Petras Aufzeichnungen - Paula Schlier - E-Book

Petras Aufzeichnungen E-Book

Paula Schlier

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Beschreibung

Paula Schlier berichtet in ihrem autobiographischen Text von 1926 sprachlich und inhaltlich radikal vom Leben junger Frauen im Ersten Weltkrieg, in der neuen und gefährdeten Demokratie und der Zeit der Hyperinflation. Als Schreibkraft hat sich die kritische Journalistin 1923 undercover in den Völkischen Beobachter, das Propagandablatt der Nazis, eingeschleust. Zufällig erlebt sie dort die Ereignisse rund um den Hitler-Putsch. Die Einsichten in die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus lassen beim Lesen oft vergessen, dass damals die Schrecken der Naziherrschaft noch gar nicht begonnen hatten. "Man müßte das ganze Buch abschreiben, wollte man nur die wichtigsten Stellen zitieren. Denn hier ist jede Seite und jeder Satz wichtig. Weil jedes Wort uns alle angeht." (Leo Lania, Prager Tagblatt, 1926) "Bildet die Kritik an der faschistischen Redaktion und somit am Wesen des Faschismus auch den Kern des Romans, so reicht seine kritische Haltung doch weit über dieses Thema hinaus." (Rolf Löchel, literaturkritik.de, 2019) Die ausführliche Kommentierung v.a. zu den politischen Ereignissen und ein Nachwort, das den biographischen Hintergrund erhellt sowie den Text im Kontext der Neuen Sachlichkeit erörtert, empfiehlt das Buch auch für den Unterricht an höheren Schulen oder der Universität. Drei kurze Lehrfilme der Herausgeberinnen werden auf youTube angeboten. Der Bayerische Rundfunk produziert zum Jahrestag des Hitler-Putsches Podcasts zum Buch, Gestaltung: Paula Lochte. Das Kapitel zum Hitler-Putsch jetzt auch als Film mit Lea van Acken als Paula Schlier: "Hitlerputsch 1923. Das Tagebuch der Paula Schlier". Regie: Oliver Halmburger. Ab 8.11.2023 in der Mediathek des Bayerischen Rundfunks.

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Edition Quellen und Kultur, 1

Paula Schlier (1899–1977) berichtet in ihrem autobiographischen Text von 1926 sprachlich und inhaltlich radikal vom Leben junger Frauen im Ersten Weltkrieg, in der neuen und gefährdeten Demokratie und der Zeit der Hyperinflation. Als Schreibkraft hat sich die kritische Journalistin 1923 undercover in den Völkischen Beobachter, das Propagandablatt der Nazis, eingeschleust. Zufällig erlebt sie dort die Ereignisse rund um den Hitler-Putsch. Die Einsichten in die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus lassen beim Lesen oft vergessen, dass damals die Schrecken der Naziherrschaft noch gar nicht begonnen hatten.

Die ausführliche Kommentierung v.a. zu den politischen Ereignissen und ein Nachwort, das den biographischen Hintergrund erhellt sowie den Text im Kontext der Neuen Sachlichkeit erörtert, empfiehlt das Buch auch für den Unterricht an höheren Schulen oder der Universität. Drei kurze Lehrfilme der Herausgeberinnen werden auf youTube angeboten. Der Bayerische Rundfunk produziert zum Jahrestag des Hitler-Putsches Podcasts zum Buch, Gestaltung: Paula Lochte.

Inhalt

Petras Aufzeichnungen

Vorwort

1 Das Lazarett

2 Das alte Haus in Frankfurt

3 Der Traum vom Leben

4 Ein Anfang in München

5 Im demokratischen Zeitungsbetrieb

6 Die Kinderbaracke

7 In der Redaktion der Patrioten

8 Abseits in der Steiermark

9 Heimfahrt und Traum

Anhang

Stellenkommentar

Editorische Hinweise

Zur Textherstellung

Textzeugen und Entstehungsgeschichte

Materialien Online

Abbildungen

Am eigenen Leib (Nachwort)

Aufzeichnungen und Neue Sachlichkeit

Lebensspuren Paula Schlier

Erzählte Stationen

Die Neue Frau. Berufstätigkeit und Glamourbild

Rezeption. Gefeiert und vergessen

Verwendete Literatur

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

An einem glühend heißen Tag verabschiedete sich von mir mein Bruder, ohne daß ich wußte, wohin er reiste. Meine Mutter sagte: Gehen wir zum Badestrand spazieren. Wir kamen an einen Fluß, in dem bis zu den Hüften ein Haus im Wasser stand. Sein Gesicht hielt es dem Ufer zugewandt. Der Strom war von der Stelle aus, an der wir standen, nicht ganz zu überblicken. Die Hälfte des Flusses, zur rechten Seite, lag offen, die andere, zur linken, blieb von dem Haus verdeckt. Man sah auch nicht, was hinter dem Hause war. Meiner Mutter schien die Gegend sehr vertraut. Auch mir war es, als sei ich schon einmal hier gewesen, doch verband sich mit meiner Erinnerung kein freundliches Gefühl. Meine Mutter sagte: Warum schwimmst du nicht? Sieh’ doch die vielen bunten Badenden! Ich fand nicht, daß am Ufer ein sehr reges Treiben herrsche, und die wenigen Badenden schienen mir wie graue Schemen, die im Wasser ein wenig plätscherten. Ich sagte nach längerem Zögern: Wenn du es willst, werde auch ich schwimmen. Ich zog meinen Schwimmanzug an und ließ mich in den Fluß fallen. Ich stieß mit dem linken Fuß (wie ein Nachen) vom Grasufer ab, schwamm die ersten Stöße auf dem Rücken, winkte mit der Hand der Mutter zu, tauchte mit dem Kopf unter, legte mich auf diese und jene Seite, zog lauter runde, einzelne Kreise und tat fröhlich wie ein Wasservogel. Im Grunde war ich gar nicht froh, sondern bemühte mich nur, froh zu erscheinen, besonders mir selbst gegenüber. Die erste Strecke, die vor dem Hause lag, legte ich, je übermütiger ich mit den Wellen spielte, innerlich um so gleichgültiger zurück. Als ich jedoch im Begriffe war, um das Haus herumzuschwimmen, und jener andere, bisher verborgene Teil des Wassers sichtbar wurde, stand ich vor Schreck aufrecht und still im Wasser. Hinter dem Hause begann erst der Strom, mächtig, breit, wild. Er führte Hochwasser, und die Ufer traten ganz weit auseinander. Da die Strömung, in der ich mich befand, die Richtung zum großen Wasser einhielt, vermochte ich auch nicht mehr umzukehren. Ich hatte keine Zeit mehr mich umzusehen, wußte aber, daß meine Mutter nun meinen Blicken entschwunden sei. Ich dachte, wenn die Mutter eine Ahnung gehabt hätte, was hinter dem Hause liegt, welch ein Riesenstrom, hätte sie mir das Schwimmen nicht gestattet. Ich schwamm nun mitten im Fluß, versuchte aber, die Richtung auf das linke Ufer einzuhalten; es war nicht nur näher als das rechte, sondern es schien mir auch allein für eine Rettung in Betracht zu kommen. Einmal wandelte es mich an, um Hilfe laut zu schreien, doch überlegte ich sofort, daß abgesehen davon, daß auf dem Wasser weit und breit niemand zu sehen war, ein Schrei meine Kräfte nur verbrauchen müßte, die ich doch besser in gutes Schwimmen umsetzen würde. Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, hielt mir angestrengt vor, daß ich eine geübte Schwimmerin sei, und redete mir ein, daß mein Wille die Strömung zu überwinden vermöge. Doch schien es mir bald, als triebe ich immer mehr dem rechten Ufer zu und als schwömme ich viel zu tief unter Wasser. Ohne daß ich es bemerkte, kamen mir große Wellen, in die ich hineingeriet, zu Hilfe und schwemmten mich dem linken Ufer zu. Oft war ich schon nahe dem Ufer, als mich eine Gegenwelle packte und wieder bis in die Mitte des Stromes zurückriß. Ich begann in den Armen zu erlahmen und bereitete mein Herz vor, daß ich ertrinken würde. Ich hatte keine Angst, doch war es entsetzlich, nicht zu wissen, wie Ertrinken ist. Schon nahe dem Ufer fühlte ich mich ganz hinuntergezogen, nur die Augen schauten noch über das Wasser hin. Im nächsten Augenblick würde ich nicht mehr sein. In der Nähe des Ufers fühlte ich plötzlich unter Wasser Pfeiler oder Stäbe, ich griff sofort fest zu, und obwohl die Pfeiler vom Ufer noch ein Stück entfernt waren und auch nicht im Trockenen standen, verhalfen sie mir doch dazu, daß ich mit einem einzigen Zug den Strand erreichte. Ich stieg hinauf. Vor mir lag ein großes, grünes, neues Land.

Ich blicke um mich und sehe, daß ich in meiner Heimat bin. Ich steige die Wiesen hinauf und fühle: Beinahe wäre ich ertrunken. Der Boden unter meinen Füßen ist elastisch, hebt und senkt sich unter meinen Schritten, obwohl er kein Moorgrund ist. Die Blumen, die aus der Wiese herausblühen und sich mit den grauen Gräsern im Winde berühren, sind alle gleich hoch gewachsen, obgleich eine jede unter ihnen eine andere Farbe trägt. Ich sehe auf der Wiese viele Maulwurfshügel, die mit reiner Erde aufgeworfen sind. Wassergräben sind durch die Wiese gezogen, die nicht tiefer sind als sie scheinen. Ich steige die Hügel hinauf, Sand umspült meine Füße, aber kein Staubkorn trübt das Auge. Ich atme tief die Luft, sie ist schwach und dünn und darum gut zu atmen. Ich schreite weiter und komme zu zwei Bäumen von derselben Art: Beides sind Eichen, aber die eine ist stark, weil sie am windoffenen, felsigen Hang, nahe dem Abgrund wächst, die andere ist zart, grün und gebrechlich; sie steht im Moosgrund, umschützt von Laubbäumen. Ich sehe am Himmel die Wolken, wie sie schiffen, ohne zu zerschellen, wie sie immer in Bewegung und doch so still in sich sind, wie sie sich teilen und in eins verschmelzen, wie aus zwei rosa Wolken eine große blaue wird. Ich sehe, wie schön es ist, daß die Wolken nur ein kleines Stückchen Himmel offen lassen. Ich schaue den Vögeln in der Luft nach, wie sie mit dem Winde fliegen und nie gegen den Wind ankämpfen, und wie sie die Flügel kaum gebrauchen müssen, wenn sie sich vom Winde tragen lassen. Ich komme in eine Waldgegend. Zwischen den Stämmen schimmern kleine, runde Seen. Ich trete an den Wasserspiegel, ich gehe von einem See zum anderen und schaue überall mein grünes Spiegelbild; ich finde, daß ich von Teich zu Teich, von Widerschein zu Widerschein mir ähnlicher werde.

Ich komme hinaus auf das freie Feld und sehe die Kette der Berge vor mir. Sie sind starr und doch schön, fast ein wenig zu steil aufsteigend, aber doch warm und sanft, weil sich alles an ihnen festhalten kann: die Wiesenhänge, die Waldflecken, die Häuschen, die großen Vögel, die Sonnenfarben und die Abendschatten. Ich fühle die Sonne, die über das ganze Land gebreitet liegt, glühend und doch dauernd, sich ganz hingebend, sich nie erschöpfend, und den kleinsten Halm unter dem fettesten Blatt mit ihrem Lichte nährend.

Ich laufe weiter über Äcker und Wiesen, es gibt keinen Weg, der abzusehen ist. In welches der Täler in den Bergen mein Feld einmündet, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß es ein Tal sein wird.

Ich schaue zurück: In der Ferne zieht der Fluß. Ich steige auf einen Hügel, um weiter zu sehen, und erblicke den Fluß als ein helles Band am Horizont. Ich stelle mich ins ebene Land, überschatte die Augen mit der Hand, um schärfer zu sehen, und der Fluß in der Ferne scheint ein dunkler Streifen zu sein. Ich gehe weiter und schaue nicht mehr zurück. Aber ich weiß, daß der Fluß strömt, und ich sehe die Spuren, die von ihm zu den Tälern vor mir führen. Ich behalte den Fluß im Sinn, indem ich mich von ihm entferne, er ist ein Orientierungspunkt, wie man sich auch wenden mag. Ich fasse ihn ins Auge, so wie der Schiffer auf offenem See, der nicht mit dem Steuer, sondern mit dem Ruder steuert, das rückdämmernde Gestade im Auge behält, um das Land, dem er zustrebt, in der Richtung erreichen zu können, von der er gekommen war.

1

Das Lazarett

Um mir das Licht der Welt, das ich erblickt habe, deutlich zu machen, wird es nicht nötig sein, daß ich auf die Zeit zurückgreife, da ich Säugling war. Sondern ich werde dort beginnen, wo ich zu schreien und mich zu wehren anfing. Und das war 1916, als ich mit siebzehn Jahren Kriegspflegerin wurde.

Das Lazarett, in dem ich pflegte, von den Soldaten „der Zirkus“ genannt, nahm Tausende von Verwundeten auf, die zu Anfang des Krieges auf Strohlagern, später auf eisernen Bettgestellen in langen Viererreihen untergebracht wurden. Im letzten Leichtverwundetensaal spielte jeden Nachmittag Militärmusik, bei Siegen mit verstärktem Orchester. Im großen Saal weinten die Schwerkranken vor Nervosität und baten um Watte zur Verstopfung ihrer Ohren. Dieser große Saal hatte zehn offene Türen, durch welche die Besucher hereinströmten: Mütterchen aus Ostpreußen; Damen vom Ausschuß des Roten Kreuzes; Ärzte, Offiziere; Rekonvaleszenten an Krücken; Schwestern mit Uringläsern, Milchbrei, Schokolade, Blumen. Eine Dame verteilte Gesellschaftsspiele, eine andere Rosen. Sie wurde dafür geliebt von den Verwundeten. In einem Bett lag ein bleicher Jüngling an Genickstarre, steif wie ein Toter, die Dame warf ihm mit reizendem Lächeln eine Blume zu. Er ergriff die Blume, richtete sich auf – zum ersten Mal, daß er es konnte – und warf die Rose mit den Dornen der Dame mitten ins Gesicht.

In der ersten Zeit wurden wir freiwilligen Schwestern auf allen Stationen zur Hilfe herangezogen. Ich hatte in der Inneren Station die Fieberkurven an der Tafel über dem Bett zu zeichnen und kalte Wickel um heiße Leiber zu winden, in der Äußeren auf die plötzlich eintretenden, gefährlichen Blutungen der Wunden zu achten und die Streckverbände gebrochener Glieder mit Gewichten zu beschweren. Im chemischen Laboratorium durften wir das Sputum der Lungenkranken unter dem Mikroskop betrachten. In der Nervenstation reichten wir den Erbsenbrei durch ein Loch in die Einzelzellen, in welchen die an Zuckungen und Tobsuchtsanfällen leidenden Soldaten untergebracht waren. Im Verbandsaal hielten wir die Eiterschale unter fließende Wunden und im Operationssaal mußten wir uns an den Anblick eines auf dem weißen Tisch allein liegenden blutigen Fußes gewöhnen. Ich erinnere mich noch an das Gefühl der Ohnmacht, im doppelten Sinn des Wortes, das mich bei der ersten Operation, der ich zusah, befiel. Ein Mann, der nicht narkotisiert war, lag auf der Bahre, ein Leintuch war über ihn gebreitet, nur ein Stück seines Leibes blieb unbedeckt. Ein einziger Messerstrich ließ einen roten Schnitt aufklaffen und aus dem Inneren quollen die Gedärme heraus. Der Mann gab keinen Laut von sich, nur das Tuch, unter dem er lag, hob und senkte sich. Die Ärzte begannen die Gedärme in den Leib zurückzustopfen, aber sie quollen wieder hervor. Das war nicht vorgesehen: Man drückte sie hinein, aber sie sprangen immer wieder hervor. Dies dauerte drei Stunden lang. Der Mann unter dem Leintuch gab keinen Laut von sich, nur das Tuch, unter dem er lag, wand sich, bäumte sich. Am Ende kam ein Oberarzt mit dem Auto angefahren, ein berühmter Spezialist für solche Operationen, und nähte den Leib rasch zu. – Es war am gleichen ersten Tag, als man mir im Verbandsaal einen nackten, zitternden Menschen übergab, dem die Schußwunde, faustgroß, durch den ganzen Körper, zum Rücken hinein und zur Brust heraus ging. Ich mußte ihm die Öffnung mit Verbandgaze zustopfen, die an einer Pinzette aufgespießt war, kein Ende nahm und doch nicht zureichte, weil die Wunde zu groß und nicht auszufüllen war.

Meine eigentliche Station, die abseits vom Hauptgebäude lag und für die sich niemand außer mir gemeldet hatte, war die mediko-mechanische. Das war die Station, in welcher die versteiften Arme der Verwundeten auf Hobelbrettern bewegt, die steifen Knie mit Gewalt abgebogen, die geschwollenen Gelenke zum Schwitzen in Heißluftapparate gesteckt wurden. Auf hochgestellten Rädern – Modelle von 1880 –, die im Kreis an den Wänden des Saales aufgestellt waren, radelten die Kranken, die das Knie nur bis zum Winkel von 90 Grad abbiegen konnten. Vorne am Fenster mit den Gitterstäben saßen sie an alten Nähmaschinen und traten auf und nieder. Ein Unteroffizier, mit einem Kaiser-Wilhelm-Schnurrbart, massierte auf einer Bahre den Oberschenkel eines Soldaten, der laut aufschrie. Ein Rückgratsgelähmter, der nur in erdwärts gekrümmter Haltung gehen konnte, hatte Mühe, sich sein Korsett allein anzuziehen. Ein Mann, dem ein Durchschuß durch das Ohr das Gleichgewichtsempfinden gestört hatte, versuchte sich schwankend, wie betrunken, fortzubewegen. Er legte sich der Länge nach auf die Bahre und hatte kein Gefühl dafür, ob er liege oder stehe, er stand auf und war im Zweifel, ob er nicht liege. Aus einem Heißluftkasten heraus drang die zornige und lachende Stimme eines Kranken, der sich die Zehen trotz der Schutzhülle von Asbest verbrannt hatte. In einer Ecke saß ich mit dem Elektrisierapparat, galvanischer und faradischer Strom, um mich herum zwanzig nackte Arme und Füße, die alle behandelt werden wollten. Ich gab einem Mann in die linke Hand die eine Elektrode und strich mit der anderen über den rechten Arm, der in allen Nerven zu zucken und zu springen begann. Ein Bauer wehrte sich dagegen und hielt die Elektrisiermaschine für ein Werkzeug des Teufels. Ich mußte an mir selbst den Strom erst ausprobieren, bevor die Verwundeten sich daran wagten. Ein Gesichtsgelähmter – die eine Wangenhälfte hing ihm schief herunter – bat, das neue Verfahren auch bei ihm, um Mund und Augen, zur Anwendung zu bringen, vielleicht werde es ihm helfen. Ein anderer, mit einem Schulterdurchschuß, rühmte sich, den stärksten Strom aushalten zu können. In einer Ecke tauchten sechs Kranke mit steifen Händen die Finger in einen Kübel heißen Wassers, um sie vor der Behandlung „aufzuweichen“, mit der anderen Hand spielten sie Karten. Ein Verwundeter bat, im Raume nebenan (den ich, um die Patienten für die schmerzhafte Behandlung zu gewinnen, als „Rauchklub“ eingerichtet hatte) seine Pfeife anzünden zu dürfen. Ein Kranker, der an Krücken ging, schleppte ein dickes Buch, „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts“, zu mir her, ein anderer bat um Urlaub, dessen Gewährung ich von fleißigen Kniebeugeübungen abhängig machte. Um zehn Uhr kam der Oberarzt, ließ die Patienten strammstehen, einige Übungen vornehmen und trug in die Krankengeschichte den Vermerk „kriegsverwendbar“ ein. Die Verwundeten fühlten, daß ihre baldige Gesundung nicht zu ihrem Wohle, sondern um ihrer Felddiensttauglichkeit willen gewünscht wurde. Die Hand sollte heilen, damit sie wieder durchschossen werden konnte. In der Ecke flüsterten sie: Es wird eine Revolution geben! Laut sagten sie, daß meine Station eine Folterkammer sei. Der Elektrisierapparat schlug Funken, die in alle Nerven bissen, die Gelenke krachten beim Massieren und die Schreie der Gefolterten drangen bis hinüber ins Hauptgebäude.

Jeden zweiten Tag kam zur Behandlung der Soldat Czucha. Czucha – viele gab es übrigens wie ihn – hatte keinen anderen Gedanken als den, seine rechte Hand bald wieder gesund zu bekommen. Die Hand war steif wie ein Brett, blaurot, jeder Finger eine Eisenzange. Der Oberarm wies noch eine große offene Wunde auf, Czucha aber hielt sich den Arm, wenn ich ihn bewegte, selbst, biß die Zähne aufeinander und sah zu, wie ich die Finger bog. Ich bewegte den Zeigefinger leise, langsam, stärker, mit aller Kraft, nichts rührte sich. Czucha stöhnte vor Schmerz. „Nur zu, Schwester“, sagte er, „so ist es recht, nicht aufhören, nur zu!“ Der Schweiß stand ihm in kleinen, runden Tropfen auf der Stirn. Nach Wochen bemerkte er eine Besserung. An den Fingern vorne rührte sich leise das erste Glied. Den Fortschritt konnten nur wir beide wahrnehmen, da wir die Hand ganz genau kannten. Nach Monaten war sie in den Gelenken so weit beweglich, daß Czucha einen Federhalter fassen und ein kleines Stück Holz aufheben konnte. „Welche Kraft ich schon habe, sehen Sie, Schwester“, sagte er. Die Finger sahen jetzt aus wie dicke Raupen, die sich schläfrig bewegten. Czucha spielte Klavier am Fensterbrett und spreizte die Finger über ein ganzes Quadrat. Er sprach vom baldigen Gesundwerden und vom Pflügen seines Ackers im Frühjahr. Im Winter kam Czucha fort ins Heimatlazarett nach Ostpreußen. Er schrieb: „Liebe Schwester, diese Zeilen schreibe ich mit der rechten Hand, so gut geht es schon.“ Aber im Frühjahr kam noch eine Karte: „Diese Zeilen sind mit der linken Hand geschrieben; ich bekam Wundfieber, und nun haben sie mir den Arm doch abgenommen. Aber es geht schon wieder …“

Jede Woche einmal hatte ich Nachtwache im Schwerverwundetensaal, sie dauerte von sieben Uhr abends bis zum Frühlicht. Am Tisch brannte eine Kerze, die einen hellen Kreis in die Mitte des Saales warf, der übrige Raum lag in der Finsternis. Aus den Ecken hustete, stöhnte, ächzte, röchelte es, wie aus einem lebendigen Grabe. Ohne Laut öffnete sich die Türe, eine Ordensschwester brachte eine Tasse Tee, setzte sie vor mich hin auf den Tisch und sagte: „Heute hat also wieder unser kleiner Todesengel Dienst.“ Sie hob den Zeigefinger, lächelte, glitt zur Türe hinaus, lautlos. Die Schleife ihrer Schwesternhaube zitterte weiß im Schatten der Kerze.

Vor mir lag einer mit aufgestützten Händen auf dem Bauch, er lachte immerzu schmerzlich und rauchte dabei. Sein ganzer Rücken war verbrannt, er konnte keine Ruhe finden. Andere, mit hohem Fieber, phantasierten und jammerten; sie hatten Bretterverschläge am Bett wie Mauern, rüttelten daran, wollten die Wand übersteigen, glaubten, sie seien eingekerkert. Manche verlangten Limonade, andere, daß man ihnen die Kissen richte, wieder andere, daß man sie noch einmal verbinde. Die im Sterben lagen, saugten an Sauerstoffapparaten. Doch die wenigsten wußten, daß sie sterben würden. Oft waren sie fröhlich, erzählten einander dies und jenes, und plötzlich starb einer lautlos unter ihnen weg.

Da war ein Mensch, den hatte ich wenige Wochen vorher noch gehen gesehen, obwohl er über große Schmerzen klagte und seine Kräfte von Tag zu Tag abnahmen. Damals klebten seine Haare, die sich an den Schläfen zu Locken drehten, um ein gelbes, augenhohles Antlitz, der Krankenkittel schlotterte ihm um einen Leib, der ganz gebrechlich war. Niemand wußte, was ihm fehle, er selbst aber dachte schon ans Sterben. Bei der Nachtwache im Schwerkrankensaal traf ich ihn wieder. Er war bis zur Unkenntlichkeit verändert; Körper, Füße, Hände unbeweglich und schlaff. Sein Antlitz war nun so ausgesogen, daß unter der gelben, dünnen Haut das Gebein seines Kopfes wie ein Totenkopf sich abzeichnete, ein Knochengewölbe mit den dazu gehörigen Höhlen der Kiefer, des Jochbeins und der Schläfen. Er verlangte mit schwacher Stimme zu trinken; ich flößte ihm Wasser zwischen die Lippen und ich bemerkte, daß sich seine Lippen in der Farbe nicht mehr von der übrigen Gesichtshaut unterschieden. Um ihm die Kissen ordnen zu können, mußte ich ihn hochheben, wobei er heiser jammerte, während ich in Furcht war, ihm zwischen meinen Fingern die Schulterknochen zu zerbrechen. Ich sah, daß seine ganze rechte Seite in Watte eingebunden war. Ich setzte die Morphiumspritze an sein rechtes Bein, er schlief sofort ein. Die anderen Patienten im Saal unterrichteten mich, daß er um Mitternacht aufzuwachen pflege, nach der Uhr frage und das Uringlas benötige. Als ich aber um zwölf Uhr seinen Puls fühlte, merkte ich, daß der Mann gestorben war. Er war schon kalt, der Tod mußte vor gut einer Stunde gekommen sein. Ich öffnete beide Türen, zwei Wärter mit der Totenbahre und der jourhabende Unteroffizier traten in den Saal. Die Patienten wurden unruhig und wandten sich, als das Licht des Flures in den Raum fiel, geblendet ab. Der Unteroffizier schrieb in eine Liste, was sich in des Toten Nachttisch vorfand: 76 Mark 40 Pfennig, vier Ansichtskarten, die Photographie eines jungen Mädchens im Reitkleid, ein Kamm, ein Taschentuch und ein Rosenkranz. Die Wärter deckten das Bett des Toten auf, und indem sie ihm ein Kissen nach dem anderen – er hatte sehr hoch gelegen – unter dem Kopf wegzogen, damit der Körper in eine gerade Linie zu liegen komme, fiel der Kopf wie ein toter Gegenstand für sich von einem Kissen auf das andere. Ich betrachtete den Toten, sah, wie er gekrümmt, klein, mit den gebrochenen Augen dalag, und ich dachte, selbst ein Ungläubiger müsse an einem Totenbett die Empfindung haben, daß nur unsere schwachen Augen daran schuld sind, wenn wir eine leblose, stumpfe Masse statt eines Menschen vor uns sehen, dessen Leben sich jetzt im Augenblick, und nur für uns unsichtbar, im Raume aufhält, löst und verschwebt. Die Wärter banden den Leblosen in ein Bettuch ein und ließen ihn wie einen Klumpen auf die Bahre niederfallen. Die Kranken waren alle wach geworden. Einer hatte sein Gesicht unter die Bettdecke vergraben, ein anderer sagte: „Welch ein schneller, schöner Tod!“ Ein Junge in der Ecke weinte fassungslos. Ein älterer Mann rief mich an sein Lager und sagte hart: „Ja, wir können noch froh sein, wenn wir so sterben wie dieser Mann, der einen Magenkrebs hatte!“

Manche starben wunderbar und manche grauenhaft. Ich sitze am Tisch und halte mich still. Ein Kranker spricht zu mir im Traume, ich antworte ihm. Alles ist ruhig, der Kranke liegt still und steif ausgestreckt. Ich betrachte ihn, da – ich springe auf –, hat er nicht eben mit weitgeöffneten Augen zu mir hergeblickt? Ich trete an sein Bett – er schläft. Ich setze mich an den Tisch, schaue ihn an, warum blickt er nur so eigentümlich zu mir her? Ich gehe wieder zu ihm hin, er schläft. Am Morgen beginne ich die Fiebernden zu messen. Dem Manne, der mich angesehen hatte, schiebe ich zuerst das Thermometer in die Achselhöhle. Ich fahre zurück, der Mann ist tot.

Vom letzten Bett ruft mich ein junger Mensch. Ich gebe ihm Sekt zu trinken, aber er erbricht ihn. Es ist das Zeichen, daß er sterben wird. Er frägt mich: „Schwester!“ – er frägt, als hinge sein Leben an dieser Frage: „Schwester, wie hieß der Held an den Thermopylen?“ Ich besinne mich, ich weiß es nicht mehr. So sehr ich mich auch mühe, es fällt mir nicht ein. „Wie hieß der Held an den Thermopylen?“ Er sieht mich an, mit einem letzten, unendlich verächtlichen Lächeln auf den Lippen. In seinen Augen steht: Weißt du es nicht, daß ich dieser Held bin?! Dann aber hebt er den fragenden Angstblick. Alle haben diesen Blick. Sie fassen krampfhaft, bittend, nach der Hand des Nächsten und sterben. Die Augen, von den Lidern fast verdeckt, irren ausdruckslos, der Mund ist halboffen und weiß, die Lunge rasselt heraus. Die Hand hängt schlaff herunter und zuckt. Das Herz arbeitet wahnsinnig. Bald schlägt der Puls schwach, schwach. Die Augen werden groß und sinken tief. Das Gesicht verfällt, wird bleich und bleicher, weiße Scheine überfahren die Stirn. Fast regungslos zieht sich der Körper plötzlich in die Länge und wird starr. In diesem Augenblick beginne ich das Haar des Sterbenden zu streicheln. Denn ich kann nicht glauben, daß ein Mensch schon tot ist, wenn seine Augen gebrochen sind. Der in den Tod Versunkene beginnt sein Lächeln, das ist das letzte. Man muß dem Arzt abwinken, der allzu vernehmlich den eingetretenen Tod konstatiert, man darf nicht weinen an dem Bette und nichts flüstern. Der Tote spürt alles. Das Lächeln ist das letzte, aber es hält nicht an, das ist Lüge. Binnen fünf Minuten ist das Antlitz lebloser als eine Maske.

O viele, viele sah ich sterben in diesen Nächten, lautlos und fern! Wie oft in diesen drei Jahren griffen Menschen um Mitternacht nach meiner Hand, erbrachen, schauten mit dem letzten Angstblick, streckten sich und starben. Mit vielen habe ich gerungen in diesen Nächten, mit Sterbenden, die von Unruhe gepeinigt nicht im Bette aushielten, die nicht wußten, wo sie waren, die zur Heimat wollten, im Traume ihre Frauen küßten, den Hauptmann im Schlaf erschlugen. Der Wärter war so müde, ich wollte ihn nicht wecken, er schlief seinen gepreßten Schlaf in der Ecke, auf einer Matratze in der faulen Luft des Sterbezimmers. Die Fiebernden rissen sich die Betten vom Leibe, trommelten mit den Fäusten gegen die Wände, schlugen nach mir, stießen mich zurück – ich sah ihre wilden, großen Gesichter hoch über mir, ich packte sie mit aller Kraft und hielt sie im Bett nieder. Sie wollten sich in ihre Uniform kleiden und jetzt, sogleich, nach Hause marschieren. Ich gab ihnen einen Strumpf und ein Taschentuch und sagte, hier ist Rock und Helm, und nun marschieren wir nach Hause. Sie glaubten es und begrüßten ihr ganzes Haus. Sie verlangten Wein zu trinken, ich hatte nur Wasser und sagte, hier ist Wein, und sie glaubten es und fühlten sich gestärkt. Einer riß sich um Mitternacht aus dem Schlafe, ergriff sein Messer, stürzte zur Türe, ehe ich ihn hindern konnte, lief der Oberin auf die Stiege hinunter, schreiend, das Messer schwingend, nach, und mir erzählte er später lächelnd, wer die Oberin eigentlich sei. Einer, der stieß mit dem Kopf immerzu an die Steinwand. Der Wärter versuchte ihn zu binden, damit sein Anfall die anderen Patienten nicht anstecke. Diese erzählten, daß er im Felde verschüttet, dann erblindet war; zwar sehe er auf dem einen Auge wieder, doch leide er an epileptischen Anfällen, die furchtbar anzusehen seien; außerdem sei ihm ein immerwährender, stechender Kopfschmerz, eine stotternde Sprache und ein gestörtes Denkvermögen geblieben. Sie sagten, daß er sein Leben lang unbrauchbar für die menschliche Gesellschaft sei und daß sich seine Frau vor ihm fürchten würde. Ich hielt ihm ein Kissen unter den Kopf, ließ ihn daran stoßen, bis er müde war, und dachte: Gott, wenn Du bist, wofür und warum muß dieser Mensch leben?

Einmal aber geschah etwas noch nie Dagewesenes. Ein Mann hatte gegen Abend Fieber, seine Schläfen hämmerten, seine Hände fuhren unruhig hin und her. Die Wärter vernagelten sein Bett mit Brettern, er aber wähnte, er werde eingesargt. Er wollte den Sargdeckel sprengen, schlug, sprang auf und lief, kam plötzlich mit den Fäusten in klirrendes Glas, sprang wieder hoch, stürzte tief, versank in einen Abgrund. Die Patienten erzählten mir am Morgen mit ehrfürchtigen Augen, er sei, phantasierend und mit wahnsinniger Kraft die Fenster zerschlagend, vom zweiten Stock in den gepflasterten Hof hinuntergesprungen, ohne sich nur im geringsten, weder äußerlich noch innerlich, zu verletzen. Welch ein unglaubliches Wunder! Der Kranke lag im Bett und lächelte, nun ganz wach. Er fühlte sich glücklich, trotz Krankheit und so armer Umgebung. Er war gesünder als vor dem Sturz, und er sprach davon, Gott habe ihm beweisen wollen, daß es seine Bestimmung sei, zu leben. Allgemein glaubte man im Lazarett, daß diese wunderbare Rettung nun auch die Genesung von seiner Krankheit, der Lungenentzündung, nach sich ziehen werde. Aber nach drei Wochen starb der Mann im Fieberdelirium, das ihn nochmals überfallen hatte.

2

Das alte Haus in Frankfurt

Kein Haus, das ich seit meiner Kindheit betrat, hat ähnliche Empfindungen in mir geweckt wie unser altes Haus in Frankfurt, das von meinen fünf wunderlichen Großtanten bewohnt wurde. Nur manchmal erinnert mich der moderige Geruch einer alten Truhe, verstaubter Bücher, oder auch, wenn ich abends den Fluß entlang gehe, der aufsteigende Duft des Schilfes noch daran. Gerade so wie blühendes Schilf oder eine alte Truhe hat es besonders im Stiegenhaus gerochen. Das Gebäude war ganz verfallen. Im Fußboden hatten die Bretter Untiefen, und durch das Dach regnete es in die Bodenkammer. So lange lebten die Tanten in dem Haus, daß die Möbel, rote Polstermöbel, und die Tapeten vor ihnen alt und grau wurden. Die Petroleumlampen brannten auf dem Nähtisch, es war sehr still in allen Räumen.

Hinter dem Haus war eine hohe Mauer, über die sich der Goldregen beugte und seine Blüten auf die abgebröckelten Steine tropfte. Immer schlich ein großer, schwarzer Kater die Mauer entlang. Im Frühling trugen die Kastanienbäume rosa Kerzen, und im Sommer langten die Spalierpfirsiche zum Fenster herein.

Als ich geboren wurde, waren gerade zwei von den alten Tanten gestorben. Auch an die dritte, Tante Mariechen, habe ich nur noch die Erinnerung einer vergehenden, gebrechlichen Erscheinung. Als wir auf der Mauer spielten und im Garten Seil sprangen, lebten nur noch Tante Lina, die jüngste, schönste, und Tante Anna, die älteste und alle überdauernde. Alle Schwestern zusammen kannte ich nur von einer lebensgroßen Photographie her, die über dem Klavier hing und auf der sie, die Zöpfe um den Kopf gewunden, alle einander ähnlich, jung und mit runden Augen schauten.

Gegenüber dem großen Bild stand der Bücherschrank mit Schiller und Goethe, dem Konversationslexikon und einer Menge vergilbter Pergamentschriften. Diese alten Schriften suchte und fand ich im ganzen Hause, sie waren versiegelt, Staubwolken wehten uns an, getrocknete Blumen fielen heraus. An jedem Regennachmittag saßen wir Kinder über die Blätter gebeugt, wir konnten schon lange lesen und doch diese Schrift mit den wundervollen verschnörkelten Buchstaben in Rot und Gold nicht entziffern. Interessanter aber noch war ein anderes großes Bild, das neben dem Bücherschrank hing und einen starken Baum darstellte mit einem Gewirr von Zweigen, wie es ein wirklicher Baum gar nicht trägt. Die Wurzeln des Baumes griffen fest in das Erdreich ein, auch der Stamm und die ersten Äste waren kräftig, nach oben aber wurden die Zweige auffallend dünn und gebrechlich, wie dies bei einem wirklichen Baum auch nicht der Fall ist. Jedes Ästchen trug an der Spitze eine kleine, runde Platte mit einer Jahreszahl und einem Namen. Ich stand sehr winzig vor dem riesigen Baum, stellte mich auf die Zehen, legte den Kopf weit zurück und sah erstaunt hinein in das Ästegewirr. Ich versuchte in den letzten Zweigen unsere und der Eltern Namen zu entdecken. Ganz oben schwebte ein Täfelchen, auf dem stand: O. P., rumänischer Generalkonsul, das war der letzte dünne Zweig, der Großvater. In den dicken Stamm unten waren die Jahreszahl 1400 und ein Bild eingegraben, das einen Köhler im Walde beim Holzbrennen zeigte. Tante Lina stand neben mir, stach mit dem Zeigefinger auf den Köhler und erzählte: „Es war ein einsamer Mann im Sachsenwalde, schwarz, und blies sein Feuer an, als eines Tages plötzlich ein Troß von Rittern und Knappen an der Köhlerhütte vorbei durch das Dickicht brach. Der Köhler erkannte in den blondlockigen Knaben, welche die fremden Ritter auf den Sattel gebunden hatten, die Erbprinzen des Landes. Er warf sich den Pferden in die Zügel, überwältigte die Raubritter und nahm ihnen ihre Beute ab. Die Prinzen brachte er aufs Schloß zurück. Zur Belohnung erhob ihn der König in den Adelsstand, und weil er die Ritter so tapfer ‚gedrillt‘ hatte, erhielt er den Namen von Triller. Die Söhne des Köhlers zogen in die Stadt, und das Geschlecht, eine Generation von Musikern, erhielt sich bis zum heutigen Tage. Ihr beiden Kleinen, dein Bruder und du, ihr seid die letzten Triller.“

Auch Tante Lina war Musikerin und ein Genie. Sie spielte so wunderbar Klavier, daß ich als Kind glaubte, die Amsel säße deshalb so still mit schwarzen Augen auf dem Goldregenstrauch. Wenn Lina am Palmengarten vorbeiging, blieb sie stehen und hörte zu, wie das Orchester aus einer neuen Oper spielte. Sie ging heim und übertrug die Ouvertüre mit ganzer Wahrheit auf das Klavier. Sie komponierte viel, aber niemand bekam die Noten je zu sehen. Beide Tanten lebten in größter Armut und nur vom Mietzins des Hauses. Lina versuchte zwar Klavierstunden zu geben, aber sie brachte es nicht übers Herz, einem Kinde die Noten zu lehren. Sie ging traurig in die Stunde, kam ein wenig zu fröhlich wieder zurück, und ihr Mund roch nach Wein. So fing sie an zu trinken. Die Verwandten hielten sie für „nicht normal“, ja für verkommen. Sie war ein hilfloses Kind und immer geistesabwesend, aber es war nur dies, daß nicht diese Welt, sondern die Musik ihre Welt war. Sie war in ihrer Jugend, bei großer Schönheit, zu ungeschickt zum Heiraten gewesen, sie konnte in ihrem Leben keine Briefmarke kaufen und nicht einmal den Gashahn in der Küche handhaben. Von allen Menschen konnte sie sich nur mit Tante Anna verstehen. Sie starb durch einen Unglücksfall, ich glaube, sie wurde von der Trambahn, Linie Nr. 6, überfahren.

Wenn ich die Erinnerung an meine Kinderzeit in Frankfurt auftauen lasse, so spüre ich den Duft von Bananen und Schokoladensuppen, die uns Tante Anna kochte, und ich sehe ihr fröhliches, rundes Gesicht im Rahmen des Küchenfensters, wie sie uns Kindern zuschaute, wenn wir die glänzenden Kastanien auf einer Schnur zur Kette reihten. Tante Anna erzog uns, indem sie uns alles gestattete. Sie ging mit uns, morgens, mittags, abends, in den Palmengarten und auf den Spielplatz, sie kleidete uns, wachte bei uns, sie war mit uns Kind. Sie hatte auf die gleiche Weise in ihrer Jugend ihre kleinen Geschwister behütet, später die Kinder der verheirateten Schwester, unserer Großmutter, und nun uns. Zu diesem Zweck war sie überhaupt in das Haus übernommen worden. Dies war so, seitdem ihr Verlobter im Kriege 66 auf der Flucht vor dem Feind erschossen worden war. Sie hat ihm im schlichtesten und strengsten Sinne die Treue gehalten, bis sie starb. Uns größeren Kindern erzählte sie ihr Liebeserlebnis, wie irgendeine der anderen Geschichten, die wir von ihr hörten, nur noch lebendiger und anschaulicher. Wenn ich daran denke, so taucht vor mir eine unheimliche Finsternis mit dem Schatten eines Kriegers im preußischen Totenkopfhelm auf, der, über einen Graben geduckt, springt, strauchelt und plötzlich von einer Kugel, die man nicht sieht, getroffen, lautlos in ein noch größeres Dunkel zusammenstürzt.

Tante Anna wurde wegen ihrer Güte zu allen Menschen von den Verwandten belächelt und nicht geliebt, von Fremden ausgenützt. Wir Kinder quälten sie oft. Als sie uns noch auf dem Arme trug, drehten wir ihr, das erzählte sie später, die Nase herum und, als wir älter waren, sicherlich oft das Herz. Sie ließ sich alles gefallen und war gewiß sanfter noch als ein Engel sein kann. Alle unsere Unarten nahm sie in Schutz, alle Unarten aller Menschen entschuldigte sie. Sie sprach nicht nur nie ein böses Wort über einen Menschen, sondern ich habe auch nie ein anderes als ein lobendes von ihr gehört. Jeder Mensch war für sie ein „schöner“ Mensch, und wenn dann andere ihn sahen, waren sie enttäuscht. Sie führte den Milchmann in den Salon und gleichzeitig den Konsul X., den Freund meines Großvaters, und wenn sie es gekonnt hätte, hätte sie auch das Pferd des Milchmannes, auf dem wir immer reiten durften, in den Salon heraufgeführt. Sie mahnte niemals eine Schuld ein, im Hause wohnten lauter Mieter, die keine Miete zahlten. Sie nahm einen entfernten Verwandten auf, einen verkommenen Burschen, der sie früher bestohlen hatte, und pflegte ihn, trotz des Protestes der Verwandtschaft, bis zu seinem Schwindsuchtstode. Sie war der reinste Mensch, das reinste Kind. Sie glaubte an den Himmel wie er in der Fibel steht. Ich kam zu ihr mit meinen ersten religiösen Zweifeln, und ich erinnere mich heute mit Entsetzen daran, wie ich, ein Gänschen von sechzehn Jahren, der alten Frau ihren Kinderglauben korrigieren zu müssen meinte, und wie sie über meine logischen Eröffnungen so verstört wurde, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Ich erinnere mich, daß es mir sogar Freude bereitete, daß sie ein paar Tage lang so verloren herumging, als sei sie im Ernst im Zweifel, wer recht habe, sie oder ich.

In den letzten Jahren lebte Tante Anna ganz allein und mittellos. Sie ist in der Kriegszeit verhungert. Der Arzt sprach zwar von Altersschwäche, aber sie hätte ohne die Entkräftigung durch Hunger sicher noch ein paar Jahre zu leben gehabt. Als sie im Sterben lag, schickte man mich zur Pflege nach Frankfurt.

Tante Anna hatte sich geweigert, ins Krankenhaus zu gehen oder eine fremde Pflegerin aufzunehmen, so fand ich sie völlig verwahrlost vor. Sie war bis zum Skelett abgemagert und hatte eine Geschwulst auf der Brust, die große Schmerzen verursachte, wogegen sie Morphium nehmen sollte. Sie erkannte mich und freute sich, daß ich gekommen war, jedoch fand ich sie nicht allein. Sie hatte in den letzten Tagen ihrer Gesundheit irgend eine fremde Dame zu sich genommen, die Tante Annas Wohnung als Absteigequartier für sich und einen „Baron“ benutzte, was Tante Anna gar nicht durchschaute. Als ich ankam, sah ich die Todkranke und die Fremde gerade über den Verlust des Barons, der nicht wiedergekommen war, zusammen weinen und hörte, wie Tante Anna die Fremde tröstete.

Ich schlief bleiern nach der langen Fahrt. Um Mitternacht zerriß ein Schrei meinen Schlaf, ein Schrei so fürchterlich und unvermittelt, wie ich ihn noch nie von einem Menschen gehört hatte. Ich stürzte zu Tante Annas Bett und fand sie fiebernd, sich im Bett aufstützend, den Blick ins Licht gebohrt. „Ich habe nicht geschrien“, sagte sie zu mir, „geh nur schlafen, Kindchen.“ Von dieser Nacht an war ihr Geist verwirrt. Sie phantasierte und war von Unruhe gepeinigt. Sie warf fortwährend die Decken von sich und wollte das Haus und alles um sich her verlassen. Sie hatte eine Todesangst, wie ich sie bei keinem der vielen jungen sterbenden Soldaten im Lazarett erlebt hatte. Sie, die ihr Leben lang gottesfürchtig, ergeben und sanft wie ein Engel gewesen war, wurde nun böse, gereizt, bäumte sich auf. Ich konnte sie keine Minute mehr allein lassen. Trat ich ans Fenster oder ging ich zum Zimmer hinaus, so begann sie sich sofort fieberhaft anzukleiden. Oft fand ich sie, aus dem Bett herausgefallen, auf dem Boden sich windend. „Ich will noch nicht sterben, muß ich denn sterben“, sagte sie zu mir in der Nacht. Sie hat ein zu starkes, gesundes Herz, sagte der Arzt. Als die Schmerzen zunahmen, gab ich mehr Morphium, als verordnet war. Von dem Tage an, da der Arzt sagte, heute wird sie sterben, lebte sie noch volle drei Monate in Todespein. Ich gewöhnte mich in dieser Zeit ganz an sie, auch an all das Ekelhafte, das ihrer Krankheit anhaftete und das ich nie an einem Verwundeten wahrgenommen hatte. Sie hatte keinen Zahn mehr, und jeder Bissen, den sie zu sich nahm, verursachte ein glucksendes Geräusch in der Schleimhaut, das ich nie im Leben vergessen kann. Ich schlief keine ruhige Minute mehr. Jeden Morgen um acht Uhr freute ich mich auf den einzigen Ausgang, den ich mir gestattete: Ich holte um die Straßenecke die Milch, und der Anblick der vor der Tür stehenden Bäckersfrau, der Spritzwagen, die Tulpen in den Vorgärten gaben mir Kraft für den ganzen Tag.

Die letzten Wochen verfiel Tante Anna der Auflösung, ohne daß sie schon tot war. Sie war nicht mehr bei Besinnung, aß und trank nicht mehr, der Schaum stand vor ihrem Munde, die Augen waren verglast und das einst so schöne Antlitz auf das schlimmste entstellt. Sie sah aus wie eine Ermordete, und allein vom ganzen Körper lebte, pochte das nicht zu bezwingende Herz. Die letzten vierzehn Tage schlief sie Tag und Nacht, war aber noch nicht tot. Am vierzehnten Tag besuchte uns ein fremder Maler, der einzige Mensch, der sich nach ihr erkundigen kam. Ich sprach mit ihm und bat ihn, mit zu Tante Anna hinüberzukommen. Als wir uns dem Bette näherten, sah ich, daß Tante Anna gestorben war. Der Maler legte die Blumen, die er der Lebenden zugedacht hatte, auf ihre Hände. Ihr Antlitz war auf einmal wieder glatt und friedlich, wie es immer gewesen war. Erschöpft von den durchwachten Nächten, schlief ich zwei Tage und zwei Nächte an der Seite des Leichnams. Nichts störte mich daran. Am dritten Tage kam der Totengräber und holte sie ab. Dem Sarge folgte als einziger Leidtragender der fremde Maler mit Blumenstrauß und Zylinder.

Nach drei Wochen verkaufte ich das Haus und versteigerte die Möbel. In die alte Wohnung zog ein obdachloser Kammersänger mit vielen Kindern, die alle die fröhliche Kehle des Vaters geerbt hatten. Ich gab den Hausbewohnern zum Abschied in einer Augustnacht unter den Kastanienbäumen unseres Gartens ein Fest mit Lampions, Wein mit Pudding, und Gitarren, an dem sich der Kammersänger auch als humoristischer Vortragskünstler entpuppte. Auf dem Höhepunkte seiner Stimmung verstieg er sich dazu, Tante Anna, deren Tod er sein neues Familienglück verdankte, mit einem Glase Wein hoch leben zu lassen.

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Der Traum vom Leben