Phase 8.2 - Lena Sander - E-Book
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Phase 8.2 E-Book

Lena Sander

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Beschreibung

Psychisch krank – eine eiskalte Mörderin – oder unschuldig? … Die unter Mordverdacht stehende Journalistin Ella wacht, an Armen und Beinen fixiert, in der Forensischen Psychiatrie auf. Sie weiß nicht, was geschehen ist und wird gequält von der Angst um ihre Freunde Alex und Isa, die spurlos verschwunden sind. Der Facharzt Dr. Steinhardt, der ein Gutachten über seine Patientin verfassen muss, fragt sich: Handelt es sich um eine psychische Störung oder ist Ella eine brillante Schauspielerin? Wo ist der Schlüssel zu den Morden zu suchen – in ihrer Vergangenheit, in einem abgelegenen Kinderheim im Schwarzwald? Oder sind es Nebenwirkungen der seltsamen Diätpillen, die Ella für das Erreichen ihres Wunschgewichts nimmt? Wer Ellas Spuren folgt, taucht ein in ein Verwirrspiel, in dem Realität und Albtraum nur schwer voneinander zu unterscheiden sind. Hautnah werden unmenschliche Erziehungsmethoden geschildert, die auf wahren Begebenheiten beruhen.

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Phase 8.2
Psychothriller
Lena Sander
Impressum © 2020 Lena Sander
Alle Rechte vorbehaltenLena Sanderc/o autorenglück.deFranz-Mehring-Str. 1501237 DresdenDie in diesem Buch dargestellten Szenen aus dem Kinderheim beruhen auf Tatsachen. Alle weiteren Figuren und Ereignisse sind fiktiv. Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder toten realen Personen ist zufällig und nicht vom Autor beabsichtigt.Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung des Herausgebers reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.Ausgabe Mai 2020Lektorat: Susanne PavlovicCo-Lektorat und Korrektorat: Anke Höhl-KayserCoverdesign: BreisgauARTBildnachweis: Adobe Stock - stock.adobe.com
Inhalt
Titelseite
Impressum
Über die Autorin
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Nachwort
Danksagung
Bücher von diesem Autor
Über die Autorin
Lena Sander
Die Thriller-Autorin Lena Sander lebt in Freiburg, am Fuße des Schwarzwalds. Das Schreiben war für sie zunächst ein Ausgleich während des trockenen Marketingstudiums, ließ sie danach aber nicht mehr los.
Die Grundthemen ihrer Psychothriller beruhen immer auf Tatsachen. Das Markenzeichen ihrer Bücher, ist die raffinierte Verknüpfung von Realität und Fiktion zu spannungsgeladenen Storys. Während die plastisch beschriebenen Szenarien ihrer Psychothriller schockieren, wirken die tieferliegenden Botschaften noch lange in der Seele nach.
Prolog
Das Hackmesser lag gut in der Hand. Behutsam strich ich über den nackten Körper, der auf einem Pflanztisch vor mir platziert war, und spürte die kleinen Härchen auf der Haut, die eventuell vor dem Eingriff noch abgeflämmt werden sollten. Das Fleisch war fest und muskulös. Vorsichtshalber sollte ich doch noch die Knochensäge aus dem Werkzeugkoffer holen. Keiner hätte sich vorstellen können, wie viel Zeit die akribischen Vorbereitungen dieser Spezialbehandlungen in Anspruch nahmen. Das Besteck musste geputzt, poliert und griffbereit links auf einem Edelstahltablett sortiert liegen. Nur so konnte ich penibel arbeiten.
Der alte Sack riss die Augen auf. Sein Blick kreiste Hilfe suchend im Raum umher. Warum sich diese alten Käuze immer so anstellten. Er, der direkt neben mir saß, mit seinen Glotzern, die ihm vor lauter Panik fast aus den Höhlen traten. Seine noch verbliebenen, grauen Strähnen hatte er auf der rechten Kopfhälfte länger wachsen lassen, damit er diese über den kahlen Schädel kämmen und somit – seiner Meinung nach – mehr Haare vortäuschen konnte. Allerdings lagen diese Haarsträhnen nun nicht mehr mit Pomade festgeklebt auf seiner Glatze, sondern standen wild vom Kopf ab.
Der Sturm peitschte Regen, Äste und Zweige gegen das Glashaus. Gut, dass ich zumindest einige noch trockene, überdachte Quadratmeter für meine Operation ausgewählt hatte. Der Alte wog schätzungsweise einhundertzwanzig Kilo. Bewusstlos war er keine große Hilfe. In einem Stück und ohne Hilfsmittel hätte ich ihn keinen Meter mehr bewegen können.
»Na, aufgewacht, du alter Sack?«, flüsterte ich. Auch wenn er es bei dem draußen herrschenden Getöse verstanden hätte, so wäre ihm eine Antwort schlichtweg mit dem Klebeband auf seinem Mund nicht möglich gewesen.
»Herr Dr. Kleinscheiß, wissen Sie, mein Vater hat immer gesagt, dass man irgendwann im Leben alles zurückbekommt, oder wie heißt das heute: Feedback erhalten.« Ich musste über meinen Scherz selbst lachen. Ein lautes Lachen, das von dem Tumult um uns herum fast völlig verschluckt wurde. Das kam mir gerade recht. Obwohl die maroden Gebäude auf diesem Anwesen schon vor Jahren zum Abriss freigegeben worden waren und niemand außer uns hier war, musste ich auf der Hut sein. Mich hatte das Schild: Vorsicht! Betreten verboten! Einsturzgefahr! nicht interessiert. Im Gegenteil. Das war der perfekte Ort für meine Behandlung, mein Feedback. Es gab kein besseres Timing. Als hätte ich das Orkantief inklusive Starkregen bestellt. Okay, einige Splitter, die von dem zersprungenen Glasdach stammten, konnten gefährlich werden. Nicht, dass ich mich selbst verletzte. Nicht, dass sich dadurch mein so ausgeklügelter Plan verzögerte oder womöglich nicht bis zum Ende auszuführen war. Ich musste mich beeilen, das Wasser im Gewächshaus stieg und machte auch vor meinen Füßen keinen Halt.
Wieder konnte ich mir mein hämisches Lachen nicht verkneifen. Dr. Kleinscheiß, der mit Klarnamen Dr. Kleinschmitt hieß, fand die Situation sichtlich nicht komisch. Er hatte sich eingenässt und versuchte sich an Tierlauten, die er mit geschlossenem Mund äußerte. Langsam drehte ich mich um und bückte mich zu meinem Werkzeugkoffer. Mein Griff galt zwar der Knochensäge, doch da befanden sich noch weitere nette Spielsachen, die bestimmt zum Einsatz kommen würden. Ein Crème-Brûlée-Brenner, der nicht nur die kleinen Härchen abflämmen, sondern auch für eine entsprechend knusprige Kruste sorgen würde. Ein Schwartenmesser für gleichmäßige Kreuzschnitte, ein Ausbeinmesser und nicht zu vergessen die extragroßen Fleischerhaken, die jeden einzelnen herausgetrennten Brocken würden tragen müssen.
Solch ein Vergnügen hatte ich bisher noch nie bei meinen Vorbereitungen empfunden. Kein Wunder, Dr. Kleinscheiß war schließlich der Gipfel des Achttausenders, das große Ziel, das Meisterstück sozusagen.
Wieder drehte ich mich zu meinem Einsatzgebiet, dem großen Fleischberg. Blut. Ich konnte es genau erkennen, auch wenn ich nur den Lichtschein der batteriebetriebenen Lampe zur Verfügung hatte, es war tatsächlich Blut, das auf die Haut vor mir tropfte. Wie konnte das möglich sein? Da bisher noch kein Besteck zum Einsatz gekommen war, konnte es nicht von meinem Opfer stammen, oder? Irritiert sah ich zu Kleinschmitt, der an seinem eigenen Erbrochenen zu ersticken drohte. Mit einem beherzten Griff riss ich ihm das Klebeband vom Mund und klopfte auf seinen Rücken. Nach einigen Sekunden hustete er und spuckte alles aus. Nicht auszudenken, wenn der alte Sack an seiner Kotze gestorben wäre und meine Mühe nicht mal Früchte hätte tragen können. Ich holte aus und gab ihm eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Sofort bildeten sich meine Fingerabdrücke in einem herrlichen Rotton auf seiner Wange ab.
»Ich wollte nur helfen, damit du auch den ganzen Rotz ausspuckst«, kicherte ich.
Als ich Kleinschmitt genauer betrachtete, bemerkte ich Blutspuren an seiner Wange. Der Blick auf meine Hand bestätigte mir, dass ich mich – wahrscheinlich beim Griff in den Werkzeugkoffer – selbst verletzt haben musste.
»Warum tun Sie das? Womit hab ich das verdient?«, röchelte der Alte.
»Besser Alzheimer als gar keiner daheim, oder was ist los? Das müsstest du doch am besten wissen«, antwortete ich, während ich meine Maske wieder in Position brachte. Es war keine gute Idee gewesen, sich für diese starre Plastikmaske zu entscheiden. Ich konnte schlecht atmen und der Augenausschnitt war so klein, dass ich ständig den Kopf komplett drehen musste, um den Überblick zu behalten.
»Ich habe keine Ahnung. Bitte … ich mache alles, was Sie von mir verlangen, aber lassen Sie mich wieder gehen. Ich flehe Sie an.« Kleinschmitt schwitzte trotz der eisigen Temperatur.
»Na klar … jetzt quassel nicht so viel und genieße lieber die Show. Wir haben keine Zeit«, unterbrach ich ihn und klebte seinen Mund wieder zu.
Kapitel 1
Forensische Psychiatrie – heute
Ella schlug die Augen auf und starrte auf die gelb getünchte Raufasertapete. Oben rechts hing ein Zipfel – etwa zwei Zentimeter – von der Wand herab. Genau das war ihr Leben, ein winziger Zipfel des großen Ganzen, der gerade dabei war, sich aus der Masse zu lösen. Ein minimaler Fetzen mit Vertiefungen, Erhöhungen und unterschiedlichen Farbschattierungen. Weit weg von allem, aber auch weit weg von den Menschen, die sie liebte und die ihr in dieser ausweglosen Situation hätten helfen können.
Es war so still, dass sie die einzelnen Tropfen der Infusion fallen hörte. Wie viel Tropfen wohl in einer Elektrolytlösung enthalten waren? Blubb. Blubb. Ella hatte den Eindruck, dass die kahlen Wände des Zimmers jeden Laut verstärkten und ihr in geballter Form zurück ins Gesicht schleuderten. Das verstellbare Krankenbett war unbequem und für sie viel zu schmal. Sie versuchte, sich auf die Seite zu drehen, doch es gelang ihr nicht. Ihre Arme und Beine waren mit grauen, breiten Bändern fixiert worden. Warum, zum Kuckuck, war sie überhaupt festgebunden worden? Sie, die nur den Tapetenzipfel betrachtete.
Das Klopfen an der Zimmertür riss Ella aus ihren Gedanken. Sehr höflich, aber was genau wurde von ihr erwartet? Sollte sie aufstehen, die Tür aufschließen und den Besucher freundlich zu Kaffee und selbst gebackenem Kuchen in ihr nobles Reich einladen?
Die Tür öffnete sich. »Schönen guten Morgen«, sagte Dr. Steinhardt.
»Morgen«, erwiderte Ella leise.
Unter anderen Umständen hätte sie diesen Arzt tatsächlich gerne zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Unter seinem Kittel zeichnete sich ein sportlich muskulöser Oberkörper ab. Die dunklen schulterlangen lockigen Haare hatte er zu einem Zopf gebunden. Doch Ella war klar: Auch unter anderen Umständen hätte sie so, wie sie aussah, nicht einmal den Hauch einer Chance gehabt, nur einen einzigen Blick dieses Mannes zu erhaschen und wenn, dann wäre dieser verächtlich gewesen.
Dr. Steinhardt holte den weißen Plastikstuhl aus der Zimmerecke, stellte ihn neben Ellas Bett und setzte sich. »Ella … darf ich Ella sagen?«
Sie nickte.
»Wie geht es Ihnen heute Morgen?«
»Wie lange bin ich schon hier?«, überging Ella seine Frage.
»Seit drei Tagen.«
»Warum bin ich festgebunden, warum bekomme ich diesen Tropf?« Ella fiel es – trotz ihrer ausweglosen Situation – schwer, genügend Druck in ihrer Stimme aufzubauen. Das lag bestimmt nicht an den blauen Augen, deren Strahlen Ella den Atem raubte und die sie gerade fragend musterten. Eher an den Medikamenten, die ihr täglich verabreicht wurden.
»Das wissen Sie nicht?«
»Nein?«, erwiderte Ella und versuchte, sich zu erinnern. Es war ihr bewusst, dass sie seit mehreren Tagen hier lag und an die Wand starrte. Allerdings konnte sie sich nicht an komplette Tagesabläufe erinnern, nur an einzelne Sequenzen. Tabletten. Ja, ihr wurden immer wieder Medikamente gereicht, die sie im Beisein eines Pflegers schlucken musste. Auch dieser Tropf war schon mindestens einmal ausgetauscht worden.
»Nachdem Sie dem Haftrichter vorgeführt und hier eingewiesen worden waren, waren Sie vollkommen dehydriert – daher auch die Elektrolyt-Kochsalzlösung – verwirrt und hatten einen Kreislaufzusammenbruch. Sie müssen wieder aufgepäppelt werden. Zusätzlich haben wir Tabletten oder, besser gesagt, Kapseln in Ihrer Hosentasche gefunden, die ich natürlich gleich zur Analyse ins Labor gegeben habe. Und Sie wissen bestimmt, dass die Fixierung Vorschrift ist, zu Ihrer eigenen Sicherheit.«
Aufpäppeln, dieses Wort hatte mit Ella so viel zu tun wie ein Grashüpfer mit einem Nilpferd. Ella zählte ihres Erachtens bereits zum Großwild – zumindest körperlich – was sollte da noch gepäppelt werden? Verwirrt! Natürlich. Wer wäre nicht verwirrt, wenn er seit einer geraumen Zeit mit Psychopharmaka und zusätzlichen Präparaten – von denen es wohlweislich besser war, sie nicht genau zu kennen – vollgestopft wurde?
So in Gedanken, bemerkte Ella erst jetzt, dass Dr. Steinhardt sie stumm musterte und wahrscheinlich auf eine Reaktion wartete.
»Was erwarten Sie jetzt von mir, Doc?«
»Sie haben sich beim Haftrichter zu keinem der Vorwürfe geäußert, aber Schweigen bringt Sie definitiv nicht weiter, Ella. Meine Aufgabe ist es, ein Gutachten zu verfassen, dann kann Ihr Fall vor Gericht verhandelt werden.«
»Auch wenn ich verwirrt und dehydriert gewesen war, als ich dem Haftrichter vorgeführt wurde, konnte ich in seinen Augen erkennen, dass ich bereits vorverurteilt bin, egal, was ich dazu zu sagen habe. Alle Indizien sprechen gegen mich. Das Motiv passt. Hinzu kommt noch, dass ich mich seit Jahren in Therapie befinde und Psychopharmaka nehme. Meine Alternativen lauten: Strafvollzug oder Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie, stimmtʼs?«, schleuderte Ella dem Arzt entgegen. Steinhardt trug keine Schuld an Ellas prekärer Situation, das war ihr klar und aus diesem Grund tat ihr ihre Aussage leid, kaum dass ihr das letzte Wort über die Lippen gekommen war. »Tschuldigung«, sagte sie kleinlaut.
Dr. Steinhardt zuckte mit den Schultern. »Das käme auf einen Versuch an, Ella. Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole: Schweigen bringt Ihnen nichts! Damit haben Sie bereits aufgegeben und verloren. Ich richte nicht über Sie, das steht mir nicht zu. Ich möchte nur den Menschen Isabella Amann kennenlernen.«
Die Person, die hinter Isabella Amann steckte, wollte Ella auch gerne kennenlernen. Wer konnte schon von sich behaupten, sich selbst bis ins kleinste Detail zu kennen? Wer konnte genau vorhersagen, wie er in den prekärsten Situationen reagieren würde? Prekäre Situation … Ella wurde kalt und gleich darauf heiß. Alex und Isa! Verflixte Medikamente. Sie spürte einen Faustschlag, der sich tief in ihren Magen grub. Warum dachte sie jetzt erst an die beiden?
»Hat sich Alex oder Isa gemeldet?«
»Wer ist das?«
»Das sind meine Freunde. Bitte, könnten Sie für mich herausfinden, wo sie sind und ob es ihnen gut geht? Ich gebe Ihnen die Telefonnummern und Adressen. Es ist wichtig.«
»Haben die beiden auch etwas mit der Sache zu tun, handelt es sich um Zeugen?«
»Es sind meine besten Freunde und ich mache mir Sorgen, weil ich nicht weiß, wie es ihnen geht, bitte!«
»Beruhigen Sie sich, Ella. Ich werde das für Sie in Erfahrung bringen, aber jetzt sollten Sie mir einiges über sich erzählen.«
Der Rücken schmerzte. Kein Wunder, wenn sie seit Tagen ans Bett fixiert, auf dieser harten Matratze und vor allen Dingen auf ihrer Kehrseite gelegen hatte.
»Könnten Sie mich bitte losbinden? Ich habe Schmerzen und muss mich unbedingt mal drehen.«
»Solange ich hier bei Ihnen bin, ja, aber danach …«
»Haben Sie Angst, dass ich mich mit diesem wackeligen Stuhl …«, Ella wies mit dem Kopf auf Steinhardts Sitzgelegenheit, »und dem Laken eventuell an der Gardinenstange aufhängen könnte? Die ist immerhin nur mit zwei Schrauben befestigt. Glauben Sie denn tatsächlich, das wäre physikalisch machbar?«
Ein flüchtiges Lächeln legte sich auf sein Gesicht. »Wir machen einen Deal. Ich löse die Riemen und Sie reden mit mir, okay?«
»Und … Sie erkundigen sich nach meinen Freunden.«
»Gut, ich kümmere mich darum.«
»Was möchten Sie von mir wissen, Dr. Steinhardt?«
»Zum Beispiel etwas aus Ihrer Kindheit. Das, was Ihnen als Erstes in den Sinn kommt.«
»Okay.« In diesem Moment hätte Ella dem Arzt fast alles versprochen. Sie konnte jede einzelne Sprungfeder der Matratze spüren. Der Lendenwirbel war besonders in Mitleidenschaft gezogen. Kein Wunder, denn genau dort befand sich ihr ausgeprägter Schwerpunkt, der jetzt nicht nur höllisch brannte, sondern auch hämmerte, als hätte sich ein Heimwerker unter dem Bett versteckt.
Der Stationsarzt stand auf, löste Ellas Fixierung und betätigte die Hydraulik des Bettes. Das Kopfteil bewegte sich nach oben. »So besser?«
»Ja«, erwiderte sie, rieb ihre Handgelenke und drehte sich zu Dr. Steinhardt.
Kapitel 2
Vor vielen Jahren
Haferbrei! Dienstags gab es immer Haferbrei.
»Iss«, sagte er, »iss den verdammten Teller leer.« Diese schleimige, eklige Pampe, die man bestimmt als Klebstoff zum Basteln benutzen könnte. Mit einer riesigen, zerbeulten Schöpfkelle wurde dieser schmierige Brei jedem Kind auf den Blechteller geklatscht. Sechsundsiebzig Teller hatte Ella einmal gezählt. Im Speisesaal, dessen Decke mindestens so hoch war wie der Freiburger Bahnhof, hörte man das Klappern viel lauter als in anderen Räumen.
Der Leiter des Kinderheimes, Dr. Kleinschmitt, schob den Stuhl ihrer Tischnachbarin Petra zur Seite und riss Ella den Löffel grob aus der Hand. Er sah aus wie ein böser Riese. Seine Hände waren Pranken wie von einem Grizzlybären oder so gewaltig wie Tatzen einer Raubkatze, aber auf jeden Fall fast so groß wie der volle Blechteller vor Ella. Er füllte den Löffel, sodass seitlich zäher Brei heruntertropfte, und führte ihn Ella an den Mund. Sie presste ihre Lippen und die Augen fest zusammen. Wenn die Augen geschlossen waren, dann konnte man nur noch schöne Dinge sehen und wenigstens in Gedanken diesem Haus, den Erziehern, Mitbewohnern und diesem gruseligen Riesen entfliehen. Zumindest musste sie nicht diesen verhassten, kleisterigen Pamps sehen, geschweige denn in sich hineinstopfen.
»Mach den Mund auf!« Kleinschmitt drückte ihr den Löffel gegen die Lippen.
»Mach endlich diesen verdammten Mund auf!« Ella bewegte sich nicht. Sie atmete flach durch die Nase. Vielleicht konnte sie sich einfach wegdenken. Schöne Dinge, denk an etwas Schönes. Mama! Sie bekam keine Luft mehr und bemerkte erst jetzt, dass der Direktor ihr die Nase zuhielt. Zwangsweise öffnete sie den Mund, um einzuatmen, doch dazu kam sie nicht. Der volle Löffel wurde ihr grob zwischen die Zähne geschoben. Ella hatte Angst zu ersticken, bekam keine Luft und musste husten. Im hohen Bogen flog der Brei über den Tisch und landete auf dem Teller von Alex. Dieser sprang auf und schob den Stuhl so heftig nach hinten, dass der umfiel und auf den Boden knallte.
»Scheiße«, schrie Alex. Jetzt war die Aufmerksamkeit aller auf sie gerichtet. Selbst die Großen, die – außer Petra – am ersten Tisch direkt neben der Tür saßen, standen auf, um die Geschehnisse besser mitverfolgen zu können.
Als wäre Ella mit voller Wucht gegen eine Mauer gerannt und hätte mit ihrem Gesicht abgebremst, knallte die Pranke des Heimleiters gegen ihre Wange. Die linke Gesichtshälfte explodierte. Die Haut war bestimmt aufgerissen. Es konnte nicht lange dauern, bis sich blutige Fetzen auf dem Boden verteilen würden. Ihre Wange hämmerte. Und kurz danach Feuerameisen, zu Tausenden versammelten sie sich in Ellas Gesicht. Ihre Tränen konnten das Brennen nicht lindern.
»Heul nur, selbst schuld. Ich werde ein Exempel statuieren. Schaut alle zu, was passiert, wenn ihr unseren Anweisungen nicht folgt.«
Warum tut der Direktor so was? Ist es denn so schlimm, etwas nicht zu mögen? Muss man alles essen, was auf dem Teller liegt? Ella konnte die Reaktion des Heimleiters nicht verstehen. Zuhause war alles besser gewesen. Natürlich hatten ihre Eltern auch ab und zu mit ihr geschimpft, aber sie hatte nur essen müssen, was ihr auch schmeckte, und überhaupt … Je mehr Ella über ihr vorheriges Leben nachdachte, desto mehr Tränen kullerten ihre Wangen herab. Sie schluchzte laut, doch es half nichts, Zuhause gab es nicht mehr. Warum haben sie mich alleine gelassen? Ella war gerade neun Jahre alt geworden. Ihre Eltern waren im Himmel, so hatte es zumindest Frau Schönfeld, die Gruppenleiterin, erklärt. Im Himmel. Was hieß das? Saßen sie auf einer Wolke, blickten hinab und winkten ihr zu? Wie sollte das möglich sein? Ella war dabei gewesen, wie diese schwarz bekleideten Männer auf dem Friedhof zwei Holzkisten auf eine Karre hievten. Sie haben gesagt, dass sie da drin liegen, Mama und Papa. Und dann war da ein großes, tiefes Loch in der Erde. Fast wäre Ella hineingefallen, als die Särge versenkt wurden. Weg waren ihre Eltern! Einfach verschwunden für immer. Verbuddelt.
Die Pranke packte zu. Ein fester Griff, direkt um Ellas Pferdeschwanz. Es fühlte sich an, als würden ihr alle Haare mit einem entsetzlichen Schmerz und ohne Vorwarnung direkt vom Kopf gerissen. Sie knallte mit voller Wucht auf den Boden und schlug ihre Stirn dabei an Petras Stuhlbein auf. Blut lief auf das Linoleum.
»Was für eine Schweinerei!«, brüllte Kleinschmitt.
»Das wirst du später alles fein säuberlich wegwischen. In meinem Haus herrschen Ordnung und Sauberkeit! Aber zuerst sollst du deine gerechte Strafe bekommen. Merke: Ich will dir nichts Böses, du musst aber für dein weiteres Leben lernen, dass alles, was du tust, Konsequenzen hat.« Die Schmerzen in Ellas Kopf hatten den Schädelknochen erreicht und drohten, ihn aufzubrechen. Ella schrie. Dann ließ der Schmerz plötzlich nach. Alex war um die Tischreihe gerannt und hatte Dr. Kleinschmitt gegen das Schienbein getreten, der daraufhin Ellas Pferdeschwanz losgelassen hatte.
»Na warte, mein kleiner Freund«, zischte der Heimleiter. »Siegmund, halt ihn fest!« Der Gruppenleiter der älteren Kinder stand an der Tür und gehorchte Dr. Kleinschmitt sofort. In der nächsten Sekunde wurde Ella über den Boden durch den gesamten Speisesaal geschleift. »Halt ihn fest. Bin gleich wieder da«, wiederholte Kleinschmitt im Vorbeigehen zum Gruppenleiter.
Ein Streichholz, das ihr für eine kurze Zeit Licht ins Dunkel bringen würde, mehr war nicht in der Schachtel, die sie in ihrer Hosentasche hatte. Ella kauerte in der Ecke und betastete die rauen Wände. Ob es sich auch an Holz entzünden ließ? Sie hatte in der Schule nicht genau zugehört, als das Thema mit den Streichhölzern auf dem Lehrplan stand. Der Verschlag war halb voll mit Kartoffeln. Die kleineren rollten bei jeder Bewegung zwischen den gesplitterten Holzlatten nach draußen auf den Kellerboden. Sie schob einige der Knollen auf die Seite und setzte sich dann in die so entstandene Vertiefung.
Was konnte sie tun, wenn der Grizzly wiederkam und die Tür öffnete? Was konnte Ella dieser riesenhaften Erscheinung entgegensetzen? Mit Kartoffeln werfen? Das würde ihr nur noch mehr Ärger einbringen. Sie hatte Angst vor diesem Mann. Er war unberechenbar. In einem Augenblick konnte er nett und freundlich sein, aber eigentlich auch nur, wenn fremde Erwachsene anwesend waren. Und im nächsten Moment war er abscheulicher als der grässlichste Bösewicht aus Grimms Märchen.
Es wurde heller. Ella erkannte zumindest die Umrisse ihrer Knie und ihrer Hand, in der sich immer noch das Streichholz befand, obwohl es nicht brannte. Das Licht stammte von der anderen Seite ihres Verschlages und schien unter dem Spalt hindurch. Sie hörte ein leises Kratzen an der Holzwand und zuckte zusammen. Ella hatte einmal ein Gespräch zwischen der Köchin und dem Direktor belauscht. Die Köchin hatte auf Ratten hingewiesen, die hier im Kartoffelkeller die Lebensmittel angeknabbert hatten. Angst vor Ratten? Nein. Bis dahin war Ella noch keine leibhaftig begegnet und es handelte sich ja schließlich nur um kleine Tiere.
»Pssst, Ella«, flüsterte eine Stimme.
»Wer ist da?«
»Ich binʼs, Alex. Der Direx hat mich auch hier in den Keller geschleppt. Ich sitze in der Box neben dir. Aber meine Taschenlampe, die hat er nicht erwischt.«
»Danke!«
»Für was?«
»Na, dass du mir geholfen hast.«
»Bitte. Hat leider nicht so viel gebracht.«
»Mmmmhhh.«
Ella tastete nach ihrer Kopfwunde, doch so schlimm, wie sie nach der Blutung im ersten Moment gewirkt hatte, war es jetzt nicht mehr. Das Blut war getrocknet. Allerdings schmerzte ihr Schädel, als hätte sich ein Ei in ihrer Stirn festgesetzt, das von Minute zu Minute größer wurde und kurz vor dem Zerplatzen war.
»Tutʼs noch sehr weh?«
»Es geht«, log Ella tapfer.
»Der Direx hat vorhin noch gesagt, dass heute Abend keiner was zu essen bekommt und dass du daran schuld bist. Weißt du, was das heißt?«
»Oje. Die Großen sind bestimmt wütend auf mich.«
Ella wusste nicht, was gerade besser war: hier in diesem winzigen Holzverschlag zu kauern oder wieder freigelassen zu werden. Draußen im Hof würde sie bestimmt bestraft. Auch oder gerade, weil sie erst seit ein paar Wochen in diesem gruseligen Haus wohnte, hatte sie schon einige Erfahrungen mit den Großen gemacht. Ab und zu wurde sie im Vorbeigehen geschubst, als wäre sie ein Boxsack, an dem jeder seine Wut auslassen konnte. Oder ihre schönen Kleider waren zerfetzt im Dreck gelandet. Sie musste weg hier, weit weg. Fort von diesem Haus, den Kindern, den Gruppenleitern und vor allem von diesem Teufel, dem Heimleiter.
»Hab keine Angst, Ella, ich beschütze dich.«
Alex war süß, aber wie hätte er ihr helfen sollen. Der blond gelockte Junge war gerade ein Jahr älter als Ella, einen halben Kopf kleiner und sehr schmächtig. Alex war ein Einzelgänger und Ella wunderte sich, dass gerade er so für sie eingestanden war.
»Das ist nett von dir, Alex, aber wie willst du das denn machen?«
Kapitel 3
Der Direktor hatte ein unerwartet freundliches Grinsen aufgelegt, als er Ella aus ihrem Holzverschlag im Keller befreite. Sie durfte ihr Gefängnis nur unter der Bedingung verlassen, sofort zu den anderen Kindern auf den Hof zu gehen und nicht in den Schlafsaal.
Wie gerne wäre sie jetzt zuhause in ihrem Kinderzimmer gewesen, das ihr ganz allein gehörte. Mit den wundervollen Bildern an den Wänden, die Mama ihr gemalt hatte: Pooh der Bär mit seinem Honigfässchen oder den Tiger von Janosch. Mama hatte wunderschön zeichnen können. Leider hatte Ella dieses Talent nicht von ihr geerbt. Zuhause hing über ihrem Bett ein rosaroter Himmel, den Mama genäht hatte: Für meine kleine Prinzessin, hatte sie gesagt. Ella vermisste hier, in diesem kalten großen Haus, auch ihre Freunde. Echte Freunde, die sie schon seit dem Kindergarten kannte. Doch nun stand sie ganz alleine da und musste einen grausamen Weg antreten, den Weg zum Vorplatz des Kinderheims.
Wie befürchtet standen Andreas, Stefan, Julia, Anja und Armin, die Vierzehnjährigen, direkt bei Frank, Nadja, Simon, Thorsten und Petra, den Sechzehnjährigen im Hof. Die Namen der Heimkinder hatte sich Ella schon in kurzer Zeit eingeprägt, aber wirkliches Interesse – außer in der Funktion als Boxsack – hatte bisher keiner an ihr gezeigt. Im Augenblick war ihr dieser Zustand auch recht. Ella drückte sich an der Hauswand entlang und hoffte, dass sie unbemerkt um die Ecke biegen könnte. Gleich hatte sie es geschafft. Gleich würde sie, unbeobachtet von den Großen, die angrenzende Wiese erreichen, auf der die Kinder ihres Alters Ball spielten.
»Halt«, schrie Petra in dem Augenblick, als Ella um die Ecke biegen wollte. Erwischt! Als stünde Petra schon vor ihr und würde ihr in den Bauch boxen, spürte Ella die Faust in ihrem Magen.
»Versau es nicht wieder, Petra, sonst bin ich ab morgen der Boss hier und du weißt, was dann passiert. Letzte Chance!«, rief Simon ihr hinterher. Petra antwortete nicht und kam mit großen Schritten auf Ella zu. Ella drückte sich eng an die Hauswand, als könne die ihr Schutz bieten.
»Hör mal, du blöde Kuh«, sagte Petra wütend und schüttelte sich die roten, zotteligen Haare aus dem Gesicht.
»Mmmmhhh«, erwiderte Ella und wartete angespannt auf die anstehende Backpfeife. Ihre Beine zitterten. Was hatte sie zu erwarten? Petra war groß, sehr groß, viel zu groß für Ella. Keine Chance, abzuhauen. Ella sah sich um. Die Großen kamen immer näher.
---ENDE DER LESEPROBE---