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Philosophieren mit Objekten E-Book

Olivier Del Fabbro

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Beschreibung

Gilbert Simondons Schaffen wird an erster Stelle mit der Technikphilosophie in Verbindung gebracht. Allerdings hat er sich nicht nur intensiv mit den naturwissenschaftlichen Texten seiner Zeit auseinandergesetzt, er hat auch selbst technische Objekte, zum Beispiel Verbrennungsmotoren und Elektronenröhren, gesammelt, auseinandergebaut und analysiert. Nur so lässt sich nach Simondon jeder einzelnen Individuation – sei sie technisch, physikalisch, biologisch, psychisch oder sozial – ein Platz im Kulturpluralismus zuweisen. Olivier Del Fabbro kristallisiert Simondons eigentümliche Methode des Philosophierens mit Objekten heraus. Das Buch bietet erstmals eine umfassende Darstellung Simondons Gesamtwerkes und attestiert ihm ein neues Philosophieverständnis: die Prozessontologie. https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/

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Olivier Del Fabbro

Philosophieren mit Objekten

Gilbert Simondons prozessuale Individuationsontologie

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Gilbert Simondons Schaffen wird an erster Stelle mit der Technikphilosophie in Verbindung gebracht. Allerdings hat er sich nicht nur intensiv mit den naturwissenschaftlichen Texten seiner Zeit auseinandergesetzt, er hat auch selbst technische Objekte, zum Beispiel Verbrennungsmotoren und Elektronenröhren, gesammelt, auseinandergebaut und analysiert. Nur so lässt sich nach Simondon jeder einzelnen Individuation – sei sie technisch, physikalisch, biologisch, psychisch oder sozial – ein Platz im Kulturpluralismus zuweisen. Olivier Del Fabbro kristallisiert Simondons eigentümliche Methode des Philosophierens mit Objekten heraus. Das Buch bietet erstmals eine umfassende Darstellung Simondons Gesamtwerkes und attestiert ihm ein neues Philosophieverständnis: die Prozessontologie.https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/

Vita

Olivier Del Fabbro ist Postdoktorand an der Professur für Philosophie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich.

Inhalt

Einleitung

1.Pragmatismus: Zwischen Theorie und Praxis

2.Eine pluralistische Individuationsontologie

3.Individuationspluralismus und Technikphilosophie

4.Methode und Gliederung

1.Philosophie, Wissenschaft, Technik

1.1Philosophie als Reflexion

1.2Die Struktur der Phänomene: Der Positivismus von Auguste Comte

1.3Die Kybernetik: Objekte und Operationen

1.4Die Allagmatik: Eine Axiontologie des Individuums

1.5Die allagmatische Epistemologie

1.6Canguilhem und Simondon

2.Der philosophiehistorische Rahmen

2.1Die Vorsokratiker und das Paradigma der physis

2.2Aristoteles und der Ziegelstein

2.3Der techno-soziale Status der Philosophen

2.4Descartes und das Paradigma der Mechanik

3.Die zwei Paradigmen der Individuation

3.1Das Paradigma der Modulation

3.2Die Historizität der Paradigmen: Bachelard und Simondon

3.3Die Kristallisation: Individuation als Transduktion

3.4Transduktion als allagmatische Epistemologie

3.5Differenzierende Analogien: Platon und der Paradigmatismus

4.Der Individuationspluralismus

4.1Die Quantenmechanik und die Individuation

4.2Das Vorindividuelle und die Entstehung des Lebendigen

4.3Die lebendige Individuation

4.4Die technische Individuation

4.5Die psychische Individuation als Individualisation des Lebendigen

4.6Die kollektive Individuation

Schlussfolgerung

1.Norm und Wert als ethische und moralische Transduktion

2.Religiöses und technisches Zur-Welt-Sein

3.Technisches und sozial-politisches Zur-Welt-Sein

4.Das Ökonomische und die Entfremdung

5.Erfindung und Intuition

6.Reflexive Kultur

7.Technische Mikropolitik

8.Technische Bildung und Aufklärung

Siglen

Gilbert Simondon

Andere Autoren

Literatur

Danksagung

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Seit ihrer ersten Publikation haben die beiden Hauptwerke von Gilbert Simondon, L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information (ILFI) und Du mode d’existence des objets techniques (MEOT), ein regelrechtes Abenteuer hinter sich.1 Während MEOT die damals in Frankreich übliche komplementäre thèse der Hauptdissertation ILFI darstellt, wird MEOT dennoch früher als ILFI im Jahre 1958 publiziert. Von ILFI hingegen wird lediglich der erste Teil, L’individu et sa genèse physico-biologique, 1964 veröffentlicht. Erst 1989, also 25 Jahre später und zugleich in Simondons Todesjahr, wird der zweite Teil, L’individuation psychique et collective, der Öffentlichkeit zugänglich. Seit 2013 ist schließlich ILFI als vollständiges Werk greifbar.

1966, kurz nach dem Erscheinen von L’individu et sa genèse physico-biologique, schreibt Gilles Deleuze eine Rezension über ebendieses Buch.2 Deleuze ist grundsätzlich begeistert und findet mehrere Anhaltspunkte für seinen eigenen transzendentalen Empirismus. In der Folge wird Simondon in jedem größeren Werk von Deleuze eine nennenswerte Rolle spielen. Deleuze hebt aber nicht nur inhaltliche Aspekte von Simondons Werk hervor, auch die methodische Vorgehensweise hinterlässt Eindruck. Nur wenige philosophische Bücher, so Deleuze, zeigen so deutlich, wie klassische Probleme der Philosophie, inspiriert von den aktuellen Wissenschaften, diskutiert werden können. Simondons Theorie der Individuation, so Deleuze weiter, enthalte »[…] toute une philosophie.«3

Diese Behauptung gibt zu denken, vor allem, weil Deleuze sie nicht begründet: Weshalb soll Simondons Theorie der Individuation eine ›ganze Philosophie‹ in sich bergen? Versucht Deleuze hier nicht, wie er es so oft schon mit anderen, bekannteren Autoren der Geschichte der Philosophie getan hat, Simondons Denken seinen eigenen Stempel aufzudrücken? Und was genau heißt es, eine ›ganze Philosophie‹ formuliert zu haben?

1.Pragmatismus: Zwischen Theorie und Praxis

Seit jeher fragen sich Philosophen, was Philosophie ist und wer überhaupt als Philosoph gelten kann. Dabei gibt es letztlich wohl genauso viele Definitionen von Philosophie, wie es Philosophen gibt. Metaphilosophie ist ein Teil des philosophischen Geschäftes.

Ist man dann ein Philosoph, wenn man im Sinne Platons die Höhle der Illusionen verlassen und die wahren Ideen hinter den Abbildern gesehen hat? Oder gilt man erst als Philosoph, wenn man, wie Aristoteles, die allgemeinen Prinzipien und Ursachen des Seins entdeckt und systematisch ausgearbeitet hat? Oder soll Philosophie im Sinne Kants die vier Fragen beantworten: ›Was kann ich wissen?‹ – ›Was soll ich tun?‹ – ›Was darf ich hoffen?‹ – ›Was ist der Mensch?‹

Wer sich mit all diesen Denkern nur ein wenig auskennt, weiß, dass sich die Definition von dem, was Philosophie ist oder sein soll, mit den von diesen Philosophen jeweils durchgeführten Projekten deckt. Mit anderen Worten: Die Definitionen von Philosophie spiegeln sich im jeweiligen Werk wider, oder: Philosophen definieren das als Philosophie überhaupt, was sie selbst tun, wenn sie meinen, Philosophie zu treiben. Daraus ergeben sich dann Platons Ideenlehre und seine Methode der Dihairesis, der aristotelische Hylemorphismus und seine Methode der Syllogistik oder Kants Theorie des Menschen als Vernunftwesen und der Gegenstände der Erfahrung, die sich nach dem Erkenntnisvermögen dieses Vernunftwesens richten, und seine Methode der Transzendentalphilosophie.

Eine andere Definition von Philosophie, die jüngst vorgeschlagen wurde, fasst Philosophie als eine reflektierende Tätigkeit und nicht als eine Lehre auf, bei der mit Begriffen so experimentiert wird, dass auf die eigenen Erfahrungen reagiert werden kann, um das menschliche Leben in der Kultur eventuell nach diesen Experimenten verändern zu können.4 Dieses Verständnis von Philosophie ist doppelt ausgerichtet: Einerseits geht es um Reflexion und Denken, andererseits um Erfahrung, Handlung und Tätigkeit. Letztlich aber spielt die Wechselwirkung zwischen Erfahrung und Handlung auf der einen Seite und Reflexion und Denken auf der anderen eine zentrale Rolle, ebenso auch die Frage, wie dieses Wechselspiel dem menschlichen Leben in der Kultur eine Orientierungshilfe sein kann.

Eine derartige Definition von Philosophie kann als klassisch pragmatistisch bezeichnet werden, wie sie auch von Charles S. Peirce, William James und John Dewey vertreten worden ist. Philosophie ist eine Tätigkeit, die sowohl den Raum der Reflexion als auch den der Handlung bespielt und zugleich versucht, zwischen diesen beiden Bereichen zu vermitteln.

In dieser Arbeit gilt es zu zeigen, dass auch Simondon nicht nur eine Vorstellung davon hat, was Philosophie ist und was sie sein soll, sondern Simondons philosophischer Ansatz kann darüber hinaus als pragmatistisch in genau dem gerade beschriebenen Sinne verstanden werden.5

Doch ist Simondons Beziehung zum US-amerikanischen Pragmatismus schwierig und seine Kritik an ihm verwirrend.6 Noch bis in die 1950er Jahre wird in Frankreich der Pragmatismus überwiegend mit der Philosophie von William James in Verbindung gebracht, hauptsächlich eingeführt über die Lebensphilosophie Henri Bergsons.7 Der Pragmatismus wird als anti-wissenschaftlicher Instrumentalismus gebrandmarkt, der sich wegen des Primats der Praxis wenig für Begriffsklärung interessiert und schon gar nicht für die Geschichte der Philosophie. Simondon folgt diesem Vorurteil und assoziiert den Pragmatismus ebenfalls mit Bergsons Philosophie. Beispielsweise zeigt sich ein erster Fehlgriff von Simondon darin, dass er die Theorien von John Dewey zwar in einem Text zur Psychologie einmalig erwähnt, er es aber verpasst, die Bezüge zum Pragmatismus herzustellen. Während William James als Pragmatist angesehen wird, gehört Dewey dem Funktionalismus an.8 Hinzu kommt, dass Charles S. Peirce in keinem Text von Simondon erwähnt wird. Was aber kritisiert Simondon nun genau am Pragmatismus?

Insbesondere in Bezug auf die Technik wirft Simondon dem Pragmatismus vor, die Auseinandersetzung von Individuen mit technischen Objekten auf den reinen Nutzen, den simplen Gebrauch zu reduzieren.9 Jedes technische Objekt muss aber auch in seiner Funktionsweise beschrieben und verstanden werden. Indem Bergson, stellvertretend für die pragmatistische Haltung, die technische Handlung mit der des Homo Faber gleichsetzt, versäumt er es, Technik auch in ihrer theoretischen Funktionsweise zu beschreiben.

Nach seiner eigenen Aussage will Simondon eher einen operativen Zugang zu den technischen Objekten herstellen, der eben gerade nicht auf reine Praxis oder reine Theorie reduzierbar ist, sondern zwischen Denken und Handeln angesiedelt werden kann. Bei Simondon soll das technische Objekt folglich sowohl genutzt als auch in seiner technischen Funktionsweise wahrgenommen und geschätzt werden, um technischen Objekten daraufhin einen normativ richtigen Platz in der menschlichen Kultur zu verschaffen.

Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Pragmatismus hätte Simondon aber gezeigt, dass er sich mit einem solchen Vorhaben näher am Pragmatismus befindet, als er es selbst gesehen hat. Denn Simondons eigener Vorwurf an Bergson wird im Grunde von einem pragmatistischen Standpunkt aus entwickelt. Die falschen Schemata oder Paradigmen, wie das Bild des Homo Faber, führen zu einem falschen Umgang mit technischen Objekten, der in diesem Fall rein nutzenorientiert bleibt. Philosophische Theorien, Argumente, Schemata und Paradigmen werden also bei Simondon aufgrund ihres Einflusses auf die Handlung und die Handhabung normativ bewertet.

Solch eine kritische Haltung aber ist pragmatistisch. Denn der Pragmatismus ist keineswegs eine rein nutzenorientierte, auf praktischen Utilitarismus und theoretischen Instrumentalismus reduzierbare Philosophie. Vielmehr spielt hier die komplementäre Verbindung von Theorie und Praxis und der reziproke Einfluss, den beide aufeinander haben, eine wichtige Rolle.10 Damit einher geht eine Kritik an jeglichen Dualismen, die diese Wechselwirkung ignorieren. Nach der pragmatistischen Bestimmung ist Philosophie nicht rein deskriptiv, sondern auch normativ, woraus sich eine Bewertung von Theorien aufgrund ihrer Konsequenzen für die Praxis ergibt. Zudem verändern sich Theorie und Praxis ständig, sodass prozessphilosophische Ansätze berücksichtigt werden müssen und die dazugehörige Kritik an Essentialismen, die diese Veränderungen und Transformationen nicht berücksichtigen. Letztlich ergibt sich daraus ein aufklärerisches Projekt, das sich auch in einer praxisorientierten Bildung, wie bei Dewey und Whitehead, äußert. Nach dem heutigen Stand der Geschichte der Philosophie ist Simondons Interpretation des Pragmatismus damit nicht nur inadäquat, sondern seine eigene Philosophie hat selbst eine pragmatistische Ausrichtung.

Hier gilt es hervorzuheben, dass es in dieser Arbeit nicht darum gehen soll, das Werk Simondons philosophiehistorisch mit dem von Pragmatisten wie Peirce, James oder Dewey zu vergleichen. Vielmehr soll gezeigt werden, dass Simondon zwar ausgehend von der sogenannten historischen Epistemologie, das heißt der französischen Wissenschaftsphilosophie und -geschichte, philosophiert, diese jedoch durch eine pragmatistische Herangehensweise ergänzt. Simondon schafft sozusagen seinen eigenen Pragmatismus und von daher gilt es in dieser Arbeit, die soeben erwähnten Konzepte und Denkschemata des Pragmatismus hervorzuheben, nicht die dahinterstehenden Denker. Wie aber sieht Simondons Philosophie nun konkret aus?

2.Eine pluralistische Individuationsontologie

Auch wenn Simondons Kritik an Bergson von einem technikphilosophischen Standpunkt aus argumentiert, ist seine Philosophie keineswegs rein auf das Thema ›Technik‹ reduzierbar.11 Ganz im Gegenteil hat er in ILFI versucht, eine Art Naturphilosophie zu entwickeln, die die unterschiedlichsten Individuationsformen und -prozesse beschreibt.

Simondon vertritt bei dieser Individuationsmetaphysik eine pluralistische Haltung. Das heißt, einerseits gibt es ein allgemeines Begriffsinventar, das auf alle Individuationen aus diversen ontologischen Bereichen des Physikalischen, Lebendigen, Psychischen, Technischen und Sozialen angewandt wird, andererseits aber werden die abstrakten Begriffe in den konkreten und einzelnen Individuationen semantisch anders gedeutet. Dass es dabei zu keinen Essentialisierungen kommen darf, ist eine der Grundvoraussetzungen von Simondons Denken. Das heißt, auch wenn es unterschiedliche ontologische Bereiche gibt, so sind die Grenzen zwischen diesen Bereichen erstens fließend und zweitens übertretbar, sodass sich die Individuation ständig wandelt. In dieser Hinsicht kann Simondon als Prozessphilosoph gelten. Dass Simondon sich dabei stärker für den Prozess der Individuation und nicht so sehr für das Individuum interessiert, belegt dies umso mehr. Folglich geht es ihm nicht darum, das Individuum in seiner Essenz, seinem Wesen zu beschreiben, sondern in der Geschichte seiner Individuation, will heißen, wie es entstanden ist und wie es sich fortan weiterentwickelt und verändert.

So werden technische Objekte, wie etwa Ziegelsteine, in ihrer Entstehung beschrieben, genauso wie Turbinen oder Elektronenröhren und deren Verhalten in Relation zu anderen Maschinen. Das gleiche gilt für Elektronen, Kristalle, Kolonien von Hohltieren, Augentierchen, Krabben und Flechten ebenso wie für den Menschen und sein soziales Umfeld. Doch immer gilt, dass nicht alle Individuationsformen identisch sind, sondern sich differenzierend in ihren jeweiligen Prozessen entfalten.

Simondons Philosophie lebt also auch von ihren Beispielen. Diese in dieser Arbeit wiederzugeben ist nicht nur aus illustrativen Gründen wichtig. Denn sich konkreten Objekten zuzuwenden ist ein wesentlicher Zug in Simondons Methode und Epistemologie, die sich aus seiner Prozessontologie ergibt. Da sich alles ständig wandelt, weiterentwickelt und es somit keinen Fixpunkt, keine Essenz gibt, auf die alles Werden reduziert werden könnte, kann das Denken lediglich den Prozessen folgen, wenn es etwas verstehen und sich nicht auf die Beschreibung von vermeintlich endgültigen Resultaten beschränken will. Wenn Simondon also Kristallisationen, Wimperntierchen, Elektronen und menschlichen Emotionen in ihren Handlungen und ihrer Lebenswelt folgt, dann deswegen, weil er glaubt, nur so ihrer Individuation als Prozess gerecht zu werden. Bewusst muss sich Philosophie Objekten und Phänomenen zuwenden, um diese minutiös in ihrer Entwicklung zu erfassen, denn sie sind nichts anderes, ihre Wirklichkeit besteht in dieser Entwicklung.

Doch hier zeigt sich bereits eine erste begriffliche Problemstellung: Wenn Simondon eine Art Naturphilosophie formuliert, wie kann es dann sein, dass er auch die Individuation von technischen Objekten beschreibt? Technische Objekte sind doch gerade nicht natürlich, sondern artifiziell? Es ist verfehlt, bei Simondon von einer Naturphilosophie zu sprechen, die einen kategorischen Unterschied zwischen Natur und Technik macht. Simondons sogenannter Begriffsmonismus wird auf ontologischer Ebene pluralistisch ausgedehnt, sodass alle möglichen Individuationsarten sich differenzierend voneinander unterscheiden lassen, auch die Technik und das Soziale. Für Simondon ist Natur folglich nicht mehr mit einem Ganzen als Kosmos oder Universum gleichzusetzen und der Kultur und Technik gegenüberzustellen. Vielmehr ist Natur von der etymologischen Bedeutung her zu verstehen, dem lateinischen nasci, das heißt, dem Geboren-Werden. Wenn es also so etwas wie eine Natur geben würde, dann wäre sie dort anzusiedeln, wo Individuationen entstehen. Weil Technik sich aber auch individuiert, wäre sie zugleich Teil des Natürlichen. Da solche Argumentationen eher verwirrend sind und Simondon sich weigert, essentialistische Grenzen zwischen Natur, Technik und Kultur zu ziehen, verzichtet er weitgehend auf die Verwendung des Naturbegriffs. Auch wenn also klassische Bereiche einer Naturphilosophie thematisiert werden, wie die Physik, die Chemie und die Biologie, so ist es dennoch plausibler, von einer pluralistischen Individuationsontologie in Simondons Philosophie zu sprechen.

Wie aber studiert man nun all diese unterschiedlichen Individuationen? Die für Simondon plausibelste Antwort liegt bei den modernen Einzelwissenschaften, die sich intensiv mit allen möglichen Phänomenen und Objekten auseinandersetzen. Von diesem riesigen, historisch gewachsenen Archiv macht Simondon Gebrauch, wenn er den einzelnen Individuationen folgt. Die Resultate der Wissenschaft werden also in einem ersten Schritt nicht prinzipiell hinterfragt, sondern begrüßt und bejahend aufgenommen. Simondons pluralistische Individuationsontologie basiert auf einer Rezeption wissenschaftlicher Texte der Biologen und Zoologen Adriaan Kortlandt, Adolf Portmann, Herbert Spencer Jennings, Gaston Viaud und Étienne Rabaud, des Mediziners Kurt Goldstein, des Physikers Louis de Broglie, des Psychoanalytikers Lawrence Kubie, des Sozialpsychologen Kurt Lewin, der Kybernetiker Norbert Wiener, W. Ross Ashby, Louis Couffignal, Albert Ducrocq und vielen anderen mehr.

Da sich all diese Theorien aber nicht primär mit dem Begriff der Individuation auseinandersetzen, geht es Simondon zunächst darum, die nötigen Informationen zu destillieren, um Individuationen in allen Bereichen beschreiben zu können. Simondon wird also versuchen, einen Begriff aus der Philosophie, die Individuation, mittels wissenschaftlicher Theorien zu bestimmen. Methodisch steht Simondon damit in der Tradition der französischen Wissenschaftsphilosophie und -geschichte, die von Gaston Bachelard, Georges Canguilhem und Jean Cavaillès über Henri Poincaré und Léon Brunschvicg zurückreicht bis zum Positivismus von Auguste Comte.12

Zunächst aber zum Begriff der Individuation und dem des Individuums. Als Begriff hat das Individuum in Aufklärungsbewegungen immer eine wichtige Rolle gespielt. Egal, wie viele Aufklärungen man nun in der Menschheitsgeschichte benennen will, immer ging es auch darum, das Individuum oder das neuzeitliche Subjekt überhaupt erstmal als Wirklichkeit zu etablieren, dann zu stärken und später zu retten. Simondons Projekt ist solchen Aufklärungsbewegungen nicht fern. Auch er versucht, ein verantwortungsbewusstes und autonomes, sich selbst Normen setzendes Individuum stark zu machen. Jedoch passiert dies nicht mehr mit einem isolierten Blick auf das menschliche Individuum.

Wie bereits erwähnt, projiziert Simondon den Begriff der Individuation keineswegs in anthropozentrischer Manier lediglich auf den Menschen. Umso wichtiger ist dies, da Elektronen, Krabben, Kristalle, Ziegelsteine und Turbinen nicht für sich selbst sprechen können. In diesem Sinne ist Simondon ein Vorläufer von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, wenn auch dieser Repräsentanten vorschlägt, die für eine Diversität an Akteuren sprechen sollen, wobei zugleich die essentialistischen Grenzziehungen zwischen Technik, Gesellschaft und Natur aufgehoben werden sollen.13

Herausstechend ist, dass Simondon sich aber nicht nur für klassische Naturbereiche interessiert, wie das Physikalische, Chemische oder Biologische, sondern auch für das Psychische, das Soziale und insbesondere das Technische. Doch auch hier macht das Zurückgreifen auf den Individuationsbegriff keinen Halt. Technische Objekte individuieren sich ebenso wie biologische Lebewesen, nur nicht auf dieselbe Weise wie diese. Mit anderen Worten: Maschinen und Kristalle leben nicht. Von daher gehört Simondon zu den Anhängern einer Lebensphilosophie oder eines Vitalismus, wie sie auch von Georges Canguilhem und Henri Bergson und im Gegensatz zur Akteur-Netzwerk-Theorie vertreten werden. In Simondons Philosophie verschwindet der Mensch also nicht, er wird nur in einen größeren Kontext pluralistischer Individuationen eingebunden.

Hier positioniert sich Simondon zudem historisch. Aufklärungen, wie die Renaissance oder die Lumières, hatten ihre jeweiligen Gründe und auch ihre jeweiligen Gegner, um überhaupt erst aufklärerische Projekte zu initiieren. Diese Gründe haben sich mit der Zeit aber jeweils verändert. Heute spielt nicht mehr die Hervorhebung humanistischer Ideale, eines rationalen Subjekts, die politische Gewaltenteilung oder die Kritik an den Dogmen der Kirche eine zentrale Rolle, sondern die Technisierung der menschlichen Gesellschaft und das technisierte Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt, egal ob diese natürlich oder sozial ist.

In diesem Kontext gibt es für Simondon aus historischer Perspektive eine neue Wissenschaft und Technologie, die mittels neuer Methoden und Begriffe diese Technisierung einerseits antizipiert und andererseits zugleich vorantreibt: die Kybernetik. Das Neuartige der Kybernetik besteht für Simondon darin, dass sie alle möglichen Phänomene und Objekte, von Atomen über das Gehirn oder die Physiologie von Lebewesen bis hin zu Maschinen und zur Gesellschaft, als informationsverarbeitende Systeme betrachtet. Dieser Universalismus ist für Simondon derart einschneidend für den bisherigen Stand der Wissenschaft und die damit einhergehende Beschreibung der Natur und der Technik, dass die Philosophie sich damit auseinandersetzen muss. Historisch betrachtet ist die Kybernetik dabei keineswegs ein einmaliges Ereignis. In der Geschichte hebt Simondon weitere sogenannte Enzyklopädismen hervor, die ein solches Umdenken provoziert haben. So hat die Renaissance durch den Buchdruck einen Umschwung erhalten, genauso wie das 17. Jahrhundert durch die von d’Alembert und Diderot herausgegebene Enzyklopädie. Auch hier mussten Philosophen (d’Alembert und Diderot waren freilich selbst philosophisch aktiv) die neuen technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften reflexiv verarbeiten.14

Doch Simondons eigene Individuationsphilosophie darf nicht als Versuch gedeutet werden, eine eigene Enzyklopädie zu verfassen. Vielmehr ist die Kybernetik selbst eine enzyklopädische Bewegung, die es philosophisch zu verarbeiten gilt. Simondon sieht sich also als Teilnehmer an einem bereits bestehenden Enzyklopädismus, wozu er einen Beitrag leisten will, indem kybernetische Begriffe genutzt werden, um philosophische Begriffe, wie die Individuation, neu auszulegen.15 Epistemologisch wird Simondon also die weiter oben erwähnten Theorien verschiedenster Wissenschaftler kybernetisch deuten, um zugleich eine Individuationsontologie zu formulieren.

Auf begrifflicher und konzeptueller Ebene ist die Kybernetik bekannt dafür, Rückkopplungsprozesse in ihre Beschreibung von Systemen eingeführt zu haben. Das bekannteste Beispiel ist ein Thermostat, der beispielsweise einen Heizkörper regulieren kann. Hierfür besitzt der Thermostat einen Ist- und einen Soll-Wert. Ist der Ist-Wert der Raumtemperatur unter oder über dem vorprogrammierten Soll-Wert, so reguliert der Thermostat die Aktivität des Heizkörpers so lange, bis die gewünschte Zimmertemperatur erreicht ist. Die Regulierung ist also geprägt durch einen ständig zirkulierenden Informationsaustausch zwischen dem Thermostat und dem Raum, in dem er sich befindet.

Für Simondon zwingt das Konzept der Rückkopplung nun die Philosophie, zwei zentrale Begriffe neu auszulegen: die Kausalität und das Individuum. Das heißt, erstens sind kausale Zusammenhänge zirkulär und nicht mehr aufeinanderfolgend. Und zweitens führt eine zirkuläre Kausalität dazu, dass Systeme eine gewisse Autonomie und Geschlossenheit aufzeigen, sodass der Begriff des Individuums, aufgrund der universalistischen Haltung der Kybernetik, nicht mehr nur auf den Menschen, sondern auf alle möglichen Phänomene und Objekte ausgedehnt werden kann, auch technische Objekte. Von daher wird Simondon die einzelnen Individuationen nicht irgendwie beschreiben, sondern er wird auf kybernetische Begriffe zurückgreifen, wie System, Information, Struktur, Operation, Metastabilität, Transduktion und so weiter. In einem ersten Schritt bemächtigt sich Simondon also wissenschaftlicher und technologischer Begriffe, um sich mit einem philosophischen Begriff, wie dem der Individuation, neu auseinandersetzen zu können.

Da die Individuation und das Individuum wiederum Begriffe sind, die eine rege Diskussion in der Geschichte der Philosophie ausgelöst und einen Bedeutungswandel durchlaufen haben, sieht sich Simondon auch gezwungen, philosophiehistorisch zu arbeiten. In diesem Zusammenhang lässt sich Simondons ausgedehnte Kritik am aristotelischen Hylemorphismus erläutern. Denn vor dem Hintergrund kybernetischer Systeme kann eine hylemorphe Beschreibung von Individuationen nur scheitern. Individuationen entstehen also nicht, weil eine aktive Form auf eine passive Materie trifft und diese aktualisiert, sondern weil es Systeme gibt, die eine gewisse Struktur haben und ein bestimmtes operatives Verhalten, die dann wiederum Informationen aussenden, aufnehmen, verarbeiten und sich dadurch ständig wandeln. Kurzum: Ein Individuum besteht nicht nur aus Form und Materie, sondern ist ein informationsverarbeitendes System. Dies zeigt zugleich, wie wichtig es für Simondon ist, dass die Philosophie ein Projekt ist, das sich parallel zu den Wissenschaften und den Technologien seiner Zeit bewegt. Es geht darum, die eigenen Begriffe, wie Individuation und Kausalität, dem wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt anzupassen.

Gleichzeitig ist es wichtig, Simondons Kritik am Hylemorphismus nicht als eine Destruktion im Sinne Heideggers anzusehen, durch die die abendländische Metaphysik verabschiedet werden soll. Ganz im Gegenteil geht es Simondon eher darum, den aristotelischen Hylemorphismus kybernetisch zu ergänzen. Simondon betreibt in seinen eigenen Augen von daher genauso Metaphysik, wie es Aristoteles oder Descartes mit dem Hylemorphismus oder dem Substanzen-Dualismus getan haben. Nur betreibt er Metaphysik für seine eigene Zeit. Für Simondon schafft Metaphysik also keine unsterblichen Wahrheiten und Prinzipien, sondern ist der Versuch, die eigene Zeit aus einem distanzierten Blickwinkel mittels abstrakter Begriffe zu erfassen, um sich zugleich in der eigenen Aktualität positionieren zu können.

Doch nur weil Philosophie ausgehend von wissenschaftlichen und technologischen Begriffen arbeitet, heißt das nicht, dass Philosophie fortan auf Wissenschaft und Technik reduziert werden soll. In ihrer epistemologischen Verarbeitung technisch-wissenschaftlicher Begriffe muss die Philosophie auch immer eine kritische Haltung einnehmen.

3.Individuationspluralismus und Technikphilosophie

Auf einer epistemologischen Ebene kritisch zu sein heißt bei Simondon, grundsätzlich Epistemologie und Ontologie mit einer normativ akzeptablen Axiologie, also einer Wertetheorie, zu verbinden. Das heißt, dass die von der Kybernetik neu entwickelten Begriffe und Konzepte von der Philosophie epistemologisch so präpariert werden müssen, dass sich daraus eine Individuationsontologie ergibt, die selbst wiederum eine Axiologie hervorbringt, die normativ akzeptable Handlungen nach sich zieht.

Zwei Begriffe, die für Simondon eine solch normative Akzeptanz erlauben, sind Differenzierung und Integration. Das bedeutet, dass es einerseits zwischen den einzelnen Individuationen zu differenzieren gilt, sodass kein Reduktionismus möglich ist. Andererseits müssen diese Differenzierungen so zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, dass ein kommunikativer Austausch möglich wird, der jegliche Isolierung vermeidet. Für die Individuationsontologie heißt das zunächst, dass auch wenn Individuationen auf unterschiedlichsten Größenordnungen beschrieben werden und zum Teil ausgehend voneinander entstehen, wie das Psychische aus dem Lebendigen und das Kollektiv wiederum aus dem Psychisch-Somatischen, so werden diese Größenordnungen dennoch nicht hierarchisch bewertet. Das Kollektiv ist normativ nicht wichtiger als das einzelne Individuum, der Mensch nimmt keine zentralere Position ein als andere lebendige Individuationen. Doch während das Differenzieren von Individuationen noch überwiegend theoretischen Charakter hat, sich also auf der epistemologischen und ontologischen Ebene abspielt, ist die Integration von Individuationen praxisorientiert. Dass sich der anti-essentialistische Pluralismus an Individuationen schließlich als Differenzierung äußert, scheint durch das bisher Gesagte deutlich zu sein. Wie aber sollen diese Differenzierungen nun praktisch integriert werden? Und vor allem: In was sollen sie integriert werden?

Hierzu ist es wichtig zu verstehen, wie Simondon normativ argumentiert. Während er auf deskriptiver Ebene dem Menschen keine wichtige und zentrale Rolle im Reich der unterschiedlichen Individuationen zuspricht, ist die ethische und moralische Verantwortung des Menschen gegenüber den anderen Individuationen umso zentraler. Der Grund hierfür liegt in der technischen Individuation beziehungsweise der technischen Haltung des Menschen zu seiner Umwelt. Auch wenn Simondon Tieren zugesteht, dass sie sich technisch zur Welt verhalten und sogar Objekte technisch nutzen, so gibt es dennoch kein anderes Lebewesen, das sich technischer verhält und eine solch enorme Vielfalt an technischen Objekten erzeugt und nutzt wie der Mensch. Kurzum: Das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt ist durch und durch technisch vermittelt. Weil nun eine Rückbesinnung auf ein vortechnisches oder vortechnologisches Zeitalter absurd ist und eine Flucht von der Gegenwart darstellt, muss der Mensch sich mit der modernen Technologie und auch der Wissenschaft auseinandersetzen, die direkt an den technologischen Fortschritt gebunden ist. Der Mensch muss sozusagen seine eigene technische Vermittlung zur Umwelt nicht nur verstehen, sondern auch akzeptieren, wenn er integrierend handeln soll.

Das bedeutet: Bevor die Integration von nicht-menschlichen Individuationen ermöglicht werden soll, muss der Mensch zunächst sein eigenes Verhältnis zur Technik und Technologie aufklären, die ja gerade seine eigene Individuation zu anderen Individuationen vermittelt. Damit eine solche Aufklärung möglich wird, hat Simondon, ähnlich wie auch schon der Pragmatist John Dewey, eine praxisorientierte, technische Bildung konzipiert, die er auch selbst als Lehrer am Gymnasium umgesetzt hat.16 Technische Bildung heißt aber nicht nur, das Wissen zu vermitteln, wie Maschinen und Werkzeuge funktionieren. Vielmehr soll den Schülern zugleich beigebracht werden, wie technische Objekte konstruiert, gewartet und repariert werden können. Wird eine solche technische Bildung, neben klassischen Fächern wie Physik, Mathematik, deutsche und englische Grammatik und Literatur und so weiter, in allen möglichen Schultypen eingeführt, so kann auch eine ganze Gesellschaft einen neuen theoretischen sowie praktischen Blick auf die Technik erhalten.

Was in Simondons Augen hier entstehen soll, sind keine Technokraten, die lediglich nach dem ökonomischen Mehrwert und der Produktionsleistung technischer Objekte schauen, sondern Bastler, Hacker oder sogenannte Erfinder, die der Technik eine eigene Existenzweise zusprechen und versuchen, technische Objekte nachhaltig in eine Kultur verschiedenster Individuationen zu integrieren. Das, wohinein integriert werden muss, ist also eine Kultur, die ausgehend von einer anti-anthropozentrisch geprägten Individuationsontologie, den Pluralismus an Individuationen symbolisch anerkennt. Hier zeigt sich, dass die Beschreibung pluralistischer Individuationen nicht einfach eine blinde Übernahme des universalen Wissenschaftsanspruchs der Kybernetik ist, sondern dass das Verweisen auf unterschiedliche Individuationen vor allem normativ motiviert ist: Wer vergisst, eine Individuation deskriptiv auszudifferenzieren, vergisst unter Umständen auch, sie zu integrieren. Die praxisorientierte Integration wiederum soll durch eine anthropozentrische Ethik vollzogen werden, die den Menschen zwingt, sich mit seinen technischen Konstruktionen auseinanderzusetzen. Damit zeigt sich, inwiefern in Simondons Werk epistemologische, ontologische und normative Fragestellungen untrennbar ineinander verwoben sind.

Eine solche Haltung und solche Handlungen gegenüber technischen Objekten nennt Simondon technische Aktivität. Nachhaltig ist die technische Aktivität aus einer axiologischen Perspektive, weil ein fruchtbarer Boden für die Prozessualität von Individuationen geschaffen werden soll, der eine Entfaltung und damit Bewahrung der Individuationen ermöglicht. Wer folglich Technik nutzt, um natürliche Ressourcen auszubeuten, die dem Ökosystem schaden, ist in Simondons Augen entfremdet. Entfremdung entsteht also dort, wo Isolationen von Individuationen entstehen, prozessuale Relationen gekappt oder bewusst asymmetrische Verhältnisse installiert werden. Damit appelliert Simondon unmittelbar an die Verantwortung eines jeden Einzelnen. Das bedeutet aber zugleich, dass auch jedem menschlichen Individuum die Möglichkeit zugesprochen wird, verantwortungsbewusst, das heißt geistig differenzierend und integrativ handeln zu können. Aus ontologischer Perspektive geht der Mensch folglich in einer Vielfalt von möglichen Individuationen unter, aus einer normativen Perspektive hingegen sticht der Mensch durch die Möglichkeit zu erfinden und zu konstruieren besonders heraus.

Spätestens hier wird klar, dass Simondon ein zutiefst aufklärerisches Projekt verfolgt. Das heißt: Wer die Realität der Individuationen anders sieht, kann sich auch normativ anders zu ihr verhalten. Bewusstwerdung soll also unmittelbar in eine andere Praxis umschlagen. Wie bei Horkheimer und Adorno entsteht Entfremdung also dann, wenn sich eine zu große Distanz zum Objekt in reinen Nutzenverhältnissen einstellt.17 Doch ist Simondons Entfremdungsbegriff gerade nicht durch die instrumentelle Vernunft getrieben, die eine Herrschaft über die Natur und den Menschen ausüben will. Entfremdung findet für Simondon dort statt, wo, kartesisch gesprochen, der Geist über das gesicherte Wissen hinausragt, weil er dem in ihm waltenden unendlich starken Willen blind folgt. Mangel an Zweifel sowie schierer Eroberungswille führen zu Entfremdungen. Um der Entfremdung folglich zu entgehen, muss differenziert werden, wobei die Fähigkeit zu differenzieren selbst rationalistisch ist. Wer also bei Simondon rationalisiert, der reflektiert, und wer reflektiert, der differenziert. Entfremdete Menschen unterscheiden nicht, sondern scheren alles über einen Kamm. Wenn Simondon also sogenannte differenzierende Analogien von Individuationen entwickelt, dann glaubt er selbst rationalistisch aktiv zu sein. Dementsprechend ist Simondons Aufklärung auch nicht, wie bei Michel Foucault, an die Definition einer Moderne gebunden, um die genealogische Geschichtlichkeit des Subjekts innerhalb von sozialen und politischen Machtverhältnissen kritisch zu rekonstruieren.18 Simondon geht es also weder um eine Dekonstruktion noch um die Eliminierung des Subjekts, sondern um dessen Konstruktion und Stärkung als einer technischen Lebensform.

Doch während frühere Aufklärungsbewegungen überwiegend mit der Vermeidung von Grausamkeiten und Leiden verbunden waren, ist Entfremdung bei Simondon, aufgrund seiner anti-anthropozentrischen Ontologie, nicht notwendigerweise an politische oder religiöse Unterdrückung, Krieg und Verfolgung gebunden.19 Sicherlich kritisiert Simondon jegliche physisch gewalttätige Handlung gegenüber allen möglichen Individuationen, sodass er als Pazifist gelten kann, jedoch ist das Leitmotiv einer Axiologie der Integration und Differenzierung eher eine prozessuale Kommunikation.

Die technische Erfindung spielt dabei eine zentrale Rolle, da sie den technischen Objekten nicht äußerlich ist, sondern sich in jeder Maschine und in jedem Werkzeug in Form von Funktionsweisen materialisiert. In der Maschine, so Simondon, kristallisiert sich menschlicher Erfindungsgeist. Wenn folglich bei einem Mensch-Maschine-Verhältnis oder einer Maschine-Maschine-Relation die Rede von Entfremdung ist, dann sind nicht die Objekte an sich entfremdet, sondern der ihnen innewohnende Erfindungsgeist. Das gilt auch für Technik-Natur-Verhältnisse, wenn beispielsweise Atomkraftwerke, Gezeitenkraftwerke oder die Industrie ökologische Zerstörungen mit sich bringen. Damit ist es für Simondon unmöglich, dass technische Objekte eine Eigenverantwortung besitzen. Stets ist der Mensch ein Übersetzer technischer Funktionsweisen und nie kann die Maschine sich selbst erfinden. Hier wird die ontologische Differenzierung zwischen Lebendigem und Technischem auf normativer Ebene besonders wichtig. Auch wenn Maschinen eine gewisse Autonomie zeigen, benötigen sie dennoch Menschen, die sie in ihrer technischen Aktivität entwickeln, programmieren, führen, lenken, reparieren, warten und so weiter. Auch wenn Simondon die traditionelle Relation von Subjekt und Objekt infrage stellt, indem er den Objekten keine reine Passivität zuspricht, ist, in Bezug auf die Entfremdungsgefahr der Technik, dennoch irgendeine Form von Subjekt vonnöten, da es immer einen geben muss, der erfindet, programmiert und konstruiert und zugleich die Verantwortung für das von ihm Geschaffene übernimmt. Simondons Konzeption von Subjektivität soll Handlungsspielräume erkennen und praktisch antizipieren können.

Mit der Hervorhebung der technischen Aktivität als normativer Richtlinie für ein ethisch und moralisch richtiges Handeln zeigt sich zugleich, dass Simondon in der Verarbeitung kybernetischer Begriffe kein Positivist ist. Auch wenn Simondon die Resultate und Fakten der Wissenschaft ernst nimmt und Auguste Comtes Definition von Wissenschaft als Hypothese-Experiment-Theorie-Modell übernimmt, ist es wichtig hervorzuheben, dass er über Fakten und Tatsachen hinausgeht. Demnach sollen technische Objekte nicht auf einen rein quantifizierbaren Wert reduziert werden, wie es beispielsweise bei der Berechnung des Wirkungsgrades einer Maschine der Fall ist. Vielmehr soll, ausgehend vom Wirkungsgrad, der die basale Funktionsweise und Existenzfähigkeit der Maschine garantiert, mit der Figur des Bastlers und des Hackers ein Mensch-Maschine-Verhältnis stark gemacht werden, das für jede und jeden erreichbar ist. Was in der rein wissenschaftlichen Herangehensweise fehlt, ist der leidenschaftliche Aspekt, der die Maschine nicht als ein reines Utensil betrachtet. Simondons Erfinder repräsentiert also einen Mittelweg zwischen einem wissenschaftlich ausgebildeten Individuum und einem Alltagsbastler, der auch ohne Theorien konkrete technische Probleme angehen kann. Auch ergibt sich eine Parallele zu Deweys Pragmatismus, der davon ausgeht, dass eine Sprache beziehungsweise Bilder und Figuren stark gemacht werden sollen, die zwischen Alltag und Wissenschaft vermitteln.20 Auch Affekte und Emotionen spielen also eine wichtige Rolle, nicht zuletzt, weil der Mensch als psychosomatisches Lebewesen in die Individuationen des Lebendigen eingebunden ist.

An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass Simondon noch in einem weiteren Aspekt pragmatistisch geprägt ist. Denn nicht nur werden philosophische Schemata und Paradigmen aufgrund ihrer Konsequenzen für das direkte Handeln bewertet, philosophische Schemata und Paradigmen entstehen selbst aus technischer Praxis. Wenn beispielsweise im aristotelischen Hylemorphismus eine Individuation so beschrieben wird, dass eine aktive Form auf eine passive Materie trifft, spiegelt dieses Verhältnis von Form und Materie die in der Antike vorhandene soziale Arbeitsteilung zwischen dem Sklaven als Handwerker und dem Freien als Besitzer des Sklaven wider. Der das Paradigma formulierende Philosoph beobachtet, wie ein Handwerker, auf Anweisung des befehlenden Besitzers, einer Materie eine Form gibt. Da diese Beobachtung aber von außen stattfindet, kann der Hylemorphismus nicht beschreiben, wie der technische Prozess der Formgebung wirklich vor sich geht. Folglich ist der Hylemorphismus ein Paradigma, das in einer Kultur entstanden ist, in welcher Philosophen selbst nicht technisch aktiv sein mussten, sondern lediglich Sklaven bei der Arbeit zugeschaut haben. Nur wenn Philosophen selbst technisch aktiv werden, können sie sich auch integrativ mit Technik beschäftigen.21

Doch in einer Sklavenhaltergesellschaft sind für Simondon nicht nur der Versklavte und der Sklavenhalter entfremdet, sondern eine Versklavung von Handwerkern oder bestimmten Berufsklassen führt auch automatisch zu einer Versklavung technischer Objekte, die an diese Berufe gebunden sind. Dies zeigt den weitreichenden Charakter von Simondons Individuationsontologie, die auch als eine Relationsontologie gelten kann. Individuationen differenzieren sich nicht isoliert voneinander, sondern bleiben aneinander gebunden. Tiefergreifend noch: Einzeln betrachtet stellen Individuationen selbst einen Knotenpunkt an Relationen dar, will heißen, es sind Systeme, in denen Strukturen und Operationen am Werk sind. Auch hier lässt sich wiederum Simondons Kritik an Essentialismen erwähnen. Während Simondon die Relation selbst hervorheben will, versucht ein metaphysischer Essentialismus einem bestimmten Begriff, wie dem der Form im Hylemorphismus, eine Vorrangstellung zu geben.

Diese Relationen müssen in einer Kultur gepflegt werden. In Simondons Kultur darf es daher kein Machtzentrum irgendeiner Art als Überbau geben, das die Entfaltung von Individuationen durch eine von oben aufgezwungene Integration behindert. Das bedeutet, dass sich die integrierende Kommunikation zwischen den unterschiedlichsten Individuationen befinden muss, aber niemals übergeordnet alle Individuationen sammeln und vereinheitlichen darf. Stets geht es bei Simondon darum, den Spagat zwischen sich ausdifferenzierenden Prozessen und einer diese Differenzen zusammenbringenden Kommunikation zu machen. Wenn Simondon also so etwas wie eine politische Theorie haben sollte, dann muss sie als radikale Mikropolitik betrachtet werden. Jeder Staat, jede Politik muss die Vernetzung seiner Individuationen zulassen.22

Wenn Paradigmen und Schemata also überhaupt erst ausgehend von der Praxis entstehen und anschließend bewertet werden, dann bedeutet das nicht, dass ein reiner Determinismus der Praxis vorliegt. Zwischen der ersten Ausgangspraxis und der zweiten sich vollziehenden Praxis liegt bei Simondon die philosophische Reflexion als kritisches Werkzeug, das die Schemata und Paradigmen hinterfragen kann. Zwischen Ontologie und Axiologie liegt eine epistemologische Dimension, die kritisch hinterfragen muss, ob und wie sie Individuationen in der Kultur gerecht wird.

4.Methode und Gliederung

Simondon hat nur zwei Monografien verfasst: L’individuation à la lumière des notions de forme et d’information und Du mode d’existence des objets techniques. Hinzu kommt, dass beide Bücher parallel geschrieben wurden. Jeder Simondon-Exeget ist also früher oder später mit der Frage konfrontiert, wie die beiden Werke ILFI und MEOT zusammenhängen. Diese Frage ist umso schwieriger zu beantworten, als Simondon selbst keine Antworten bereitgestellt hat. So sagt Simondon 1968 in einem Filminterview auf genau diese Frage des Ingenieurs Jean Le Moyne, dass die Beschäftigung mit dem Thema der Individuation einerseits und technischen Objekten andererseits ein universitärer Zufall gewesen sei.23 Auch wir können uns der Frage, wie MEOT und ILFI zusammenhängen, nicht entziehen.

Da seit Simondons Tod nach und nach immer mehr Aufsätze, Artikel, Notizen, Seminare und Vorlesungen aus dem Nachlass publiziert worden sind, die entweder gleichzeitig zu ILFI und MEOT oder kurz danach verfasst wurden, werden wir versuchen, ILFI und auch MEOT vom Nachlass aus zu verstehen. Es wird sich zeigen, dass Simondon hier nützliche Informationen für den Leser festgehalten hat, die beispielsweise beschreiben, was für Simondon Philosophie ist und wie diese sich in Bezug zur Technik und Wissenschaft verhalten soll, wieso die Kybernetik eine derart wichtige Rolle für ihn spielt und wie die Geschichte der Philosophie samt der Ideengeschichte von Simondon gelesen und verstanden wird. Wir werden also weder mit dem Begriff der Individuation noch mit dem des technischen Objekts beginnen, sondern mit einer Meta-Reflexion zu den Fragen, was Philosophie, Wissenschaft und Technik sind und wie diese zusammenhängen.

Dabei gilt es zu zeigen, dass er sowohl methodisch als auch inhaltlich stark an die Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie seiner Lehrer und Mentoren, Gaston Bachelard und Georges Canguilhem, anknüpft.

Im ersten Teil dieser Arbeit gilt es von daher zu zeigen, dass Simondon und Canguilhem die gleiche Definition von Philosophie und Wissenschaft haben. Während Philosophie als Reflexion kein spezifisches Objekt zum Gegenstand hat, definiert sich eine Wissenschaft gerade dadurch, ein bestimmtes Objekt zu erforschen. Dieser Definition von Wissenschaft fügt Simondon noch die der Technik hinzu. Auch Technik ist immer auf ein Objekt bezogen, jedoch will Technik das Objekt nicht erforschen, sondern etwas mit diesem Objekt machen beziehungsweise es für eine Handlung nutzen. Mit der Definition von Philosophie, Wissenschaft und Technik wird im ersten Teil dieser Arbeit Simondons Heuristik dargestellt, das heißt, wie er die Analyse der Individuation überhaupt erst angehen will.

Dennoch will Simondon den Begriff der Individuation auch historisch diskutieren. Hierzu werden wir uns im zweiten Teil dieser Arbeit drei verschiedene Denker anschauen, die Simondon vornehmlich diskutiert: Anaximander (und die Vorsokratiker), Aristoteles und Descartes. Insbesondere hier wird sich herausstellen, dass verschiedenste Individuationsparadigmen immer an die jeweilige technische Praxis ihrer Zeit gebunden sind. Während Anaximander und Descartes für Simondon als Techniker gelten, weil sie sich mit den jeweiligen technischen Objekten ihrer Zeit auseinandergesetzt haben, ist Aristoteles nicht technisch aktiv gewesen. Die Trennung von aktiver Form und passiver Materie spiegelt dann die soziale Arbeitsteilung wider, in der nur Sklaven technisch aktiv waren. Während der Hylemorphismus damit essentialisiert wird, weil die Form die Entstehung des Individuums teleologisch determiniert, stellen Descartes mit der Mechanik und Anaximander mit der physis prozessuale Paradigmen auf.

Die Technologie, mit der sich Simondon nun selbst konfrontiert sieht, ist die Kybernetik. In der Auseinandersetzung mit der Kybernetik wird Simondon ein größeres Begriffsinventar vorbereiten, das es ihm erlaubt, abstrakte Begriffe metaphysisch auszuformulieren, um daraufhin eine pluralistische Individuationsontologie zu entwickeln. Begriffe, die Simondon der Kybernetik entlehnt, sind: Struktur, Operation, System, Metastabilität, Information, Transduktion. Im dritten Teil dieser Arbeit gilt es also zu zeigen, wie Simondon genau vorgeht, um sein eigenes abstraktes Paradigma der Individuation zu entwerfen.

Im vierten Teil werden wir uns anschauen, wie Simondon die einzelnen Individuationen des Physikalischen, des Lebendigen, des Technischen, des Psychischen und des Sozialen beschreibt. Wie wir bereits hervorgehoben haben, geht es hier nicht darum, die Individuationen auf eine einzige zu reduzieren. Simondon wird mithilfe differenzierender Analogie alle Individuationen miteinander vergleichen. Das Folgen der Individuationen, das heißt die Beschreibung der Beispiele, wird dabei eine wichtige Rolle einnehmen, da anhand der Beispiele konkrete Themen aus den jeweiligen Individuationen diskutiert werden: Wie ist die Relation zwischen Welle und Teilchen in der Quantenphysik zu interpretieren? Wie entsteht das Lebendige? Was ist der Unterschied zwischen dem Lebendigen, dem Physikalischen und dem Technischen? Wie ist der biologische Begriff der Anpassung in Simondons Konzeption der Individuation zu verstehen? Wie verhält sich biologische Evolution? Gibt es eine technische Evolution? Was spezifiziert die technische Individuation und wie entwickelt sich diese? Inwiefern ist die psychische Individuation an das Lebendige gebunden? Wie hängen hier Körper und Geist zusammen? Was passiert auf der Ebene des Sozialen? Ist auch das Soziale eine eigenständige Individuation?

All diese Fragen werden von Simondon nicht nur theoretisch mittels abstrakter Begriffe, sondern auch anhand konkreter Beispiele diskutiert, die er den Wissenschaften entnimmt. Die abstrakten Begriffe von Simondons Individuationsontologie finden also eine direkte Anwendung. Von daher ist es unabdingbar, Simondons Beispiele zu rekapitulieren. Zudem wird dadurch ein lebendiger Einblick in Simondons eigene Methode gewährleistet.

In einer etwas längeren Schlussfolgerung werden wir uns dann in Form eines Ausblicks anschauen, wie Simondon sich normativ vorstellt, dass eine Kultur alle Individuationen, vermittelt durch die technische, zusammenbringen kann. Hier werden dann nicht nur die unterschiedlichen Individuationen, sondern auch andere sogenannte Existenzweisen eine Rolle spielen, wie das Magische, das Religiöse, das Ökonomische und das Politische. Letztlich wird sich hier zeigen lassen, inwiefern Simondon sich mittels der technischen Aktivität und der technischen Bildung erhofft, eine nachhaltige und integrierende Kultur verantwortungsbewusster und aufgeklärter Individuen zu erreichen.

Weil unsere Schlussfolgerung sich also hauptsächlich mit dem dritten Teil von MEOT beschäftigt und auch mit Texten aus dem Nachlass, die Teile von MEOT werden sollten, glauben wir, dass ILFI Simondons deskriptive Individuationsontologie widerspiegelt und MEOT die axiologischen und normativen Konsequenzen dieser pluralistischen Individuationsontologie in einer durch die Technik geprägten Kultur.

1.Philosophie, Wissenschaft, Technik

1.1Philosophie als Reflexion

In einer Notiz aus dem Nachlass von 1955, also während des Verfassens von ILFI und zugleich als dessen mögliche Einleitung gedacht, schreibt Simondon, dass jede reflexive Haltung vermeiden muss, ihre Existenz ausgehend von einer vordeterminierten Zugehörigkeit oder einem Zweck zu definieren. Eine Philosophie, so Simondon weiter, kann nicht durch eine Denkschule qualifiziert werden: »Une philosophie qui accepterait d’être définie par un qualificatif tel que ›chrétienne‹, ›marxiste‹, ›phénoménologique‹, trouverait la négation de sa nature philosophique dans cette détermination initiale.«24 Damit bestimmt Simondon die Philosophie zunächst negativ und richtet sich gegen philosophische Strömungen, deren Entwicklungen zum Verschwinden von Philosophie als Reflexion führen. Reflexion geht verloren, da diese Strömungen einem vordefinierten Regelwerk folgen, das selbst wiederum einem bereits vordefinierten Ideal nacheifert. Jede Philosophie, die dabei krampfhaft versucht, soziale, politische, wissenschaftliche oder religiöse Ideale zu übernehmen und zu integrieren, kann in Simondons Augen nur scheitern, weil sie um jeden Preis einen zu hastigen und erfolgreichen Abschluss ihres jeweiligen Vorhabens erzwingen will. Demgegenüber ist Reflexion an sich betrachtet zunächst ohne Gegenstand und folglich frei. Philosophie als Reflexion setzt sich laut Simondon für keine größere Causa ein, sie geht behutsam und geduldig vor und kann nicht willkürlich zur Magd irgendeines Ideals ernannt werden.

Dies liegt zunächst an der Funktionsweise von Reflexion selbst und lässt sich als erstes wohl am besten mit ihrer etymologischen Bedeutung beschreiben. Reflexion als ein Prozess, der sich fortwährend auf sich selbst zurückbeugt, kann durch diese ständige Bewegung nicht annehmen, dass es einen fixen, endgültig idealisierten Gegenstand gibt. Nicht nur ist der aktuelle Fixpunkt endlich, sondern auch der Anfangspunkt kann jederzeit aufgegeben werden. In dieser Hinsicht hat die Philosophie als Reflexion keinen vordefinierten Gegenstand und kein Apriori außer der reflexiven Bewegung der ständigen Erneuerung selbst.

Außerdem bedeutet die ursprüngliche Gegenstandslosigkeit keineswegs, dass Reflexion in sich geschlossen ist und sich lediglich abstrakt auf sich selbst bezieht. Nichts liegt Simondons Vorstellung ferner. Gerade weil die Philosophie keinen ursprünglichen Gegenstand hat, kann sie jedes Objekt, jeden Bereich der erfahrbaren Welt thematisieren. Dieser Vorgang, bei dem sich die Philosophie einem Gegenstand widmet, nennt Simondon konkret: »Il convient selon nous de rechercher d’abord à quelle condition une pensée réflexive peut se considérer comme concrète: c’est qu’elle soit animée d’une force interne aussi grande que les expériences qu’elle réfléchit.«25 Sich zu konkretisieren heißt demnach für die Reflexion nicht, dass sie die Gegenstände oder die erfahrbare Welt unmittelbar aufnimmt. Vielmehr konstituiert sich Reflexion durch sogenannte Denkakte (actes de pensée), die sich selbst wiederum zum Objekt nehmen, genauso wie die einfachen Objekte der unmittelbaren Erfahrung, die sich in einem ersten Schritt in den Prozess der Reflexion einspeisen. Diese Unmittelbarkeit bedeutet, dass sich Reflexion also auch immer zu sich selbst positionieren muss, sodass sie von daher stets an eine Aktualität im Hier und Jetzt gebunden ist: »La pensée réflexive est donc une pensée qui n’est ni a priori ni a posteriori, mais a præsente; elle revient sur elle-même de manière à être à la fois antérieure et postérieure par rapport à elle-même.«26

Dennoch bedeutet die Gegenstandslosigkeit der Reflexion nicht, dass sie erst sekundär zur Erkenntnis oder sonst einer Aktivität hinzustößt. Vielmehr begleitet sie jede Form von Aktivität und befindet sich dementsprechend je nach Fortschrittsgrad in einem mehr oder weniger aktualisierten Status. Reflexion findet daher dort den nahrhaftesten Boden, wo es eine fortgeschrittene Nicht-Reflexion gibt. Reflexion ist also überall potentiell vorhanden, aber das bedeutet nicht, dass sie jederzeit vollständig ausgeschöpft ist. Für sich betrachtet ist sie damit frei von jeder Gebundenheit an ein Objekt; will sie sich aber in irgendeiner Form entfalten, muss sie sich an ein Objekt oder einen Gegenstand binden. Ist das Objekt also einmal vorhanden, so heißt das zugleich, dass die Reflexion an eine Ausgangssituation gebunden ist, von der sie folglich ihren Fortgang nimmt und auf die sie immer wieder zurückgeht. Diese Ausgangssituation bezeichnet Simondon als ein originär reflexives Feld, das der sich bewegenden Reflexion zugleich auch seine Gültigkeit gibt: »On peut définir les conditions de validité d’une réflexion par le maintien de l’intégrité de sa relation à un champ réflexif originel.«27 Hier spiegelt sich die doppelte Bewegung der Reflexion wider: Einerseits geht sie von einem originären Feld aus, andererseits geht sie in ihrer Reflexion immer wieder auf dieses Feld zurück, sodass sie ihren eigenen Werdegang und die Dynamiken des Feldes inkorporieren muss.

Aus Sicht der Reflexion als kontinuierlichem Aktualisierungsprozess kann das Objekt oder der Gegenstand immer nur als unvollständig erscheinen. Von daher unterliegt das Objekt einem pre-reflexiven und einem post-reflexivem Zustand, wobei die Übergänge der Zustände sich durch die sich stets in der Aktualität befindliche Reflexion vollziehen.28 Die Bewegung der Reflexion ist also auch hier eine doppelte: Sie hat keinen Gegenstand a priori oder a posteriori, sondern immer nur a præsente, gerade weil sie sich eben in der reflexiven, zurückbeugenden Bewegung stets neu aktualisiert. Was dieser Aktualität also schließlich zugrunde liegt, ist eine kontinuierliche Wechselwirkung zwischen Reflexion und Objekt, die Simondon, wie schon beim originären Feld, weiter mit physikalischen Begriffen beschreibt: »La continuité entre le terrain réflexif et la réflexion elle-même se marque dans un échange énergétique et non dans une permanence objective ou substantielle.«29 So wie also beispielsweise in der Dampfmaschine ständig Wärmeenergie in kinetische Energie umgewandelt wird, tauschen sich Reflexion und Objekt wechselwirkend aus. Aktualität der Reflexion heißt hier gerade nicht eine unveränderliche, zeitlich identisch gleichbleibende substantielle Permanenz herzustellen, sondern eine sich wiederholende Aktivität, die sich fortwährend neu präsentiert. Diese ständige sich neu aktualisierende Präsenz ist schließlich immer eine neue, weil Reflexion sich in ihrem Rückgang ständig neu positioniert, sodass schon alleine aus Sicht der Reflexion das originäre Feld sich niemals vollständig erschöpft. Würde man also im Prozess des Werdens der Reflexion Schnappschüsse machen, so würde sie sich stets in einem anderen Zustand befinden.

Schließlich führt diese ständige Beweglichkeit der Reflexion dazu, dass die Auseinandersetzung mit den Objekten niemals ein geschlossenes System übriglässt: »Elle ne peut être une application de la pensée à la défense d’intérêts, spirituels ou temporels, que l’expérience vitale prédétermine et valorise, car elle perd alors son sens réflexif. Le programme philosophique comporte comme unique obligation l’ouverture du système réflexif […].«30 Nach Simondon kennt die Philosophie keine Grenzen zwischen benachbarten Gegenstandsbereichen, zu denen sie sich entweder friedlich verhalten oder mit denen sie sich in Konflikt befinden müsste. Als Reflexion muss die Philosophie mobil, agil, leicht und stets bereit sein, einen neuen Gegenstandsbereich aufnehmen zu können. Philosophie ist aufnehmend und nicht defensiv und schließend: »[…] sa fonction première est donc une fonction d’accueil […].«31

Wenn Philosophie aber keinen Gegenstand a priori besitzt und sich stets an ein originäres Feld heften muss, von dem sie überhaupt erst ausgehen kann, stellt sich die Frage, wie sich die Gegenstände, Objekte oder dieses originäre Feld überhaupt konstituieren beziehungsweise die Aufmerksamkeit der Reflexion auf sich ziehen.

Mit anderen Worten: Wenn Reflexion die Gegenstände erst aufnehmen muss, um sie dann auf ihre Art und Weise zu verarbeiten, so müssen die Gegenstände dennoch irgendwie entstanden beziehungsweise in eine erfahrbare Welt gekommen sein. Es ist vor allem die Aufgabe der (natur-)wissenschaftlichen Aktivität, diese Erfahrungen experimentell hervorzubringen und auch zu theoretisieren: »Or, dans chaque domaine, la science vise une théorétisation de l’expérience; le geste scientifique est libre. Seul importe le résultat théorique de ce geste. L’activité opératoire de la science n’a, dans chaque domaine, qu’un seul contrôle: la compatibilité avec l’expérience, donc avec l’objet.«32 Die Wissenschaft definiert sich also im Gegensatz zur Philosophie gerade dadurch, dass sie ein Objekt, einen Gegenstandsbereich besitzt. Wissenschaft versucht in dieser Hinsicht eine Kompatibilität mit den unterschiedlichen Erfahrungen herzustellen, das heißt: Objekte mittels ihrer Theoretisierung zu erreichen. Weil jedes Objekt aber immer einem bestimmten Wirklichkeitsbereich angehört, wird jede Wissenschaft zu einer Einzelwissenschaft, sobald sie ein bestimmtes Objekt als Forschungsgegenstand ausgewählt hat: »La Physique, la Biologie, l’Astronomie, la Numismatique se définissent par leur objet; elles ont un seul objet, et peuvent employer plusieurs méthodes pour l’étudier.«33

Durch diese Definition erhält die Wissenschaft im Gegensatz zur Philosophie zwar einerseits ein Objekt, auf das sie stets rekurrieren kann und über das sie als jeweilige Einzelwissenschaft dann auch Erkenntnisse gewinnen soll. In dieser Hinsicht ist ihr Handlungsbereich in Bezug auf das jeweilige Objekt frei. Andererseits aber büßt jede Einzelwissenschaft an allgemeiner Freiheit ein, denn wenn sie ihr Objekt aufgeben würde, müsste sie sich entweder ein neues suchen oder, wie die Philosophie, reflexiv werden. Dort, wo Wissenschaft also aufhört, ihr Objekt oder ihren Forschungsgegenstand zu thematisieren, wird sie automatisch zur Reflexion, das heißt zur Philosophie. Wie wir im weiteren Verlauf dieser Arbeit sehen werden, bindet Simondon den Begriff der Philosophie damit nicht an einen institutionellen Rahmen innerhalb einer universitären Landschaft. Als Reflexion ist Philosophie eine Tätigkeit, die von jedem, der zur Reflexion fähig ist, ausgeübt werden kann, egal ob Philosoph, Wissenschaftler oder sonstiges. Während die Philosophie also eine allgemeine Freiheit besitzt, Objekte jeglicher Art zu ihrem Gegenstand zu machen, besitzt sie im Gegensatz zur Wissenschaft nicht die Freiheit, diese Objekte unmittelbar zu erschließen beziehungsweise hervorzubringen. Die Philosophie muss die von der Wissenschaft bereits vorpräparierten Objekte akzeptieren. Das bedeutet zugleich, dass die Philosophie die Objekte, auf die sie sich bezieht, nicht frei erfinden kann, sondern notgedrungen auf die ihr dargebotenen Objekte rekurrieren muss, um sie in einem zweiten Schritt aufzunehmen und reflexiv zu thematisieren. Bevor wir nun die Rolle der Philosophie weiter untersuchen, müssen wir fragen, wie die Wissenschaft die Erfahrungen beziehungsweise die Objekte theoretisiert. Auf welche wissenschaftsphilosophischen Konzepte greift Simondon zurück, um die Vorgehensweise der Wissenschaft zu beschreiben?

1.2Die Struktur der Phänomene: Der Positivismus von Auguste Comte

Um die Auseinandersetzung der Wissenschaft mit den Objekten näher zu beschreiben, rekurriert Simondon auf Auguste Comtes Positivismus, den er zugleich in einen wissenschaftsphilosophischen Kontext einbettet, der einen Mangel der theoretischen Wissenschaft gegenüber der angewandten Wissenschaft beschreibt. Bevor wir aber auf dieses Problem zu sprechen kommen, gilt es Simondons Interpretation von Comtes Positivismus darzustellen.

Auguste Comtes Positivismus

1830 erscheint der erste Band von Auguste Comtes Hauptwerk Cours de Philosophie Positive, worin er eine Gesamtklassifizierung der Wissenschaft seiner Zeit vornimmt. Diese Klassifizierung der Wissenschaft beruht auf einem von Comte festgelegten Gesetz, das er glaubt im historischen Werdegang des menschlichen Geistes erkannt zu haben: die drei Stadien der Entwicklung des Geistes (theologisch, metaphysisch, positivistisch) und das daraus folgende Verhältnis dieses Geistes zu den Objekten beziehungsweise zu den Phänomenen.34 Das jeweilige Stadium, in dem sich der Geist dabei gerade befindet, bestimmt zugleich die Strukturierung des Wissens von den Phänomenen: Einmal theologisch, also auf übernatürliche Wesen zurückführend, das andere Mal metaphysisch, demnach durch absolut geltende abstrakte Prinzipien strukturierend, und letztlich positivistisch, das heißt, die Beschreibung der Phänomene durch wissenschaftliche Gesetze und dadurch der Verzicht auf metaphysische Prinzipien oder eine causa prima als Erklärungsversuch. Dieser Entwicklungsweg ist zielgerichtet und determiniert, sodass die positive Philosophie als Ergebnis, in Comtes Augen, das einzig denkbare Resultat ist. Jede Erkenntnis und Wissensform steuert darauf zu, eine positive Wissenschaft zu werden. So befinden sich Mathematik und Astronomie bereits im positiven Stadium, Biologie oder Soziologie hingegen noch nicht. Das positive Zeitalter der Einzelwissenschaften ist für Comte also noch keineswegs abgeschlossen, doch einmal hier angekommen, müssen sich die Einzelwissenschaften in ihrem Charakter nicht mehr grundlegend verändern, sondern lediglich nur noch auf positiver Ebene weiterentwickeln. Das Hauptziel Comtes besteht hierbei vor allem darin, die physique sociale, also die Soziologie, als Wissenschaft zu etablieren.

Biografisch gesehen ist dieses Vorhaben Comtes im Kontext der chaotischen Zeit nach der Französischen Revolution und der Herrschaft Napoleons anzusiedeln. Eine Zeit, in die Comte unmittelbar hineingeboren wird und in der die Soziologie eine neue soziale und politische Ordnung der Gesellschaft herbeiführen soll.35 Comte steht mit diesem Vorhaben nicht alleine da und so können hier durchaus auch sein früherer Arbeitgeber Henri de Saint-Simon oder Germaine de Staël erwähnt werden. Jedes politische System, das sich in einer bestimmten Unordnung befindet, muss somit wieder organisiert werden und die Phasen der Brüche und Krisen spielen lediglich die Rolle von Katalysatoren oder sind Übergangsphasen in einem ansonsten kontinuierlichen Fortschritt: Ordnung und Fortschritt (ordre et progrès) sind die bekannten Merkmale des Positivismus.

Die soziale und politische Ordnung ist nun insofern von der Entwicklung der Einzelwissenschaften zum Positivismus abhängig, als Comte glaubt, dass die Soziologie innerhalb einer Ordnung der Wissenschaft auch eine Ordnung der Gesellschaft herbeiführen kann.36 Eine allgemeine politische Stabilität kann es daher nur dann geben, wenn es eine geordnete Wissenschaftslandschaft als Basis gibt. Es ist hier wichtig zu erwähnen, dass der rein wissenschaftsphilosophische Teil des Cours nur als eine nötige Grundlage angesehen werden soll, um später eine Systematisierung der Emotionen und Spiritualität wieder einführen zu können. Das bedeutet, dass sich der Positivismus von Comte nicht auf eine einfache Darstellung der Einzelwissenschaften beschränkt, sondern aus einer politisch-humanistischen Motivation heraus zu lesen ist, wie sie zur Zeit der Französischen Revolution stark verbreitet war.37 Diese wissenschaftliche Landschaft unterliegt dabei selbst einer Unordnung, die aus einer immer stärkeren Ausdifferenzierung und Verselbstständigung der Einzelwissenschaften im positivistischen Zustand resultiert. Die sogenannte intellektuelle Arbeitsteilung ergibt sich insbesondere durch die Formulierung von wissenschaftlichen Gesetzen, die es ermöglichen, dass sich eine Wissenschaft als Einzelwissenschaft vervollständigt und sich folglich von der Gesamtheit der Wissenschaft isoliert.38 Diese Ausdifferenzierung empfindet Comte, wie bereits gesehen, als – wie er sagt – ärgerliche Wirkung, weil sie zur Desorganisation des gesamten wissenschaftlichen Systems führt.39 Es geht Comte um eine allgemeine philosophie positive, die ihr Ziel darin sieht, jede einzelne Wissenschaft und den erkennenden Geist, der sie charakterisiert, in Relation zum gesamten positiven Wissenschaftssystem zu betrachten. Um dieser voranschreitenden Unordnung des Systems also ein Ende zu setzen, muss die positive Philosophie zunächst wieder eine Klassifizierung und Ordnung der Einzelwissenschaften vornehmen, um schließlich in der Soziologie zu enden, die ihrerseits wiederum eine politische Stabilität herstellen soll.

Damit dieses Wissen nun aber einer Klassifizierung unterliegen kann, fügt Comte ein Unterscheidungskriterium ein: die Differenzierung von Theorie und Praxis.40 Beide, Theorie und Praxis, sind dabei streng voneinander zu unterscheiden und haben ein hierarchisches Verhältnis zueinander, sodass in der Wissenschaft die Praxis stets der Theorie unterworfen ist. Theorie setzt Comte hier mit Spekulation oder Kontemplation (spéculation) gleich und Praxis mit Handlung (action) oder Anwendung (application), sodass in der Theorie die Wissenschaft stärker vertreten ist und in der Praxis mehr das Unternehmertum, die Landwirtschaft oder die Industrie.

Zwischen Theorie und Praxis schiebt sich die angewandte Wissenschaft, wie die Ingenieurwissenschaften oder die Architektur. Diese angewandte Wissenschaft tut dabei nichts anderes, als allgemeine Regeln der verschiedensten Einzelwissenschaften auf konkrete Probleme der Praxis anzuwenden; beispielhaft hierfür ist die deskriptive Geometrie von Gaspard Monge.41 Comte unterscheidet damit einerseits zwischen abstrakten und allgemeinen Einzelwissenschaften, die die Gesetze von den jeweils betroffenen Phänomenen entdecken, und andererseits den konkreten, deskriptiven und besonderen Einzelwissenschaften, die die Regeln auf real existierende Dinge und Objekte anwenden. Er verzichtet aber darauf, sich mit den angewandten Wissenschaften zu beschäftigen, weil der Cours de philosophie positive sich lediglich mit denjenigen Wissenschaftszweigen auseinandersetzen soll, die auf theoretischer Ebene bereits mehr oder weniger vollständige Begriffe mit einem fixierten und determinierten Charakter enthalten.42 Die angewandten Wissenschaften befinden sich in dieser Hinsicht in einem zu schwammigen und unklaren Verhältnis zwischen Theorie und Praxis.

In Bezug zur Wissenschaft wird das Praktische folglich nicht ausgeschlossen, aber es befindet sich gegenüber dem Theoretischen immer schon an zweiter Stelle. Der spekulative Geist kann sich von den Phänomenen distanzieren, um die objektiven Gesetze, die die Phänomene strukturieren, zu erkennen, sodass in der Wissenschaft jede Handlung zunächst durch abstrakte Gesetze geleitet wird. Erst nach der Beobachtung und der Kalkulierung der Gesetze und deren Effekte werden diese folglich in der Handlung auf ein Ziel gepolt. Weil man also die Gesetze der Phänomene verstanden hat, lassen sich durch Voraussagen kleine Modifizierungen an einigen Strukturen durchführen, sodass das erwünschte Ergebnis eintritt. Deshalb lautet der bekannte Ausspruch Comtes: »En résumé, science, d’où prévoyance; prévoyance, d’où action […].«43

Betrachtet man dies nun im Kontext der verschiedenen Einzelwissenschaften, so ergibt sich für jede Einzelwissenschaft auch immer eine andere Formulierung ihrer Hypothesen beziehungsweise der daraus folgenden Gesetze und letztlich die Erforschung von jeweils unterschiedlichen Phänomenen mittels diverser Methoden.44 Jede Hypothese ist somit die abstrakte Annahme einer Lösung und aus einer Unmenge an Hypothesen sind lediglich jene wissenschaftlich gültig, deren Lösung sich tatsächlich verifizieren lässt. Eine positive Wissenschaft beginnt bei Comte somit niemals bei der reinen Erfahrung, sondern immer zunächst in der Theorie. Die Verifikation einer Theorie in der Praxis heißt aber nicht, dass es Comte um die gelungene praktische Anwendung einer Theorie geht. Ziel ist es, eine wissenschaftliche Wahrheit zu erhalten, von der man zunächst hypothetisch den Annäherungswert kennt und die dazu beiträgt, die Gesetze einer Einzelwissenschaft, als eigenständiges System, kohärenter zu machen. Die Anwendbarkeit einer Theorie spielt also in Bezug auf die Bewertung der Wissenschaftlichkeit einer Einzelwissenschaft keine Rolle. Bei Comte steht die Wissenschaft folglich nicht in den Diensten von besseren technischen Nutzungsmöglichkeiten und ihrer Umsetzung, weil dies erstens der Wissenschaft ihre theoretische Fruchtbarkeit nimmt und zweitens, weil eine in sich kohärente Theorie zur gesetzmäßigen Organisation ihrer Phänomene wichtiger ist. Der Mangel an Erkenntnis in einer Einzelwissenschaft liegt demnach nicht aufseiten des Phänomens, sondern in der Unzulänglichkeit der Theorie des Erkennenden selbst. Es ist die Aufgabe der Einzelwissenschaft, ihre eigenen natürlichen Gesetze und theoretischen Konstruktionen so zu organisieren, dass eine adäquate Vorhersage der Phänomene möglich wird.

Diese innere Kohärenz einer Theorie wird gestützt durch das Experiment, das vor allem in der Physik und der Chemie angewendet wird und mit dessen Hilfe in einem künstlichen Setting, wie dem Labor, die Phänomene aus ihrer natürlichen Umgebung isoliert werden, um sie so noch besser verstehen zu können. Den von der Einzelwissenschaft produzierten Wahrheiten darf, nach Comte, aber keine eigene Realität zugesprochen werden. Die verifizierten Hypothesen sind lediglich Mittel, um sich die Verhältnisse der Phänomene zu veranschaulichen. Eine innere Natur der Dinge zu suchen oder ihre Entstehung durch eine causa prima zu erklären, heißt für Comte, ins Zeitalter des theologischen oder metaphysischen Geistes zurückzufallen. In der positiven Wissenschaft dürfen keine nicht beobachtbaren Entitäten vorausgesetzt werden, die nicht verifiziert werden können. So ist, nach Comte, beispielsweise in der Chemie der Rückgriff auf die Affinität, als Erklärung für das Bestreben von Stoffen, in chemischen Reaktionen verschiedene Bindungen einzugehen, eine metaphysische Beschreibung, weil sie eine ontologische Essenz dieser verschiedenen Stoffe darstellt und es keine rational deduktive und experimentell geprüfte Erklärung für dieses Phänomen gibt.45 Wie aber lassen sich nun die Einzelwissenschaften laut Comte klassifizieren?

Zunächst heißt es, dass die Einzelwissenschaften sich in einem relationalen Gefüge zueinander befinden.46 Dieses Gefüge ist wiederum durch Verhältnisse des Allgemeinen zum Speziellen und des Einzelnen zum Komplexen gekennzeichnet, die zugleich ihre eigene Hierarchisierung und gegenseitige Abhängigkeit bestimmen. Sind die Phänomene einer Einzelwissenschaft also speziell und komplex, so ist Letztere auf diejenige Einzelwissenschaft angewiesen, die allgemeinere und einzelne Phänomene erforscht, weil diese sich in der Hierarchisierungsleiter weiter oben befinden. Ein Phänomen ist daher niemals an sich, das heißt in seiner eigenen Realität speziell, komplex und so weiter, sondern in Relation zu anderen Phänomenen. Außerdem sind die Bestimmungen der Phänomene nicht nur von ihren Verhältnissen untereinander abhängig, sondern auch von ihrem Verhältnis zum Menschen. So sind die allgemeinen und einzelnen Phänomene weiter vom Alltag des Menschen entfernt und folglich müssen sie in einer ruhigeren und rationaleren Verfassung des Geistes studiert und erkannt werden als die anderen. Als Beispiele fungieren hier die Mathematik und die Astronomie, deren Phänomene reiner sind und den Menschen weniger in seiner konkreten Existenz betreffen. Die Biologie oder die Soziologie hingegen sind vor allem Einzelwissenschaften, die sich unter anderem mit dem Menschen selbst beschäftigen und zugleich komplexere Phänomene erforschen.

Weil die Hierarchie vom Allgemeinen zum Speziellen fortschreitet, gilt die Physik als allgemeinste Einzelwissenschaft. Die astronomischen Phänomene sind dabei die allgemeinsten und abstraktesten und bestimmen zugleich die Gesetze für alle anderen Phänomene mit. Die sogenannte irdische Physik (physique terrestre) ist somit eine Modifikation der Astronomie, genauso wie die Chemie eine Modifikation der irdischen Physik ist und so weiter. Modifikation für Modifikation arbeitet sich die hierarchische Serie der Einzelwissenschaften somit zu den komplexeren und spezielleren Phänomenen hinunter. Schlusspunkt der Einzelwissenschaften ist dabei nicht die Physiologie, sondern die physique sociale, die Soziologie. Die klassifizierende Serie der Einzelwissenschaften verkompliziert und spezifiziert sich dabei immer stärker, wobei es eine einseitige sukzessive Abhängigkeit gibt: Astronomie, Physik, Chemie, Physiologie, soziale Physik (Soziologie).

Weil sich nun aber jede Einzelwissenschaft auf die Gesetzmäßigkeiten ihres jeweiligen Gegenstandsbereichs konzentriert, ist es die Aufgabe der positiven Philosophie, die vereinheitlichende Klassifizierung der Einzelwissenschaften a posteriori vorzunehmen, sodass Comte bereits im Vorwort des ersten Bandes eine Parallele zur aristotelischen Bestimmung von Philosophie als Konstitution eines allgemeinen Systems herstellt.47