „LebenskrisisLebenskrisis“3 des modernen Menschen waren mit der SinnlosigkeitSinnlosigkeit ebenso angesprochen wie das TherapeutikumTherapeutikum (gr. θεραπεύειν – heilen) mit den in die TranszendenzTranszendenz weisenden Fragen bezeichnet. Denn bereits in seiner 1971 posthum erschienenen Schrift The Farther Reaches of Human Nature erklärte der US-amerikanische Psychologe Abraham MaslowMaslowAbraham (1908–1970) das BedürfnisBedürfnis nach Transzendenz zum höchsten menschlichen Bedürfnis.4 Mit seiner sogenannten BedürfnispyramideBedürfnispyramide will er die Motivationen von Menschen beschreiben, wobei die verschiedenen Bedürfnisse die Stufen der Pyramide bilden. Nach diesem Modell müssen die grundlegenden Bedürfnisse befriedigt sein, bis die nächsthöheren befriedigt werden können. Von da her ist ihm das Bedürfnis nach Transzendenz ein Metabedürfnis, d.h. ein instinktives Streben nach Wachstum (growth motivation),5 das hierarchisch geordnet auf die Befriedigung der physiologischen Grundbedürfnisse (deficiency-needs wie Hunger, Durst etc.) und der übrigen Bedürfnisse (z.B. soziale oder kognitive Bedürfnisse) letztlich folgt.6 Wenngleich er die Metabedürfnisse instinktiv nennt, sind es ihm doch eher Möglichkeiten als natürliche Aktualisierungen.7

Ohne an dieser Stelle nun auf die gängige Kritik einzugehen, dass das Verlangen nach dem ganz Anderen gerade auch dann auftreten kann, wenn die Grundbedürfnisse nicht befriedigt sind, sei MaslowMaslowAbraham an dieser Stelle vor allem wegen seiner Unterscheidung der sog. B-WerteWerte angeführt. Als B-Werte versteht er die „intrinsic or ultimate values“8. Neben der WahrheitWahrheit, der GüteGüte, der SchönheitSchönheit, der EinheitEinheit u.a. rechnet er ihnen auch den SinnSinn bei. Sie alle werden wahrgenommen und nicht erfunden (perceived, not invented) und sind zudem in Beschreibungen religiöser Erfahrungenreligiöser Erfahrungenreligiöse eingegangen, was sie zu empirisch sinnvollen und nachprüfbaren Aussagen mache.9

Diesem Ansatz folgte der Wiener Psychiater Viktor E. FranklFranklViktor E. (1905–1997) in seiner Auseinandersetzung mit dem weltweit um sich greifenden SinnlosigkeitsgefühlSinnlosigkeitsgefühl.10 Zwar waren die Grundbedürfnisse der im WohlstandWohlstand lebenden Tatsachenmenschen11 befriedigt, zwar konnten sie sich auch darüber hinaus Gehendes beschaffen und über einen Grossteil ihrer Zeit frei verfügen, dennoch aber litten sie „an einem abgründigen Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem LeeregefühlLeeregefühl vergesellschaftet ist“12. Was nach FranklFranklViktor E. darin begründet liegt, dass diesen beständig um die Verwirklichung des eigenen Selbst sich bemühenden Menschen die Aufgaben fehlen, an die sie sich hingeben können. Den sinnentleerten Menschen fehlt das Ausgerichtet- oder Hingeordnetsein auf etwas oder jemanden, es mangelt ihnen an der SelbsttranszendenzSelbsttranszendenz.13 Denn ohne sich selbst zu transzendieren, „sackt ExistenzExistenz in sich selbst zusammen“14. „Menschsein weist immer schon über sich selbst hinaus, und die TranszendenzTranszendenz ihrer selbst ist die Essenz menschlicher Existenz.“15 Bringt man diesen SachverhaltSachverhalt in die Problemstellung mit ein, so verdeutlicht sich, dass der postmoderne MenschMensch weder an der SinnlosigkeitSinnlosigkeit noch an einem Überangebot an SinnSinn leidet, sondern das Problem vielmehr in der Stellung wurzelt, die die betreffende PersonPerson zur WirklichkeitWirklichkeit einnimmt, die sie erfahren kann und zu beantworten eingeladen und gerufen ist.16

Für MaslowMaslowAbraham beinhaltet das BedürfnisBedürfnis nach TranszendenzTranszendenz die Suche nach einer Dimension, die das individuelle Selbst überschreitet oder ausserhalb des beobachtbaren Systems liegt. Zu dieser Dimension ist die ReligionReligion insofern zu rechnen, als sie für die gelebte Beziehung des Menschen mit dem Transzendenten steht. Selbst wenn die Religion an dieser Stelle nur als Möglichkeit verstanden wird, selbst dann ist es unabweisbar, dass ein solches Verhältnis für den Menschen förderlich wäre.17 Sei dies hinsichtlich der AntwortenAntworten auf die entscheidenden Fragen (HusserlHusserlEdmund), sei dies im Sinne der Befriedigung der Bedürfnisse nach Wachstum (MaslowMaslowAbraham), oder sei dies zur Findung und zur Stabilisierung des Lebenssinnes (FranklFranklViktor E.). Die ReligioReligionn scheint den Menschen also zumindest in potentia an seinem Lebensnerv zu treffen. Grund genug also, sich mit der Religion zu befassen und den Bedingungen nachzuspüren, die erfüllt sein müssen, damit die Möglichkeit zu einer sinnerfüllten WirklichkeitWirklichkeit wird.18 Von da her gilt das primäre Interesse nicht den Konsequenzen der Religion, diese werden von selbst in den Blick kommen, sondern der Sache selbst. Mit anderen Worten, die Religion interessiert weder als kulturelles Phänomen noch als UrsacheUrsache für Krieg oder Frieden und dergleichen mehr, sondern einzig in individual-existentieller Hinsicht.

Nicht erst die Moderne bzw. die PostmodernePostmoderne hat im Übrigen die Frage nach dem Verhältnis von TranszendenzTranszendenz und SinnSinn gestellt. Da die ganze abendländische Philosophie nach dem UrteilUrteil von Alfred North WhiteheadWhiteheadAlfred North (1861–1947) nur aus Fussnoten zu PlatonPlaton (427–347 v. Chr.) besteht, ist es nicht verwunderlich, die Behandlung der Problematik bereits bei Platon zu finden.19 Obgleich Platon den Terminus „Sinn“ nicht explizit verwendet hat, lässt sich die Sache nichtsdestotrotz in der Bestform (ἀρετή) ausmachen. Wie jedes andere Seiende auch,20 so hat auch der MenschMensch eine Bestform, die in der Ordnung (κόσμος, τάξις) besteht21 und zur jeweils eigentümlichen Leistung (ἔργον) befähigt.22 Ein Strebeziel ist die Bestform insofern, als sie die UrsacheUrsache des Glücks (εὐδαιμονία) ist.23 Wobei GlückGlück nicht, zumindest nicht ausschliesslich, im Sinne eines Gefühls zu verstehen ist, sondern vor allem im Sinne des guten, gelingenden Lebens. Dieses aber erfolgt wesentlich über den Erwerb und den Besitz der ἀρετή.

Die aretê des Menschen besteht in der EinheitEinheit seiner drei Seelenvermögen;24 ein Zustand, der vermittels des Wissens erreicht wird. Nicht jedes beliebigen Wissens jedoch, sondern nur des Wissens um die transzendenten IdeenIdeen, welche in ihrer Absolutheit und Subsistenz, in ihrer IntelligibilitätIntelligibilität, Unkörperlichkeit und inneren Einheit die an ihr partizipierenden Dinge zu einer vereinheitlichten Vielheit gestalten.25 Im Zuge ihrer ErkenntnisErkenntnis gleichen sich die drei Seelenvermögen der erkannten Einheit an, was den betreffenden Menschen innerlich ordnet, in seine Bestform bringt und die UrsacheUrsache eines glücklichen Lebens ist.

In diesem Verhältnis stehen die TranszendenzTranszendenz und das GlückGlück bzw. der SinnSinn nach dem Verständnis von PlatonPlaton. Der MenschMensch befindet sich ihm nicht in einem unveränderlichen existentiellen Stand, auch dann nicht, wenn dieser aktuellaktuell im Unglück oder in der SinnlosigkeitSinnlosigkeit besteht. Durch den Zugang zur Transzendenz eröffnen sich ihm vielmehr höchst beglückende Möglichkeiten.

3Die verschiedenen Bedeutungen von „TranszendenzTranszendenz“

Das angemessene Befassen mit der ReligionReligion setzt die Klärung des Begriffs der TranszendenzTranszendenz voraus. Die NotwendigkeitNotwendigkeitsubjektive dieses Unterfangens zeigte sich alleine schon an der äquivoken Verwendung dieses Terminus. Denn ob von einem BedürfnisBedürfnis nach der Transzendenz oder von der SelbsttranszendenzSelbsttranszendenz die Rede ist, beide Male bedeutet Transzendenz offensichtlich nicht dasselbe. Und nicht als hätte es mit diesen zwei – noch zu klärenden – Bedeutungen sein Bewenden, Transzendenz kann auch noch anderes bedeuten. Das WortWort „Transzendenz“ kommt aus dem Lateinischen (transcendere) und weist seinem Wortsinne nach auf ein Hinübersteigen, Übersteigen oder Übertreten hin. Damit verweist es auf eine Grenze, die überstiegen wird, um in eine jenseits liegende WirklichkeitWirklichkeit zu gelangen. Dann kann es aber auch den personalen Akt des Übersteigens selbst bedeuten, mit dem eine Grenze bewusst überschritten wird. In seinem HöhlengleichnisHöhlengleichnis hat PlatonPlaton ein solches Übersteigen anschaulich beschrieben als ein Übersteigen der Grenze, die das Sinnliche vom Intelligiblen und das Meinen vom ErkennenErkennen trennt.1 Im Sinne eines bewussten Aktes der PersonPerson kann das Übersteigen einer Grenze in den verschiedensten Weisen zur Realität werden. Beispielsweise durch das Übersteigen der in der eigenen Person errichteten Grenzmauern des HedonismusHedonismus durch das Erteilen einer AntwortAntworttheoretische, wie sie dem Gegenüber um seiner selbst willen gebührt.2 Schliesslich kommt der Transzendenz noch eine weitere Bedeutung zu. Nicht mehr bedeutet es das personale Übersteigen einer Grenze, sondern nun kommt ihm die Bedeutung der objektiven Tatsache zu, dass jenseits der Grenze eine andere Wirklichkeit ist. In diesem Sinne kann etwa davon gesprochen werden, dass GottGott der Welt transzendent ist. Als transzendent kann aber auch all das bezeichnet werden, was dem Menschen in seiner Erfahrungswelt prinzipiell nicht gegeben ist.3

Aufgrund dieser Klärungen des Begriffs der TranszendenzTranszendenz lässt sich nun auch ermessen, in welchem Sinne HusserlHusserlEdmund, MaslowMaslowAbraham und FranklFranklViktor E. sich auf die Transzendenz beziehen. Während HusserlHusserlEdmund die Fragen nach der ErkenntnisErkenntnis, den Werten, der ethischen HandlungEthische Handlung, der FreiheitFreiheit, der UnsterblichkeitUnsterblichkeit und nach GottGott thematisiert, zu deren Beantwortung die Grenze des Hier und Jetzt in einem personalen Akt transzendiert werden muss, so bedeutet die Transzendenz im Sinne von Maslows höchstem menschlichen BedürfnisBedürfnis ein Verlangen nach einer WirklichkeitWirklichkeit, die jenseits dieser Welt liegt.4FranklFranklViktor E. verwendet den Terminus Transzendenz wieder im Sinne eines personalen Aktes, demgemäss ihm Transzendenz das Übersteigen der Intention nach Selbstverwirklichung durch die Hingabe des eigenen Selbst bedeutet.

In welcher Bedeutung wird nun von der TranszendenzTranszendenz in Sachen der ReligionReligion gesprochen? Im Sinne einer gelebten Beziehung des Menschen zu einem transzendenten GottGott, einer Beziehung über die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits hinweg? Doch geht die Initiative vom Menschen aus, ist er es, der sich transzendiert, oder transzendiert sich das Transzendente in die Welt des Menschen? Oder steht die Religion letztlich für einen wechselseitigen Prozess über die Grenze der Transzendenz hinweg? Die AntwortenAntworten auf diese Fragen stehen verständlicherweise nicht am Beginn der Arbeit. Ob sie zu verneinen oder zu bejahen sind, und wenn zu bejahen, in welchem Sinne, hat der Untersuchungsverlauf zu erweisen.

4Das Thema der Arbeit

Sich mit allen, ja nur schon mit mehreren religiösen Richtungen und Phänomenen auseinanderzusetzen, würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Deswegen ist die Konzentrierung auf eine bestimmte ReligionReligion angezeigt. Wenn der Entscheid zugunsten der christlichen Religion ausfällt, dann deswegen, weil die in ihr vertretenen religiösen ÜberzeugungenÜberzeugungenreligiöse von Anfang an auf die philosophische Waagschale gelegt wurden und sich mit dem BegriffBegriff des TheismusTheismus eine philosophisch handhabbare Position herausgebildet hat. Mit Theismus ist die Position bezeichnet, nach der ein GottGott (gr. θεός, lat. deus) existiert, der PersonPerson ist, der allmächtig, allwissend, allgütig, allgegenwärtig und dieser Welt transzendent ist und dennoch am Geschehen in dieser Welt Anteil und auf geheimnisvolle Weise Einfluss darauf nimmt.

Aufgabe der ReligionsphilosophieReligionsphilosophie ist dabei die Herausarbeitung der (Un-)Vernünftigkeit der ReligionReligion. Der Bewältigung dieser Aufgabe werden im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die einschlägigen Werke des Philosophen Dietrich von HildebrandHildebrandDietrich von1 (1889–1977) zugrunde gelegt, von dem in punkto Religion Bedeutendes erwartet werden darf. Denn bereits sein im Jahre 1919 verfasster Aufsatz über Die neue Welt des Christentums2 – sein erster Artikel nach seiner Habilitation – enthält im Kerne alle seine grossen religiösen Einsichten, die sich in entfalteter FormForm auch in seinen späteren Werken finden. Wie religiös er war,3 zeigt sich quer durch sein Oeuvre. Fast jede Schrift hat einen expliziten, zumindest aber einen impliziten Zug zur religiösen Sphäre. Religion bzw. religioreligio versteht er „als Inbegriff der uns von dem persönlichen GottGott positiv geoffenbarten Wahrheiten und als das auf einer solchen positiven OffenbarungOffenbarung beruhende Verhältnis des Menschen zu Gott“4. Zudem spricht er von der „lebendigen Verbindung mit eben diesem Gott“5 oder schlicht von der „Bindung an Gott“6. Überdies sogar vom „Dialog mit GottDialog mit Gott“7 oder vom „Mysterium des Zwiegesprächs zwischen Geschöpf und Schöpfer“8.

Was darunter verstanden sein will, muss aus seinen Schriften im Einzelnen herausgearbeitet und zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Die Problematik zeigt sich alleine schon an der Bindung an GottGott: Wie stellt sich diese Bindung dar? Wie ist die Bindung des endlichen und unvollkommenen Menschen an Gott überhaupt zu denken? Ja, wie ist Gott eigentlich seinem WesenWesen nach, und vor allem, kommt Gott überhaupt eine objektive Seinsweise zu oder ist Ludwig FeuerbachFeuerbachLudwig beizupflichten, der behauptete, der MenschMensch selbst sei der SeinsgrundSeinsgrund Gottes? Über alle diese Fragen kann allerdings nur unter der Voraussetzung ernsthaft diskutiert werden, dass der Mensch überhaupt in der Lage ist, den Bereich des Empirischen zu transzendieren und Erkenntnisse zu erlangen, deren objektive KorrelateKorrelateobjektive dem Bereich des Transempirischen oder Metaphysischen zugehören. Nur unter dieser Voraussetzung kann im Sinne einer streng wissenschaftlichen Philosophie von Gott wie auch von einer Bindung des Menschen an ihn gesprochen werden.

5ForschungszielForschungsziel und MethodeMethode

Da die absolute WahrheitWahrheit in von Hildebrands WeltanschauungWeltanschauung einen archimedischen PunktArchimedischer Punkt einnahm und er ihre Erkennbarkeit auch zu begründen wusste, wird in dieser Arbeit zugesehen, ob und wenn ja, inwiefern die ReligionReligion Gegenstand philosophischen Erkennens ist und damit als vernünftig erwiesen werden kann. Damit unterscheidet sich die ReligionsphilosophieReligionsphilosophie von der ReligionspsychologieReligionspsychologie, die in einem empirischen Verfahren nur die religiösen Akte im Menschen betrachtet und dabei von ihrem Objekt und dessen Wahrheit absieht. Ist von HildebrandHildebrandDietrich von mit einem SachverhaltSachverhalt aus dem Bereich der Religion konfrontiert, der dem ersten Anschein nach philosophisch nicht erkannt werden kann, so wählt er, falls der Sachverhalt nicht widersprüchlich, sondern sinnvoll ist, die MethodeMethode Anselms von CanterburyAnselm von Canterbury: er glaubt, um zu verstehen (fides quaerens intellectumfides quaerens intellectum).1 Diese MaximeMaxime ist allerdings nicht im Sinne des FideismusFideismus zu verstehen, demgemäss ein rational nicht begründbarer GlaubeGlaube als Ausgangspunkt des Philosophierens zu wählen und als letzte Instanz für philosophisches ErkennenErkennen zu befürworten ist. Denn der religiöse Glaube beruht bereits selbst auf philosophischen Voraussetzungen und Erkenntnissen, die dem religiösen Glauben vorgeordnet und – trotz vieler gegenseitiger Beziehungen2 – von ihm unabhängig sind. Der Glaube wird in dieser Untersuchung jedenfalls nicht im Sinne eines heuristischen PrinzipsHeuristisches Prinzips zu einem Hilfsmittel reduziert, um gewisse Sachverhalte besser verstehen zu können. Dies muss bei der Analyse des Denkens von Hildebrands genauso beachtet werden wie bei einem AugustinusAugustinus, der sagte, „dass Philosophie, das heisst Weisheitsstreben, und Religion nicht voneinander verschieden sind“3. Ähnliche Stellen finden sich auch bei einem BonaventuraBonaventura, einem Thomas von AquinThomas von Aquin und bei vielen anderen. Unter der Voraussetzung der AntwortAntworttheoretische des Glaubens an den sich offenbarenden GottGott sucht von HildebrandHildebrandDietrich von die den Menschen geoffenbarten Wahrheiten nach Möglichkeit zu verstehen und gewisse in ihnen gründende Sachverhalte philosophisch zu erkennen. Immer aber bleibt zu beachten, dass die EinsichtEinsicht in das Verhalten einer gegebenen Sache, nach der die Philosophie letztlich strebt, eines Beweises weder fähig noch bedürftig ist. Von HildebrandHildebrandDietrich von bezeichnet es im Übrigen selbst als „höchst ‚unwissenschaftlich‘“, „ein Buch für unphilosophisch zu halten, weil in ihm der Name Christi genannt wird, statt unbefangen zu fragen, was in dem Buch an echt philosophischer Einsicht enthalten sei, und darauf zu merken, in welchem SinnSinn auf das ÜbernatürlicheÜbernatürlicheDas Bezug genommen wird“.4

Unter Zugrundelegung der realistisch phänomenologischen MethodeMethode, wie von HildebrandHildebrandDietrich von sie vor allem im vierten Kapitel seiner epistemologischen Hauptschrift Was ist Philosophie? schriftlich fixiert hat, kann insofern ein absolut gewisses ErkennenErkennen eines gegebenen Sachverhalts erwartet werden, als es sich um einen SachverhaltSachverhalt handelt, der in notwendigen Gegenständen oder Wesenheiten fundiert ist.5 Wie aber liegen die Dinge beim Relationssachverhalt6 des Verhaltens des Menschen zu GottGott oder Gottes zum Menschen? Bietet die Relation zwischen MenschMensch und Gott die epistemologische Möglichkeit, gewisse Züge mit absoluter GewissheitGewissheit erkennen zu können? Das muss sich erweisen … Wobei dies freilich, wie bereits an dieser Stelle festgehalten werden kann, in erster Linie davon abhängt, ob der Mensch die objektive WahrheitWahrheit erkennen und sich und seine Welt transzendieren kann, wie auch, ob Gottes objektive ExistenzExistenz sich überhaupt begründen lässt.

Was sodann die Auffassung betrifft, dass die ReligionReligion sich von der MetaphysikMetaphysik und der MoralMoral lösen müsse, so wird dieser Arbeit grundgelegt, dass Metaphysik und Moral der Religion nicht untergeordnet sind, wie Friedrich SchleiermacherSchleiermacherFriedrich behauptete,7 sondern mit dem Gottesbegriff so wesentlich verbunden sind, dass GottGott, wenn überhaupt, nur durch sie in philosophischer Weise verstanden werden kann.8 Analoges gilt von der Religion als Bindung an Gott, auch sie – wie gezeigt werden wird – kann nur auf dem Fundament von Metaphysik und Moral als vernünftig ausgewiesen werden. Dazu kommt, dass Metaphysik und Moral die Gegenstandsbereiche zweier Geistesvermögen des Menschen bezeichnen, nämlich des Intellekts und des Willens. Wenn sie zugunsten des Gefühls von der Religion ausgeschlossen werden, wie SchleiermacherSchleiermacherFriedrich dies tut, dann betrifft sie den Menschen nicht als Ganzen. Desgleichen, wenn Immanuel KantKantImmanuel die Religion gänzlich auf der VernunftVernunft gründen lässt9 und die Religion als „ErkenntnisErkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“10 definiert. Auch dann ist der MenschMensch nicht als ganzer betroffen.

Doch was ist die Grundlage der ReligionReligion im Menschen? Von HildebrandHildebrandDietrich von leitet der augustinische Gedanke von der Komplexität des menschlichen Geistes, der eine EinheitEinheit bildet aus VernunftVernunft, Wille und GedächtnisGedächtnis, bzw. LiebeLiebe. AugustinusAugustinus vollbrachte auf dieser Grundlage einen bedeutenden religionsphilosophischen Beitrag, indem er die religiöse Überzeugung von der Trinität Gottes auf der Basis des Menschen als trinitarisch strukturiertem Abbild Gottes als vernünftig auszuweisen suchte. Wenn in diesem Sinne von der Vernünftigkeit gesprochen wird, dann sind auch die übrigen Geistesvermögen mitgemeint. Denn „vernünftig“ wird der MenschMensch nicht alleine durch seinen IntellektIntellekt, sondern vernünftig ist er als ganzer, unter Einbezug aller seiner geistigen Vermögen.

Gegenüber KantKantImmanuel und SchleiermacherSchleiermacherFriedrich nimmt John Henry NewmanNewmanJohn Henry mit seinem Sowohl-als-Auch eine Mittelstellung ein. Nach ihm ist die ReligionReligion weder eine blosse Frage der VernunftVernunft noch der Gefühle. Am Beispiel der ZustimmungZustimmung zur objektiven ExistenzExistenz Gottes zeigt er den Unterschied auf zwischen der begrifflichen und der realen Zustimmung. Wenn ein theistischer Theologe beispielsweise von GottGott spricht, dann handelt es sich bei seiner Zustimmung zu dieser WahrheitWahrheit um eine begriffliche.11 Um eine Zustimmung also, die die Folge bestimmter Folgerungen und intellektueller Überlegungen ist. NewmanNewmanJohn Henry ist es aber vor allem um die Frage zu tun, ob es nicht noch eine lebhaftere Zustimmung zum Sein Gottes gibt, als die mit Begriffen operierende: „Kann ich glauben, als ob ich sähe?“12 Eine solche Zustimmung, darüber ist er sich im Klaren, bedingt „eine gegenwärtige Erfahrung oder eine Erinnerung an das Faktum“13. Doch da niemand in diesem Leben Gott sehen kann, bleibt die Frage: Ist eine reale Zustimmung überhaupt möglich? NewmanNewmanJohn Henry selbst erachtet die Erfahrbarkeit Gottes als möglich, und zwar durch das GewissenGewissen. Denn das GefühlGefühl des Gewissens ist ein doppeltes, es ist einerseits ein sittliches Gefühl (moral sense), andererseits ein Gefühl der Pflicht (sense of duty). Und gerade dieses Gefühl der Pflicht impliziert einen höchsten Richter, „dem wir verantwortlich sind“14. Da die Ursachen der Gemütsbewegungen des Phänomens des Gewissens nicht dieser sichtbaren Welt angehören, muss der Gegenstand, auf den die Wahrnehmung gerichtet ist, übernatürlichübernatürlich und göttlich sein.15

Damit hat NewmanNewmanJohn Henry nicht nur ein ArgumentArgument für die Erfahrbarkeit Gottes beigebracht, mit der Unterscheidung zwischen der begrifflichen und der realen ZustimmungZustimmung hat er überdies den Unterschied zwischen der Theologie und der ReligionReligion begründet. Während die Theologie als WissenschaftWissenschaft es nämlich mit den Begriffen zu tun hat, gründet die Religion auf Erfahrungen. Weswegen die Theologie prinzipiell auch ohne die Religion bestehen kann, nicht aber die Religion ohne die Theologie, denn wenn die entsprechenden Erfahrungen fehlen, wird auf den IntellektIntellekt und die gesunde und bewährte Lehre zurückgegriffen.16 Die religiösen ÜberzeugungenÜberzeugungenreligiöse, die aufgrund bestimmter Erfahrungen oder im Zuge des Rückgriffs auf die überlieferte Lehre entstehen, auf ihre Vernünftigkeit hin zu prüfen, ist Aufgabe der ReligionsphilosophieReligionsphilosophie.

Das ForschungszielForschungsziel besteht in diesem Rahmen schliesslich im Aufweis der ReligionReligion als einem Dialog zwischen MenschMensch und GottGott. Kann von diesem Dialog erwartet werden, dass er die entscheidenden Fragen des Menschen zu beantworten, sein BedürfnisBedürfnis nach TranszendenzTranszendenz zu befriedigen und sein Leben sinnvoll zu gestalten vermag? Um diese Frage beantworten zu können, ist es angezeigt, dass in einem ersten Schritt die Möglichkeit der Erlangung transzendenter Erkenntnisse begründet wird. Eine Aufgabe, die in wesentlichen Stücken in der Überwindung des ImmanentismusImmanentismus und SubjektivismusSubjektivismus Kantscher Prägung besteht, wobei auch der Erfahrung Rechnung zu tragen sein wird (vgl. Abschnitt I). Im Anschluss sei geprüft, wie es um die ErkenntnisErkenntnis Gottes und die dagegen erhobenen Einwände bestellt ist (vgl. Abschnitt II), um sodann das WesenWesen und die Gottfähigkeit des Menschen zu besprechen (Abschnitt III), sie daraufhin als mit Leben gefüllte Realität zu untersuchen und schliesslich die religiösen Aussagen und Überzeugungen betreffend den Zustand nach dem irdischen TodTod kognitiv zu deuten und auf ihre Vernünftigkeit hin zu erörtern (Abschnitt IV). Was alles, wie gesagt, auf der Grundlage der philosophischen Einsichten Dietrich von Hildebrands unternommen wird. In die Diskussion werden dabei solch namhafte Denker einbezogen wie Thomas von AquinThomas von Aquin, Immanuel KantKantImmanuel, Ludwig FeuerbachFeuerbachLudwig, Friedrich NietzscheNietzscheFriedrich oder Max SchelerSchelerMax, um hier nur einige zu nennen.

Bezüglich der Gliederung der vorliegenden Untersuchung und des praktischen Umgangs mit ihr sei an dieser Stelle noch vermerkt, dass am Ende eines jeden Abschnitts die wichtigsten Ergebnisse zusammengefasst werden, was den Zugang zu den interessierenden Argumentationsgängen erleichtern soll. Die verwendeten Werke Dietrich von Hildebrands werden zu Beginn des Literaturverzeichnisses angeführt. Im Hauptteil der Bibliographie finden sich – nach den einzelnen Abschnitten gegliedert – die Quellen und die verwendete Literatur verzeichnet.

6Was ist „Realistische PhänomenologiePhänomenologie“?

Der im letzten Punkt eingebrachte BegriffBegriff der Realistischen PhänomenologiePhänomenologie bedarf ebenso einer Klärung wie von Hildebrands Schrift Was ist Philosophie? einer Offenlegung des intendierten Ziels und der Mittel, mit dessen Hilfe das ZielZiel erreicht werden soll. Der Begriff der Realistischen Phänomenologie wird in diesem, von Hildebrands Was ist Philosophie? im nächsten Punkt thematisiert werden. Bei der Besprechung der epistemologischen Hauptschrift von Hildebrands bleibt abschliessend zu prüfen, ob, und wenn ja, inwiefern er das gesteckte Ziel auch tatsächlich erreicht hat.

Die Verwendung des Begriffs „PhänomenologiePhänomenologie“ reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. „Das Adjektiv ‚phänomenologisch‘ taucht nachweislich schon 1762 bei dem schwäbischen Theosophen Friedrich Chr. Oetinger (1701–1782) auf. Als Substantiv wird das WortWort zur selben Zeit von Johann Heinr. Lambert (1728–1777) verwendet.“1 Dem Wortsinn nach (gr. φαινόμενον – ErscheinungErscheinung; λόγος – Wort, Lehre) steht „Phänomenologie“ für die Lehre von den Erscheinungen bzw. von den Erfahrungen. Und da die Erfahrungen ihren Ursprung in dem erfahrenden BewusstseinBewusstsein haben, lag es nahe, die Philosophie mit Franz BrentanoBrentanoFranz2 (1838–1917) als deskriptive Psychologie zu definieren.3 Durch die Vermittlung seines Wiener Lehrers BrentanoBrentanoFranz, kam das Verständnis der Philosophie als deskriptiver Psychologie schliesslich auch auf Edmund HusserlHusserlEdmund, der es ohne Vorbehalte übernahm.4

6.1Die Vorboten des phänomenologischen Realismus

Wenngleich Edmund HusserlHusserlEdmund als Begründer der phänomenologischen Bewegung gilt,1 so dürfen die vorhusserlianischen Wurzeln dieser Bewegung dennoch nicht übersehen werden. Auf dem von PlatonPlaton, AristotelesAristoteles und AugustinusAugustinus gelegten Fundament ist auch Johann Wolfgang von GoetheGoetheJohann Wolfgang von mit seinem Ausdruck „UrphänomenUrphänomen“ zu den Vorläufern der Realistischen PhänomenologiePhänomenologie zu rechnen. In seinen Gesprächen mit Johann Peter Eckermann eröffnet er ihm am 18. Februar 1829 das Verständnis dieses Begriffs:

Das Höchste, wozu der MenschMensch gelangen kann, ist das Erstaunen, und wenn das UrphänomenUrphänomen ihn in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist.2

HusserlHusserlEdmund hatte aber auch noch andere bedeutende Vorläufer. So den Prager Philosophen Bernard BolzanoBolzanoBernard3 (1781–1848), dessen logischer Objektivismus einen grossen Einfluss auf Husserls Logische Untersuchungen ausgeübt hat, und vor allem den bereits erwähnten Franz BrentanoBrentanoFranz.4 Noch vor HusserlHusserlEdmund entwickelte auch Max SchelerSchelerMax in seiner 1899 erschienenen Habilitationsschrift Die transzendentale und die psychologische MethodeMethode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik ganz ähnliche Gedanken.5 Mit ihm kommt auch Alexander PfänderPfänderAlexander (1870–1941) mit seiner 1900 erstmals erschienenen PhänomenologiePhänomenologie des Wollens. Motive und MotivationMotivation als gleichzeitiger Mitbegründer der Phänomenologie in Betracht. Nicht zu verschweigen ist auch der Einfluss von Adolf ReinachReinachAdolf (1883–1917), der, obzwar zu der Zeit Husserls Schüler, als eigentlicher Begründer des phänomenologischen Objektivismus angesehen werden muss.6ReinachReinachAdolf hatte einen grossen Einfluss auf die jüngeren Phänomenologen, zu denen neben Alexandre KoiréKoiréAlexandre (1892–1964) und Edith SteinSteinEdith (1891–1942) u.a. auch Dietrich von HildebrandHildebrandDietrich von gehörte.

Nach der Publikation von Husserls IdeenIdeen zu einer reinen PhänomenologiePhänomenologie und phänomenologischen Philosophie im Jahre 1913 nahmen verschiedene Phänomenologen allerdings eine kritische Haltung zu Husserls neuen Theorien und seiner Wende zum transzendentalen IdealismusTranszendentaler Idealismus ein. Eine Gruppe von Phänomenologen blieb Husserls Frühwerk und seinen Logischen Untersuchungen verbunden. Nachdem diese Richtung einst als Kreis der Göttinger und Münchener Phänomenologen bezeichnet wurde,7 hatte Josef SeifertSeifertJosef den Terminus Realistische PhänomenologieRealistische Phänomenologie eingeführt, um die historischen Bezeichnungen, die irreführend sein können, und die esoterischen Bezeichnungen Chreontologie und chreontische Philosophie8 mit einem sachlich angemesseneren Ausdruck zu überholen.9 Der phänomenologische Realismus ist nicht eine Philosophie, deren Gegenstände sich aus einer Setzung oder KonstruktionKonstruktion ergeben. Sie versteht die WirklichkeitWirklichkeit vielmehr so, dass ihre Gegenstände sich in ihrer eigenen objektiven NaturNatur und ihrer eigenen idealen oder realen ExistenzExistenz zu erkennen geben. Auch will sie keine neue Schulrichtung sein, sondern auf der „ewigen Philosophie“ (philosophia perennis) aufbauen, wie sie bei PlatonPlaton, AristotelesAristoteles, AugustinusAugustinus, AnselmAnselmvon Canterbury von Canterbury, Thomas von AquinThomas von Aquin, René DescartesDescartesRené und bei vielen anderen grundgelegt wurde.10

6.2Husserls Beiträge zur Beantwortung der „Kardinalfrage der ErkenntnistheorieErkenntnistheorie, die ObjektivitätObjektivität der ErkenntnisErkenntnis betreffend“1

Wenn im Folgenden das WesenWesen und die MethodeMethode der Realistischen PhänomenologiePhänomenologie herauszuarbeiten gesucht wird, dann geschieht dies durch einen kritischen Vergleich mit gewissen Husserlschen Thesen.2 Was die nachmaligen Realistischen Phänomenologen unter Husserls Studenten an seinem Frühwerk begeisterte, war sein konsequenter Objektivismus. Die MaximeMaxime, die ihn in Logische Untersuchungen leitete, lautete: „Wir wollen auf die ‚Sachen selbst‘ zurückgehen“3. Mit dieser Maxime stellte HusserlHusserlEdmund sich entschieden gegen alle subjektivistischen Reduktionismen und alle konstruktiven Tendenzen, welche häufig im IrrtumIrrtum enden.4

Gegen den RelativismusRelativismus in der FormForm des AnthropologismusAnthropologismus, demnach für die Spezies MenschMensch nur das wahr ist, „was nach ihrer Konstitution, nach ihren Denkgesetzen als wahr zu gelten habe“, stellt er die Widersinnigkeit der „Rede von einer WahrheitWahrheit für den oder jenen“.5 „Denn es liegt in ihrem Sinne, dass derselbe Urteilsinhalt (SatzSatz) für den Einen, nämlich für ein SubjektSubjekt der Spezies homo, wahr, für einen Anderen, nämlich für ein Subjekt einer anders konstituierten Spezies, falsch sein kann.“6 Derselbe Wortinhalt kann aber nicht beides zugleich sein, nämlich wahr und falsch. „Die Wahrheit relativistisch auf die Konstitution einer Spezies gründen, […] ist aber widersinnig.“7 Denn wenn die Wahrheit ihre alleinige Quelle in der allgemeinen menschlichen Konstitution hätte, so bestünde keine Wahrheit, wenn keine solche Konstitution bestünde. Die Widersinnigkeit zeigt sich auch an der Behauptung, dass keine Wahrheit besteht, „denn der Satz ‚es besteht keine Wahrheit‘ ist dem Sinne nach gleichwertig mit dem Satze „es besteht die Wahrheit, dass keine Wahrheit besteht‘“8. „Was wahr ist, ist absolut, ist ‚an sich‘ wahr; die Wahrheit ist identisch Eine, ob sie Menschen oder Unmenschen, Engel oder Götter urteilend erfassen.“9

Die WahrheitWahrheit wird im WissenWissen besessen. Doch „nicht jedes richtige UrteilUrteil, jede mit der Wahrheit übereinstimmende Setzung oder Verwerfung eines Sachverhalts ist ein Wissen vom Sein oder Nichtsein dieses Sachverhalts“10. Die Wahrheit hat ein Kennzeichen: die EvidenzEvidenz. Die „lichtvolle GewissheitGewissheit, dass ist, war wir anerkannt, oder nicht ist, was wir verworfen haben“11. „Evidenz ist […] nichts anderes als das ‚Erlebnis‘ der Wahrheit“12, d.h. der „Idee, deren Einzelfall im evidenten Urteil aktuelles Erlebnis ist“13. Ja, die Evidenz ist ein „unmittelbares Innewerden der Wahrheit selbst“14, auf der „jede echte und speziell jede wissenschaftliche ErkenntnisErkenntnis“15 beruht. „Wissen im engsten Sinne des Wortes ist Evidenz davon, dass ein gewisser SachverhaltSachverhalt besteht oder nicht besteht“16. Auch wird die echte und rechte WissenschaftWissenschaft nicht erfunden, „sondern sie liegt in den Sachen, wo wir sie einfach vorfinden, entdecken“17. Diese Einsichten sind grundlegend für den phänomenologischen Realismus.

HusserlHusserlEdmund war gegen den PsychologismusPsychologismus