Weltenamulett: Gezeitenwinter - Ann-Kathrin Karschnick - E-Book

Weltenamulett: Gezeitenwinter E-Book

Ann-Kathrin Karschnick

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Beschreibung

Der Tod ist ihr Begleiter … Seit fast einem Jahr ist Melissa Trägerin des Weltenamuletts und hat viel gelernt, doch in letzter Zeit geht ihre Ausbildung nur schleppend voran. Das Amulett scheint nicht so zu funktionieren, wie es sollte. Je öfter sie auf die göttlichen Kräfte zugreift, desto mehr regt sich in ihr der Verdacht, dass nicht das Amulett das Problem ist, sondern sie selbst. Um eine Auszeit zu nehmen, reist sie mit Arionas in die Wasserwelt Aquiara. Dort erwartet sie nicht nur das Gefühlschaos, das Arionas immer noch in ihr auslöst, sondern auch ein Konflikt, der viel zu lange unter der Wasseroberfläche der Welt schwelte. Melissa droht durch die Verantwortung, die ihr aufgebürdet wurde, in ein tiefes Loch zu sinken. Aber wer soll sie daraus befreien?

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Weltenamulett

Geister der Vergangenheit

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ann-Kathrin Karschnick

Content Notes:

Androhung von Vergewaltigung

Posttraumatische Belastungen

Tod

 

Weitere Romane der Autorin:

 

Stollenbruch

Phoenix – Aschegeboren (Teslapunk-Dystopie-Krimi)

Phoenix – Erbe des Feuers (Teslapunk-Dystopie-Krimi)

Phoenix – Kinder der Glut (Teslapunk-Dystopie-Krimi)

Feuerritter – Lauernde Mächte (High Fantasy)

Feuerritter – Kampf um Teinemaa (High Fantasy)

Ein alter Hut (phantastisches Jugendbuch)

Weltenamulett – Das Erbe der Trägerin (Portal Fantasy)

Weltenamulett – Geister der Vergangenheit (Portal Fantasy)

Der Fluchsammler (Mystery Romance)

Novellenserie Rack (6 Episoden Steampunk-Thriller)

Assassin’s Wood – Bürokratie kann tödlich sein(Funny Fantasy)

 

 

 

 

… Der Tod ist ihr Begleiter …

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Epilog

Prolog

Die Frau stand am Rand einer Klippe und starrte hinunter auf das tosende Meer einer sterbenden Welt. Der Wind riss an ihren langen Haaren. Die letzten Sonnenstrahlen verfingen sich in dem leuchtenden Rot ihrer Locken, ehe die Wolken des Untergangs sich vor die Sonne schoben. Schon seit einigen Minuten schauten sie der Welt zu, die nur noch eine kurze Zeit zu leben hatte. Der Weltuntergang war der einzige Ort, an dem sie sich treffen konnten, ohne dass die anderen dies mitbekamen. Denn niemand sah genauer hin, wenn etwas starb. Nicht einmal Götter. Sie wandte sich an ihren Begleiter. „Was willst du unternehmen? Die letzten Monate durfte sie sich ausruhen, auch wenn ich noch immer nicht verstehe, warum du das zugelassen hast.“

Die vermummte Gestalt neben ihr spielte mit einem dunkelroten Energieball, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf. „Sie ist etwas Besonderes und ich will sehen, wie sehr sie sich noch weiterentwickelt.“

„Im Moment scheint diese Entwicklung zu einem Stillstand gekommen zu sein. Sie ist ...“ Die Frau verzog angewidert das Gesicht und eine ihrer Haarsträhnen verfing sich an ihrer Nase. Sie schob sie gekonnt zurück. „... fast schon abartig glücklich. Nur der Kerl streut etwas Sand in ihr Getriebe.“

„Wieso das?“

„Sie mag ihn, aber will ihn nicht in ihr Herz lassen, aus Angst, sie könnte sich in ihn verlieben und ihn dann doch wieder verlieren.“

Der Vermummte lachte kehlig. „Wenn sie wüsste.“ Einen Moment lang schwiegen sie, sahen einer Insel zu, die im Meer versank, ehe er fortfuhr. „Was denkst du? Sollten wir ihn zurück auf seine Welt schicken, damit sie sich mehr auf ihre Entwicklung konzentriert?“ Die Gestalt hob den Arm und schleuderte den Energieball in die Mitte eines Wasserstrudels. Es dauerte einige Sekunden, dann explodierte der Meeresboden und eine Fontäne aus brauner Erde, roten Algen und Wasser schoss in den Himmel.

„Und sie glücklicher zu machen, weil sie diese Sorge los ist?“ Sie schnaubte und sah zu, wie hunderte Blitze am Horizont in die letzte verbliebene Landfläche neben diesem kleinen Eiland einschlugen. Wenn es noch Lebewesen auf dem Planeten gegeben hätte, wären sie spätestens jetzt ausgelöscht. „Nein, ich denke, wir sollten ihr das Glück nehmen. Allerdings erfordert dies ein Opfer von ihr. Eines, das sie sicher nicht bereit ist, freiwillig zu geben.“

„Freiwillig haben die Menschen noch nie etwas gegeben.“ Ein weiterer roter Ball drang aus seiner Handfläche. Diesmal jedoch traf er nicht den Erdboden, sondern die Landmasse am Horizont. Wie bei einem Vulkanausbruch flogen glühend heiße Lavabrocken in den Himmel und tauchten kurz darauf zischend ins Meer ein. Die vermummte Gestalt drehte sich zu ihr um. Im Schatten der Kapuze konnte sie den Hauch eines Lächelns erkennen, das seine bleichen Mundwinkel umspielten. „Ich ahne, was du vorhast und gestehe, dass ich gerne selbst dabei wäre, wenn du es umsetzt.“

„Vielleicht mache ich ein Video davon und zeige es dir im Anschluss.“ Die Frau holte ein Handy hervor und hielt es hoch. „Nicht alle Erfindungen der Menschen sind schrecklich. Allerdings muss ich für meine Idee einige Vorgänge in Gang setzen. Das wird einige Tage Zeit benötigen.“

„Darauf kommt es nicht an. So lange sichergestellt ist, dass wir ihr volles Potenzial erfassen können.“ Die Gestalt schlang ihren Umhang um den hageren, farblosen Oberkörper und deutete auf das tosende Meer. Ein hartes Knacken war zu hören und im nächsten Moment bewegte sich die Erde. Beide sprangen in die Luft und schwebten über der untergehenden Klippe. „Solltest du noch Unterstützung benötigen, melde dich auf dem üblichen Wege. Ansonsten werde ich wieder an meinen Platz zurückkehren.“ Damit schnipste die Gestalt einmal mit den Fingern. Ein rotes Licht umgab ihn, ehe er sich einfach auflöste.

Sie starrte einen Augenblick auf die Zerstörung, die sich unter ihr ausbreitete. Das Ächzen einer Welt, die ihren letzten Atemzug tat, ertönte. Es war das Zeichen, dass sie ebenfalls verschwinden musste, wenn sie nicht von dem Zusammenbruch der Atmosphäre überrascht werden wollte.

Sie blinzelte und stand im nächsten Moment im Schlafzimmer der Mutter. Ein schwerer Vanilleduft ging von einem geschmackvoll und dezent gestalteten Potpourri auf der Kommode neben dem Bett aus. „Wo versteckst du dich?“

Sie streckte die Hand aus und schloss die Augen, spürte den Erinnerungen nach, die schon so lange zwischen den Buchdeckeln verborgen waren. Ein Prickeln in ihren Fingerspitzen ließ sie innehalten. Das Gefühl verstärkte sich, als sie darauf zuging. „Hab dich.“

Kurz darauf schloss sie ihre Finger um das Tagebuch und blätterte hastig durch die Seiten auf der Suche nach diesem einen, schönen Gedanken. Als sie ihn endlich fand, mit dem gekritzelten, blauen Wellenmuster über dem Text, überkam sie für einen Augenblick ein Zögern. Eine halbe Ewigkeit lang hatte sie gedient, geholfen und nichts außer Verluste dafür erhalten. Um das zu ändern, war es eben nötig, etwas in Gang zu setzen, das nicht mehr aufzuhalten war.

Sie legte das auf der richtigen Seite geöffnete Tagebuch auf das Kopfkissen, als sie die Schritte hörte, die die Treppe hinaufeilten. In wenigen Sekunden würde die Mutter das Schlafzimmer betreten. Ein erhabenes Gefühl breitete sich in ihr aus, als sie sich das Ergebnis dessen vorstellte, was sie gerade anstieß. Es würde Generationen prägen und eine Ordnung zerstören, die sie seit einigen Jahrzehnten bereits verabscheute. Ihre Mundwinkel zuckten nach oben, als die Tür sich langsam öffnete. Sie blinzelte einmal und verschwand aus dem Zimmer. Das Spiel hatte begonnen.

Kapitel 1

„Melissa, konzentrier dich!“ Ihre Mutter saß neben ihr und beobachtete sie aufmerksam.

„Was denkst du, was ich hier tue?“, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus. Der Schweiß stand ihr auf der Stirn, während sie die Metallkugel auf dem Boden vor sich anstarrte.

„Du lässt dich von mir ablenken. Jedes Mal. Und es wird nicht besser, wenn du nicht lernst, deine Umgebung auszublenden.“

Melissa schloss die Augen, konzentrierte sich auf das Hintergrundsurren, das sich in ihrem Verstand eingenistet hatte, seitdem sie an ihrem letzten Geburtstag das Amulett in Miezi, der ausgestopften Katze ihrer Großmutter, gefunden hatte. Neun Monate war das her, auch wenn es sich wie eine halbe Ewigkeit anfühlte bei allem, was sie erlebt hatte. Weltenreisen, Magie, Götter. All das gehörte nun zu ihrem Leben.

„Komm schon, Melissa. Gib nicht auf.“ Obwohl ihre Mutter sie nie drängte, konnte Melissa spüren, dass es ihr mit der heutigen Lehrstunde ernst war.

„Wenn ich so schnell aufgeben würde, wie du es mir gerade unterstellst, wärst du heute vermutlich noch in der Unterwelt bei Methonius“, knurrte sie mit geschlossenen Lidern. Sofort nachdem sie es gesagt hatte, wusste sie, dass es falsch war. Dafür musste sie nicht einmal das Japsen ihrer Mutter abwarten. Hastig riss sie die Augen auf und nahm Vanessa in den Arm. Sie zitterte und versuchte, sich durch gezielte Atmung zu beruhigen.

„Entschuldige, Mama, ich wollte das nicht ansprechen.“

Vanessa brauchte einige Minuten, ehe sie wieder ruhiger wurde. Die Zeit der Gefangenschaft und der Folter durch den Gott der Unterwelt war für ihre Mutter in jeder Sekunde ihres Lebens präsent. Die schlimmste Qual war eine Gestaltwandlerin mit Melissas Antlitz gewesen, die sich möglichst qualvoll vor Vanessas Augen umgebracht hatte. Melissa konnte sich nicht im Ansatz vorstellen, wie ihre Mutter das ausgehalten hatte. Deswegen tat sie alles, um ihr auf der Erde ein sorgenfreies Leben zu bieten. Sie atmete einmal tief durch und sah Melissa dann an. „Es geht schon wieder.“

Melissa seufzte und senkte den Kopf. „Trotzdem war es nicht sehr einfühlsam von mir. Entschuldige bitte.“

Vanessa drückte ihre Hand und suchte gleichzeitig, wie jeden freien Augenblick seit ihrer Rückkehr, die Umgebung ab.

„Er ist nicht hier“, sagte Melissa und presste die Lippen zusammen.

„Und das wundert dich gar nicht?“, fragte Vanessa und ein weiterer Schauer erfasste ihren Körper. „Er hat mich damals von hier entführt. Er kann jederzeit herkommen.“

„Er hat es aber nicht getan. Ich habe ihn besiegt. Vielleicht hat er Angst vor mir.“ Melissa hatte diese Diskussion bereits einige Male mit ihrer Mutter geführt, allerdings war es das erste Mal, dass sie dieses Argument brachte. Bisher hatte sie nicht nach Antworten gesucht, sondern die vermutlich trügerische Ruhe hingenommen, die Methonius ihnen ließ.

„So mächtig wir als Trägerinnen auch sind, Melissa ... Er ist ein Gott. Und die Kräfte des Amuletts wurden denen der Götter nachempfunden.“

„Es wird einen Grund geben. Vielleicht andere Göttergeschäfte, denen er nachgehen muss oder die restlichen Novensil sind auf seine Tat aufmerksam geworden. Wer weiß. Vermutlich werden wir es nie herausfinden.“ Melissa nahm ihre Mutter in den Arm. „Wir können nur unser Leben weiterleben und hoffen, dass er uns nicht noch einmal in die Quere kommt.“

„Wir müssen vorbereitet sein.“ Ihre Mutter löste sich von ihr und packte sie an der Schulter. „Obwohl ich die Zeit mit meiner plötzlich so erwachsenen Tochter genieße, sollten wir weitermachen.“

„Was soll das heißen?“ Melissa warf theatralisch die Haare nach hinten, als sie merkte, dass ihre Mutter wieder ruhiger war. „Ich bin schon immer auf die Gefühle von anderen eingegangen.“

Ihre Mutter schmunzelte, was mehr war, als Melissa erwartet hatte. „In den letzten Monaten aber mehr als in meiner Anfangszeit, wenn ich ehrlich bin. Allerdings weiß ich nicht, ob deine Zeit als Trägerin das bewirkt hat oder ...“ Vanessa redete nicht weiter, sondern legte den Kopf schief, um Melissa anzuschauen.

Melissa verschränkte die Arme vor der Brust. „Oder was?“

Einen Moment lang starrte Vanessa sie an, ehe sie ihr sanft die Hand auf die Schulter legte. „Nicht was. Wer.“ Als hätte er genau gewusst, was ihre Mutter meinte, schlenderte Arionas in dieser Sekunde aus der Terrassentür in den Garten. Er trug ein Buch bei sich, das er sich vor einigen Tagen aus der Schulbibliothek ausgeliehen hatte. Seine neuste Leidenschaft waren Science-Fiction-Romane. Er verschlang einen Klassiker nach dem nächsten. Aktuell las er den ersten Teil von Dune. Er winkte ihnen, zögerte kurz, als ob er noch etwas sagen wollte, machte es sich schließlich auf den Liegestuhl bequem. In den letzten zwei Monaten, in denen sie das Training intensiviert hatten, war er dazugekommen. Vermutlich spürt dieser Kerl unterschwellig, dass ich Schwierigkeiten habe und will mich unterstützen, dachte sie seufzend.

„Aber darüber können wir uns ein anderes Mal unterhalten“, murmelte Vanessa direkt neben ihrem Ohr. Melissa fühlte sich ertappt, da sie Arionas einmal mehr länger angestarrt hatte, als es sich für ihren Mitbewohner gehörte. Seit sie ihn von seiner Welt Traveste auf die Erde gebracht hatte, lebte er mit ihr unter einem Dach. Und mit jedem Tag wurde es für Melissa schwerer, ihn nur als einen Freund zu betrachten, den sie gerettet hatte. Arionas hatte ihr geholfen, ihre Mutter aus der Unterwelt zu befreien, und war in den darauffolgenden Monaten immer für sie da gewesen, wenn sie Hilfe gebraucht hatte. Sei es, dass er Eva für sie informiert hatte, wenn sie vom Amulett gerufen worden war oder sie jemanden in ihrem Alter zum Reden brauchte, der wusste, was sie gerade durchmachte. Und der vor allem wusste, woraus sie ihre Mutter befreit hatte. Seine erwachsene Art war dabei vielleicht auf sie übergegangen und sie konnte nicht leugnen, dass ihre Mutter mitten ins Schwarze getroffen hatte. Zugeben wollte sie es aber auch nicht.

Und ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie ihn als Mensch mochte, sah er verdammt sexy aus. Sein knackiger Hintern und diese tiefgründigen Augen, in denen sie jedes Mal eintauchen und nie wieder auftauchen wollte.

„Ich weiß nicht, was du meinst, Mama.“ Melissa drehte sich abrupt von Arionas weg und konzentrierte sich erneut auf die Kugel. „Also, hast du noch irgendwelche hilfreichen Tipps für mich?“

„Du meinst, abgesehen von denen, die ich dir in den letzten Wochen schon gegeben habe?“ Ihre Mutter zupfte an einem Gierschblatt im Rasen, auf dem sie saßen und seufzte. „Um die Telekinese zu beherrschen, musst du ganz tief in dich hineinhören. Bei mir hat es damals auch lange gedauert, ehe ich sie gemeistert habe.“

„Ja, Oma hat dir das über Jahre beigebracht.“ Melissa riss ebenfalls einen Grashalm heraus und zerrupfte ihn in seine Einzelteile, um ihren Händen etwas zu tun zu geben. Sie wollte die Kugel nicht aus Frust einfach wegwerfen. „Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist und ich mache dir keinen Vorwurf, Mama, aber im Nachhinein betrachtet, wäre es besser gewesen, du hättest damals auf dem Dachboden auf Oma gehört.“

Erschrocken hielt Vanessa inne. „Was?“

„Ich habe an meinem sechsten Geburtstag mitbekommen, wie du mit dem Geist von Oma über meine Ausbildung gesprochen hast. Ich bin dankbar, dass du mir die Chance gegeben hast, eine normale Kindheit zu erleben“, beeilte sie sich zu sagen, als sie Vanessas versteinerten Gesichtsausdruck sah. Melissa ließ von dem Telekinesetraining ab. „Wenn man sich allerdings ansieht, was danach passiert ist, wäre Omas Vorschlag besser gewesen.“

Vanessas Blick richtete sich in weite Ferne und Melissa glaubte, Schuld darin zu lesen. Fühlte sie sich ihretwegen so? Oder woran dachte sie? „Wenn ich damals geahnt hätte, wie mein Leben verläuft, hätte ich dich viel eher ausgebildet.“

Die Verbitterung konnte sie nicht aus ihrer Stimme verbannen und Melissa fühlte sich mies, weil sie ihrer Mutter ein schlechtes Gewissen gemacht hatte. „Das ist doch nicht deine Schuld. Sondern die von Methonius.“ Melissa wusste nicht, was sie noch sagen konnte. „Hast du eigentlich inzwischen mit Oma herausgefunden, warum er dich ursprünglich entführt hat?“

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Abgesehen von der Tatsache, dass er glaubte, ich könnte auch ohne das Amulett Kräfte wirken, hat er mir nie etwas verraten.“ Vanessa schauderte und erhob sich aus ihrer sitzenden Position. „Zu schade, dass er kein Klischeebösewicht ist, der im großen Finale alle seine Pläne ausplaudert, damit wir es verhindern können.“

Melissa verspürte einen Hauch von Wehmut. „Wäre ja auch zu schön, wenn es so einfach wäre. Aber das ist es mit dem Amulett wohl nie, oder?“

„Nein, und deswegen ...“ Ihre Mutter deutete auf die Kugel, die immer noch regungslos im Gras lag. „... sollten wir uns weiter an dein Training machen. Du musst vorbereitet sein, falls Methonius angreift.“

„Oder ein neuer Notruf reinkommt. Ich weiß.“ Unter lautem Seufzen stand sie auf und starrte die nächste halbe Stunde auf das runde Ding vor ihren Füßen. Abgesehen von einer kleinen Rolle, die es machte, passierte jedoch nichts.

„Ich geb auf für heute. Das wird doch nie etwas“, sagte sie und warf die Arme frustriert in die Luft. Wütend stapfte sie an Arionas vorbei, der von seinem Buch aufschaute und rasch aufstand, um sich ihr in den Weg zu stellen.

„Ist alles in Ordnung?“ Seine weiche und zugleich ausdrucksstarke Stimme machte es ihr schwer, weiterzugehen. Wie so oft schienen sich seine Worte direkt in ihr Wutzentrum zu schleichen und sie sofort zu beruhigen. Dabei wollte sie das nicht. Sie wollte wütend auf sich selbst sein, weil sie in zwei Monaten, die sie nun die Telekinese trainierten, nicht ein bisschen vorangekommen war. Sie wollte nicht hören, dass sie jung war und das Potenzial des Amuletts noch lernen würde. Sie wollte das jetzt!

„Ach, geht schon“, antwortete sie stattdessen und schluckte ihre Gedanken hinunter.

„Melissa, bitte friss es nicht in dich hinein. Du weißt, dass du damit nicht allein fertig werden musst. Du hast uns.“ Er deutete auf Vanessa und sich und sie wusste, dass er es so meinte. Melissa sah ihm in die Augen, konnte darin den Wunsch erkennen, ihr wirklich helfen zu wollen.

„Ich fresse nichts in mich hinein. Es ist nur so frustrierend zu sehen, dass ich scheinbar einfache Sachen mit dem Amulett nicht hinbekomme, während du zum Beispiel krasse Fortschritte im Umgang mit unserer Technik machst. Das ist kein Vorwurf an dich, Arionas.“

„Habe ich auch nicht so aufgefasst.“ Er legte sein Buch beiseite. „Allerdings sehe ich, dass es dich nervt und ich möchte dir helfen.“

„Hast du zufällig eine Methode, die es mir erlaubt, besseren Zugriff auf das Amulett zu bekommen, ohne die Kontrolle ständig abzugeben?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Denn so langsam glaube ich, dass dieses Amulett nicht für mich gedacht ist, sondern wieder zurück an Mama gehen sollte. Sie ist besser ausgebildet und wieder hier.“

„Sag sowas nicht, Melissa.“ Ihre Mutter war neben sie getreten, hielt die Metallkugel in der Hand. „Du kennst den Fluch, der unsere Familie zu Trägerinnen verdammt hat. Meine Zeit ist vorbei. Wärst du nicht an der Reihe, hättest du das Amulett nie gefunden.“

„Dann gehöre ich wohl nicht in die Familie oder die Götter haben einen Fehler gemacht“, nuschelte sie, wusste aber längst, dass ihre Mutter und Arionas recht hatten. Dennoch wollte sie nicht so schnell aufgeben.

Vanessa legte die Kugel auf den Tisch neben Arionas’ Liegestuhl und nahm Melissas Gesicht in ihre Hände. „Du bist meine Tochter. Das wird niemand abstreiten, der deinen Sturkopf und deine wunderschönen Augen sieht.“

„Trotzdem ...“

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Du weißt, dass du dazu bestimmt bist, das Amulett zu tragen. Seit der Sekunde, in der du deine Finger um den Außenring gelegt hast. Es fühlt sich vertraut an und genau das ist es, was mich so sicher macht, dass du die Trägerin bist.“

„Und warum brauche ich dann so lange, um es zu lernen? Selbst Oma meinte, dass ich es längst beherrschen müsste.“ Sie löste sich aus dem Griff ihrer Mutter, dachte an das letzte Gespräch mit ihrer Großmutter über ihre Unfähigkeit. Oma Lina hatte ihr aufgetragen, sich zusammenzureißen, da sie keine Wahl hatte, wenn sie ihre Mutter beschützen wollte. Und das wollte Melissa um jeden Preis. Niemals wieder sollte Vanessa Neumann so etwas erleben, wie in den fünf Jahren, in denen sie verschwunden war. „Vielleicht soll ich versagen, damit die Götter das Amulett irgendjemand anderem übergeben können, der kompetenter ist als ich. Und ja, vielleicht übertreibe ich gerade etwas, aber lasst mich.“

Melissa wollte sich an Arionas vorbei in Richtung Terrassentür drängen, da kam ihr Vater raus. Er hielt einen Schraubenzieher in der einen und ein altes aufgeschraubtes Radio in der anderen Hand. „Oh, seid ihr schon fertig?“

„Ja, das bin ich für heute.“ Damit ging sie ins Wohnzimmer, schloss die Tür hinter sich und atmete tief durch. Die Wut war verraucht und hatte einer ordentlichen Portion Frust Platz gemacht, die sie nur mit einer noch größeren Portion Eis verdrängen konnte. Mit dem zwei Kilo Stracciatella-Eispott und einem Löffel marschierte sie in ihr Zimmer. Den Maschinenraum eines abgestürzten Raumschiffs nannte Eva ihr Schlafzimmer gern. Sie liebte es, dass die Wände nicht gerade waren, dass sie gedanklich an den Pylonen über dem Schreibtisch oder an den Zahnrädern an der Decke hängen bleiben konnte.

Einzig ihr Bett hatte sie ausgespart, weil sie sich nachts nicht an den Rohren an ihren Zimmerwänden aufspießen wollte. Auf eben dieses warf sie sich jetzt und rammte den Löffel in die Eisverpackung.

Wenigstens konnte sie tonnenweise Süßkram in sich hineinschieben, ohne dass sie sich Sorgen machen musste, frühzeitig an einem Herzinfarkt zu sterben. Denn wie sie mittlerweile wusste, konnte sie nicht vor ihrer Zeit abtreten, da die Götter das nicht zuließen. Die Strafe, die das Amulett für ihre Familie darstellte, wurde von einer Generation zur nächsten weitergegeben und das ging nur, wenn die Frauen Kinder hatten. Und so schnell hatte sie nicht vor, welche zu bekommen. Sie war nicht mal volljährig.

Diese Enthüllung hatte sie zunächst geschockt, aber inzwischen war sie dankbar für diese Versicherung. Es machte ihr Handeln in den anderen Welten leichter. Denn sie konnte sicher sein, dass ihr nichts Gravierendes zustoßen würde. Immerhin muss ich den Willen der Götter ausführen, dachte sie sarkastisch und stemmte eine überdimensionale Menge an Eis auf den Löffel, um diese nach und nach abzuschlecken.

Keine Ahnung, wie ich das machen soll, wenn ich nicht einmal die einfachsten Übungen kontrollieren kann. Der Gedanke war ihr in letzter Zeit öfter gekommen. Sie glaubte nicht, dass sie die Kräfte aus dem Amulett je beherrschen könnte, ohne die Kontrolle abzugeben. Sie kamen ihr zu mächtig vor. Den Kontrollverlust wollte sie verhindern, indem sie mit ihrer Mutter trainierte, aber sie hatte das Gefühl, dass sie sich mit jeder Trainingseinheit mehr von ihrem Ziel entfernte.

Frustriert ertränkte sie ihren Kummer in einem weiteren Löffel voll Eis. Als hätte Eva ihren Gemütszustand erahnt, bekam sie nur wenige Sekunden später eine Nachricht von ihr. Alles okay?

Nein, antwortete Melissa und behielt das Smartphone gleich in der Hand. Der Videocall kam umgehend.

„Was ist los, Süße?“ Eva war die einzige Person, die sie so nennen durfte. Bei jeder anderen hätte Melissa längst etwas gesagt, doch ihre beste Freundin sprach das Wort nicht abschätzig aus, wie es viele taten, sondern wie einen liebevoll gehüteten Schatz.

„Ach, wo soll ich anfangen? Ich bin einfach überfordert mit allem, was gerade auf mich einbricht.“ Melissa überstreckte den Kopf in ihr Kissen und starrte auf das Poster von Harry Styles an ihrer Wand. Eigentlich fand sie ihn gar nicht so sexy. Viel lieber hätte sie ein Foto von Arionas im hautengen T-Shirt beim Laufen aufgehängt. Wenn seine Locken an seiner Stirn klebten und seine Muskeln angespannt waren. Melissa ruckte hastig mit dem Kopf hinauf, um nicht erneut in einen Tagtraum zu Arionas zu verfallen.

„Wie kann ich helfen? Schokolade? Tee? Alkohol?“ Eva war seit zwei Monaten achtzehn und bot diesen seitdem regelmäßig an, obwohl sie selbst keinen trank. Melissa hatte zwar Bier probiert und auch mal einen Cocktail, aber da sie jederzeit bereit sein musste, in eine fremde Welt zu reisen, verzichtete sie dankend bei Partys. Was sie in den Augen ihrer Klassenkameraden nur noch mehr zum Freak machte.

„In der Reihenfolge am besten“, sagte sie und stöhnte.

„Immer noch das Training?“, fragte Eva verständnisvoll und legte den Kopf gespielt schief. „Ehrlich. Du kannst einem schon echt leidtun. Du armes Kind darfst in andere Welten reisen und hast krasse Kräfte, die dich besonders machen. Buhu.“

„Verarschen kann ich mich allein. Ich brauche jetzt keinen Sarkasmus, Eva.“ Melissa stellte das Smartphone so auf die Eisverpackung, dass sie die Hände frei hatte, um weiterzuessen.

„Ja, schon gut. Also, gehen wir es doch mal analytisch an. Du bist überfordert. Mit was genau?“

Sie war unendlich dankbar, Eva in ihrem Leben zu haben. Und beinahe hätte ich ihr nichts von all dem erzählt, nur, weil so ein dämlicher Gott meinte, dass ich nicht jedem vertrauen sollte. Auf Eva traf das nicht zu, denn sie unterstützte Melissa schon ihr Leben lang. Vielleicht sollte ich weniger auf alte, weißhaarige Fremde hören und mehr auf meinen Bauch. Zwischen Eva und Melissa hatte sich nichts geändert, seit sie von dem Amulett wusste. Außer, dass sie neben Arionas noch eine Gesprächspartnerin für ihre Erlebnisse hatte.

„Ich versuche, die Telekinese zu beherrschen, weil Mama meinte, dass es die leichteste Kraft wäre. Seit über zwei Monaten jetzt schon und alles, was ich geschafft habe, ist die Kugel anzustupsen. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich das jemals schaffen werde. Im Gegenteil.“

„Hast du schon mal daran gedacht, einfach was anderes zu probieren?“ Eva hob die Hände verteidigend vor die Kamera. „Ich weiß, das ist so banal, dass du sicher daran schon gedacht hast, aber ich wollte es wenigstens erwähnen.“

„Ich weiß nicht was genau. Mama gibt mir keine Liste mit den Fähigkeiten, die von den Göttern in das Amulett gepackt wurden. Somit weiß ich nicht, welche Kräfte ich theoretisch noch beherrschen könnte.“

„Dann machen wir eine Liste.“

„Ach, das ist doch nur rumgerate und bringt mich nicht voran.“

Eva streckte den Zeigefinger in Richtung Kamera, sodass er überdimensional auf dem Display erschien. „Es lenkt dich ab und macht deinen Kopf frei. Also los, wir probieren es.“

„Ne, lass mal. Es reicht mir schon, dass ich mich auskotzen kann.“ Melissa schob den nächsten Löffel in den Mund und ließ das Eis auf der Zunge schmelzen. „Es nervt einfach, dass ich so viel aufzuholen habe, weil meine Mutter will, dass ich vorbereitet bin, wenn der nächste Ruf kommt.“

„Ja, so eine sich sorgende Mutter ist schon schlimmer als eine Mutter, die vermeintlich tot war.“ Eva schüttelte den Kopf. „Melissa, manchmal möchte ich dir einfach nur eine verpassen und dich fragen, ob du noch richtig tickst. Überleg doch mal, was du gewonnen hast. Stattdessen meckerst du hier rum, dass deine Mutter zu viel von dir verlangt. Sie will nur verhindern, dass du dasselbe durchmachen musst wie sie.“

Melissa schloss die Augen und presst die Lippen zusammen. Eva hatte recht, dessen war sie sich bewusst. Sie hatte ihre totgeglaubte Mutter wiedergefunden. Wie viele Mädchen konnten das von sich behaupten? Melissa musste dankbarer sein für das Geschenk, das sie erhalten hatte, doch es fiel ihr so unendlich schwer. Sie schaute wieder zu ihrer besten Freundin und seufzte. „Ich weiß.“

„Was sagt denn Arionas dazu?“ Eva zog bedeutungsvoll eine Augenbraue hoch.

Melissa stellte das Eis beiseite und rollte mit den Augen. „Der ist auf Mamas Seite. Keine Ahnung, warum.“

„Vielleicht, weil du ihn seit fast neun Monaten in der Friendzone hältst, obwohl er ganz offensichtlich was von dir will, du es aber ignorierst?“ Eva lachte. „Komm schon, Melissa. Du bist doch nicht blind. Ich bin es jedenfalls nicht.“

„Was meinst du damit?“ Melissa biss sich von innen auf die Unterlippe und stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Arionas lag wieder auf seiner Liege und las in seinem Buch, während Mama und Papa den Schuppen aufräumten. Ihre Mutter sah sich dabei immer wieder unauffällig um, rechnete jederzeit mit einem Angriff von Methonius.

Rasch schloss sie das Fenster. Nicht, dass Arionas noch etwas von dem Gespräch mitbekam. „Er hat mir gegenüber keine Andeutungen gemacht.“

„Du willst, dass ich es ausspreche, oder?“ Eva lachte und kam mit dem Gesicht nah an die Kamera heran. „Ich rede nicht von ihm, sondern von dir, Süße. Glaubst du, mir entgeht, wie du ihn ansiehst? Wie du auf seinen knackigen Hintern starrst, wenn er an der Tafel steht, wie glasig deine Augen werden, wenn du ihm in seine schaust? Erinnerst du dich an die Prügelei letztens, die direkt vor dir losgegangen ist und er sich wie dein persönlicher Bodyguard vor dich geworfen hat, um für dich einen Schlag abzublocken? Ich glaube, ich muss dich ab sofort Whitney nennen.“

Melissa ging zum Bett und warf sich erneut hinein. „Bringt wohl nichts, dir was vorzumachen, oder?“

„Wir kennen uns seit dem Sandkasten. Es gibt nichts an dir, was ich nicht anhand deiner Mimik erkennen könnte.“ Eva lehnte sich zurück und zeigte nun wieder ihr ganzes Gesicht und nicht nur ihre Nase. „Also, sag schon, warum hältst du ihn auf Abstand? Er ist kein Arschloch, sieht gut aus, würde dir den Himmel zu Füßen legen, wenn er die Fähigkeiten dazu hat und ist immer da.“

„Weil ...“ Sie hatte niemandem davon erzählt und sie war sich nicht sicher, ob sie es Eva jetzt sagen sollte. Derselbe alte weiße Mann, der damals meinte, dass Arionas nicht für immer bei ihr sein könnte, weil seine Anwesenheit die gesamte Welt beeinflussen würde, hatte ihr geraten, niemandem zu vertrauen. Vielleicht hatte der Kerl sich in der Hinsicht ebenfalls geirrt. „Ach, ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich dachte, dass Arionas nur kurz bei mir bleiben würde.“

„Der wohnt bei euch und hat sich häuslich niedergelassen. Und wohin sollte er gehen? Nach Hause kann er wohl schlecht, wenn das stimmt, was du mir zu seiner Welt berichtet hast.“

„Ja, das stimmt.“ Trotz allem, was sie ihr bisher anvertraut hatte, konnte Eva noch in manchen Momenten nicht glauben, was Melissa erlebte.

„Magst du ihn denn auch?“ Eva schnaubte. „Und ja, ich stelle diese Frage rein rhetorisch, da ich die Antwort bereits kenne.“

Melissa nickte einmal abgehakt. Obwohl es eine kaum wahrnehmbare Zustimmung war, quietschte Eva amüsiert. „Ich wusste es. Dann go for it, Girl. Du hast dir ein bisschen Ablenkung und vor allem Liebe verdient nach all der Scheiße, die du durchgemacht hast.“

„Ich weiß nicht. Es fühlt sich so falsch an, nach all der Zeit einen Schritt zu wagen. Immerhin habe ich ihn so lange ignoriert.“ Melissa nahm einen weiteren Löffel von dem angeschmolzenen Eis am oberen Rand des Eisbechers.

„Wenn du es nicht tust, kenne ich ein halbes Dutzend Mädels aus der Klasse, die es auch bei ihm versuchen wollen würden“, sagte Eva. „Und so wie die aktuell alle drauf sind an der Schule, würden sie sich sogar um ihn prügeln.“

Überrascht riss Melissa die Augen auf. „Wer?“

„Bist du etwa eifersüchtig?“, fragte Eva keck nach.

„Wenn ich jetzt nein sage, wirst du vermutlich erkennen, dass es gelogen ist. Also los, wer will was von ihm?“

Eva zählte sieben Namen auf, wobei nur vier aus ihrer Klasse waren. „Die haben alle keine Chance.“

„Wieso das?“

Dass Melissa mit Arionas laut den Gesetzen seiner Heimatwelt verheiratet war, hatte sie nicht einmal Eva gesagt. Denn obwohl sie ihr sonst alles sagte, blieb das ein Geheimnis zwischen ihr und Arionas. Abgesehen davon redete sie sich ein, dass es auf der Erde ja sowieso nicht zählte. „Weil mich viel mehr mit Arionas verbindet. Da haben die Mädels keine Chance.“

„Na, dann solltest du ihm das aber auch sagen. Bevor er es sich doch noch anders überlegt.“

Nach Arionas Rechtsempfinden würde er niemals eine andere Beziehung eingehen. Aber konnte Melissa ihm das antun? Ihn für immer von der Liebe fernhalten, weil sie auf einen Fremden hörte und in diesem Fall nicht auf ihr Herz?

„Weißt du was? Ich werde ihn fragen, ob er mit mir auf ein Date geht“, sagte sie, ohne weiter darüber nachzudenken. Sonst würde sie sich nur wieder umentscheiden. Und das wollte sie nicht. Seit fast einem Jahr tat sie nur das, was das Amulett ihr diktierte, lebte nach den Regeln, die ihr die Novensil durch die Strafe ihrer Vorfahrin auferlegt hatten.

„Wirklich?“ Vergnügt klatschte Eva in die Hände und freute sich so sehr, dass ihr Smartphone umkippte und Melissa für einen Moment nur die Bettdecke erkennen konnte.

„Ja, ich schwöre hiermit feierlich, dass ich deinem Rat folgen werde.“

„Wurde aber auch Zeit, dass du endlich auf meinen überragenden Verstand hörst. Du weißt doch: Mother knows best.“

Melissa lachte. „Du weißt schon, dass du dich gerade mit der bösen Hexe aus Rapunzel gleichsetzt?“

„Vielleicht bin ich ja die böse Hexe aus Rapunzel“, erklärte Eva geheimnisvoll und zwinkerte ihr zu.

Melissa schüttelte den Kopf. „Das einzige Mal, dass du wirklich böse warst, war, als Feline dir deine Schokolade geklaut hat und du ihr daraufhin Abführmittel im Schwimmbad gegeben hast.“

„Ich habe es dir doch schon so oft gesagt. Das war ich nicht. Das war Karma.“

„Wer’s glaubt ...“

Eva hob das Handy wieder auf und grinste diebisch in die Kamera. „Und wenn schon. Das steht hier nicht zur Debatte. Ich will alle Details. Brauchst du Hilfe bei der Vorbereitung? Beim Einkleiden? Sag mir, wobei ich unterstützen kann und ich tu es. Das lass ich mir nicht entgehen.“

„Du brauchst bei gar nichts zu helfen“, bremste Melissa ihre Euphorie ein. „Erst einmal muss ich ihn fragen und dann sehe ich weiter. Vielleicht sagt er auch Nein.“

Dass Melissa diese Befürchtung hegte, war Eva sicher bewusst. Dennoch schnaubte sie. „Wenn er das tut, komme ich persönlich vorbei und halte ihm eine Standpauke, die sich gewaschen hat. Aber ich fress eine ganze Ladung Pferdemist, wenn das passiert. Glaub mir, der wird dich nicht abblitzen lassen.“

„Dein Wort in den Ohren der Novensil“, murmelte Melissa und atmete tief durch.

Nun, da sie die Entscheidung getroffen hatte, gegen den Rat eines Gottes zu handeln, fühlte sie, wie die vorherige Frustration in Aufregung über die Zukunft umschlug. Würde sie wirklich ein Date mit Arionas haben? Und welche Auswirkungen hätte das auf sie, wenn sie sich auf ihn einließ? Das Kribbeln in ihrem Magen nahm immer stärkere Ausmaße an und sie musste sich dazu zwingen, nicht breit zu grinsen. Sie spürte, dass es die richtige Entscheidung war, ihrem Herzen zu folgen, statt dem Verstand. Entschlossen stand sie auf. Sie würde ihn fragen.

Kapitel 2

Er hatte tatsächlich ja gesagt. Ob er allerdings verstanden hatte, was sie von ihm wollte, da war sie sich nicht sicher. Doch das würde er hoffentlich noch früh genug. Sie fuhren mit dem Fahrrad zu dem entlegenen See zwei Orte weiter, den kaum jemand in den Sommermonaten nutzte. Melissa hatte erst einen Spaziergang vorschlagen wollen, aber Eva hatte sie davon überzeugt, dass das zu Omalike wäre. Nach einiger Überlegung hatten sie sich auf den See geeinigt.

Auf einmal hielt Arionas auf dem Waldweg an, der zu dem See führte und starrte an einem Baum hinauf.

„Was ist? Hast du einen Platten?“ Melissa hielt neben ihm und ärgerte sich über die sinnbefreite Frage. Hoffentlich war das nicht ihr Datingzustand. Immerhin wollte sie, dass heute alles gut lief.

„Da oben ist ein Eichhörnchen.“ Arionas lächelte selig. Dabei wirkte er, als ob dieses einfache Tier der Inbegriff von Freude für ihn war. Seit auf den Welten die Tiere in seiner Nähe immer aggressiv geworden waren, freute er sich umso mehr darüber, dass es auf der Erde nicht der Fall war.

„Ähm, okay?“, sagte Melissa und schirmte die Augen mit einer Hand vor der Sonne ab, um selbst danach zu suchen. Ein buschiger Schwanz war jedoch alles, was sie erblickte. Bis Arionas auf einmal ein leises Pfeifen von sich gab.

Das Eichhörnchen lugte hinter dem Baumstamm hervor und starrte sie an. Erneut pfiff Arionas und das Tier kam ein Stück herunter. Langsam ging er auf den Baum zu und streckte eine Hand aus.

Lockte er jetzt wirklich gerade ein Eichhörnchen an, wie eine verdammte Disneyprinzessin?

Ein erneuter Pfiff ertönte und das Eichhörnchen kletterte so weit hinab, dass es an seinen Fingern schnuppern konnte. Melissa konnte nicht anders und schaute fasziniert dabei zu, wie das Tier sich neugierig an seine Hand schmiegte.

„Ach komm schon, das ist jetzt nicht dein Ernst“, murmelte sie und lachte amüsiert. „Du sprichst mit den Tieren?“

„Nein, aber ich höre etwas genauer hin, wenn die Natur redet.“

„Du meinst, du hörst genauer hin als der Rest der Menschheit?“, erwiderte ich verschmitzt.

„Wenn ich mir eure Welt so anschaue, ist das wohl nicht schwer, oder?“

Melissa seufzte. Trotz all ihrer Fähigkeiten wusste sie nicht, ob sie der Erde noch helfen konnte. Mit der Klimakrise und allem, was sonst so vor sich ging, hatte Melissa gedanklich stark zu kämpfen, allerdings konnte sie nichts unternehmen, solange niemand nach ihr rief. Und da die Existenz der Trägerin auf der Erde nicht bekannt war, würde das so schnell nicht passieren.

„Da hast du wohl recht. Aber wie machst du das?“ Melissa kam vorsichtig einen Schritt näher, wollte die Situation nicht durch ihr Tollpatschgen beenden.

Er zuckte mit den Schultern und strich mit dem Daumen bedächtig über den Kopf des Eichhörnchens. „Wenn ich merke, dass das Tier etwas nicht will, dann lasse ich es. Ist wie mit den Menschen auch.“

„Scheinbar kann das aber nicht jeder.“ Traurig zog sie die Hand zurück, als das Eichhörnchen vor ihr zurückwich.

„Das ist alles eine Frage der Übung. Schau es genau an, achte auf die Zeichen.“ Arionas ergriff ihre Hand und sofort spürte sie wieder diese Verbindung zu ihm. Als ob sie beide eine Seele in zwei Körpern teilten. Melissa atmete tief ein und aus. Gerade war ihr das Tier vollkommen egal. Sie genoss einfach die Nähe zu Arionas.

„Alles okay, Melissa?“, fragte er und starrte sie mit zusammengekniffenen Augen an. „Du wirkst angespannt.“

Melissa atmete erneut durch, brachte ihr Herz unter Kontrolle, das dabei war, davonzugaloppieren und schnürte die Zügel etwas enger. Noch durfte sie sich nicht gehen lassen. Wenn sie ihm schon sagte, dass sie ihn mochte, dann nicht mitten auf einem Waldweg vor einem Eichhörnchen. „Ja, alles gut. Also, was soll ich tun?“

„Streck deine Hand aus und lass es erst einmal dich beschnuppern. Hab keine Angst. Das ist das Wichtigste.“ Langsam führte er ihren Arm weiter nach vorn. Seine Berührung kitzelte an ihrem Handgelenk, aber sie wollte nicht diejenige sein, die den Körperkontakt beendete. Melissa brauchte Arionas und das wurde ihr in diesem Moment klar. Hier, mitten im Wald. Wo keine Gefahr drohte, außer von einem Eichhörnchen gezwickt zu werden. Genau hier wusste sie, dass Arionas in ihr Leben gehörte. Nicht, weil er sie beschützen musste, sondern, weil er für sie da war. Bedingungslos. Arionas hatte diese beruhigende Wirkung auf sie, die nicht einmal ihre Eltern hatten. Dieses Gefühl von Wärme und Geborgenheit, von Zugehörigkeit hatte sie schon so lange gesucht und es nicht gewusst. Wieso hatte sie sich nicht seiner Zuneigung hingegeben?

Das flauschige Gesicht des Eichhörnchens unterbrach ihre Gedanken und sie gluckste leise. „Das habe ich noch nie probiert. Wie toll ist das bitte?“

Arionas lächelte sie an. So frei und ehrlich, so voller Freude über ihr Glück, dass es ihr fast peinlich war, ihn so lange in die Friendzone geschoben zu haben. Das würde sich heute ändern. Melissa war sich sicher, dass er nichts dagegen haben würde, einen Schritt weiterzugehen. Dennoch hatte sie Angst vor seiner Reaktion. Was, wenn er sich von dem Gedanken verabschiedet hatte, jemals etwas mit ihr anzufangen? Schaute er sich anderweitig um? Deutete sie die Zeichen wie seine langen Blicke zu ihr oder sein beinahe schon nebensächliches Streicheln ihres Handrückens falsch?

„Manchmal muss man einfach mal anhalten und den Moment genießen.“ Arionas sah ihr tief in die Augen. Sie standen Schulter an Schulter vor dem Baum. Das Eichhörnchen spielte keine Rolle mehr, war nur noch schmückendes Beiwerk eines Augenblicks, den sie für immer in ihren Träumen einsperren wollte. Sollte sie ihn hier und jetzt küssen? Es wagen? Sich und alle Schranken fallen lassen, um ihm näherzukommen? Melissa lehnte sich ein Stück vor.

„Wollen wir weiter?“ Arionas löste sich von ihr und beendete damit den Moment. Da bemerkte sie, dass das Eichhörnchen wieder nach oben geklettert war.

„Ähm, klar. Ja.“ Melissa reagierte fast elegant, indem sie aus ihrem Vorwärtslehnen ein Aufstehen machte, stolperte dabei jedoch und fiel beinahe hin.

Melissa atmete einmal tief durch. Geduld war nie ihre Stärke gewesen, aber gerade hier würde sie diese benötigen. Wenn sie sich unüberlegt über den Rat des Gottes hinwegsetzte, gewann keiner von ihnen.

„Das war wirklich schön“, sagte Melissa, als sie auf das Rad stieg. Unterschwellig versuchte sie, ihm klarzumachen, dass sie damit nicht das Tier meinte, sondern den Augenblick mit ihm, allerdings wusste sie nicht, ob er das so verstand, wie sie es meinte.

„Wenn du möchtest, können wir die Räder schieben und nach weiteren Ausschau halten. Vielleicht kannst du ja dann eins anlocken.“ Arionas schob sein Rad neben ihres und sah sie erwartungsvoll an.

„Ich denke, das verschieben wir auf ein anderes Mal“, erklärte Melissa. Hatte er gemerkt, dass sie ihn küssen wollte? „Der See wartet auf uns.“

Arionas nickte, wirkte kurz ein wenig irritiert, stieg dann jedoch auf und radelte wieder los. Melissa folgte ihm, atmete einige Male tief durch und fragte sich, warum sie sich auf einmal so seltsam in seiner Nähe fühlte. Als könnte sie nichts mehr richtig machen. Dabei hatte sich gar nichts verändert. Noch nicht.

Oder doch?

Melissa grübelte und übersah beinahe einen Ast, der auf dem Waldweg vom letzten Sturm liegengeblieben war. Sie wich aus, was ihre Gedanken kurz durcheinanderwirbelte. Sie ordnete sie neu und da fiel es ihr auf.

Natürlich hatte sich etwas verändert. Ihre Bereitschaft, eine Beziehung mit Arionas einzugehen. Und genau das war es, was ihren Verstand nun munter verwirrte.

Verdammt, wo war Eva, wenn man sie brauchte?

Den kompletten Weg bis zum See schwiegen sie und hielten kein weiteres Mal an. Als sie endlich ankamen, war niemand sonst zu sehen. Zumindest das klappt schon mal gut. Melissa schob sich vor Arionas und kletterte die wenigen Meter der Uferböschung herunter. Es war ein schmaler Abschnitt, der als Einstieg in den See diente. Melissa war vor einem Jahr mal mit Eva und ein paar ihrer Freundinnen hier gewesen. Hauptsächlich hatte sie am Rand gesessen und zugeschaut, während die Mädels über irgendwelche Schminktipps redeten. Ein Thema, bei dem Melissa nur jedes Mal stumm daneben saß. Sie akzeptierte, dass andere daran Spaß hatten. Für sie war es jedoch nichts. Bei ihren verschiedenfarbigen Augen war es eh schwer, den richtigen Lidschatten zu finden, der sowohl das Blaue als auch das Braune betonte.

Arionas breitete die Decke aus und stellte den Korb mit den Essenssachen darauf. „Wann kommt denn Eva nach?“

Sie presste die Lippen zusammen. Er war wohl davon ausgegangen, dass sie nachkommt, weil Melissa in den letzten Monaten nichts allein mit ihm unternommen hatte. Eva hatte immer auf Melissas Wunsch hin, als ihr persönlicher Gefühlspuffer fungiert. Sobald Eva gemerkt hatte, dass Melissa Arionas emotional zu nah gekommen war, hatte sie sich dazwischen gedrängt. Melissa hatte genug Action im Leben, die sie bewältigen musste. Da war sie sehr dankbar, dass ihre beste Freundin ihr dieses Problem zumindest unterstützend abnahm. „Gar nicht. Wir beide sind heute mal für uns.“

„Wirklich?“, fragte Arionas überrascht und schaute zu ihr. „Okay. Das ... freut mich ehrlich.“

Melissa zog das dünne T-Shirt aus, die sie über ihren Bikini gezogen hatte, und schmiss es neben den Korb. Das Amulett baumelte nun frei über ihrer Brust. „Mich auch“, nuschelte sie und setzte sich auf den Boden, spielte mit den Kettengliedern, die warm auf ihrer Haut lagen.

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Arionas, wusste nicht, wie er die Information aufnahm. Wie gerne hätte sie jetzt seine Gedanken gelesen, hätte gewusst, ob er bereits verstand, was für eine Verabredung das hier war oder ob er es nur für ein Treffen unter Freunden hielt.

Er starrte sie an, ließ sich schließlich ebenfalls neben ihr nieder. Arionas hatte sein Shirt sauber zusammengelegt zu ihrem gepackt. „Willst du das Amulett umlassen?“

Melissa sah sich um. Sie waren mutterseelenallein an diesem See. Nicht einmal eine Ente schwamm auf dem alten Kiessee. „Ich weiß nicht. Seit das mit Mama passiert ist, bin ich echt vorsichtig geworden.“ Bedächtig strich sie über die Symbole, die sie mittlerweile auswendig kannte. Zu Anfang hatte Melissa ebenso wie ihre Mutter nicht das Haus verlassen, war nicht einmal zur Schule gegangen. Bis ihr Vater ein Machtwort gesprochen hatte. Dank seines neuen Jobs, den er im Homeoffice verrichten konnte, war er zumindest zu Hause und konnte auf seine Frau aufpassen. Nicht, dass er schon beim ersten Mal nichts gegen einen Gott unternehmen konnte, dachte sie.

„Verständlich. Dann behalt es einfach um. Hier ist ja niemand, der dich danach fragen kann.“ Arionas lehnte sich auf der Decke zurück und holte tief Luft. „Es ist ein schöner Tag, um Schwimmen zu gehen.“

Melissa stützte sich ebenfalls nach hinten auf die Ellbogen und legte den Kopf in den Nacken. Sie wollte nichts falsch machen und nicht nur ihren Willen durchsetzen, weswegen die Unsicherheit sich in ihre Entscheidungen einmischte. „Wollen wir zusammen schwimmen? Der See ist nicht groß.“

„Willst du einen Wettkampf daraus machen?“ Arionas hob eine Augenbraue.

„Nein, mehr so ein gemeinsames Planschen ohne Stress.“ Sie richtete sich wieder auf. „Aber nur, wenn du Lust hast. Sonst gehe ich auch später allein.“

„Du willst also nicht jetzt schon ins Wasser?“ Arionas lag noch immer hinter ihr und sie konnte seinen Blick auf ihrem nackten Rücken spüren. Einerseits schossen dadurch winzige prickelnde Eiskristalle durch ihren Körper, die ihr eine Gänsehaut verpassten. Andererseits fühlte sie sich seltsam, ihn nicht anzuschauen. Also drehte sie sich um und bemerkte da erst, dass er sich doch aufgerichtet hatte. Beinahe wären sie mit dem Kopf zusammengestoßen.

„Ah, entschuldige. Ich habe nicht mitbekommen, dass du dich ...“ Melissa hielt inne und senkte den Kopf, um einmal tief durchzuatmen. Verdammte Axt, es konnte nicht so schwer sein, eine vernünftige Unterhaltung mit Arionas zu führen. Immerhin taten sie das schon seit Monaten. Nur, weil ich beschlossen habe, meine Gefühle zuzulassen, muss ich mich nicht wie eine Fünfjährige verhalten, die nicht weiß, wie man eine Unterhaltung führt, dachte sie genervt. „Worauf hast du Lust?“

Arionas lehnte sich vor. „Ich werde gleich mal das Wasser testen. Eine Abkühlung nach dem Fahrradfahren kann nicht schaden.“

„Dann mach das mal. Ich genieße noch einen Moment die Sonne.“ Melissa legte sich nun doch wieder hin. Und ich muss mir überlegen, wie ich dir sage, dass ich dich mag, schob sie in Gedanken nach.

In ihrer Planung hatte sich das alles von selbst ergeben. Sie hatte gar nicht darüber nachgedacht, WIE sie es umsetzen wollte. Der Wunsch, es einfach zu tun, hatte alle anderen Bedenken übertönt.

Arionas stand auf und machte den ersten Schritt auf den See zu, hielt kurz an, wandte sich erneut zu ihr. Sie sah zu ihm auf, war von der Sonne jedoch so geblendet, dass sie sein Gesicht nicht genau erkennen konnte. Gerade legte sie die Hand als Sonnenschutz vor die Augen, wollte etwas fragen, da ging er weiter.

Was war das gewesen? Melissa sah zu, wie er ans Ufer trat und den ersten Schritt hineinwagte. Da dies der einzige Zugang am See war, der nicht von Schilf bedeckt war, bot sich ihnen nur ein schmaler Ausblick auf den See. Bäume gab es hier keine in der Nähe, sodass auch die Decke in der prallen Sonne lag. Zum Glück hatte Melissa sich bereits zu Hause eingecremt.

Sie beobachtete Arionas oder besser gesagt seine knackige Hinterpartie. Immer wieder fragte sie sich, ob er wirklich so gut aussah oder ob das nur ihre Wahrnehmung war. Meist beantworteten ihre Klassenkameradinnen diese Frage für sie, die sich alle einig waren, wie hot Arionas doch war. Sie war nie darauf angesprungen, aber jetzt, da sie sich den Gedanken erlaubte, konnte sie es nicht mehr nicht denken. Vor allem, wenn er oben ohne herumlief und nur eine einfache Boxershorts trug. Es war nicht einmal die Tatsache, dass er Muskeln hatte, wo andere in seinem Alter nichts hatten. Sondern Melissa gefiel sein Körper in Gänze. Die Arme waren nicht zu schlaksig, die Beine nicht zu muskulös und die Schultern nicht zu breit.

Ihr entfuhr ein Seufzen und sie legte den Kopf schief, leckte sich über die Lippen, als sie daran dachte, dass sie diese Haut vielleicht bald streicheln ... Melissa schloss die Augen. Schluss jetzt, das ist Zukunftsmusik, die ich noch nicht abspielen will, solange die Aufnahme nicht beendet ist, dachte sie entschlossen.

Nach nur zwei Schritten stand ihm das Wasser bis zu den Knien und er lehnte sich vor, um Wasser in die Handflächen zu schöpfen und seine Schultern und den Rücken zu benetzen.

Für Melissa war das der Zeitpunkt, an dem sie sich zurücklehnte und ihn nicht mehr beobachtete, da sie das Kribbeln in ihren Bauch nicht mehr aushielt.

Einige Minuten lag sie einfach nur so da, genoss die Wärme auf ihrer Haut und träumte sich davon. Weg von der Sorge um ihre Fähigkeiten, weg von dem Moment, in dem sie das erste Mal so richtig in einer fremden Welt versagt hatte.

„Melissa“, hörte sie schließlich leise rufen. Arionas war nicht weit vom Ufer entfernt und deutete auf etwas, das hinter dem Schilf verborgen war. Mit der anderen Hand winkte er ihr.

„Was ist denn da?“ Melissa richtete sich auf und schlang die Arme um die angewinkelten Beine.

„Ein Küken, das mutterseelenallein hier schwimmt.“ Arionas Stimme war nicht mehr als ein beruhigendes Flüstern. Wäre Melissa das Küken gewesen, wäre sie sofort auf ihn zugeschwommen.

„Ist keine Mutter da?“ Neugierig erhob sich Melissa und schaute sich um.

Arionas schüttelte nur den Kopf und sprach auf das kleine graue Federbündel ein. Sie sah die Lippenbewegungen, aber verstand seine Worte nicht.

Melissa ging auf Zehenspitzen bis zum Ufer, sah sich erneut um. Doch da war kein Tier zu sehen. „Vielleicht sollten wir das Küken lieber in Ruhe lassen.“

„Was, wenn die Mutter weggeflogen ist und es allein gelassen hat?“ Arionas deutete auf das flauschige Küken, das sich ihm langsam näherte. „Könntest du es wirklich zurücklassen?“

Melissa biss sich auf die Lippe. Wäre Eva jetzt hier, würde Melissa Ja sagen. Sie wusste, dass es sie unsympathisch machte. Arionas würde ein vollkommen falsches Bild von ihr bekommen. Und das wollte sie nicht. Nicht heute, nicht mit dem, was sie vorhatte.

Melissa öffnete den Mund und wollte lügen, als ihr klar wurde, was sie im Begriff war zu tun. Sie wollte sich verstellen. Für einen Kerl, den sie mochte. Melissa runzelte die Stirn. So konnte sie keine Beziehung mit Arionas aufbauen. Ehrlichkeit war eines der stärksten Fundamente einer Liebe, wie sie von ihren Eltern gelernt hatte. Und so sehr sie auch wollte, dass Arionas sie gern hatte, sie konnte ihn nicht anlügen, um ihm zu gefallen.

Deswegen nickte sie. „Manchmal muss man der Natur einfach ihren Lauf lassen.“

Melissa erwartete, dass Arionas sich angewidert von ihr abwandte oder sie entsetzt ansah, doch stattdessen schmunzelte er. „Du bist also immun gegen die niedlichsten Tiere, aber wenn ein junger Mann vor dir steht, der alles verloren hat, dann nimmst du ihn mit nach Hause?“

„Das kannst du nicht vergleichen. Du hast deine Familie verloren, dein zu Hause, warst nicht sicher in deiner Welt.“ Melissa verschränkte die Arme vor der Brust. „Außerdem bist du ein Mensch.“

„Ich bin ein Lebewesen, genau wie das Kleine hier.“ Arionas hatte es tatsächlich beinahe geschafft, es zu sich zu locken. Das Küken breitete die Flügel aus und schwamm zögernd auf ihn zu.

Melissa wusste nicht, was sie erwidern sollte. Arionas Argumentation war schlüssig, doch sie konnte sich nicht um jedes verloren gegangene Tier kümmern, das es auf der Welt gab. Es reichte schon, dass sie sich selbst oft genug verloren fühlte. Wenigstens konnte sie sich darauf verlassen, dass - egal wie einsam sie war – Arionas jederzeit für sie da sein würde.

Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen, als ein warmer Schauer von ihrem Herzen ausging. Ja, sie mochte ihn wirklich sehr. War jetzt der richtige Moment, um auf ihn zuzugehen? Mit diesem Gefühl in ihrem Körper glaubte sie, alles erreichen zu können.

Gerade, als sie den ersten Schritt machen wollte, klatschte etwas auf die Wasseroberfläche und zwei weiße Flügel breiteten sich im entfernten Schilf aus. Ein lautes Quaken ertönte und im nächsten Augenblick schoss ein Schwan auf Arionas zu.

Erschrocken wich dieser zurück und fiel platschend ins Wasser, tauchte sogar kurz unter, weil es zu tief war. Die Schwänin schlug wütend mit den Flügeln in Arionas Richtung, pickte nach ihm, als sie ihr Kleines erreichte.

„Ich wollte ihm nichts tun, wirklich“, verteidigte er sich, als ob das Tier ihn verstehen konnte.

Hastig ruderte er rückwärts, versuchte zu entkommen. Melissa stand am Ufer und wollte schon eingreifen, doch als sie sah, dass er außer Reichweite war, ließ sie es sein und grinste nur breit.

„So viel zum Thema, alle retten. Manchmal bringt man sich unnötig in Gefahr, weil sie gar nicht gerettet werden müssen.“

Arionas machte einen großen Bogen um die Schwänin, die ihr Küken vor sich hertrieb und schnatternd davonschwamm.

Melissa hätte zu gern gehört, was sie so schimpfte, aber die Sprachen von Tieren übersetzte das Amulett leider nicht für sie.

„Das war nicht lustig!“ Arionas rappelte sich auf und kam auf sie zu.

Sie lachte leise. „Ein klein wenig schon, wenn du ehrlich bist.“ Melissa hielt Daumen und Zeigefinger ein Stück weit voneinander entfernt neben ihrem Gesicht. „Was wolltest du denn damit beweisen? Dass du gut mit Tieren kannst, weiß ich doch.“

„Ich wollte gar nichts beweisen“, merkte Arionas an und machte einen Schritt auf sie zu. „Einfach nur einem armen Tier helfen.“

„Du wolltest also nicht mich beeindrucken, indem du dieses unschuldige Wesen rettest wie ein großer Held?“ Noch immer konnte sich Melissa das Lachen nicht verkneifen.

Anstatt zu antworten, spritzte er auf einmal Wasser in ihre Richtung. Melissa quietschte auf, da der Kiessee erstaunlich kühl für den Sommer und ihr Körper von dem Sonnenbad aufgeheizt war. „Lass das!“

„Sobald du aufhörst, über mich zu lachen.“

Melissa wich den Wasserspritzern aus, lief ein paar Schritte in den See, um sich zu rächen. Melissa attackierte ihn mit voller Härte, so dass ihn ein Schwall Wasser erwischte.

„Na warte.“ Arionas rannte plötzlich auf sie zu. Sie hatte keine Möglichkeit, ihm zu entkommen, da er ihr den Weg zum Ufer abschnitt. Melissa versuchte es, indem sie sich von ihm wegdrehte. Sie rechnete mit einem erneuten Wasserangriff und jeder Menge kaltem Wasser. Stattdessen packte er sie von hinten, hob sie hoch und trug sie tiefer in den See hinein.

„Lass mich los“, rief sie, ohne es wirklich so zu meinen. Seine Arme um ihren Bauch geschlungen, fühlte sie sich pudelwohl.

Melissa wand sich in seiner Umarmung, bis sie ihn direkt ansah. Seine Nasenspitze stieß an ihre und ihre Körper berührten sich unter Wasser. Seine Hitze in der Kälte des Sees zu spüren, war unverhofft und zuerst wollte sie zurückweichen, doch sein Blick hielt sie an Ort und Stelle. Auf keinen Fall wich sie jetzt zurück.

Melissa und Arionas hörten auf zu toben, seine Arme lagen weiterhin um ihren Rücken und sie sahen einander an. In seinen Augen las sie die Verwirrung, dass sie nicht sofort zurückwich.

„Arionas“, hauchte Melissa und strich ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die klitschnass an seiner Wange hing.

Sie konnte genau erkennen, wie es in seinem Verstand arbeitete. Arionas versuchte, die Situation zu verstehen. Melissa hingegen genoss diese Nähe, spürte seine Berührungen, als er mit dem Daumen über ihre Wirbelsäule strich und ihre Atmung ging schneller.

„Melissa, ich muss dir etwas gestehen“, murmelte er und er legte seine Stirn gegen ihre.

„Was denn?“ Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Selbst ihr Herzschlag donnerte lauter in ihren Ohren.

Ganz langsam strich er mit seiner Nasenspitze über ihre, streichelte sie sanft und einfühlsam. „Du hattest recht mit dem Küken. Ich wollte Eindruck schinden.“

„Es braucht kein Küken, damit ich dich mag.“ Melissa ging auf dem sandigen Seeboden auf die Zehenspitzen, hielt die Luft an und lächelte ihn schüchtern an.

Als er verstand, was sie ausdrücken wollte, blitzte es in seinen Augen auf und sie glaubte zu spüren, wie ein Zittern durch seinen Körper lief.

Arionas öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch Melissa verschloss seine Lippen mit ihren, bevor er auch nur einen Ton herausbringen konnte. Es war nicht ihr erster Kuss, aber dieser hier fühlte sich so viel anders an. Voller Wärme und Zuversicht, Liebe und Vertrauen. Ein Versprechen für die Zukunft und zugleich eine Rebellion gegen die Götter, die ihr eben dieses Gefühl vorzuenthalten versuchten. Melissa küsste Arionas und ließ alle Bedenken fallen, die ihr möglicherweise gekommen wären, wenn sie über die Konsequenzen nachgedacht hätte. Für sie gab es nur diesen Moment, diese Sekunde, dieses Gefühl in Arionas Nähe und glücklich zu sein. Mehr brauchte sie nicht.

Kapitel 3

„Vielleicht ist es die falsche Frage zum falschen Zeitpunkt, aber …“ Arionas hielt inne, verstaute das letzte Handtuch auf seinem Gepäckträger und starrte Melissa mit unsicherem Blick an. „Wieso?“

Melissa zog ihr T-Shirt über ihren Bikini, der inzwischen zusammen mit ihr in der Sonne wieder getrocknet war. Noch immer fühlte sie den heißen Küssen nach, die Arionas und sie nicht nur im Wasser, sondern auch an Land ausgetauscht hatten. Seine Lippen hatten ihren Hals geküsst und sie spürte die Berührungen seiner Finger auf ihrem Rücken und ihren Armen, obwohl er einen Meter von ihr entfernt stand.

„Muss es einen Grund geben?“ Melissa wandte sich von ihm ab, denn die Frage war das letzte, was sie ihm erklären wollte. Immerhin konnte sie ihm schlecht mitteilen, dass diese Beziehung zum Scheitern verurteilt war, weil er irgendwann in seine Welt zurückmusste, wenn er keine langfristigen Probleme auf der Erde verursachen wollte.

Arionas berührte sie an der Schulter und drehte sie sanft zu sich. Seine Finger strichen über ihre Oberarme und er suchte ihren Blick.

---ENDE DER LESEPROBE---