Phoenix: Himmelsbrand - Ann-Kathrin Karschnick - E-Book

Phoenix: Himmelsbrand E-Book

Ann-Kathrin Karschnick

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Beschreibung

Sie schaute über die Schulter zurück und wandte sich ein letztes Mal Rom zu. Es brannte ebenso lichterloh wie ihr Herz. Octavia hoffte, dass die Stadt überlebte, dass sie wie sie aus ihrer eigenen Asche auferstehen würde. Dann drehte sie sich um, fächerte ihre Schwingen auf und flog dem Sternenhimmel entgegen. Um die Menschen von der Schreckensherrschaft der Saiwalo zu befreien, hat Tavi alles geopfert - ihre Liebe, ihre Familie und auch sich selbst unzählige Male. Ganz auf sich allein gestellt, kehrt sie nach Hamburg zurück. Doch in Hamburg, wo einst das Experiment zu Teslas Lebzeiten begann, steht Tavi schon kurze Zeit später mit alten und neuen Verbündeten den Saiwalo Auge in Auge gegenüber. Hat ihre Rebellion eine Chance auf Erfolg oder werden sie für immer vom Angesicht der Erde gefegt? Der epische Abschluss der preisgekrönten Teslapunk-Trilogie von Ann-Kathrin Karschnick. Ehemals Phoenix-Kinder der Glut.

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Phoenix

Himmelsbrand

 

Band 3

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ann-Kathrin Karschnick

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Text: ©2020 Copyright by Ann-Kathrin Karschnick

Schün-Rieden 1, 21483 Dalldorf

Cover: Anna Hein

Alle Rechte vorbehalten.

Tag der Veröffentlichung: 31.03.2020

 

Weitere Romane der Autorin:

 

Stollenbruch

Phoenix – Aschegeboren (Teslapunk-Dystopie-Krimi, Band 1)

Phoenix – Himmelsbrand (Teslapunk-Dystopie-Krimi, Band 3)

Feuerritter – Lauernde Mächte (High Fantasy)

Feuerritter – Kampf um Teinemaa (High Fantasy)

Ein alter Hut (phantastisches Jugendbuch)

Weltenamulett – Das Erbe der Trägerin (Urban/Portal Fantasy)

Weltenamulett – Geister der Vergangenheit (Urban/Portal Fantasy)

Weltenamulett – Gezeitenwinter (Urban/Portal Fantasy)

Splittermond – Jenseits der Seidenstraße (Rollenspielroman)

Novellenserie Rack (6 Episoden Steampunk-Thriller)

Assassin’s Wood – Bürokratie kann tödlich sein (FUNtasy)

Im Namen des Ordens – Staffel 1-5 (Paranormal Crime, Hörbuch)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Flucht aus Paris

Vereint in Gefangenschaft

Hilfe ist unterwegs

Wieder daheim

Thourette wird gerettet

Fremdes Wiedersehen

Der lange Weg nach HAmburg

Flucht aus der Verwahrstelle

Angriff im Lager

Trautes Heim

Menschen können grausam sein

Der alte Elbtunnel

Einbruch in eine Stadt

Wiedergeburt

Kollegen unter sich

Suche nach Leon

Vereint

Tavis Suche

Der Widerstand beginnt

Der Besuch

Das Treffen

Tavi und Nathan

Angriff der KA

Geisterwächter

Leons Bogen

Feuer und Eis

Leons Freund

Getroffen

Das Ende

Ein Jahr später

Epilog

 

 

Prolog

Tavi

 

18. Juli 64 – Ihr Name war Claudia Octavia. Seit zwei Jahren glaubte jeder, sie wäre tot. Die Verbannung auf eine Insel hatte Nero nicht gereicht. Nein, seine Geliebte hatte ihren Kopf gefordert – bekommen hatte sie den einer verunstalteten Sklavin und die gekauften Lügen ihrer Aufpasser.

Claudia Octavia hatte überlebt und sich ihren Weg zurück nach Rom erkämpft. Anderthalb Tage lebte sie bereits auf der Straße in ihrer Heimatstadt. Die Kaiserin der Straße. Sie hatte Nero bereits ausfindig gemacht und ihm eine Nachricht zukommen lassen, um sie zu treffen.

Octavia wartete seit der Abenddämmerung am Fuße des Caelius Hügels, nahe dem Macellum Augusti. Die Nacht hatte längst das Treiben auf dem beliebten Marktplatz beendet und die Läden geschlossen. Der Markt war in der Blütezeit von Neros Herrschaft entstanden und lag im Süden von Rom.

Der bloße Gedanke an ihn setzte bereits ihr Herz in Flammen. Es war ihr Ehemann gewesen, der sie verbannt, und der ihren guten Namen beschmutzt hatte. Aus der Stadt, der sie ihr Leben und ihre Liebe gewidmet, für die sie alles getan hatte und von der sie bedingungslos zurückgeliebt worden war.

Wind kam auf, streichelte ihre nackten, dreckigen Füße, wallte den armseligen, grauen Umhang auf, der ihren Körper nur leicht bedeckte. Eine Kaiserin in Sklavenkleidung. Die stärker werdende Windböe schien ihr brennendes Herz weiter anzufachen. Noch war sie allein. Aber das würde sie nicht mehr lange sein.

Nero befand sich auf dem Weg zu ihr. Ihre Finger zitterten vor Aufregung, also ballte sie die Hände zu Fäusten. Sie wollte ihm keine Gefühlsregung opfern, wollte ihm kein Zeichen der Schwäche zeigen. Das war er ihr nicht wert. Ein Treffen. So viel schuldete er ihr. Die Wut über seinen Verrat loderte seit dem Tag in ihr, an dem er sie für geächtet erklärt hatte. Octavia schloss die Augen und atmete durch. Eine wolfsgraue Katze schlich über den Platz, an ihr vorbei und maunzte, als hieße sie Octavia in ihrer Heimatstadt willkommen.

Dann vernahm sie die wohlbekannten Geräusche. Das Trommeln der Hufe auf den Straßen und das Schnalzen der Peitschen. Sie schnaubte. Natürlich kam er nicht alleine – er ließ sich bringen. Er, der sich täglich über den Straßenverkehr Roms beschwert hatte.

Einige Meter vor ihr kam der Wagen zum Stehen. Vier Soldaten stiegen herab, gaben den Blick frei auf den Mann, auf den sie so lange gewartet hatte. Doch es war nicht Nero, der als Letzter ausstieg. Octavia sog die kalte Nachtluft ein.

»Helius«, sagte sie. Es gab zwei Arten von Hass, die sie in ihrem bisherigen Leben verspürte hatte. Zum einen gab es da eine mit Mitleid gepaarte Abscheu, die sie seit drei Jahren ihrem Mann gegenüber geschürt hatte. Er hatte sich von seiner Geliebten beeinflussen lassen und war zu schwach, um selbst eine Entscheidung zu treffen.

Und zum anderen gab es die hasserfüllte Verachtung, die sie für Helius empfand. Diese suchte sie in den einsamen, frostigen Nächten auf ihrer Flucht heim, quälte sie, verwandelte ihr Herz in ein Flammenmeer, hatte sie aber auch gewärmt. Helius war es gewesen, der sie auf die Insel begleitet hatte. Während der Überfahrt hatte er ihr grauenvolle Dinge angetan. Dinge, für die sie ihn in Rom längst an den Senat verraten und hätte hinrichten lassen. Hitze stieg in ihr auf, ließ ihre Wangen glühen.

»Octavia, Ihr seid schön wie eh und je.« Sein Blick glitt abfällig über ihr lumpiges Erscheinungsbild.

Hoch erhobenen Hauptes trat sie ihm entgegen. »Erspart mir Eure Scheinheiligkeit«, zischte sie. »Wo ist mein Mann?«

»Ihr seid seit Jahren nicht mehr seine Frau. Die Scheidung wurde mit dem Tage Eurer Verbannung rechtskräftig. Und seit Eurem Tod spricht kein Mensch mehr in Rom von Claudia Octavia. Was mich zu der Frage führt: Wie kommt es, dass Ihr hier seid?« Zwei der Soldaten richteten ohne einen Befehl jeweils ihre Armbrust auf sie, die anderen beiden zogen ihre Schwerter und umrundeten sie. Erneut kamen Windböen auf. Eine Erfrischung in der hochsommerlichen Hitze. Octavias Inneres kühlte es jedoch nicht ab.

»Das geht Euch nichts an. Bringt mich umgehend zu Nero«, fauchte sie. Niemand verwehrte Claudia Octavia ihre Rache.

»Ich fürchte, das ist unmöglich. Kaiser Nero hält sich derzeit in seiner Sommerresidenz in Antium auf. Ich verblieb als sein Stellvertreter in Rom. Ihr werdet mit mir vorliebnehmen.« Helius deutete eine Verbeugung an, grinste dabei allerdings so schmierig, dass Octavia angeekelt zurückwich.

»Diese Angelegenheit bedarf des Kaisers persönliche Stellungnahme.« Sie würde mit Nero sprechen. Und wenn sie dafür zu Fuß nach Antium reisen musste.

»Sollte es Euer Gesuch betreffen, erneut in die Stadt Rom aufgenommen zu werden, muss ich dies zu meinem Bedauern …« Er hielt kurz inne, sah sie mitleidig an. »…ablehnen.«

»Als Mitglied der kaiserlichen Familie steht es mir zu, wieder in meine Heimatstadt zurückzukehren.« Ihre Stimme überschlug sich vor Zorn. Octavia atmete durch, um ihre Kontrolle darüber zurückzuerlangen. Unbedachtheit wäre in solch einem Augenblick ihr Untergang. »Und Ihr, Helius, seid der letzte, der mir dieses Recht verwehren darf.« Octavia spürte den warmen Stahl auf ihrer Haut, als sie ihre Finger unter das Gewand schob und den Griff des Messers umfasste.

Helius nickte bei ihren Worten und senkte den Kopf. Im nächsten Moment hob er die Hand. Octavia zog die Klinge, wollte es dem Verräter, ihrem Schänder in den Leib rammen.

Doch ein metallisches Klicken übertönte jedes Geräusch in ihrer Umgebung. Die Nacht zerplatzte vor Octavias Augen. Sternschnuppen hagelten auf die Erde nieder, schwarze Löcher tanzten um kleiner werdende farbenfrohe Sternbilder herum, saugten nach und nach das Leben aus ihrem Körper. Mit aller Kraft hielt sie die Waffe umklammert, wollte damit nach Helius werfen. Stattdessen taumelte sie, wankte mehrere Schritte, sank auf die Knie und landete mitten in einem Beet auf dem Marktplatz.

Über ihr fegte der rote Umhang ihres Schänders die Dunkelheit ihrer Gedanken beiseite. Er kniete sich über sie und packte ihren Hals.

Das Atmen fiel ihr schwer. Octavia riss die Augen auf, vertrieb für einen Moment die schwarzen Löcher. An ihre Stelle rückten Knöpfe. Eine ganze Knopfreihe.

Sie stahlen ihr die kostbare Atemluft, quälten sie beinahe mehr als die Pein in ihrem Hals. Octavia hob den Arm, etwas drückte sie auf die Erde.

Der Versuch, sich zu wehren, versiegte in einem weiteren Sturm aus Schmerzen. Octavia wollte schreien. Aus ihrer Kehle drang kein Laut. Seine Finger drückten auf ihre Kehle und verhinderten, dass sie atmete. Die Dunkelheit zog sich mit jedem schwächer werdenden Herzschlag enger um die Knöpfe in ihrem Blickfeld und nahm ihr die Sicht.

Die Erde unter ihr lockte sie an, so zart, so warm. Für einen Moment ausruhen, dachte Octavia, dann würde sie ihre Rache einfordern, würde ihrem Schänder entgegentreten und ihn vernichten. Doch selbst die wütenden Flammen in ihrem Herzen konnten die schwarzen Löcher nicht vertreiben. Das letzte, was Claudia Octavia zu Lebzeiten sah, war ein einzelner, verrutschter Knopf, der sie für immer verfolgen würde.

 

*

 

Helius lächelte. »Unsere Arbeit ist getan. Lasst sie liegen. Morgen wird sie gefunden. Dann wird man sie für eine verstoßene Sklavin halten. Niemand wird genauer hinsehen. Niemand wird uns verdächtigen.«

Kurze Zeit später war der Marktplatz wie leergefegt. Sie war tot. Octavia lag in ihrem eigenen Blut und die Welt um sie herum hatte sie verlassen. Die wolfsgraue Katze tauchte auf, schleckte an ihrer Wunde. Ein Funke auf Octavias Herz verscheuchte das Tier. Der Funke breitete sich aus, entflammte und wurde zu einem Feuer. Innerhalb eines Wimpernschlags leckten die Flammen über ihren Körper. Ein Reigen aus Feuerzungen wog in der sanften Abendbrise hin und her. Doch dann gierten die Flammen nach dem trockenen Holz des Baumes, zu dessen Füßen sie lag, fraßen sich daran empor, als ob ein tanzender Feuerteufel durch Rom fliegen wollte.

Ein letzter Schrei löste sich aus ihrer verstorbenen Kehle, dann zerfiel Octavia zu Asche. Die Minuten vergingen, Funken flogen zu den leeren Gebäuden des Macellum Augusti, steckten sie in Brand. Einem Drachenschlund gleich sprangen die Flammenzungen von einem Bauwerk zum nächsten und entzündeten sie, bis die halbe Stadt in einem flackernden Rot schimmerte.

Inmitten des Feuers wirbelte der Wind über den Markt, fegte Octavias Asche fort und legte ein Ei frei. Das ovale Objekt flimmerte orangerot, die Schale schimmerte fast durchsichtig und auf der oberen Rundung prangte eine glühende Feder. Dann knackte es. Momente später stand Octavia erneut auf dem Marktplatz – nackt, von Flammen eingeschlossen und verwirrt.

Ein ureigener Instinkt riet ihr, vor dem heißen Element zu fliehen, doch zugleich wusste sie, dass es nicht ihr Feind war. Geradezu zischend unterhielt es sich mit Octavia. Tränen stiegen ihr in die Augen, denn vor ihr stand Rom in Flammen. Menschen schrien, Häuser brachen zusammen.

Ein Ort des Todes, dachte sie und fiel auf die Knie. Konnte sie für den Tod dieser Stadt – ihrer Stadt – verantwortlich sein?

Der Brand zog sich bis zum Horizont, vernichtete alles, was sie an ihre Familie erinnerte, was ihr jemals etwas bedeutet hatte. Octavia wandte sich zum Nachthimmel. Am liebsten wollte sie verschwinden und der Schuld entfliehen, die sie niederdrückte.

Sie hatte Rom entzündet. Ihre Heimat. Sie hatte nichts mehr. Nicht einmal ihr Leben.

Ein schmerzhaftes Kribbeln schoss durch ihren Rücken, ließ sie nach vorne kippen. Nur für die Dauer des Züngelns einer Flamme hielt die Pein an. Muskelzuckungen zerrten ihren Körper in ein Hohlkreuz, sie schrie den Sternen am Firmament ihr Elend zu. Sie keuchte vor Erschöpfung. Ihr Blick glitt zu dem Ort ihrer Qual. Flügel breiteten sich hinter ihr freiheitssuchend aus, versuchten sich an ersten, zaghaften Schlägen.

Da fühlte Octavia sie – die anderen. Die Existenz dieses Gefühls brachte ihr einen gewissen Seelenfrieden, ließ sie vergessen, für was sie die Verantwortung trug, erfüllte ihren Geist. Octavia fokussierte sich erneut auf den Horizont. Sie hatten ihre Wiederauferstehung wahrgenommen und suchten nach ihr. Claudia Octavia war neugierig, wen sie da spürte, neugierig darauf, die Flügel auszuprobieren und neugierig auf die Möglichkeiten, die ihr dieses neue Leben würde bieten können.

Sie schaute über die Schulter zurück und wandte sich ein letztes Mal Rom zu. Es brannte ebenso lichterloh wie ihr Herz. Octavia hoffte, dass die Stadt überlebte, dass sie wie sie aus ihrer eigenen Asche auferstehen würde.

Dann drehte sie sich um, fächerte ihre Schwingen auf und flog dem Sternenhimmel entgegen.

 

Flucht aus Paris

Leon

 

Leon überholte Jörenson und stürmte als erster aus dem Tunnel. Katharina lief dahinter und gab Anweisungen, wann sie stehen bleiben, welche Straßen sie nehmen sollten. Leon vertraute ihr zwar nicht blind, aber er hatte gelernt, dass sie ihm zumindest für den Moment nichts anhaben wollte. Deswegen wechselte er sofort die Richtung, sobald sie sie nannte.

Das einzige, was Leon tat, als er frische Luft einatmete, war, sich umzudrehen und zu warten, dass die anderen drei hinauskamen. Als er sie in Sicherheit wähnte, haftete sein Blick noch ein letztes Mal an der Dunkelheit des Tunnels, an der Dunkelheit seiner Tat. Schwarz wie die Wunde, die in seinem Herzen klaffte. Tavi lag dort. Alleine, verlassen und schutzlos. Er hatte sie zurückgelassen. Weil Katharina ihm das Versprechen gegeben hatte, dass sie einander wiederfinden würden. Doch damit sie überlebte, musste er Tavi zurücklassen. Er hasste es, so ein Urteil zu fällen. Fällen zu müssen. In Momenten wie diesem vermisste er die Zeit in der Kontinentalarmee. Da hatten sie ihm die Entscheidungen abgenommen. Er hatte Befehle empfangen und ausgeführt. Es war einfach gewesen. Ein simples Leben, wenn auch ohne Erfüllung. Dann hatte er sie gefunden … Und jetzt musste er sie in einer Höhle voller Frauen und Männer zurücklassen, die alle ihren Tod wünschten.

Sie mussten sich trennen, damit sie zusammen sein konnten. Leon hatte es nicht einsehen wollen, aber Katharina bestand darauf. Das Vertrauen, das er in die Hexe setzte, war größer als sein Wunsch, Tavi zu spüren. Er konnte jedoch in ihrem Herzen keine Hinterlist erkennen. Er konnte nur hoffen und ihr vertrauen.

»Leon, beeil dich. Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen diesen Ort verlassen, bevor sich die Soldaten sammeln.« Katharina drückte seinen Oberarm und sprach bedächtig zu ihm. Sie drängte ihn nicht und doch lag da ein Begehren in ihrer Stimme, so dass er augenblicklich von dem Tunnel abließ und ihr folgte.

»Wer hat dich eigentlich zur Anführerin ernannt, Hexe?«, fragte Eleazar seelenruhig und mit seinem französischen Akzent, als ob sie sich auf einem Spaziergang in einem Park an der Seine hundertdreißig Jahre zuvor befanden. Dass sie in diesem Moment vor der gesamten Pariser Kontinentalarmee flüchteten, schien ihn nicht zu stören.

»Meine Visionen, Eleazar. Und glaub mir, du möchtest nicht, dass du uns anführst«, erwiderte sie ebenso entspannt. Katharina rannte neben ihm und ließ ihn nicht aus den Augen. Leon wunderte sich nicht darüber, wie sie ohne zu stolpern oder irgendwo gegenzulaufen weiterlief.

»Die Lebenserfahrung dazu hätte ich.«

»Du hättest dein Leben noch etwa fünfundzwanzig Minuten. Danach wärst du ein Gefangener wie Tavi. Willst du das oder lieber deine Freiheit ein wenig länger genießen?«

Eleazar verzog das Gesicht und nickte ihr geschlagen zu. Sie sprinteten durch eine Unterführung hindurch. Leon hörte, kaum dass sie die Unterführung hinter sich gelassen hatten, ein dumpfes Knistern, das wie das aneinander reiben von hauchdünnen Tesladrähten klang. Im Augenwinkel sah Leon, wie ein letzter blauer Blitz über die Reste des Eiffelturms zuckte, bevor er im Nichts der Dämmerung verschwand.

»Wo gehen wir hin? Was erwartet uns? Links? Rechts?« Katharina redete wirr, drehte sich einmal im vollen Lauf um ihre eigene Achse. Leon blieb stehen, suchte die Umgebung ab. Noch verfolgte sie niemand, aber das konnte sich jeden Augenblick ändern. In der Ferne vernahm er das Vibrieren eines Transporters und wer wusste schon, welche Soldaten bereits bei vollem Bewusstsein waren.

»Katharina, wir müssen weiter. Wohin?« Leon stand mit dem Rücken zu ihr, aber sie reagierte nicht. »Katharina?«

Die Hexe wirkte unruhig, beinahe verloren, so wie sie da zwischen ihnen stand. »Ich … ich habe es vergessen.«

»Vergessen? Wie kannst du den Weg vergessen?«, fragte Eleazar und wandte sich an Leon. Der Platz ließ sich schlecht einsehen. Überall ragten Bäume und Eisenstangen für die Magnetschwebebahn in die Luft. Hinter jeder Ecke konnten sich Soldaten der KA versteckt haben und nur auf den Befehl warten, sie anzugreifen. Leon knetete seine Finger, während er auf eine Antwort von Katharina wartete.

»Der Weg ist unsicher. Ich sehe nicht genau. Die Zukunft schiebt sich vor die Gegenwart. Ihr Herz brennt. Ich muss es löschen, einen Weg finden! … so unklar.« Katharina stockte, riss die Augen auf und rief: »Links. Ducken!« Jörenson drehte sich verwirrt um, rührte sich aber nicht von der Stelle. Auch Leon wandte sich in die Richtung.

Hinter einer Ecke schoss ein Magnetschwebewagen der Kontinentalarmee hervor. Leons Instinkte übernahmen die Kontrolle. Er packte Jörenson, zog ihn vor einen Baum und drückte seinen langen Körper an der Schulter nach unten. Katharina und Eleazar schmissen sich direkt auf den Boden und robbten rüber.

»Bleibt liegen und sie passieren uns ungesehen.«

Leon hielt die Luft an. Obwohl Katharina ihre sichere Weiterreise voraussehen konnte, pochte sein Herz bis in seine Kehle. Der Wagen raste an ihnen vorbei. Die Lichter glitten über Katharinas und Eleazars Rücken.

Erleichtert sprang Leon auf. Sofort rannte er zu Katharina. »Hör zu. Ich bin hier, weil du mir versprochen hast, dass ich mit Tavi vereint sein werde. Ich will aber nicht in einer Verwahrstelle aufwachen und ihren Leichnam neben mir sehen. Das ist nicht die Art von Vereinigung, die mir vorschwebt.« Leon versuchte, sich zu beruhigen und spürte, wie sein Herzschlag langsamer wurde, als er Katharina packte und ihr fest in die Augen sah. »Also, verdammt noch mal, reiß dich zusammen und bring uns aus der Stadt.«

»Müssen wir denn überhaupt raus?«, fragte Eleazar und richtete sich ebenfalls auf. Mit beiden Händen klopfte er sich den Dreck von seinem Hemd und seiner Hose.

Leon stockte. Die Frage hatte er sich noch gar nicht gestellt. Katharina hatte angekündigt, dass es ihnen bevorstand. Und er folgte ihr blind. Warum sie verschwinden mussten, hatte sie nicht erklärt.

»Stadt verlassen. Sonst sterben zwei von uns. Nicht gut.« Katharina wischte sich über die in der Dämmerung leuchtenden Augen und Eleazar seufzte. Ohne dass er es wollte, spürte er die Wut in sich aufsteigen. Katharina hatte ihre Probleme an der Oberfläche unter Menschen, das musste selbst Eleazar verstehen.

»Wir folgen dir, Katharina.«

»… sagte der Mann, der gestorben ist, als er ihr das letzte Mal wie ein Hündchen hinterherlief. N’est pas?« Eleazar verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die alte Birke, während er darauf wartete, dass sich Jörenson endlich erhob.

Der Eisriese schüttelte sich benommen, als ob er sich den Kopf angeschlagen hatte. »Katharina weiß, was sie tut, Eleazar. Sie stellt es regelmäßig unter Beweis.«

»Mir noch nicht, also darf ich zurecht zweifeln«, sagte Eleazar, folgte ihr aber trotzdem. Sie rannten an Eichen, Kastanienbäumen und Platanen vorbei und passierten einen unbeaufsichtigten Bezirkszaun. Aus dem Wachhäuschen direkt am Zaun leuchtete das Licht einer Teslalaterne heraus, doch es befand sich niemand darin. Verwaist lag es da, aber vielleicht würde es darin die eine oder andere Waffe geben. Waffen konnten sie gut gebrauchen. Ein Cupido, eine Hexe, ein Eisriese und ein Phoenix hatten mit Sicherheit gute Chancen, kleineren Patrouillen auszuweichen, aber wenn die Armee sie einholte, bekämen auch sie Schwierigkeiten.

»Warum wollt ihr hier lang?«, fragte Eleazar. »Wir durchqueren beinahe die ganze Stadt. Lasst uns lieber über die Seine verschwinden. So kommen wir schneller heraus.«

»Du musst uns nicht folgen. Lauf, wohin immer du möchtest.« Noch während Leon die Worte aussprach, wusste er, dass sie der Wahrheit entsprachen. Eleazar interessierte ihn wirklich nicht.

»Nein. Eleazar bleibt«, hörte Leon von Katharina, als sie ihn überholte. Ihr Schal verhüllte ihr Gesicht. Ihre Worte klangen, als ob sie es ernst meinte.

»Bestimmt sie das Leben anderer immer so?«, fragte Eleazar und grinste ihn frech an.

Leon strich über den Dolch an seiner Hüfte – Tavis Dolch, den er an sich genommen hatte. Ob er auch bei einem anderen Phoenix funktionieren würde? »Ständig. Meistens ergibt es allerdings Sinn.«

»Alors, ich behalte mir vor, meine Entscheidungen selbst zu treffen. Ich bin, war und werde immer mein eigener Herr sein. Au revoir.« Eleazar blieb stehen, verneigte sich, bog nach links in eine Gasse ab und verschwand in der Dunkelheit. Die Holzfenster der heruntergekommenen Einfamilienhäuser in diesem Teil der Stadt waren zugenagelt oder existierten nicht mehr.

»Nein!«, schrie Katharina und blieb so abrupt stehen, dass Leon in sie hineinrannte.

»Was ist?«

»Eleazar!«, rief sie und packte Leon an den Armen. »Wenn du Tavi retten willst, brauchst du Eleazar. Er ist äußerst wichtig.«

Leon knirschte mit den Zähnen, während Katharina ihn schmerzhaft an den Armen drückte. »Wirklich? Der Kerl wird uns nur Probleme bereiten. Das spüre ich, ohne dass ich in die Zukunft sehen kann.«

»Ohne ihn wirst du nicht zu Tavi finden. Wir brauchen ihn auf dem Weg und in Hamburg. In Hamburg auf jeden Fall.«

Leon stutzte. »Hamburg?«

»Keine Zeit für Erklärungen. Hol ihn zurück. Koste es, was es wolle!«

Damit stieß sie ihn in die Richtung der Gasse, in der Eleazar verschwunden war. Leon stöhnte auf, nickte ihr zu und rannte los. Der Phoenix hatte schon eine größere Distanz zwischen sich und die Gruppe gebracht.

»Eleazar!«, rief Leon so laut er es in Anbetracht der totalitären Verhältnisse wagte. Der Phoenix blickte über die Schulter, hielt aber nicht an. »Diese verdammte Sturheit der Phoenix! Jetzt bleib stehen.« Leon beschleunigte sein Tempo, lief an einem in sich zusammengestürzten Haus vorbei, neben dem ein weiteres Gebäude mit einer neuen Fassade und gepflegtem Garten stand. Aus dem Inneren hörte er ein Lachen. Anscheinend wusste irgendjemand nicht, was in Paris vor sich gegangen war. Wusste nicht, welchem Schicksal die Menschen entgangen waren. Für einen Moment wünschte er sich die gleiche Unschuld. Wollte nicht wissen, was er zurückgelassen hatte, sondern einfach nur den Tag genießen. Diese Unschuld hätte ihn vor sehnsüchtigen Gedanken um Tavi, vor schmerzenden Sorgen um sein eigenes Leben und das seiner Begleiter beschützt.

Stattdessen musste er einem Phoenix hinterherhetzen, der nicht einmal Teil ihrer Gruppe sein wollte. Eleazar rannte um eine Ecke und verschwand aus Leons Sichtfeld. »Komm schon, bleib stehen«, raunte Leon und raste weiter. Seine Umgebung verschwamm zu einem schwachen Glimmen in seinen Augenwinkeln. Er erreichte die Biegung, um die Eleazar gerannt war, und bremste abrupt ab. Der Phoenix lehnte mit dem Rücken an einer Wand und starrte ihn interessiert an. Über ihm wehten Laken aus einer Fensterluke und eine Frau mittleren Alters zog die Stoffe ins Innere. Als sie die beiden Männer erblickte, zog sie den Kopf zurück und schloss das Fenster, bevor sie die Laken ins Haus gezogen hatte.

»Pourquoi?«, fragte er.

Leon sah ihn verwirrt an. »Was?«

»Warum? Warum sollte ich anhalten?«

Leon ballte die Faust. Er wollte es nicht aussprechen, wollte dem Kerl nicht die Genugtuung geben, die er von Leon verlangte. »Wir brauchen dich«, nuschelte Leon.

»Wie bitte?« Eleazar verzog amüsiert den Mund. »Ich verstehe dich nicht.«

»Katharina sagte, du sollst mit nach Hamburg gehen. Jetzt komm schon. Sogar Tavi meinte, dass du keinem Phoenix Schaden zufügen könntest. Und Katharina braucht dich, um sie zu retten.« Leon gefiel es nicht, dass er vor Eleazar bettelte und dass der Phoenix diesen Anblick für seinen Geschmack ein wenig zu sehr genoss.

»Katharina braucht mich?«, hakte Eleazar nach.

»Treib es nicht auf die Spitze, Eleazar. Ich habe gerade Tavi zurückgelassen und bin nicht in der Stimmung, mich mit dir anzulegen. Kommst du mit oder nicht?« Leon ging einen Schritt zurück und auf die Gasse zu, aus der er gekommen war. Eleazar bewegte sich nicht, als ob er zögerte. Was gab es da zu überlegen? Er hatte niemals einem Phoenix schaden wollen. Tavi schwebte in Gefahr – in einer Gefahr, in die Leon sie gebracht hatte, wie ihm eine dunkle Stimme in seinem Kopf zuflüsterte – und sie musste gerettet werden. Auch wenn Leon ihn nicht ausstehen konnte, hoffte er, dass Eleazar sich für einen gemeinsamen Weg nach Hamburg entscheiden würde. Solange bis Tavi in Sicherheit war. Danach würde er ihn aus seinen Gedanken verbannen und vergessen. Eine Phoenix in seinem Leben war mehr als genug.

»In Ordnung. Ich begleite dich«, sagte Eleazar, »aber nur unter einer Bedingung.«

Leon biss sich auf die Zunge. Das konnte doch nicht sein Ernst sein. Obwohl er sich in dieser Situation befand, versuchte er etwas zu seinem Vorteil rauszuschlagen.

Ein lautes Dröhnen von Sirenen ließ ihn aufhorchen. Verdammt. Wie hatte man sie gefunden? Er blickte hoch. Hatte die Frau sie verraten?

»Wir müssen hier weg. Kann das nicht warten?«, fragte Leon.

»Stimm doch einfach meiner Bedingung zu und wir kommen ins Geschäft.«

Leon schlug mit der Faust der einen Hand in die Handfläche der anderen. Dieser Kerl war unfassbar egoistisch. »Auf keinen Fall. Was verlangst du?«

Eleazar ging auf ihn zu, richtete seine Fliege und stopfte sein Hemd ordentlich in die Hose. Leon konnte nicht glauben, mit welcher Ruhe der Phoenix vorging. »Du schuldest mir einen Gefallen.«

Die Sirenen der KA ertönten hinter ihnen und Leon drehte sich um. Die Zeit drängte. »Meinetwegen. Jetzt komm.« Leon rannte die Gasse entlang, doch als er keine Schritte hinter sich hörte, blieb er erneut stehen.

»Du verstehst das hoffentlich so, wie ich es meine«, sagte Eleazar. »Ich fordere den Gefallen ein. Wann immer ich will, wo immer ich will.«

»Ich bin nicht blöd. Ich weiß, was es bedeutet«, gab Leon zur Antwort, schluckte und wandte sich von Eleazar ab, um weiterzurennen. Er wusste das nur zu gut, aber er würde das diesem vermaledeiten Flattervieh nicht auf die Nase binden. Vor langer Zeit, in einem anderen Leben, als er sein Schicksal noch nicht gekannt hatte, schuldete er einer Frau einen Gefallen. Und den hatte sie eingefordert, als er es am wenigsten erwartete. Er war vierzehn Jahre alt gewesen, ein angesehener Barkeeper in Hamburgs Untergrundszene.

Eines Tages hatte er sich mit Kerlen eingelassen. Sie hatten ihm Marken geliehen, und als er nicht zahlen konnte, hatten sie seinen kleinen Finger verlangt. Und in seiner größten Not war diese Frau aufgetaucht und hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, alles bezahlt. Unter einer Bedingung: Dafür schuldete er ihr einen Gefallen.

Eineinhalb Jahre später hatte sie diesen eingefordert. Sie verlangte von ihm, er solle die Bar, in der er zu dem Zeitpunkt arbeitete, vorzeitig schließen. Für eine Stunde, denn sie wollte eine Privatparty feiern. Leon dachte sich im ersten Moment nichts dabei. Bis er am nächsten Tag die Ermittler der Kontinentalarmee vor der Bar stehen sah. Die Armee hatte die Bar mit elektrischem Absperrband zum Tatort erklärt. Der Typ, den der Barbesitzer gefunden hatte, war mit sieben Messerstichen im Bauch vorgefunden worden: sechs oberflächliche und einer tödlich.

Er hatte seit langer Zeit nicht mehr an diesen Tag gedacht. Doch es hatte ihn geprägt, hatte ihn daran gehindert, anderen Menschen zu vertrauen und seinen Mitmenschen Gefallen zu schulden. Zumindest in seinem alten Leben. Lieber hatte er alles im Alleingang unternommen und sich auf sich selbst verlassen.

Dennoch blieb ihm nichts anderes übrig. Wenn er Tavi retten wollte, musste er auf diese Vereinbarung eingehen. Schweren Herzens nickte er Eleazar zu. »Ich weiß, was es bedeutet. Also beweg endlich deinen gefiederten Arsch und lass uns von hier verschwinden.«

Die Sirenen wurden lauter, je näher sie der Straße kamen, in der Leon Katharina zurückgelassen hatte. Er empfing rasend schnelle Bilder, die ihn so plötzlich überfielen, dass er stolperte. Ein Mann bedrohte jemanden mit einer Waffe. Ein weiteres Bild schoss vor seinem geistigen Auge entlang. Ein verängstigter Hase, der sich in seinen Bau zurückzog.

Das war nicht Jörenson. Zumindest hoffte Leon das. Er war eindeutig kein Hase.

»Laufen wir in eine Falle?«, fragte Eleazar und überholte Leon.

»Da scheint eine Verhaftung stattzufinden, aber ich sehe nicht, wer verhaftet wird.«

»Warte hier. Ich schaue nach. Eine einzelne Person erregt wohl nicht so viel Aufmerksamkeit. Und sollte jemand wissen wollen, wer ich bin …« Eleazar drehte sich um und lief mehrere Schritte rückwärts. Seine komplette Erscheinung schien sich zu wandeln. Das selbstgefällige Grinsen wich einem offenstehenden Mund und seine sonst hochgezogenen Augenbrauen, die jedem sagten, wie wenig er von ihrer Existenz hielt, zogen sich ängstlich zusammen. Eleazar wirkte beinahe so hilflos, dass Leon ihm fast seine Hilfe angeboten hätte. »Ich bin der arme Professor, der sich verlaufen hat und nicht genau weiß, wo er gerade ist.«

Leon hielt an und wartete. Eleazar hätte einen guten Schauspieler abgegeben, wenn seine Lebensplanung nicht andere, undurchsichtige Ziele verfolgt hätte.

»Pass auf! Und schau nach, wo sich Katharina versteckt.«

»Hinter euch«, ertönte ihre Stimme. Jörenson keuchte ein wenig, aber auch er tauchte aus dem zusammengestürzten Eingang des zerstörten Hauses auf.

»Katharina. Geht es euch gut?«, fragte Leon.

»Jemand wird verhaftet. Sie halten ihn für einen Satyr. Dabei hat der Mann nicht einmal behaarte Beine. Los, weiter. Die nächste Straße links und dann geradeaus.« Der Ton ihrer Stimme klang sanft, beinahe entspannt.

Leon hatte keine Ahnung, wie Tavi es mit ihr ausgehalten hatte. Ständig diese Gefühlsschwankungen.

Dennoch schaffte es Katharina, sie lebend aus Paris rauszubringen. Sie passierten die letzte Zaunbarriere, die sie von der Stadtgrenze trennte. Als Katharina durch das Loch im Zaun kletterte, hielt sie auf halbem Weg inne. Leon lauschte in die Nacht hinein. Die vertrauten Geräusche eines leisen Motors und das Surren von Nachtsichtgeräten waren ihm nur zu bekannt. Er duckte sich reflexartig an den Fuß des Zauns.

»Gyrokopter!«, rief er.

»Wo?«, fragte Jörenson und suchte den sternenlosen, blauschattierten Himmel ab.

»Duck dich gefälligst!«, bellte er ihm entgegen. Einige Tage zuvor hatte er ihm noch erzählt, dass er ganz alleine aus Skandinavien nach Paris geflohen war. Wieso ging er dann beim Anblick eines Gyrokopters nicht in Deckung? Ein intelligenter Mann, aber eindeutig zu naiv für einen so radikal geführten Krieg.

Stumm beobachtete Leon den Lichtkegel, der sich ihnen näherte und mehrere Meter von ihnen entfernt über die Erde huschte. Katharina sagte nichts, sondern starrte nur in den Himmel – irgendwo in weite Ferne, nicht einmal zu den Gyrokoptern.

Ein seltsames Gefühl, verknüpft mit Bildern, erfasste ihn. Da war ein Friedhof, in dessen Mauer ein orangeroter Stein eingearbeitet war. Er hob unwillkürlich den Arm und winkte, als ob er spürte, wie jemand Abschied nahm. Leon blinzelte und im nächsten Moment war das Bild verblasst.

Katharina erwachte aus ihrer Starre. »Jetzt ist es sicher.«

»Warum hast du angehalten?«, fragte Eleazar. »Hattest du eine Vision?«

»Wir können weiter.« Katharina beachtete Eleazars Frage nicht einmal, dabei interessierte es ihn ebenfalls. Er wollte gerade etwas sagen, als sie die Hand hob. »Achtet darauf, wo ihr hintretet. Jörenson. Du brauchst Wasser. In einem Kilometer kommt ein Bach. Schaffst du es bis dahin?«

Der Eisriese nickte und lehnte mit einer Hand an einem Baum. Im fahlen Dämmerlicht erkannte Leon, wie bleich sein Freund war. »Alles in Ordnung?«, fragte er und ging zu ihm.

»Geht schon. Mir gehen die Kräfte aus«, sagte er mit schwerer Zunge.

Leon bezweifelte, dass Jörenson es bis zum Bach schaffen würde. »Komm, ich stütz dich.«

»Wie nobel von dir.« Eleazar überholte ihn. »Wäre es nicht einfacher, ihn zurückzulassen?«

Katharina öffnete den Mund, doch Leon antwortete schneller. »Auf keinen Fall. Wenn wir dich nicht zurücklassen, dann erst recht niemanden, den ich mag. Und jetzt hilf mir.« Jörenson war schwerer, als er aussah.

»Pas de chance. Du hast noch nie gesehen, was ein Eisriese anrichtet, wenn er die Kontrolle über seine Kräfte verliert. Ich schon. Ich wünsche dir viel Spaß damit.« Eleazar stellte sich mit verschränkten Armen neben Katharina.

»Was passiert mit ihm?«, fragte Leon misstrauisch, hielt aber Jörenson fest. Er hoffte, dass Katharina ihm wenigstens darauf eine ihrer kostbaren Antworten geben konnte.

Doch stattdessen starrte Katharina weiterhin nach oben. Ihr Kopf folgte dem Gyrokopter, der am Himmel entlangraste, bis er in der Nacht verschwunden war.

»Das möchtest du jetzt nicht hören. Nimm ihn und stütz ihn bis zum Bach«, erwiderte sie schließlich und kletterte endgültig durch den Zaun.

»Mir geht es gut. Ich werde meine Kontrolle nicht verlieren.« Jörenson knirschte vor Anstrengung mit den Zähnen, kämpfte darum, diese beiden Sätze deutlich genug herauszubringen, so dass die anderen ihn verstehen konnten. Der Eisriese verlor sichtbar an Kraft. Wenn ihm selbst das Sprechen schwerfiel, würde der Weg zum Bach die reinste Tortur werden. Er führte seinen Arm unter dem seines Freundes durch und zog ihn mit sich. Gleichzeitig hielt Eleazar Abstand zu ihm und Katharina wies ihnen den Weg.

»Baumwurzel«, bemerkte sie einmal, als sie den Weg durch einen Hain nahmen. »Stein«, sagte sie etwas später. Jedes Mal reichte die Zeit gerade aus, damit Leon Jörenson am Hindernis vorbeiführen konnte, aber es kostete den Riesen Energie, die scheinbar immer knapper wurde.

»Halt durch, Kumpel. Wir schaffen das schon.«

Kälte kroch seinen Nacken hinauf, kühlte seinen heißen Kopf. Anfangs dankte er Jörenson für das Gefühl, das von ihm ausging. Doch mit jedem Moment wurde es schmerzhafter, brannte auf seiner Haut, wie nur Eis brennen konnte. Leon biss sich auf die Zunge, sagte aber kein Wort. Er wollte keine Schwäche zeigen, schon gar nicht in Anwesenheit von Eleazar. Außerdem konnte er Jörenson nicht zurücklassen. Nicht nach allem, was der Eisriese für ihn und Tavi getan hatte.

Leons Zähne klapperten, als er das Plätschern hörte. Erleichtert atmete er auf, als sich das Glitzern des Mondes in dem schmalen Bachlauf spiegelte.

»Gleich hast du es geschafft«, meinte Leon mit brüchiger Stimme. Selbst seine Stimmbänder schienen von der Kälte belegt worden zu sein.

»Setz ihn am besten direkt ins Wasser. Es geht ihm nicht gut.« Katharina bog einen Ast zur Seite, der Leon in Kopfhöhe gestreift hätte.

Der Cupido nickte, unfähig noch ein weiteres Wort zu sagen. Als er mit dem Fuß im Gewässer stand, löste er mit einem Ruck seinen Arm von Jörenson. Er hatte es nicht gemerkt, aber ihre Kleidung hatte sich durch winzige Eiskristalle miteinander verbunden. Leon ließ Jörenson behutsam ins Wasser gleiten. Dann sank der Skandinavier kraftlos in sich zusammen und blieb im Bach liegen, ohne sich zu regen.

Voller Angst beobachtete Leon seinen Freund. Der Stoff klebte in harten, gefrorenen Lagen an seinem Körper und schien nicht auftauen zu wollen.

»Was ist mit ihm? Warum geht es ihm nicht besser?«, erkundigte Leon sich.

»Gib ihm einen Moment.«

»Weshalb braucht er Wasser? Er ist doch ein Eisriese.« Noch während Leon es aussprach, dämmerte es ihm. »Ist er erst durch das Wasser in der Lage, Eis zu erzeugen?«, fragte er Katharina.

Sie nickte und kniete sich neben Jörenson. Dass ihr Rock dabei nass wurde, schien sie nicht zu stören. Da war ein Hauch von Besorgnis, die über ihr Gesicht huschte, als er sich weiterhin nicht rührte. »Ein Eisriese ist unter anderem deshalb so hochgewachsen, weil er Wasser speichert. Wenn er zu viel Eis produziert, stirbt er. In ihrer Heimat in Skandinavien existieren Fjorde und Seen, so dass es selten einen Eisriesen gibt, der an Wassermangel stirbt. Doch hier …« Sie ließ den Satz unvollständig.

»Aber er wird wieder gesund, oder?«, hakte Leon nach und massierte seine Handflächen.

Zunächst antwortete Katharina nicht. Stattdessen hielt sie eine Hand an seine Stirn. Sofort zog sie sie wieder zurück. Im nächsten Moment holte sie aus und schlug Jörenson mit der flachen Hand auf die Wange.

»Was soll das?«, rief Leon und stieß sie von Jörenson fort. »Bist du verrückt geworden?«

»Nein. Schau.«

Jörenson rührte sich. Seine Finger rutschten von seinem Bauch und fielen in den Bach. Feine Rinnsale rannen in seine Fingerspitzen hinein. Mit jeder Sekunde und jedem Tropfen Wasser wechselte seine Gesichtsfarben von dem fahlen Grau zu seinem naturgegebenen kalkweißen Gesicht.

»Braucht der Eisriese etwa Schmerzen, um sich aufzuladen?«, fragte Eleazar amüsiert. »Scheint auf jeden Fall eine spezielle Vorliebe dafür zu haben.« Voller Interesse trat Eleazar näher und beugte sich über Jörenson.

Eine einzelne Eisblume breitete sich über Eleazars Hosenbein aus und kroch an seinem Schienbein hinauf. »Hei!«

»Keine Vorliebe. Aber dich mit Eis überziehen, könnte meine neue Lieblingsbeschäftigung werden«, meinte Jörenson, während er sich erhob. »Danke, Katharina«, wandte er sich an die Hexe und hielt sich die rote Wange.

Leon reichte ihm die Hand und zog ihn aus dem Bach.

»Und dir ebenfalls, Leon.«

Das Wasser aus Jörensons Kleidung war in der Sekunde verschwunden, in der er aufrecht dastand. Es verdunstete wie durch Zauberhand in ihn hinein.

»Die Fähigkeit hätte ich auch gerne«, scherzte Leon.

»Wir unterhalten uns später über unsere Kräfte. Jetzt müssen wir erst einmal einen Schlafplatz für die Nacht finden. Und glaubt mir, wir sollten weise wählen.«

Katharinas weiße Augen glühten heller als der aufsteigende Mond, während sie Leon ansah.

»Werden wir verfolgt?«

»Nicht direkt«, sagte sie, während sich ihre Iris in das bekannte Braun zurückverwandelte. »Wir werden nicht verfolgt. Noch nicht. Aber die Macht, die hinter dem Überwachungskontinent steckt, sucht nach uns.«

Es dauerte einen Moment, bis Leon verstand, was Katharina meinte. »Saiwalo?« Katharina nickte und schickte Leons Gedanken damit in eine dunkle, schlaflose Nacht.

 

Vereint in Gefangenschaft

Tavi

 

»Wie?« Tavi wusste nicht, was sie denken, geschweige denn sagen sollte. Ihr Verstand kreiste, als ob ein Wirbelsturm in ihr tobte. »Wie kannst du hier sein?«, fragte sie. »Du bist …« Tavi konnte es nicht aussprechen.

»Tot.« Die Stimme klang beinahe entspannt, als ob es alltäglich wäre, darüber zu reden, wenn man von den Toten zurückkehrte. »Ja, ich weiß. Ich bin es nicht.«

»Das meinte ich nicht. Wieso steckst du im Gefängnis?« Es war ihr gleichgültig, dass sie eine Gefangene war. Aber Nathan? Das ergab keinen Sinn. Eigentlich hätte er irgendwo in Paris herumlaufen müssen.

»Sie fand mich, fütterte mich, und sie hat mir geholfen, nicht so viele zu töten. Nur ein paar. Papa, kochst du mir mein Lieblingsessen?«

Verwirrt trat Tavi näher an das Loch in der Wand. Das dort war nicht Nathan, wie sie ihn kannte. Nebenan saß eine verstörte Seele – oder besser gesagt: Dort saßen zwei verstörte Seelen. Katharina hatte ihr erzählt, was sie getan hatte. Sie hatte Nathan von den Toten zurückgeholt und in den Körper einer sterbenden Frau transferiert. Doch keiner von beiden war gewichen. Sie teilten sich den Leib, und so wie es aussah, besaß keiner von ihnen die Kontrolle.

»Du bist Nathan«, versuchte es Tavi und unterdrückte dabei ein Schluchzen.

»Nicht nur. Ich bin so viel mehr und eigentlich gar nichts. Mich sieht keine Hexe und ich erblicke alles. Ich bin einzigartig.«

Tavi legte eine Hand neben das Loch in der Wand, als ob sie fühlen könnte, was sich auf der anderen Seite abspielte. Die Kälte der Mauer ließ sie erschauern. Dahinter lag das, was von ihrem Ziehsohn übriggeblieben war. Ein flackernder Moment seiner Seele im Körper eines sterbenden Mädchens. Der Rest von etwas, das nicht in diese Welt gehörte. Sie fragte sich, ob sie die Wand durchbrechen konnte, verwarf die Überlegung jedoch gleich wieder. Wollte sie sehen, in welchem Zustand sich Nathan befand? Wollte sie wissen, wie verwirrt er wirklich war? Und vor allem: Wollte sie seinen vorwurfsvollen Blick sehen, wenn ihm bewusst wurde, dass sie für seinen Tod verantwortlich war?

Sie atmete tief durch. Es gab vieles, was sie nicht verstand: Warum Nathan hier war oder wie er zu dem geworden war, was er war. Doch eines wusste sie mit Sicherheit: Sie musste ihn aus der Verwahrstelle befreien. Er durfte nicht in dieser Zelle leben. Es reichte ja schon, dass er der Gefangene in einem fremden Körper war.

»Wurdest du von der Waffensammlerin festgenommen?«, fragte Tavi und versuchte, ihre wirbelnden Gedanken einzeln zu befestigen, sie festzuhalten, um einen Moment der Ruhe zu generieren, sie an einem Seil zu verankern.

»So habt ihr sie genannt? Sie hat mich immer zuvorkommend behandelt. Und meine Waffe hat sie auch nie gesammelt.« Die Stimme wurde leiser, als ob sie sich von dem Loch entfernte. »Und jetzt wird sie es auch nie mehr.«

Tavi biss sich auf die Lippen. Egal wie viele Gedanken sie festband, es wirbelten immer neue auf, aber sie ließ sie für diesen Moment lieber davonfliegen. Es gab Wichtigeres zu besprechen. »Warum bist du nicht verschwunden? Hast du versucht zu fliehen? Weißt du, ob es von hier einen Weg nach draußen gibt?«

»Nein. Diese Einrichtung ist neu. Ich kannte die alte, kannte die Wege rein und raus. Doch die ist modern. Mein Papa hat mir keine Mahlzeit gekocht. Ich habe Hunger. Heute kriege ich kein Essen.«

Tavi schloss die Augen, legte die Stirn an die Wand. Das Mädchen musste ein Straßenkind gewesen sein, bevor Katharina sie auserwählt hatte. Vermutlich stand sie kurz vor dem Verhungern, weswegen sie nur noch ans Essen denken konnte. »Bald gibt es etwas.« Tavi wusste nicht, ob sie die zweite Seele damit beruhigte oder erst recht weckte. Sie brauchte Nathan, seine Beobachtungsgabe und seinen Verstand. »Was meinst du mit modern? Befinden wir uns nicht in der Verwahrstelle in Paris?«

Aus der anderen Zelle ertönte ein dumpfes Lachen. Zu dunkel für eine Frau, zu hell für einen Jungen, zu grausam für einen Menschen. Ein Schauer rann ihr übers Rückgrat.

»Wir sind nicht mehr in Paris.«

»Nicht in Paris?«, fragte Tavi überrascht. »Wo denn? Konntest du sehen, wo sie uns hingebracht haben? Ein Hinweis?« Sie suchte nach Erinnerungen, kramte in ihrem Gedächtnis, wollte wissen, was passiert sein mochte. Sie erinnerte sich noch an die Höhle in den Katakomben von Paris. Ein heftiger, unaufhörlicher Stromstoß hatte sie getroffen, und sie war gestorben. Doch danach war nur die Finsternis gewesen. Tavi schüttelte den Kopf, rieb sich die Stirn an der Wand. Ihre Wiederauferstehung dauerte gewöhnlich keine zehn Minuten. So schnell konnte nicht einmal die Kontinentalarmee sie in eine andere Stadt transportieren. Selbst mit der neuesten Gyrokoptertechnik wäre die nächste größere Verwahrstelle anderthalb Flugstunden entfernt.

»Ich verspüre Hunger.«

Tavi ballte ihre Faust.

»Wo sind wir?«, fragte sie lauter, drängender. Sie durfte Nathan jetzt nicht verlieren.

»Das weiß ich nicht. Ich war noch nie an diesem Ort und ich war hier schon lange. Essen? Ich rieche Essen.«

Tavi schlug mit der Faust gegen die Wand neben dem Loch. Der Schmerz verschwand sofort, doch der in ihrem Herzen brannte sich seinen Weg durch ihre Adern. »Verdammt!«, fluchte sie.

Nathan war verschwunden. Sollte sie Katharina wiedersehen, würde sie ein ernstes Wort über diese Praktiken mit der Hexe führen müssen. Sie durfte niemals wieder jemanden von den Toten zurückholen. Zumindest nicht, wenn Tavi die Person kannte.

Da sie den Aussagen ihrer Zellennachbarin nicht weiter traute, musste sie sich eine andere Informationsquelle suchen. Entschlossenen Schrittes ging sie auf die Metalltür zu. Sie untersuchte die Tür für einen Moment. Mit einem kräftigen Feuerstoß konnte sie sie zwar zerstören, aber sie wusste nicht, was sie dahinter erwarten würde. Eventuell der Beginn eines Fluchtplans. Sobald sie ihre Feuerkraft unter Kontrolle bekam.

»Hallo?« Mit voller Wucht donnerte sie gegen die Tür.

»Schnauze da drinnen. Essenzeit ist erst in einer Stunde.« Die dumpfe Stimme eines Mannes drang durch das Metall.

»Ich will kein Essen. Ich will Informationen.«

Das Schnauben war kaum zu hören. Doch die Stille danach umso deutlicher.

Tavi schlug noch einmal gegen die Tür. »Mach auf!«

Eine Antwort erhielt sie jedoch nicht. Scheinbar waren die Bewacher in dieser Verwahrstelle nicht geneigt, ihr einen Gefallen zu tun. Also musste sie auf eigene Faust versuchen, herauszufinden, wo sie sich befand.

Ihre Zelle brachte keine Hinweise. Weder hing zufällig eine Landkarte an der Wand, noch gab es ein Fenster, das ihr einen Blick auf die Stadt erlaubte. Der Mann vor der Tür hatte Hochdeutsch gesprochen. Kein Akzent, der auf eine Region in Europa hindeutete.

Tavi setzte sich im Schneidersitz auf ihre Pritsche. Als die Innenseiten ihrer Beine vor ihr lagen, entdeckte sie einen Riss in ihrer Stoffhose. Er saß über einer frischen Narbe an ihrem Oberschenkel, direkt an ihrer Hauptschlagader. Wenn jemand sie dort verletzt und die Wunde offengehalten hatte, wäre sie ausgeblutet, gestorben und wiederauferstanden. Warum aber, so fragte sie sich, erinnerte sie sich nicht an die Wiederauferstehung?

Tavi lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen. Der Ratschlag eines Hexers aus ihrer Jugendzeit als Phoenix kam ihr in den Sinn. Zu der Zeit hatte sie Schwierigkeiten gehabt, ihre Flügel vollständig zu kontrollieren. Sie waren manchmal sogar ohne Vorankündigung herausgebrochen. Inzwischen wusste Tavi, dass sie nicht durch Liebe kontrolliert wurden, sondern durch den Auslöser, durch den sie auch zur Phoenix geworden war: Um die Kontrolle der Flügel zu erlangen, musste sie wütend werden. Damals hatte der Hexer ihr geraten, jeden Abend zu meditieren. Es sollte ihr helfen, sich zu konzentrieren und herauszufinden, welches Problem sie quälte.

Sie versuchte so oft wie möglich, diesem Rat zu folgen, vermied es jedoch manches Mal, da es derselbe Hexer gewesen war, der sie in dem Vulkan gequält hatte.

»Heute gibt es Brei mit Erdbeeren. Du zwei, ich drei«, hörte sie die Stimme von nebenan. Es klang wie ein kleines Kind, das sich auf Schokolade freute.

»Erdbeeren sind so rar, dass sie die sicher nicht an Gefangene verschwenden«, erklärte Tavi und richtete sich auf.

Sie musste meditieren, zumindest konnte sie so versuchen, sich zu erinnern. Schritt für Schritt durchgehen, was sie zuletzt getan hatte. Das wäre vermutlich genauso effektiv.

Sie regulierte ihre Atemfrequenz so weit nach unten, dass sich ihr Körper entspannte. Ihre Sinne schaltete sie einen nach dem nächsten ab. Zunächst ihren Tastsinn. Obwohl ihre Finger auf den Knien lagen, spürte sie den glatten Stoff der Hose nicht mehr. Ihre Augen hatte sie längst geschlossen und den Geschmackssinn hatte sie seit längerem nicht mehr benutzt. Die weibliche Stimme von Nathan kostete sie die meiste Kraft, so dass sie sie zuletzt ausblendete.

Tavis Blut pochte durch ihre Adern und überlagerte ihr gesamtes Denkvermögen. Sie ging zurück zu dem Augenblick, in dem sie in der Höhle abgestürzt war. Sie erinnerte sich an das Gefühl des Fallens. Aber da war kein Aufschlag. Zumindest erinnerte sie sich nicht daran. Wahrscheinlich war sie zu dem Zeitpunkt bereits tot gewesen.

Tavi hörte einen Schrei. Es war ihr eigener. Ihre Wiederauferstehung. Sie war offenbar nicht erst in der Zelle erwacht. Gut, dachte sie mit einem grimmigen Lächeln. Für einen furchtbaren Moment hatte Tavi geglaubt, dass jede Rückkehr seit der Begegnung mit ihrem Dolch länger dauerte als früher.

Ein Wort schlich sich in ihre Konzentration, doch Tavi verstand es nicht. Dafür spürte sie etwas umso deutlicher. Sie fühlte mehrere schmerzhafte Treffer aus einer T2. Die Situation spielte sich noch einmal vor ihr ab. »Feuer!« Schüsse, um sie sofort zu töten. Kein Wunder, dass sie nicht wusste, wo sie sich befand.

Tavi richtete sich auf, suchte eine bequemere Sitzposition, ehe sie mit dem Rekapitulieren fortfuhr. Erneut vernahm sie das Wort, erkannte durch ihre halbgeöffneten Lider einen Soldaten, der den Befehl brüllte, ehe es wieder dunkel wurde.

Diese Szene wiederholte sich. Jedes Mal erhaschte sie einen kurzen Blick auf diesen Kerl, hörte die Order, ehe die Finsternis sie übermannte. Manchmal blitzte neben dem Soldaten noch ein weiteres Bild auf, doch Tavi konnte es nicht greifen. Alles war verschwommen, zu entfernt, um klar hervorzutreten.

Das letzte, was sie sah, war der Blick von einem Dach. Vor ihr breitete sich der freie Himmel aus. Ein einzelner Stern leuchtete in der Dämmerung hinter dem Soldaten der KA. Die Luft in ihrer Lunge hatte sich frisch und natürlich angefühlt. Nicht so künstlich wie die in der Zelle. Über dem Gesicht des Mannes sah sie ein Rotorblatt, ehe der Todesschmerz erneut in sie eindrang. Mit den Fingerspitzen strich sie sich über die Brust, spürte die ursprüngliche Narbe des Messers, mit dem sie das allererste Mal getötet worden war. Wahrscheinlich war sie mit dem Gyrokopter transportiert worden.

Und der Weg von dem Dach in die Zelle hatte weniger als zehn Minuten gedauert. So musste es gewesen sein. Nach dem Gyrokopter gab es kein Gedankenbild mehr, keinen Schmerz. Nur noch das Erwachen in ihrem Gefängnis.

Tavi riss die Augen auf und starrte die weiße Wand an. Ihre Vorstellungen projizierten sich auf die Mauer und sie überlegte, wie sie am besten aus der Verwahrstelle entkommen konnte. Da die Soldaten sie getragen haben mussten, würden sie nicht den Pater Noster benutzt haben.

Tavi stutzte. Oder doch? Wenn sie auf eine Trage geschnallt worden war, hätte man sie aufrecht in den Pater Noster stellen können. Tavi schüttelte den Kopf bei dem Gedanken. Nein, sie hatten vermutlich die Treppen genommen. Und sie in der Zelle auf den Boden gekippt. Ihr Blick fiel auf einen hauchdünnen Brandfleck, der die ansonsten glatte Oberfläche zierte. Ihr normales Feuer konnte dem Steinboden nichts anhaben.

Tavi stand auf. Vielleicht acht Minuten bis zum Dach. Das musste zu schaffen sein. Sobald sie herausfand, wo sie war, konnte sie verschwinden und im Anschluss nach Leon suchen.

Leon. Sie fühlte einen Stich in ihrem Herzen. Durch die Begegnung mit Nathan hatte sie Leon vergessen. Was war passiert, nachdem sie die Maschine zerstört hatte? War es ihm gelungen aus der Höhle zu entkommen? Lebte er? Doch. Er musste.

Tavi musste sich in ihrer meditativen Haltung an das Atmen erinnern. Katharina hatte zwar den Verbundenheitszauber von ihnen genommen, aber Tavi wusste einfach, dass er noch lebte. Wenn er tot wäre, würde sie es spüren.

Was war mit Katharina? Die Hexe war ohnmächtig geworden, als eine Vision sie überrollt hatte. Wie sollte sie da fliehen? War sie vielleicht auch an diesen Ort gebracht worden?

In ihrer Brust zog sich alles zusammen. Ihr Brustkorb drückte sich, wie von einem enormen Gewicht belastet, zusammen und sie verlor jegliche Konzentration. Ihre Sinne öffneten sich und stürmten auf sie ein.

Die Selbstgespräche von Nathan nebenan hörte sie mit solcher Deutlichkeit, dass sie sich sogleich die Ohren zuhielt. Der sterile Geruch, gemischt mit ihrem eigenen Rauch brannte sich in ihre Nasenflügel.

Es gab viele Fragen und nicht eine Antwort. Doch die brauchte sie mehr als dringend. Sie hatte Leon erst wiedergefunden, da konnte sie nicht wieder von ihm getrennt sein.

Ein Rumpeln an der Tür schreckte sie auf. Jemand machte sich an der Tür zu schaffen. Von innen gab es keinen Knauf.

»Tritt von der Tür weg, Gefangene!«, ertönte die harsche Stimme ihres Bewachers.

Tavi schnaubte. Wenn er sich hereinwagte, würde er schon sehen, was er davon hatte. Doch anstatt, dass er hereinkam, öffnete sich nur ein Schlitz – kaum einen Handbreit hoch. Gleich darauf fuhr ein Tablett durch den Spalt und blieb liegen.

Tavi erkannte eine magnetische Vorrichtung, die das Tablett an Ort und Stelle hielt.

Ein äußerst interessanter Einfall der Kontinentalarmee. Das musste sie sich merken. Magneten konnten sich bei einer Flucht als nützlich erweisen.

»Du hast zehn Sekunden, dir dein Essen zu nehmen.«

Sie fluchte innerlich und trat vor das Tablett. Sie konnte zwar Tage ohne Nahrung verbringen, doch genau genommen hatte sie das bereits getan. Sie brauchte die Energie.

Gerade rechtzeitig hob sie das einfache Tablett an, ehe der Mechanismus lautlos zurückfuhr und sich der Spalt schloss.

»In fünfzehn Minuten hole ich es wieder ab.«

Tavi schlich zur Pritsche und setzte sich. Sie erstarrte, als sie das Gericht sah. Brei mit Erdbeeren. Zwei rote Früchte thronten auf einem Berg aus einer undefinierbaren Masse. Tavi konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal Erdbeeren gegessen hatte, aber es lag auf jeden Fall einige Jahre zurück.

Neugierig ging sie zu dem Loch in der Wand. »Hast du auch Erdbeeren erhalten?«

Aus der Nachbarzelle hörte sie zufriedenes Schmatzen. »Prei Pftück.« Tavi runzelte die Stirn.

»Woher wusstest du das?« Der frische Duft des Obstes drang an ihre Nase und ihr lief das Wasser im Mund zusammen.

»Ich habe es gesehen, Tavi.«

»Nathan?«

»Ja?« Die Stimme klang noch immer verwirrt, aber zumindest war er sich bewusst, wer er war.

»Woher wusstest du, was es zu essen gibt?« Sie drückte ihren Kopf gegen die Mauer, versuchte durch das Loch zu schauen. Doch sie sah nur die weiße Wand in der Nachbarzelle.

»Essen ist meine Leidenschaft. So lange habe ich es nicht getan. So viel verpasst. Der Brei schmeckt vorzüglich. Du hast mir nie welchen gemacht.«

Ihr Herz machte einen Sprung, als sie den stillen Vorwurf hörte und unwillkürlich musste sie schmunzeln. »Das stimmt. Du mochtest ihn früher nicht, deswegen habe ich dir – wenn es denn ging – ein Brot zum Frühstück geschmiert.« Tränen traten ihr in die Augen. Vielleicht existierte Nathan noch irgendwo in dem Körper. Vielleicht konnte Katharina ihn retten. Vielleicht …

»Diese Zunge mag Brei. Wieso trage ich eigentlich keine rote Strähne mehr? Und warum wirfst du dein Tablett weg? Den Dreck mach ich nicht sauber. Hier hast du Eimer und Wischwasser.«

»Nathan?« Tavi kratzte sich an der Stirn, lauschte auf weitere Geräusche, doch selbst das Schmatzen hatte aufgehört.

»Kein Nathan. Kein Wissen.« Die Worte drangen so kalt aus der Nachbarzelle, dass Tavi sich unwillkürlich die Arme rieb. Sie zerrten ihre eigene Wärme hervor und löschten mit ihrem eisigen Klang das Feuer in ihrem Innern.

Tavi stolperte mehrere Schritte zurück, bis sie vor ihrer Pritsche stand. »Bitte.« Ihre Stimme brach beinahe. »Lass mich mit ihm sprechen.«

»Er wird dir nicht helfen, Phoenix. Er ist schwach, erinnert sich an vieles, nur nicht genug.«

Die Tränen kamen unverhofft, rannen ihre Wangen hinab in den Kragen ihrer Bluse. »Wer bist du?«, fragte Tavi gedämpft. Sie wusste, dass ein junges Mädchen vorher in dem Körper gelebt hatte, aber Tavi konnte sich nicht vorstellen, dass es in dieser dunklen Art sprach. Besonders, wenn es auf der Straße aufgewachsen war. Einerseits fürchtete sie die Antwort, andererseits hoffte sie darauf.

»Ich bin Phoenix.«

Tavi stockte. »Ein Phoenix?« Wie konnte Nathan ein Phoenix sein? Sie wollte weitersprechen, als weitere Worte ertönten.

»Hexe, Dämon, Walküre, Dschinn, Wendigo, Banshee …«

»Das ist unmöglich!«, unterbrach Tavi ihn, doch die Person in der Nachbarzelle zählte ungehindert auf.

»… Nachtmahr, Meerjungfrau, Minotaurus …«

Wut stieg in ihr auf, kochte vor Hilflosigkeit über.

»… Satyr, Nymphe, Titan …«

Tavi drehte sich um und trat gegen das Tablett. Der Brei verteilte sich auf dem Boden und spritzte zum Teil bis an die Wand. Eine der Erdbeeren kullerte über den Brandfleck und blieb neben ihrem Fuß liegen.

»… Sphinx, Mantikor, Sirene …«

Die Aufzählung wollte nicht aufhören. Tavi bückte sich nach der Erdbeere und hob sie vors Gesicht. Sie lockte mit ihrem saftigen Aussehen, doch aus irgendeinem Grund schmiss Tavi sie von sich.

»… Zentaur, Elfe, Fee …«

Die Liste schien ewig anzudauern. Tavi kannte einige der aufgezählten Seelenlosen nicht einmal, geschweige denn, war ihnen in ihrem langen Leben begegnet.

»… Zerebos. Das alles bin ich.«

Tavi schüttelte den Kopf und starrte auf den Brei. Er tropfte von der Wand und sammelte sich auf dem Boden, so wie sich auch ihre Wut in ihrem Magen zu einer breiartigen Masse zusammensammelte. Am liebsten hätte sie geschrien und versucht, die Person in ihrer Nachbarzelle zur Vernunft zu bringen. Doch ein Schrei hätte nicht ausgereicht.

»Du bist nichts von alledem. Du bist ein junger Geisterwächter, der im Körper eines Mädchens steckt«, murmelte Tavi, während ihre Wut nachließ. Unendliche Müdigkeit erfüllte sie. Sie musste mehrere Male wiederauferstanden sein, wenn sie so erschöpft war.

»Und trotzdem bin ich jeder einzelne von ihnen. Du, Phoenix, bist ein Teil von mir. Nur der andere. Der ist nicht ich. Der ist einzigartig.«

Tavi vernahm die Worte, ließ sich aber nicht davon beirren. Sie legte sich auf die Pritsche, wischte einen Klecks Brei, der auf dem kalten Metall gelandet war, auf den Boden und schlief ein.

Hilfe ist unterwegs

Leon

 

Leon hasste Eleazar. Je weiter er sich von Paris entfernte, desto mehr verfestigte sich das Gefühl. Er konnte es nicht an einem bestimmten Problem mit dem Phoenix festmachen. Bei jedem Wort, jeder Bewegung, jeder Berührung wollte Leon ihn schlagen.

Eleazar hatte bisher nichts getan, was so ein heftiges Gefühlschaos in ihm erklären konnte. Tatsächlich erwies er sich als nützlich. Sie liefen inzwischen seit zwei Tagen. Jörenson kümmerte sich um das Essen, während Katharina den Weg festlegte. Eleazar behielt den Überblick und gab rechtzeitig Bescheid, wenn Menschen auf dem Weg auftauchten, so dass sie sich vor ihnen verstecken konnten.

»Findest du nicht, dass wir in einem Dorf Rast machen sollten?«, fragte Eleazar. »Duschen in einem Fluss mag für einen Cupido und einen Eisriesen reichen, aber ich würde gerne eine Dusche benutzen.« Er schimpfte seit der ersten Nacht, in der sie unter freiem Himmel geschlafen hatten.

»Du bist eine ganz schöne Mimose, weißt du das?«, merkte Jörenson an, dem der Aufenthalt an der frischen Luft guttat. Anders als in den Tunneln schien er aufzublühen. Er wagte es sogar, Eleazar zu widersprechen. Im Untergrund hatte er sich noch nicht einmal getraut, in seiner Nähe zu sein.

»Pah. Das ist nicht wahr. Ihr seid alle diesen rustikalen Lebensstil gewohnt. Katharina, was sagst du? Un village?«

»Er hat recht. Wir sollten einkehren.« Das Gelbweiße in ihren Augen waberte wie eine Welle, die an die Küste brandete. »Und zwar in das Dorf dort hinten.«

»Wirklich?« Leon ging zu ihr und versuchte zu ergründen, warum sie Eleazar ausgerechnet jetzt zustimmte. »Katharina. Wir müssen weiter. Du weißt, dass wir ein Ziel verfolgen.«

»Dieses Ziel habe ich viel länger, als du es dir vorstellen kannst. Bitte tritt beiseite und lass uns in das Dorf gehen.« Die kalte Stimme der Hexe bohrte sich in sein Herz, zusammen mit dem Bild von einem Felsen, an dem sich das Wasser brach. Leon wusste, dass es keinen Sinn machte, mit ihr zu diskutieren, also beließ er es dabei.

Jörenson hingegen überzeugte das nicht. »Was erwartet uns dort? Gibt es einen Außenposten der KA? Oder andere Soldaten?«

»Nicht direkt. Einige Verwaltungsangestellte leben dort, aber sie werden euch nicht gefangen nehmen, solange ihr euch nicht zu erkennen gebt. Auf jeden Fall ist kein Geisterwächter da, falls du das wissen möchtest.« Katharina stützte sich auf einen dicken Stock, den sie am vorherigen Tag gefunden hatte. Er half ihr beim Gehen, wann immer sie von einer heftigen Vision erfasst wurde.

»Und was sollen wir in dem Dorf?«, hakte der Eisriese nach.

»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Eleazar und deutete mit Handbewegungen eine Dusche an. »Wir stinken alle wie die Unterhose eines griechischen Soldaten nach drei Tagen Schlacht.«

Leon zog die Augenbrauen zusammen.

»Eine Dusche werden wir dort nicht erhalten, aber etwas anderes«, bemerkte Katharina geheimnisvoll, ging weiter und die anderen folgten ihr.

Vor ihnen lag eine Siedlung von einigen Hundert Einwohnern. Von der Anhöhe, auf der sie standen, konnte er eine Kirche erkennen, die vermutlich als Lebensmittellager genutzt wurde, so wie viele der religiösen Gebäude. Leon wusste, dass es früher verschiedene Gemeinschaften gegeben hatte, die sich Christen oder Moslems oder Buddhisten nannten, doch niemand glaubte mehr an eine Gottheit. Denn die Saiwalo hatten es verboten.

Außerdem gab es immer weniger Familien, und Kleidung sowie Nahrung fehlten. Da blieb kein Platz für eine Gottheit, die genau das als Opfergabe von ihnen verlangte.

Die einfachen Neubauten in diesem Dorf bestanden meist aus Holz. Vereinzelt gab es alte Steinhäuser, aber die waren zum Teil eingestürzt und noch nicht wieder aufgebaut worden. Leon fragte sich, ob überhaupt jemand in dem Dorf wohnte. Erst als er näher kam, sah er die Menschen über einen breiten Markt in der Mitte huschen.

»Werden wir lange in dem Ort bleiben?«, erkundigte sich Leon, als er Katharina eingeholt hatte.

»Das hängt von euch ab.«

»Was soll das wieder bedeuten?« Leon verdrehte die Augen. Wenn die Hexe ihnen nicht alles verriet, verhieß das meistens nichts Gutes.

Leons Lust auf ein weiteres Problem hielt sich in Grenzen. Als ob er nicht schon genug zu bewältigen hatte. Seine Fähigkeiten kontrollieren, Tavi finden, Fähigkeiten kontrollieren, sich selbst in Sicherheit bringen, Eleazar, Fähigkeiten kontrollieren. Und nun noch dieses Dorf. Was war so besonders daran, dass Katharina sie dort hinführte? Warum nicht das nächste oder übernächste? Bisher hatten sie jegliche Zivilisation gemieden, um eventuellen Patrouillen zu entgehen.

»Glaub mir: Ihr wollt genau jetzt in das Dorf laufen. Besser gesagt: auf den Marktplatz.« Sie lehnte sich gegen die steinerne Wand des ersten Hauses. Links neben Katharinas Kopf verzweigten sich Risse im Stein, die sich bis auf den Boden zogen.

Leon zögerte und blieb stehen. Was sollten sie auf diesem Dorfplatz? Er presste die Lippen aufeinander und starrte Katharina einfach nur an.

»Braucht jemand etwa unsere Hilfe?«, fragte Jörenson und stellte sich neben Leon.

Katharina nickte. Das war scheinbar alles, was der Eisriese wissen musste, denn im nächsten Augenblick sprintete er los.

Leon stöhnte, ehe er hinterherhetzte. Hinter sich hörte er Eleazar etwas Unverständliches in einer fremden Sprache fluchen, bevor sich der Phoenix ihnen anschloss. Die drei Männer rannten durch die breiten Straßen, vorbei an dunklen Plasmalaternen, bis sie auf dem Dorfplatz angelangten. Einige Händler boten ihre Artikel auf den Magnetschwebekarren an, während andere aus den Hauseingängen und Fenstern verkauften. Kleidung hing auf Metallstangen, Geräte standen auf fest installierten Tischen, Gemüse wurde frisch aus dem Garten geerntet und feilgeboten. Nicht weit von ihm gab es einen Blumenhändler, direkt neben einem Schrotthändler, der anscheinend mit einem Wagen herumfuhr und die Dörfer belieferte.

Als die Einwohner Leon, Jörenson und Eleazar kommen sahen, verstummten die Gespräche und alle starrten sie an. Leon fühlte sich mit einem Mal wie eine Attraktion auf dem jährlichen Jahrmarkt von Hamburg. Niemand bewegte sich, ausgestreckte Hände warteten auf Bezahlungen, Kunden hielten Waren in der Hand, ohne sie anzusehen. Wussten die Einwohner, dass sie Seelenlose waren?

»Fremde!«, rief ein kleines Mädchen und im nächsten Moment brach das Chaos aus. Die Menschen verschwanden in ihren Häusern, ihre Wagen wurden zugeklappt und in Seitenstraßen geschoben, andere ließen einfach alles stehen und liegen.