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Ihre Herkunft wird sie leiten ... Kaum kehrt Melissa nach den intrigenreichen Ereignissen auf die Erde zurück, enthüllt ihr Vater ein Geheimnis über ihre Mutter. Zusammen mit dem von Trauer geplagten Arionas beschließt sie, sich auf die Suche nach Hinweisen zu den letzten Schritten ihrer Mutter zu machen. Als sie in die Welt der magisch begabten Mogmieds gelangen, erpressen diese Melissa mit ihrem Wissen. Entweder sie hilft dem schutzlosen Volk vor den Angriffen der Menschen oder sie erfährt nie, was wirklich mit ihrer Mutter passierte. Je länger sie mit Arionas in der faszinierenden Welt der Mogmieds bleibt, desto näher kommen sie sich. Doch seine Trauer und ihr verbissener Ehrgeiz bei der Suche stehen ihnen immer wieder im Weg. Bis Melissa herausfindet, was wirklich mit ihrer Mutter geschehen ist. Kann sie noch auf die Kräfte im Amulett vertrauen oder wird sie die Wahrheit über den Tod ihrer Mutter zerstören? Band 2 der Weltenamulett-Reihe von Ann-Kathrin Karschnick.
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Weltenamulett
Geister der Vergangenheit
Ann-Kathrin Karschnick
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Weitere Romane der Autorin:
Stollenbruch
Phoenix – Aschegeboren (Teslapunk-Dystopie-Krimi)
Phoenix – Erbe des Feuers (Teslapunk-Dystopie-Krimi)
Phoenix – Kinder der Glut (Teslapunk-Dystopie-Krimi)
Feuerritter – Lauernde Mächte (High Fantasy)
Feuerritter – Kampf um Teinemaa (High Fantasy)
Ein alter Hut (phantastisches Jugendbuch)
Weltenamulett – Das Erbe der Trägerin (Portal Fantasy)
Weltenamulett – Gezeitenwinter (Portal Fantasy)
Novellenserie Rack (6 Episoden Steampunk-Thriller)
Der Fluchsammler (Mystery Romance)
Assassin’s Wood – Bürokratie kann tödlich sein(Funny Fantasy)
Kapitel 1
„Gro … Großmutter?“ Melissa starrte auf die schimmernde Figur vor ihr. Da stand ihre Oma, redete mit ihr, als wäre sie nicht … tot. Melissa konnte es nicht glauben. Sie schluckte, schloss die Augen für einen Moment und sah dann erneut auf das Gemälde. Es änderte sich nichts. Melissa stellte sich vor Arionas und Phillip. In den letzten zwei Wochen war zu viel geschehen. Besonders auf dem Dachboden.
Ihr ganzes Leben hatte sich verändert. An ihrem siebtzehnten Geburtstag hatte sie das Weltenamulett gefunden. Bevor sie sich wehren konnte, hatte sie sich in einer anderen Welt wiedergefunden. Traveste. Anfangs glaubte sie, dem Berater Cerumak zu helfen, einen Mörder zu stoppen, aber schon bald hatte sie festgestellt, dass alles eine Lüge gewesen war. Cerumak hatte sie ausgenutzt, sie hintergangen. Erst durch Arionas ungewollte Hilfe war es ihr gelungen zu entkommen. Auf ihrer Flucht hatte sie entdeckt, dass sie auf die Kraft im Amulett zurückgreifen konnte und war zu einer gefühlskalten Kampfmaschine geworden. Kein Gegner war vor ihr sicher gewesen. Aber, obwohl sie die Trägerin des Weltenamuletts war, konnte sie Arionas Familie nicht retten. Melissa hatte ihm vorgeschlagen sie auf die Erde zu begleiten.
Alle nur, weil sie auf den Dachboden hatte gehen müssen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Lachen? Schreien? In Ohnmacht fallen?
„Ja, mein Kind. Ich bin wirklich hier. Na, zumindest eine Erinnerung von meinem alten Leben. Lass dich ansehen.“ Ihre Großmutter streckte ihre Arme nach ihr aus, nur um im nächsten Moment selig zu lächeln und die Hände ineinander zu falten. „Wie groß du geworden bist.“
„Großmutter?“, fragte Melissa erneut. Sie hörte den Stoff der Bluse rascheln, als ihre Oma einen Schritt näherkam. Arionas keuchte hinter ihr auf. Melissa hob beschwichtigend ihre Arme und deutete ihm, sich zu beruhigen.
„Du hast vermutlich einige Fragen.“
Ihre Oma senkte den Kopf, sah sie an und zog die Augenbrauen hoch.
„Du bist tot“, entfuhr es Melissa unbedacht. Im nächsten Augenblick fühlte sie die Hitze in ihre Wangen einlaufen. Das war unbedacht gewesen. Sie wollte doch endlich denken, bevor sie sprach.
„Natürlich bin ich das“, erwiderte ihre Großmutter und stemmte die Arme in die Hüfte.
„Aber … Aber ich rede mit dir. Ich verstehe das nicht.“ Hilfesuchend drehte sie sich zu Phillip, ihrem Vater, der sie mit einem Schmunzeln auf den Lippen ansah.
Melissa versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Großmutter. Tot. Geist? Dafür spricht, dass ihr Körper durchsichtig ist, dachte Melissa. Sie konnte durch die Gestalt sehen, erkannte das Gemälde dahinter, wenn auch einen Hauch dunkler. Die Farben ihrer Großmutter schimmerten dezent.
„Oh, Süße, natürlich verstehst du das nicht. Deine Mutter hat dich nie unterrichten können. Hätte sie auf mich gehört, wäre das …“
„Lina“, unterbrach Phillip die Gestalt, die mit den Armen wild gestikulierte.
„Du hast ja Recht. Was interessiert uns die Vergangenheit?“
Ihre Großmutter schmunzelte und klatschte in die Hände. Der Laut hallte merkwürdig dumpf auf dem Dachboden nach, als ob sie in einem Saal standen und nicht auf dem vollgerümpelten Dachboden.
Melissa hörte, wie Arionas einen weiteren Schritt rückwärts machte. Sie selbst versuchte noch zu verstehen, was gerade passiert war, aber wie musste es ihm erst gehen? Zögernd drehte sie sich um und sah ihm in die dunklen Augen. Seine Augenbrauen waren in der Mitte hochgezogen und er blickte an ihr vorbei. So sieht also jemand aus, der einen Geist gesehen hat, dachte sie. Melissa ging auf ihn zu und packte ihn an den Schultern. Es dauerte einen Moment, ehe er auf die Berührung reagierte. Seinen Augen wanderten Millimeter für Millimeter näher an ihren Blick heran.
„Was …?“, stotterte er unbeholfen.
Was sollte sie ihm darauf antworten? In diesem einen Wort lagen Angst, Unwissenheit und das Versprechen sich sofort zu verteidigen, wenn es sein musste. Aber Melissa wusste nicht, ob sie ihm diese Angst nehmen konnte. Sie hatte selbst kaum Antworten. Aber was sie hatte, wollte sie mit ihm teilen.
„Das ist meine Großmutter. Eigentlich ist sie … na ja … tot. Ich habe keine Ahnung, was hier vorgeht, aber ich finde es heraus, in Ordnung?“
Arionas nickte kaum merklich. Zufrieden bemerkte sie, dass sich seine blass gewordenen Wangen wieder mit Leben füllten. Ihr Vater hingegen schien den Anblick bereits gewohnt zu sein. Zumindest ließ er sich nichts anmerken. Schließlich wandte sie sich wieder an ihre Großmutter.
„Wie ich sehe, beherrschst du die fremden Sprachen bereits. Gut. Das ist schon mal etwas.“
„Oma, was bist du?“ Melissa konnte die Frage nicht mehr bei sich behalten. Sie drängte wie Galle an die Oberfläche.
„Tja, mein Kind, da sich deine Mutter damals weigerte, dich auch nur ein Stück weit zu unterrichten, muss ich wohl ganz von vorne beginnen. Es ist eine lange Geschichte und wenn ich mir dich so anschauen, willst du vermutlich erst einmal duschen.“
Melissa erinnerte sich wieder an ihr Aussehen. Seit sie vor einigen Stunden aus Traveste zurückgekehrt war, hatte sie noch keine Möglichkeit gefunden, sich umzuziehen. Sie trug immer noch das Kleid, das ihr die Cousine von Arionas geliehen hatte. Allerdings sah es kaum noch wie ein Kleid aus. Risse von Schwertern zogen sich durch den Stoff. Sie selbst hatte eine breite Bahn abgeschnitten, um besser gegen die Wachen von Cerumak kämpfen zu können. An den Schmutz wollte sie gar nicht erst denken. Melissa nickte. Wenn sie ehrlich war, roch sie wie ein feuchter Iltis.
„Ich warte hier oben auf euch. Und wenn du wieder da bist, musst du mir den schmucken Mann dort vorstellen“, sagte Lina und lachte leise.
*
Eine Stunde und einige Erklärungen zur Dusche später, standen Melissa und Arionas frisch gesäubert auf dem Dachboden. Phillip hatte sich währenddessen um das Essen gekümmert, so dass sie nun mit einem Teller Spaghetti auf dem Schoß vor dem Gemälde saßen. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie hungrig sie gewesen war.
„Großmutter, das ist Arionas“, stellte Melissa ihren Begleiter vor.
„Willkommen auf der Erde. Von welcher Welt kommst du?“
Melissa wollte gerade zu einer Übersetzung ansetzen, als Arionas bereits antwortete.
„Vielen Dank. Ich stamme aus der Welt Traveste.“
„Du sprichst seine Sprache?“, mischte sich Melissa überrascht ein.
„Ja und nein. Als Trägerin übersetzt das Amulett dir alles. Das weißt du bereits. Da mein früheres Leben eine Trägerin war, besitze ich die Fähigkeit ebenfalls noch.“
„Dein früheres Leben?“ Melissa schüttelte den Kopf. „Warum können wir dich eigentlich sehen?“
Ihre Großmutter strich sich eine ergraute Locke aus dem Gesicht. Fältchen erschienen um ihre Augen, als sie lächelte. Für einen Augenblick verlor Melissa sich in dem winzigen braunen Fleck im rechten Auge ihrer Oma. So lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen und nicht realisiert, wie sehr sie Oma Lina vermisst hatte.
„Kein Geist, keine Erscheinung. Ich bin eine Erinnerung. Sämtliche Erfahrungen, die deine Großmutter bis zu ihrem Todestag gemacht hat, sind in mir vereinigt. Einige Generationen nachdem unsere Familie das Amulett in Besitz nahm, wurde das Gemälde erschaffen, um den nachfolgenden Generationen bei ihrer Aufgabe zu helfen. Deiner Aufgabe, Melissa.“
„Ja, vielen Dank dafür“, erwiderte sie und verdrehte die Augen. „Ich habe in den letzten zwei Wochen mehr erlebt, als in meinem bisherigen Leben.“
Melissa stellte ihre halb aufgegessenen Spagetti auf den Boden. Das Bild von Parlus, Arionas Vater, blitzte vor ihren Augen auf. Allein die Vorstellung an das Blut in dem Parlus gelegen hatte, verdarb ihr den Appetit. Sie atmete schwer aus.
„Solche Dinge werden dir in Zukunft häufiger passieren. Das gehört von nun an zu deine Aufgaben.“ Ihre Großmutter bedachte Melissa mit einem traurigen Blick. Gleichzeitig machte sie einen Schritt auf sie zu. „Erzähl mir von deinem Abenteuer auf Traveste.“
„Abenteuer. Pft. Wenn du mich fragst, war es ein Albtraum.“ Melissa berichtete erneut, was sie einige Stunden zuvor ihrem Vater erzählt hatte. Es gelang ihr nicht, ihrer Oma in die Augen zu sehen. Sie starrte während ihres Berichts auf den roten, mottenzerfressenen Ohrensessel. Die ganze Zeit sah sie die Bilder zu ihrer Geschichte in ihrem Kopf ablaufen. Als sie endete, herrschte Stille auf dem Dachboden. Ihre Großmutter hatte sie nicht unterbrochen, geschweige denn, sich bewegt. Wie eine Projektion mitten im Raum stand sie da und beobachtete Melissa.
„Ich habe dir alles erzählt. Jetzt stelle ich die Fragen“, forderte Melissa mutig.
„Nicht in diesem Ton, Melissa“, erwiderte ihre Großmutter, während sich ihre Augenbrauen zusammenschoben.
„Ich habe jedes Recht, Fragen zu stellen! Immerhin hat mich keiner auf DAS vorbereitet“, brauste Melissa auf. Sie war müde, wollte nur noch schlafen. Außerdem zerrte die Müdigkeit an ihrer Geduld.
Wieder stemmte ihre Großmutter die Arme in die Hüfte. Dabei hingen die Ärmel ihres Kleides in ihren Händen. Ihre Finger spielten ungeduldig mit dem Stoff. Gerade öffnete sie den Mund, als Phillip dazwischen ging.
„Lina, sie soll heute noch irgendwann schlafen. Lass sie einfach ihre Fragen stellen.“
Melissa sah, wie ihre Großmutter die Arme vor der Brust verschränkte, ehe sie den Mund schloss und nickte.
„Du hast ja Recht, Phillip.“ An Melissa gewandt sagte sie: „Es ist schön zu sehen, dass du eine der Eigenschaften unserer Linie auslebst. Du wirst es schwer haben, eine Trägerin in unserer Chronik zu finden, die keinen Dickschädel hatte.“ Lina lächelte und holte tief Luft. Melissa fragte sich, ob sie wirklich atmen musste oder es aus reiner Gewohnheit tat. Immerhin bestand sie aus nichts.
„Am besten beginne ich mit der ersten Trägerin. Um dir klar zu machen, wie lange das Amulett bereits in unserem Besitz ist: Du bist die einundfünfzigste Generation der Trägerinnen.“
„So lange ist es schon in unserer Familie?“, unterbrach Melissa. Ihr Mund blieb offen stehen. Sie rechnete im Kopf nach. Das mussten … über 1000 Jahre sein. Wahnsinn! Sie kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.
„Allerdings. Wann genau das Amulett zu uns kam, wissen wir nicht mehr. Aber wir wissen, warum wir es bekamen, warum du von nun an auf jeden Ruf hören wirst, der durch die Welten ausgesprochen wird.“ Melissa stutzte. Sie fragte sich, warum ihre Oma die Lippen aufeinanderpresste, ehe sie weitersprach. „Vor einundfünfzig Generationen lebte eine Frau, unsere Vorfahre. Sie war verliebt, unsterblich verliebt in einen Mann. Bald wurden sie ein Liebespaar und sie genossen einige Jahre des Glücks. Doch dann gab es eine Revolution auf der Erde. Die Menschen lehnten sich gegen die Götter auf. Unser Gott ist übrigens einer der Novensil, nur ist sein Name verloren gegangen. Gott hat seinen Zorn über die Menschheit ergossen und tausende starben in Erdbeben, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüchen. Auch unsere Vorfahrin verlor ihren Geliebten an diesen Tagen.
Ihre Wut war fürchterlich. Jeden Tag trainierte sie, um sich eines Tages an Gott zu rächen. Schließlich gelang es ihr, ihn zu sich zu locken. Zur damaligen Zeit wandelte er noch unter den Menschen, so dass es kein Problem war, ihn zu sich zu rufen. Als er vor ihr stand, griff sie ihn an. Sie wollte ihn vernichten, aus tiefstem Herzen. Aber Gott überlebte den Angriff, wenn auch schwer verletzt. Unsere Vorfahrin wurde gefangen genommen und vor ein Göttergericht gestellt. Alle Götter zusammen nennen sich Novensil, aber dazu kommen wir später.
Da die Novensil von jeher friedliebend – wenn auch nicht gnädig - sind, beschlossen sie unsere Ahnin nicht zu töten, sondern sie anderweitig zu bestrafen. Die Novensil schmiedeten das Amulett der Welten und gaben es ihr. Von nun an und in alle Zeiten sollte die weibliche Linie Neumann den Novensil dienen, indem wir den Welten helfen. Sollte sich eine aus unserer Familie dagegen auflehnen, würde nachläufig das Todesurteil vollstreckt werden.“ Ihre Großmutter wurde zum Schluss immer leiser.
„Ich sterbe, wenn ich mich weigere?“ Melissas Stimme klang in ihren Ohren furchtbar hoch.
Das vorsichtige Nicken der schimmernden Gestalt sorgte dafür, dass sie vergaß zu atmen. Sie saß nur da und rührte sich nicht. Ein Inventarstück des Dachbodens. Erst als der Druck in ihrer Brust unerträglich wurde, sog sie die Luft laut ein. Ihr Herz machte einen Satz, als es den Sauerstoff zu fassen bekam. Dieser eine Schlag holte sie aus ihrer Lethargie. Sie spürte wieder die Kälte des Dachbodens auf ihren nackten Unterschenkeln und Oberarmen. Eine Gänsehaut breitete sich über ihre Haut aus, als ein Luftzug sie erfasste.
„Spinnen die denn vollkommen?“, rief sie aus. Arionas, der neben ihr immer noch seinen Teller Spagetti in Händen hielt, zuckte zusammen. „Die können mich doch nicht für etwas verurteilen, was ich nicht getan habe. Was, wenn ich keinen Bock habe, den Welten zu helfen? Wollen sie mich dann aus dem Unterricht ziehen oder gleich vor den Augen der anderen Schüler umbringen?“
Phillip rückte näher an sie heran und nahm Melissa in den Arm. Sanft streichelte er ihren Rücken, während er auf sie einredete: „Lina ist nur der Bote. Sie kann nichts für die Nachricht. Außerdem musste sie selbst jahrzehntelang die Aufgabe erfüllen, ehe deine Mutter sie übernahm.“
„Ich fürchte, dir bleibt nichts anderes übrig, mein Kind.“ Melissa starrte auf den Sperrmüllberg, auf dem ihr alter Teddybär Benny thronte. Jetzt gerade wünschte sie sich zurück in die Zeit, als sie noch mit ihm abends im Bett gelegen hatte. Damals hatte sie keine Probleme gehabt. Zumindest nicht solche gravierenden. Melissa hatte sich höchstens Sorgen darum gemacht, was sie am Morgen zum Frühstück bekam. Aber jetzt?
„Melissa?“ Arionas Stimme drang wie durch Watte an ihre Ohren. Seine Hand legte sich auf ihre Schulter.
„Ja“, antwortete sie kaum hörbar.
„Ist alles in Ordnung? Du bist blass.“
Das brachte sie endgültig zurück auf den Dachboden. Sie legte die Handflächen für einen Augenblick über ihre Augen, ehe sie mit beiden Händen durch ihre Haare fuhr und es nach hinten schob. Ihr Vater nahm den Arm von ihrer Schulter, blieb aber in ihrer Nähe.
„Nein, nichts ist in Ordnung, aber mach dir keine Sorgen. Damit muss ich fertig werden.“
Seine Augen wurden schmal, als er sie ansah, aber er hakte nicht weiter nach. Stattdessen legte er ihr die Hand auf den Rücken. Die Wärme durchdrang sofort ihre kalte Haut und kroch bis in ihr Innerstes. Seine Berührung sorgte dafür, dass sie sich beruhigte. Die beiden hatten in den letzten zwei Wochen viel durchgemacht. Wahrscheinlich war Arionas der einzige, der verstehen konnte, was gerade in ihr vorging.
„Oma, gibt es keine Möglichkeit diesen Fluch loszuwerden? Ich meine, ihr müsst über die Jahre doch einiges gutgemacht haben.“
„Leider nein, mein Kind. Jede der Trägerinnen wusste um ihr Los und hat sich stets bemüht, die Novensil zufrieden zu stellen. Doch die Götter geben uns nicht frei. Das Amulett wird eines Tages an deine Tochter weitergegeben werden. So wie ich es deiner Mutter gab.“
Melissa schüttelte den Kopf und schloss die Augen. Ihre Hände bildeten Fäuste, als ihr eine Idee kam.
„Was, wenn ich keine Kinder kriege?“, erkundigte sie sich.
„Du wirst eine Tochter kriegen. Meine Ururgroßmutter hat versucht die Linie zu durchbrechen. Sie wollte keine Kinder bekommen. Doch auf einer Welt wurde sie eines Nachts überfallen. Sie konnte sich nicht gegen den Angreifer wehren. Einige Monate später bemerkte sie, dass sie schwanger war.“ Oma Lina nickte zu der Frau auf der linken Seite des Gemäldes.
„Und ihr glaubt, die Novensil waren das?“
Ihre Großmutter nickte, während sie eine Strähne aus dem Gesicht strich. Melissa war geschockt. Sie spürte, wie ihr Innerstes sich umdrehte. Die Novensil hatten eine Vergewaltigung angeordnet? Wie grausam war das denn? Methonius. Er war ein Novensil. Hatte er mit der Geschichte zu tun? Sie fasste sich an den Kopf. Das war zu viel für sie. Sie hatte noch nicht einmal begonnen ihre Reise nach Traveste zu verarbeiten und jetzt erfuhr sie, dass Götter … richtige Götter sie vergewaltigen lassen würden, wenn sie nicht freiwillig Kinder bekam. Ihr wurde übel. „Ist sie das?“, fragte Melissa einer Eingebung folgend. „Deine Ururgroßmutter?“
„Ja, das ist sie.“
Fünf Frauen. Ihre Oma und vier andere. Ururgroßmutter.
„Wenn das deine Ururgroßmutter ist, dann sind die anderen Frauen auch mit dir verwandt. Du hast gesagt, dass die vorherigen Generationen dort mit einer Erinnerung eingeschlossen sind.“
„Eingeschlossen ist ein hartes Wort. Wir sind freiwillig hier. Aber ja, wenn eine Generation stirbt, erscheint sie ein Jahr später auf diesem Gemälde.“
„Ein Jahr später? Warum?“
„Wenn die Erinnerung sofort auftaucht, würde die nachfolgende Generation nicht wahrnehmen, dass derjenige gestorben ist. Niemand würde trauern und die Erinnerung mit dem Verstorbenen verwechseln.“
Melissa nickte. Das klang vernünftig. Sie betrachtete die fünf Frauen. Plötzlich sackte ihr Blut in die Beine, sie drohte aus ihrer sitzenden Position zu kippen. Nur Arionas Hand in ihrem Rücken hielt sie aufrecht.
„Ein Jahr?“ Melissas Worte waren ein Flüstern. „Nach einem Jahr taucht die Erinnerung auf?“
Phillip nahm ihre Hand. Melissa fühlte den Druck, als würde eine Feder über ihren Handrücken streichen. Alles schien weit weg zu sein. Arionas Wärme verschwand, die Anwesenheit ihres Vaters wurde blass. In ihrem Kopf rauschte ein Sturzbach. Das Einzige, was sie wahrnahm, war die schimmernde Gestalt einen Meter vor sich. Und die nickte in diesem Augenblick.
„Wo … wo ist Mama?“ Ihre Stimme klang, als hätte sie eine ganze Nacht auf einem AC/DC Konzert mitgesungen. Sie hatte Angst vor der Antwort und trotzdem konnte sie sich nicht dagegen wehren. Aber niemand schien ihr antworten zu wollen. Die Lippen ihrer Großmutter waren zu einem schmalen Strich verschmolzen und ihr Vater hatte den Blick abgewandt. Einzig Arionas sah sie mit großen Augen an. Doch er konnte ihr nichts sagen. Er war genauso verwirrt wie sie.
„Sagt mir, was mit Mama ist!“, schrie sie haltlos. Melissa verlor die Kontrolle. Sie sprang auf und ging auf ihre Großmutter zu. Als sie nach ihr packen wollte, flog ihre Hand durch die Gestalt hindurch. Während des Moments, erfasste sie ein eigenartiges Gefühl. Keine Kälte, wie sie erst dachte. Ein Kribbeln, gefolgt von einem Schütteln am ganzen Körper. Melissa sprang erschrocken zurück.
„Redet endlich mit mir“, brüllte sie wütend.
Da räusperte sich ihr Vater und nickte Lina zu. Diese legte ihre Hand auf ihr Herz, so dass ihre Ringe gegen ihre Halskette schlugen.
„Melissa, ich wünschte, ich könnte es dir schonender beibringen.“ Sie zögerte einen Moment, ehe sie fortfuhr. „Vanessa ist nicht tot. Sie ist seit fünf Jahren verschollen.“
Melissa sah ihre Großmutter, hörte, was sie sagte, aber etwas in ihr versperrte der Nachricht den Weg zum Gehirn. Ihre Atmung flachte ab, ging nur noch stoßweise. Nach außen musste es so wirken, als zeigte sie keinerlei Reaktion auf das Gesagte, aber innerlich tobte ein Krieg in Melissa. Sie spürte, wie ihre Organe sich zusammenzogen, als sammelte ihr Körper all seine Energie für den entscheidenden Schlag gegen ihr Bewusstsein. Sterne tanzten vor ihren Augen, verkleinerten ihr Sichtfeld immer weiter, bis nur noch der Kopf ihrer Großmutter zu sehen war.
„Melissa?“ Arionas Stimme klang dumpf, als würde er durch eine dicke Wand sprechen.
Ein Ziepen durchfuhr ihre Hüfte. Melissa presste ihre Hand gegen die Stelle, versuchte den Muskel zu lockern, aber es half nicht. Melissa atmete immer schneller. Auf einmal wurde ihr schwindelig. Das Gesicht ihrer Großmutter explodierte hinter einem farbenfrohen Sternennebel. Ehe sie sich irgendwo festhalten konnte, spürte sie bereits einen kurzen Schmerz in ihrer Schulter, dann wurde alles dunkel.
Kapitel 2
Weiche Kissen. Kopfschmerzen. Melissa erwachte nur sehr schwerfällig. Als sie für den Bruchteil einer Sekunde die Augen öffnete, sah sie Arionas über sich. Sein Gesicht wirkte besorgt. Ihre Fingerspitzen glitten über einen kuscheligen Stoff, als sie die Decke wegschieben wollte. Warum lag sie in ihrem Bett? Einen wohligen Moment lang konnte sie die Unwissenheit genießen, ehe die Ereignisse auf dem Dachboden auf sie niederprasselten.
Ihre Mutter lebte!
Ruckartig richtete sie sich auf. Sie befand sich im Maschinenraum, ihrem Zimmer. Arionas saß auf der Bettkante und betrachtete sie mit großen Augen.
„Geht es dir besser?“, erkundigte er sich mit sanfter Stimme.
Melissa wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Auch wenn ihr nicht mehr schwindelig war, fühlte sie sich hundeelend. Fünf Jahre hatte sie um ihre Mutter getrauert, sie vermisst und sich schließlich damit abgefunden, eine Halbwaise zu sein. Wie oft hatte sie mit ihrem Vater geweint oder Fotoalben durchgeblättert, um sich an sie zu erinnern? Jedes Mal musste er gewusst haben, dass sie am Leben war. Warum hatte er sie angelogen?
„Wo ist mein Vater?“, fragte sie, statt eine Antwort zu geben. Sie konnte nicht sagen, ob es ihr besser ging. Aber eines fühlte sie deutlich in sich aufsteigen. Wut. Darüber, dass sie schon wieder angelogen worden war. Darüber, dass ihr Vater ihr jahrelang etwas vorgespielt hatte. Ihre Fäuste ballten sich, als sie Arionas nun nach ihrem Vater fragte.
„Deine Großmutter sagte, er will Wasser holen. Ich habe dich in dein Zimmer gebracht.“ Er stockte kurz, ehe er weitersprach. „Was ist da oben passiert?“
Melissa atmete tief durch. Auch wenn sie wütend war, Arionas hatte nichts getan, um diese Wut zu verdienen. Nein, sie würde sich ihren Zorn für ihren Vater aufsparen. Sie hörte ihn bereits die Treppe hochkommen.
„Die Kurzfassung: Die Erinnerung meiner toten Großmutter lebt in einem Gemälde und meine Mutter lebt noch, obwohl ich dachte, dass sie tot ist. Dafür ist sie verschollen.“
Ihr Vater trat ins Zimmer. Sein Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen. Als er sie aufrecht im Bett sitzen sah, entspannten sich seine Gesichtszüge jedoch. Melissa setzte sich auf die Bettkante und wollte kontrolliert die Wut ablassen. Doch das Ventil in ihr platzte, alles drängte aus ihr heraus.
„Warum hast du mich angelogen? Nicht nur das Amulett. Das habe ich ja inzwischen verstanden, aber Mama? Wie konntest du das tun? Ich hatte ein Recht …“ Ihre Stimme versagte und Phillip verschwamm vor ihren Augen. Während sie versuchte die Tränen zurückzuhalten, kam ihr Vater einen Schritt auf sie zu.
„Es tut mir unendlich leid. Glaub mir. Dass ich dir nicht vom Amulett erzähle, musste ich Vanessa versprechen. Wir wollten dich nur beschützen. Deine Mutter hat mir zwar nie viel von ihren Abenteuern erzählt, aber ich habe ihre Verletzungen gesehen. Das wollte sie dir so lange wie möglich ersparen.“
„Das gibt dir aber nicht das Recht, mir ihren Tod vorzugaukeln. Verdammt, Dad. Sie lebt!“, unterbrach Melissa ihren Vater. Sie schüttelte den Kopf. „Wir hätten sie suchen können.“
„Ja, aber wir wissen nicht, wo sie ist und warum sie verschwunden ist.“ Phillip wurde ebenfalls lauter. „Lass mich bitte ausreden, dann verstehst du es vielleicht. Als sie damals in diese Welt gerufen wurde, schien anfangs alles normal. Aber nach zwei Wochen war sie immer noch nicht zurück. Normalerweise hat sie sich immer einmal die Woche bei mir gemeldet, um mir zu sagen, wie lange es noch dauert. Doch diesmal nicht. Sie blieb einfach verschwunden. Ich wusste, dass Lina auf dem Dachboden ist, also ging ich zu ihr. Aber sie konnte mir nicht mehr sagen, als dir jetzt. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten. In den Tagen bin ich beinahe durchgedreht. Frag mich nicht, wie ich sie überstanden habe.“ Phillip atmete schwer, beruhigte sich aber langsam. „Dann, drei Wochen, nachdem sie verschwunden war, tauchte sie plötzlich auf. Sie sah fürchterlich aus, als hätte sie sich seit Wochen nicht gewaschen. Vanessa wirkte gehetzt.“ Seine Augen blickten aus dem Fenster, während er gedankenverloren seinen Ehering drehte. „Wir hatten keine fünf Minuten. Sie sagte, dass jemand sie gefangen genommen hätte, aber sie konnte fliehen. Wir müssten alle fortgehen, sagte sie. Du und ich wären ebenfalls in Gefahr. Während ich Klamotten packte, wollte sie dich holen. Plötzlich hörte ich ein Poltern auf der Treppe. So schnell ich konnte, rannte ich in den Flur. Aber ich kam zu spät. Eine Gestalt in einem schwarzen Umhang hielt sie auf der obersten Stufe fest. Egal wie sehr sie sich wehrte, sie konnte sich nicht befreien. Als nächstes sah ich das Licht, in dem ihr immer verschwindet. Ich hörte nur noch ein paar Worte: Sucht nicht nach mir. Ich lie … Dann war Vanessa weg.“
Melissa entdeckte Tränen in den Augen ihres Vaters. Ihre Fäuste lockerten sich, auch wenn sie immer noch wütend war. Er litt genauso wie sie.
„Aber warum hast du mir gesagt, dass sie tot ist? Du hättest mir sagen können, dass sie verschwunden ist.“
„Nein, hätte ich nicht. Ich habe versprochen, nichts über das Amulett zu verraten. Dieses Versprechen hätte ich gebrochen, wenn ich dir von der Art ihrer Entführung erzählt hatte. Außerdem sollten wir nicht nach ihr suchen. Derjenige, der sie entführt hat, scheint mächtig zu sein. Vanessa hatte schreckliche Angst vor ihm. Ich konnte nicht riskieren, dass du dich auf die Suche nach ihr machst.“
Phillip stand direkt vor ihr und nahm sie nun in den Arm. Melissa schluchzte auf. Während ihr Vater ihr über den Rücken streichelte, verbarg sie ihr Gesicht in seinem Pullover. Einige Augenblicke lang ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Dann wurde ihr klar, dass Arionas auch noch im Zimmer war. Schnell wischte sie ihre Tränen ab und setzte sich wieder auf ihr Bett. Dort schnappte sie sich ihr Kissen und lehnte sich an die Wand.
„Wer würde Mama so etwas antun? Warum sollte jemand sie entführen?“, fragte Melissa.
„Wir wissen es nicht. Lina und ich haben lange darüber diskutiert, aber es gibt keine Erklärung.“ Phillip zuckte mit den Schultern, ehe er sich durch die Kurzhaarfrisur fuhr. Das Kissen an ihre Brust gepresst, sah sie die Sorge von Arionas. Sie lächelte ihm aufmunternd zu. Zumindest versuchte sie es. Als er jedoch ihre Hand nahm und sie festhielt, zeigte er ihr, dass es ihr nicht gelungen war. Sie erklärte ihm, was los war.
„Das ist schrecklich, Melissa.“ Arionas drückte ihre Hand. „Kann ich etwas für dich tun?“
Sie schüttelte den Kopf, presste die Lippen aufeinander und wandte sich gleich darauf an ihren Vater. „Warum hast du es mir jetzt erzählt?“
„Eigentlich hatte ich gehofft, es dir nie erzählen zu müssen. Lina und ich hatten geglaubt, dass das Amulett mit Vanessa verschwunden ist. Aber irgendwie scheint es den Weg zu dir gefunden zu haben. Es blieb mir nichts anderes übrig. Ich kann dich nicht unwissend in fremde Welten schicken. Vielleicht ist derjenige, der Vanessa entführt hat, auch hinter dir her. Lina ist die Einzige, die dir im Umgang mit dem Amulett helfen kann.“
Melissa senkte den Blick. Das karierte Muster auf ihrem Kissen war auf einmal ungeheuer interessant. Am liebsten wollte sie allein sein. Niemand sollte bei ihr sein, der ihr weitere schlechte Nachrichten überbringen konnte. Viel mehr wollte und konnte sie nicht ertragen. Erst einmal musste sie das verarbeiten, was sie bisher erfahren hatte.
„Dad, können wir Arionas bitte sein Zimmer zeigen? Ich bin müde und würde gerne schlafen.“ Melissa traute sich nicht, ihren Vater anzusehen.
„Natürlich. Aber du wirst ihm noch einiges erklären müssen, ehe er ebenfalls schlafen gehen kann.“
*
Melissa lag in ihrem Bett. Draußen war es dunkel. Der kleine Zeiger der Uhr stand auf der sechs. Vor sieben Stunden war sie eingeschlafen. Nachdem sie Arionas erklärt hatte, dass sein Zimmer nicht das eines Königs war und wie die Toilette funktionierte, war sie ins Bett gefallen. Obwohl sie müde gewesen war, ihr jeder Knochen schmerzte, konnte sie nicht einschlafen. Stattdessen hatte sie gegrübelt. Über ihre Mutter, den vorgetäuschten Tod und wo sie gefangen sein konnte. Aber egal, wie lange sie nachgedacht hatte, ein Gedanke ließ sie nicht mehr los. Auch jetzt musste sie wieder daran denken.
Ihre Mutter lebte! Wenn ihr Vater geglaubt hatte, dass Melissa sie nicht suchen würde, hatte er sich geirrt.
Da sie sowieso nicht mehr schlafen konnte, schwang sie sich aus dem Bett. In fünfzehn Minuten würde ihr Wecker sowieso klingeln. Sie stapfte schwerfällig die Treppe herunter und ging in die Küche. Zu ihrer Überraschung saß Arionas auf einem der Stühle und starrte aus dem Fenster. Obwohl seine Haltung kerzengerade schien, hingen seine Schultern nach vorn. Wahrscheinlich denkt er an seine Familie, überlegte Melissa. Immerhin hatte er sie erst vor einer Woche verloren.
„Was machst du denn schon hier?“, erkundigte sie sich, während sie zum Toaster ging.
„Ich bin wach geworden, als dein Vater in der Küche saß.“ Bei dem Wort Küche stockte er und sah sich misstrauisch um. „Da ich nicht mehr schlafen konnte, ging ich zu ihm. Ich glaube, er sagte mir, dass ich hier sitzen bleiben sollte.“
„Du sitzt schon seit zwei Stunden hier?“ Ihr Vater verließ normalerweise um kurz nach vier das Haus. „Was hast du denn die ganze Zeit gemacht? Doch nicht nur aus dem Fenster geschaut, oder?“
Arionas zuckte mit den Schultern, bevor er nickte. Melissa staunte. Sie hätte sich sofort wieder aufs Ohr gehauen. Aber sie hatte auf Traveste schon festgestellt, dass Arionas kein Morgenmuffel war. Ganz im Gegenteil. Während sie es kaum schaffte, die Augen in diesem Augenblick aufzuhalten, saß er aufmerksam vor ihr. Melissa hasste es morgens zu reden, aber heute würde ihr wohl keine andere Wahl bleiben.
„Was möchtest du zum Frühstück? Wir haben Cornflakes, Toastbrot, Schwarzbrot. Such dir was aus“, sagte sie und setzte sich zu ihm. Durch ihre kleinen Augen sah sie seinen verwirrten Gesichtsausdruck.
„Komm mal mit. Ich zeig dir mal, wo du was in der Küche findest.“
Nachdem Melissa den Rundgang beim Toaster beendete, ahnte sie bereits, dass Arionas nicht alles verstanden hatte. Aber das würde noch kommen. Beim Frühstück wiederholte er alles, was sie ihm erklärt hatte und vergaß dabei nur das Gefrierfach. Melissa war überrascht, wie gut er sich alles einprägen konnte. Vielleicht braucht er nicht lang, um Deutsch zu lernen, überlegte sie. Sie musste nur noch die Kontrolle über ihr Sprachwirrwarr erlangen und dann konnte sie ihn unterrichten.
„Also, wir müssen heute zur Schule …“
„Du gehst noch zur Schule? Bist du nicht schon zu alt dafür?“, unterbrach er sie.
„Zu alt? Nein, ich habe noch ein Jahr. Wie lange musstet ihr denn auf Traveste zur Schule gehen?“, fragte Melissa, während sie die Stufen zum ersten Stockwerk erklommen.
„Vor vier Jahren endete meine schulische Vorbildung. Seitdem habe ich am Hof des Königs gearbeitet.“
„Okay, hier auf der Erde läuft das etwas anders. Wir können bis zu dreizehn Jahre zur Schule gehen. Ich höre aber nach zehn Jahren schon auf. Dann will ich eine Ausbildung machen.“ Melissa hielt inne. „Wollte ist wohl der bessere Ausdruck. Mit dem Amulett dürfte das nichts werden. Egal. Zieh dich erst mal um. Ich glaube, Dad hat dir ein paar Klamotten gegeben, oder?“
Melissa schlurfte in ihr Zimmer. Dieses Reden am Morgen kostete wirklich viel Kraft. Noch ein Grund mehr, es zu hassen. Sie packte ihre Schultasche, zog sich an und wartete im Flur auf Arionas.
Melissa musste an Eva denken. Sie hatte ihre beste Freundin gestern nicht mehr angerufen. Was hätte ich ihr auch erzählen sollen, dachte sie. Entschuldige, ich war für zwei Wochen auf einer anderen Welt. Kommt in nächster Zeit häufiger vor. Sie schüttelte den Kopf. Das Gespräch hatte sie dennoch nur heraus gezögert. Spätestens heute in der Schule würde sie auf Eva treffen. Und Melissa würde sie anlügen müssen. Dabei könnte sie gerade jetzt jemanden gebrauchen, mit dem sie reden konnte. Von allem, was ihr in den letzten Wochen passiert war, war die Info, dass ihre Mutter am Leben war, die beste und schlimmste zugleich. Es riss sie förmlich auseinander. Eva war die Einzige, die das verstehen konnte. Ihre beste Freundin konnte ihr helfen mit der Situation klar zu kommen, aber Melissa durfte nicht mit ihr reden. Spätestens nachdem sie von der Entführung ihrer Mutter erfahren hatte, wusste sie, dass die Warnung von dem alten Mann im Stuhl nicht nur leere Worte gewesen waren.
Vertraue auf das Amulett und behalte dein Geheimnis für dich. Je mehr Menschen davon wissen, desto gefährlicher wird es für dich.
So gerne sie mit Eva geredet hätte, sie durfte es nicht tun. Arionas blieb der Einzige, mit dem sie über das Amulett reden konnte. Und er wusste, wie sehr der Verlust eines Elternteils schmerzte. In dem Moment kam er die Treppe herunter. Er trug eine dunkelblaue Jeans und ein paar alte Turnschuhe ihres Vaters. Irgendwo musste ihr Vater noch ein ihm zu eng gewordenes, weißes Hemd heraus gekramt haben, über dem Arionas eine schwarz glänzende Weste trug. Seine Hemdärmel hatte er hochgekrempelt. Melissa war erstaunt, wie gut ihm die Sachen passten. Als sie jedoch ein Blitzen an seiner Hüfte sah, stutzte sie.
Melissa lachte laut auf. Sie wusste, dass er auf dem Rückweg von der Gefangeneninsel einem Soldaten das Schwert abgenommen hatte. „Willst du das mitnehmen?“, schmunzelte sie.
Arionas zögerte mit seiner Antwort und packte eine Hand auf das Schwert, als wollte er es beschützen.
„Trägt man auf deiner Welt keine Verteidigungswaffe?“, erkundigte er sich stattdessen.
„Um ehrlich zu sein, nein. Hier trägt niemand eine Waffe, außer Polizisten. Na ja, und einige Verbrecher. Auf keinen Fall Schüler. Lass das Schwert lieber zu Hause.“
Während sie die letzten Worte sagte, presste Arionas die Lippen zusammen. Sie wusste nicht, ob er sich an den Worten zu Hause störte oder aber an der Tatsache, das Schwert hier zu lassen. Dennoch brachte er es zurück in sein Zimmer. Melissa schmunzelte immer noch, als er wieder neben ihr stand. Als nächstes erklärte sie ihm das Fahrrad. Phillip hatte angeboten, seines vorerst zu benutzen. Um Arionas zu zeigen, wie es funktionierte, fuhr sie einige Male die Auffahrt hoch und runter. Sie runzelte die Stirn, als er auf Anhieb selbstsicher losfuhr. Zu gut waren Melissa ihre eigenen ersten Versuche in Erinnerung.
Bis zu ihrem siebten Lebensjahr hatte sie sich geweigert auf ein Fahrrad zu steigen. Ihr waren die rollenden Gefährte suspekt gewesen. Erst als Eva damals ihr erstes Fahrrad bekommen hatte, versuchte sie es ebenfalls. Es endete in einer Katastrophe. Sie brauchte drei Tage, in denen sie diverse blaue Flecke und Schürfwunden davongetragen hatte.
Nun stand ihr die schwerste Aufgabe bevor. Arionas wurde das erste Mal mit der Außenwelt der Erde konfrontiert. Melissa hatte alle Mühe ihn davon abzuhalten, Menschen aus den Metallungeheuern zu befreien oder ihn zu stoppen, wenn er auf den unglaublich gut ausgebauten Händlerweg fahren wollte. Am meisten irritierten ihn jedoch die Geräusche. Melissa sah, wie er ständig einem neuen Ton folgte. Sei es eine Hupe, zu laute Musik aus einem Auto oder das Rauschen eines vorbeifahrenden LKWs. Dass er dabei nicht ständig vom Fahrrad fiel, grenzte an ein Wunder. Schließlich entfernten sie sich von der Hauptstraße.
„Das sind viele Kinder“, bemerkte Arionas. „Wie viele besuchen diese Schule?“
„So um die dreihundert, glaube ich.“
„Das sind viele. Auf meine Schule gingen zweiundachtzig Kinder.“
Melissa überlegte ihm zu sagen, dass das nur eine von fünf Schulen in Schwarzenbek war, aber wahrscheinlich würde er das sowieso kaum glauben können.
Als sie die letzten Meter zur Schule zurücklegte, bemerkte Melissa, dass sie das erste Mal, seitdem sie auf die Realschule ging, nicht mit Eva zusammen zur Schule gekommen war. Sie sah Evas Fahrrad bereits an der üblichen Stelle im Fahrradständer stehen. In ihrer Magengegend kribbelte es. Am liebsten wollte sie umkehren. Was ihr am heutigen Tage bevorstand, gefiel ihr gar nicht. Das Klingeln der Schulglocke lenkte sie von ihrer bevorstehenden Lüge ab. Mist, sie waren zu spät dran.
„Wir müssen uns beeilen, Arionas. Schließ dein Fahrrad an.“ Kurz vor dem Lehrer erreichten sie das Klassenzimmer. Schnell schlüpften sie durch die angelehnte Tür und setzten sich an den einzigen Doppeltisch, der noch frei war. Eva war die Einzige, die von ihnen Notiz nahm. Melissa spürte, wie ihre Wangen rot wurden, als Evas Mund herunterklappte. In ihren Augen lag ein stummer Vorwurf, dem Melissa nicht standhielt. Schnell starrte Melissa woanders hin. Sie zog ihre Hefte heraus. Der Lehrer hatte inzwischen ebenfalls seinen Platz am Pult eingenommen.
„Wie ich sehe, haben wir ein neues Gesicht unter uns. Stell dich bitte einmal vor.“
Kaum sagte der Lehrer das, drehten sich alle zu Arionas um. In den Gesichtern der Mädchen konnte sie sofort eindeutiges Interesse sehen. Irritiert blickte sie zu Arionas, ehe sie aufsprang. Dabei schlug sie mit dem Knie an ihren Tisch. Um den Schmerz zu unterdrücken, presste sie die Lippen aufeinander.
„Herr Töllner, das ist Arionas. Er stammt aus …“ Melissa kaute auf ihrer Unterlippe. Schnell, ein Land, in dem man kaum Englisch spricht. „… aus Bolivien. Er spricht weder Deutsch, noch Englisch, wohnt zurzeit bei uns und da er sonst nirgendwo hinkann, dachte ich, es ist in Ordnung, wenn er mit mir zur Schule geht. Vielleicht lernt er dann sogar noch etwas.“
Ihre Finger trippelten nervös auf ihrem Heft. Hoffentlich glaubt er mir, betete sie.
„Bolivien?“ Ihr Lehrer sah sie verdutzt an. „Ich muss das mit dem Direktor klären, ob er schon angemeldet ist. Schließlich kann nicht einfach jemand zum Unterricht erscheinen. Da gibt es versicherungstechnische Fragen zu klären. In dieser Stunde kann er aber noch hierbleiben.“
„Danke schön, Herr Töllner.“ Erleichtert atmete sie aus, nur um gleich darauf wieder die Luft anzuhalten. Eva beobachtete sie aus schlitzförmigen Augen und strich sich dabei über die Lippen. Melissa war sich sicher, dass Eva ihr kein Wort glaubte.
*
„Bleib stehen, Melissa!“, rief Eva ihr hinterher.
Mist, erwischt. Melissas direkter Weg zum Büro des Direktors, hatte ihr auch nichts genützt. Eva fing sie kurz vorm Lehrerzimmer ab. Melissa senkte den Blick, schloss die Augen und drehte sich dann um.
„Ja, was ist denn?“
Eva blieb einen Meter vor ihr stehen und zeigte ihr einen Vogel.
„Spinnst du? Du verschwindest für zwei Wochen von der Bildfläche, tauchst dann mit diesem Kerl auf und fragst mich, was ist? Geht`s noch?“ Evas Augenbrauen schienen einen Kampf auszufechten. Beide kamen sich immer näher, aber sobald sie aufeinandertrafen, sprangen sie auseinander.
„Entschuldige, ich war krank“, brachte Melissa mit einem Schulterzucken hervor.
„Ja, danke, das habe ich auch schon herausgefunden“, bemerkte Eva bissig. „Hättest du mir nicht mal Bescheid sagen können, dass du wieder gesund bist? Wir hätten zusammen zur Schule fahren können.“
Der Vorwurf stach Melissa direkt ins Herz und zog bis in ihren Nacken. Ihre Hände verschwanden in ihrer Hosentasche.
„Entschuldige, du hast Recht.“ Melissa beschloss, so wenig wie möglich zu sagen. So konnte sie die Lüge klein halten.
Eva schien zu zögern, aber dann trat sie einen kurzen Schritt auf sie zu.
„Schon okay. Erzähl mal, was hast du denn die zwei Wochen gemacht? Online warst du jedenfalls nicht.“ Nun kam Eva langsam näher.
„Nein, durfte ich nicht. Dad hat gesagt, wenn ich schon krank bin, dann soll ich mich richtig auskurieren. Also durfte ich kein Fernsehen gucken und nicht im Internet surfen. Und ich muss dir was gestehen.“ Melissa druckste einen Moment herum und trat auf der Stelle. „Ich habe ein Buch gelesen“, sagte Melissa kleinlaut. Eva lachte laut auf.
„Schäm dich. Habe ich dir nicht verboten, solch ein schändliches Verhalten an den Tag zu legen?“
Melissa atmete erleichtert durch. Eva war zumindest für den Augenblick von ihrer Lüge abgelenkt. Ihre beste Freundin wandte sich an Arionas. Der erwiderte Evas Blick sekundenlang, ehe sie sich zögernd Melissa zuwandte.
„Du willst mir nicht wirklich sagen, dass Arionas aus Bolivien stammt, oder?“
Melissa presste all ihre Überzeugung in ein einziges Wort: „Doch.“
„Ach Quatsch. Ich kann froh sein, wenn du Subjekt, Prädikat und Objekt in einem Satz richtig verwendest. Und jetzt behauptest du, du könntest bolivianisch oder was auch immer dort gesprochen wird?“ Eva runzelte die Stirn. Ihr Misstrauen sprang Melissa entgegen und umfing sie, zwang sie die Lüge größer zu gestalten, als ihr lieb war.
„Ich habe es gelernt, als ich klein war. In den letzten Jahren habe ich es nicht gebraucht, aber ein bisschen was ist noch hängen geblieben.“
„Nu komm, du verarschst mich doch. Ich kenn dich seit dem Kindergarten.“ Evas Haltung wurde angriffslustiger.
Arionas stand neben Melissa und machte Anstalten, sich vor sie zu stellen. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.
„Alles ist in Ordnung, Arionas. Das ist Eva.“
Überrascht hob Arionas den Kopf und blickte zu Eva. Nun schien er ihr Gesicht genauer zu studieren. Seine Augen huschten von links nach rechts. Melissa tat es ihm gleich, denn für einen kurzen Moment glaubte sie, Verwirrung in den Zügen ihrer besten Freundin zu erkennen. Kein Wunder, dachte Melissa. Ich spreche auf einmal eine Sprache, die niemand auf dieser Welt zuvor gehört hat.
„Wie begrüße ich jemanden auf deiner Welt?“, erkundigte sich Arionas neugierig.
„Du gibst ihr die Hand und sagst …“ Melissa versuchte sich zu konzentrieren. „… Hallo.“
Arionas legte seinen Kopf schief, wollte sie vermutlich besser verstehen, aber gleich darauf schüttelte er den Kopf.
„Du hast noch in meiner Sprache gesprochen.“
„Eva, würdest du Arionas bitte einmal Hallo sagen?“, wandte sie sich an ihre beste Freundin.
„Ups. Hast ja Recht. Ich war unhöflich.“ Mit ausgestreckter Hand kam sie Arionas näher. Nun stand sie zwischen ihr und Arionas. Für einen kurzen Moment huschte Evas Blick ängstlich zwischen ihnen hin und her, doch im nächsten Augenblick verschwand der Ausdruck. Eva begrüßte Arionas mit ihrem strahlenden Lächeln.
Nach zwei missglückten Versuchen gelang es ihm ebenfalls Hallo zu sagen. Während Eva versuchte, ihm weitere Wörter beizubringen, hauptsächlich Schimpfwörter, konnte Melissa durchatmen. Eva schien ihr fürs erste die Krankheit und die Geschichte über Arionas zu glauben. Auch wenn sie es immer noch tief bedauerte, Eva anzulügen, blieb ihr nichts anderes übrig, als diese Lüge aufrecht zu erhalten. Zumindest für den Augenblick. Eines Tages konnte sie Eva vielleicht einweihen, aber derzeit musste sie selbst erst einmal herausfinden, was mit ihr passierte.
Kapitel 3
„Bin ich korrekt gekleidet für deine Welt?“, fragte Arionas in der letzten Pause.
„Ja, besser als die meisten sogar, wieso?“
„Die Frauen aus deiner Klasse betrachten mich seltsam und lachen. Ich dachte, vielleicht liegt das an meiner Kleidung.“ Seine Stirn zog sich kraus, während er sich von oben bis unten inspizierte. „Oder erkennen sie, dass ich von einer anderen Welt stamme?“
„Nein, keine Angst. Wahrscheinlich finden sie dich einfach nur niedlich.“ Während sie antwortete, kam Eva auf sie zu.
Bitte lass sie nichts mehr fragen, dachte Melissa. In jeder Pause hatte Eva sie nach Arionas ausgefragt. Wahrscheinlich glaubt sie mir immer noch nicht. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Arionas sich mit nachdenklicher Miene zu den restlichen Mädchen aus der Klasse umdrehte. Ein leises Kichern verriet Melissa, dass sie schon wieder Arionas beobachtet hatten. Na, das konnte ja noch heiter werden.
„Diese Sprache klingt echt merkwürdig aus deinem Mund. Aber wahrscheinlich ist das dein schrecklicher Akzent.“ Ehe Melissa Widerworte einwerfen konnte, redete Eva weiter. „Was machst du heute Nachmittag?“
„Nichts, wieso?“
„Du schuldest mir noch einen Übernachtungsabend. Ich wäre bereit, dir für einen Nachmittag im Garten mit voller Bedienung zu verzeihen.“ Eva hakte sich bei ihr ein und strich sich die Haare betont gefällig aus dem Gesicht.
„Mit voller Bedienung? Aha.“ Melissa nickte, fuhr sich mit den Fingern übers Kinn, ehe sie auf Eva losging. „Deine Bedienung kannst du gleich haben.“ Mit den Fingern stieß sie Eva in die Seite und wuschelte ihr in der nächsten Sekunde durch die Haare.
„Gnade, Gnade“, quietschte diese, als die Klingel Melissas Angriff unterbrach.
„Lass dir das eine Lehre sein. Leg dich nicht mit der allmächtigen Neumann an“, flüsterte Melissa, verzog den Mund und zeigte mit dem Finger auf Evas Brust.
„Immer“, rief sie mit verächtlich hochgezogenen Augenbrauen über die Schulter. Bevor sie zurück in den Unterricht gingen, verabredeten sie sich für den Abend.
Wie üblich bestand dieser aus einem gemütlichen Filmabend in den gemütlichsten Pyjamas und einer Menge Schokolade. Während sie nach Hause fuhren, beobachtete Arionas seine Umwelt. Für ihn war alles neu in dieser Welt. Auch wenn er jedes Detail in sich aufsog, spürte sie seine Unsicherheit. Als ihm ein Rollerfahrer auf dem Gehweg entgegenkam, griff er reflexartig mit der Hand an die Hüfte.
Melissa fand es erstaunlich, dass er noch niemanden angegriffen hatte. Arionas war in einer technisch fortschrittlicheren Welt, konnte die Sprache nicht sprechen und begegnete ständig etwas Neuem. Sie war sein einziger Halt hier. Da wurde ihr etwas klar. Wenn sie in eine andere Welt ging, musste sie ihn mitnehmen.
„Melissa?“, unterbrach er ihren Gedankengang.
Sie bogen ein letztes Mal ab. In seinem Gesicht spiegelten sich widersprüchliche Gefühle. Und das irritierte Melissa. Bis vor wenigen Sekunden hatte er noch mit großen Augen einem Pferdeanhänger hinterher gesehen. Jetzt jedoch zog sein Blick sie in ein Loch, in dem er selbst tief drin zu stecken schien. Nur mit Mühe unterdrückte sie ein Schluchzen. Dieser Kerl treibt mich noch in einen seelischen Abgrund. Jedes Mal, wenn ich ihm in die Augen sehe, reißt mich seine Gefühlswelt mit, dachte sie und konzentrierte sich auf seinen Nasenflügel.
„Gibt es einen Ort, an dem ihr eure Toten ehrt?“
Seine Stimme war so leise, dass Melissa den Zusammenhang aus den Wortbrocken erahnen musste. Als er ihr jedoch bewusst wurde, schluckte sie. Parlus, Lamara, Toran. Sie alle waren vor einer Woche gestorben. Außer auf der Gefängnisinsel, hatte Arionas noch keine Möglichkeit gehabt, um sie zu trauern. Sie biss sich auf die Unterlippe, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn noch nicht einmal gefragt hatte, wie es ihm geht. Ihre eigenen Probleme hatten sie zu sehr beschäftigt.
„Unsere Toten begraben wir auf einem Friedhof. Aber wir haben Kirchen, in die wir gehen können. Möchtest du eine besuchen?“
Arionas schien zu überlegen, während er auf die Auffahrt zum Haus bog. Auch als sie die Fahrräder abgestellt hatten und ins Haus gingen, schwieg Arionas. Melissa ließ ihm die Zeit. Sie selbst war seit dem vermeintlichen Tod ihrer Mutter nicht in einer einzigen Kirche gewesen. Die einzige Ausnahme war die Weihnachtsmesse, in die ihr Vater sie jedes Jahr zwang. In Kirchen fühlte sie sich unbehaglich. Dort waren, bis auf ein paar Kerzenhalter und eine Jesusfigur, keine Gegenstände an den Wänden angebracht. An den Wänden konnte sie sich mit ihren Gedanken nicht festhalten, konnte keine Geschichte darin finden. Anders als in ihrem Zimmer, dem Maschinenraum. Seit vier Jahren schmückte sie die Wände mit allem, was ihr auf dem Schrottplatz in die Hände fiel. Pylonen, LEDs und aussortierte Kabel von ihrem Vater.
Als sie den Maschinenraum betraten, antwortete Arionas schließlich.
„Wenn ich in eine Kirche gehe, würdest du mich begleiten?“
„Natürlich. Warum sollte ich das nicht tun?“, fragte sie erstaunt, während sie ihre Tasche ausleerte.
Arionas bedachte sie mit einem Blick, aus dem sie nicht schlau wurde. „Danke“, sagte er schlicht.
Melissa, runzelte die Stirn, wusste nicht, was er damit meinte. Sie schluckte, als Parlus Gesicht vor ihren Augen aufblitzte. Aufgrund ihres vorlauten Eingreifens war Arionas Vater gestorben. Exekutiert im Thronsaal von Traveste. Das durfte sie Arionas aber nie erzählen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sonst reagierte. Von Gewissensbissen angetrieben, winkte sie ab. „Nicht der Rede wert.“
„Doch. Du nimmst eine Menge auf dich, nur um mir zu helfen. Dafür möchte ich dir danken.“ Er kam ein Schritt auf sie zu und nahm ihre Hand. „Wenn du nicht gewesen wärst, würde ich nicht mehr leben. Deshalb schwöre ich dir hiermit, als dein Mann und dein Freund, solange für dich da zu sein, bis ich eines Tages nach Traveste zurückkehre.“
„Das ist lieb, aber du musst das nicht.“ Parlus Gesicht vor ihren Augen wurde größer. „Du schuldest mir gar nichts.“
„Keine Widerrede. Ich werde dich beschützen, soweit es mir möglich ist.“ Arionas drückte ihre Hand, als wäre es beschlossene Sache.
„Du kannst mich nicht immer beschützen. Wenn ich in andere Welten reisen muss, kann ich dich wohl kaum mitnehmen. Du könntest dich vermutlich nicht mit den Einwohnern verständigen“, widersprach sie ihm erneut.
„Wo liegt der Unterschied zur Erde?“
Melissa öffnete den Mund, schloss ihn jedoch gleich wieder. Dieses Argument konnte sie nicht so einfach zerschlagen. Einen kurzen Moment sah Melissa in die dunklen Augen. Trauer, eine winzige Spur von Triumph über die gewonnene Debatte und der ehrliche Wunsch bei ihr zu bleiben. Mehr fand sie nicht in den Fenstern zu seiner Seele. Schließlich nickte sie, wenn auch mit einem kräftigen Unwohlsein in der Magengegend.
*
Melissa und Arionas saßen in der Küche. Phillip musste demnächst nach Hause kommen, daher hatte sie beschlossen, ihrem Vater eine Freude zu machen. Während sie die Hausaufgaben erledigte, kochte sie nebenbei Milchreis und zeigte Arionas die Buchstaben nach dem Alphabet. Zeitgleich malte er die ersten fünf Buchstaben immer wieder auf ein Blatt Papier. Als sie wieder einmal vom Umrühren zurück an den Tisch kam, lugte sie über Arionas Schulter. Seine Buchstaben wirkten noch reichlich unbeholfen, wie die eines Kindes. Wie seine kleine Schwester eines gewesen war. Lilliana. Sie presste die Lippen aufeinander.
„Wie geht es dir?“, fragte Melissa kaum hörbar.
Der Bleistift, mit dem Arionas gerade ein C schrieb, knackte. Seine Knöchel traten hervor, als er den Stift umklammerte. Er drehte sich zu ihr um. Für einen schrecklichen Augenblick war sie sich nicht sicher, was er tun würde. Aufspringen und sie packen oder hinausstürmen. Doch stattdessen verschwand seine Wut. Er senkte seinen Kopf und sah auf seine Hände.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er beinahe lautlos.
„Wenn du reden möchtest, bin ich für dich da. Ich möchte nur, dass du das weißt.“ Melissa versuchte seine Augen einzufangen, während Arionas sich wieder setzte.
„Du bist die Einzige, mit der ich reden kann.“ Endlich sah er sie wieder an. „Wird es irgendwann einfacher?“
Melissa wusste nur zu gut, was er meinte. Aber was sollte sie ihm sagen? Sie war sich selbst ihrer Gefühle nicht mehr sicher. Ihre Mutter war nicht tot. Die letzten fünf Jahre hatte sie Dinge empfunden, die jeder Grundlage entbehrten. Sie hatte Tatsachen geglaubt, die nicht der Realität entsprachen.
„Um ehrlich zu sein: Nein. Man lernt, damit klarzukommen, aber es wird nicht einfacher. Du wirst dich immer fragen, warum der Stuhl neben dir leer bleibt, warum die Familienfeste so traurig sind. Aber nach einer Weile werden diese Gedanken leiser und man lernt weiter zu machen.“
Arionas nickte und sie schwiegen. Melissa rührte den Milchreis um und setzte sich zurück an den Tisch. Erst wollte sie sich weiter um die Zusammenfassung vom ersten Kapitel von Emilia Galotti kümmern, aber dann bemerkte sie Arionas Hand. Diese hing in der Luft, zitterte. Aus einem Reflex heraus, legte sie ihre Hand auf seine und strich mit dem Daumen darüber.
Seine Haut fühlte sich warm an. Auf dem Handrücken erkannte sie zwei Narben, die sich an der untersten Stelle überkreuzten.
„Die habe ich Toran zu verdanken.“ Arionas lächelte warm und strich ebenfalls über die Narben. „Als er fünf Jahre alt war, bekam er das erste Mal ein Messer. Du hättest sein Gesicht sehen sollen. Er war so stolz, dass er es nicht aus der Hand legte, egal wohin er ging oder was er machte. Wir tollten gerade im Garten, als er überrascht nach einem Trauke griff, einem kleinen Tier. Leider hielt er dabei sein Messer genau so, dass er meinen Handrücken erwischte. Ein halbes Jahr später erwischte er mich beim Kampftraining an fast genau derselben Stelle erneut.“ Arionas lächelte, aber in seinen Augen schimmerte es.
„Toran muss ein Wildfang gewesen sein“, sagte Melissa, ebenfalls mit einem Lächeln auf den Lippen.
Arionas nickte, schaute zum Boden und wischte sich unauffällig über die Augen. „Wie geht es dir?“, fragte er nach einigen Momenten der Stille.
„Gut“, erwiderte sie knapp. Dabei spannte sich ihr Kiefer.
„Melissa, ich sehe, dass es dich beschäftigt“, erwiderte Arionas sanft.
Sie zögerte einen Moment. Normalerweise würde sie mit Eva reden, ihr von dem Chaos in ihrem Innern erzählen. Eva hätte ihr mit ihrem Ordnungsfimmel sicher geholfen, das Ganze zu sortieren. Aber diesmal ging es nicht. Sie sah skeptisch zu Arionas. Melissa vertraute ihm. Sogar soweit, dass sie mit ihm über alles reden konnte. Schließlich nickte sie und berichtete, was sie die halbe Nacht wachgehalten hatte.
„Und ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Einerseits glaube ich, dass Dad Recht hat und es gefährlich ist. Andererseits habe ich auch Traveste ohne größere Schäden überstanden. Ich kann nicht einfach so tun, als wäre es mir egal. Sie lebt, Arionas. Sie lebt!“
„Du bist wütend, oder?“
„Natürlich bin ich das!“, brauste sie auf und ballte die Fäuste. „Dad hat mich jahrelang angelogen. Nur, weil ich das Amulett gefunden habe, hat er es mir erzählt. Ansonsten hätte ich bis in alle Ewigkeit geglaubt, dass meine Mutter tot ist.“ Schon in der nächsten Sekunde war ihr der Ausbruch peinlich. Sie spielte mit dem Geschirrtuch, um sich zu beruhigen. Das karierte Muster mit der aufgestickten Gans erinnerte sie an den Milchreis.
„Ich kann dir nicht sagen, was du machen sollst“, sagte Arionas und folgte ihr. „Aber ich glaube tief in dir drin hast du es bereits entschieden. Was sagt dein Herz dir?“
Während sie mit dem Kochlöffel im Topf rührte, schloss sie die Augen. Arionas hatte Recht. Die Antwort deutete sich schon auf dem Weg zu ihrem Herzen an. Überall lagen Brocken von Sehnsucht verstreut. Als sie ihr Herz erreichte, war sie sich bereits sicher. „Ich bin die Einzige, die sie retten kann.“
*
„Willst du das wirklich tun?“ Arionas stand neben ihr, während sie ihren Rucksack packte. Ihre Finger rissen alle Kleidungsstücke aus dem Schrank. Sie wusste nicht, was sie erwartete, also wollte sie auf alles vorbereitet sein.
„Wenn du wüsstest, dass jemand aus deiner Familie überlebt hat, würdest du nicht auch alles tun, um ihn zu finden?“, antwortete sie, als sie einen Pullover in ihren Rucksack stopfte.
„Doch, würde ich“, gab er kaum hörbar zu.
Melissa hielt in ihren Bewegungen inne. Etwas in seinem Ton ließ sie aufhorchen. Seine sanfte Stimme klang, als würde Arionas jeden Moment aus dem Fenster springen. Ohne, dass sie es wollte, wurde sie wieder von seinen Gefühlen mitgerissen. Sie tauchte ab in den Kummer, der ihm im Gesicht geschrieben stand, spürte wie die Melancholie sie umspülte. Nur mit Mühe konnte sie sich diesem Strudel entziehen. Melissa presste ihre Zähne aufeinander. Wahrscheinlich würde sie noch eine Weile brauchen, ehe sie mit seinen offen dargebotenen Gefühlen zurechtkommen würde.
„Und ich würde dir bei der Suche helfen“, erwiderte Melissa und legte ihre Hand auf seinen Arm.
Ohne Vorankündigung zog Arionas sie plötzlich in den Arm. Sie konnte sich gegen den Griff gar nicht wehren. Er drückte sie fest an sich.
„Danke“, flüsterte Arionas.
Einige Sekunden standen sie in ihrem Zimmer, ehe sich Melissa räusperte. Aus dem Augenwinkel erkannte sie im Spiegel ihre roten Wangen. Arionas trat einen Schritt zurück, setzte sich auf den Drehstuhl und beobachtete sie beim Packen. Melissa wusste eigentlich nicht, was sie da tat. Bisher hatte sie keinerlei Anhaltspunkte, wo sie zu suchen anfangen sollte. Aber Melissa erhoffte sich von einem Gespräch mit ihrer Großmutter mehr Hinweise. Ihr Plan basierte auf dieser Annahme. Obwohl sie den Blindflug, den sie vor sich hatte, nicht unbedingt als Plan bezeichnen würde.
Schließlich schloss sie ihren Rucksack. Als letztes hatte sie ihr Handy neben die Wasserflaschen gestopft. Ohne ihr Handy fühlte sie sich nicht vollständig, als würde sie etwas verpassen. Es war Schwachsinn, das wusste sie. Wer sollte sie auch in einer anderen Welt anrufen? Trotzdem. Sie betrachtete den Rucksack. Nicht einmal ein Kugelschreiber hätte noch hineingepasst, so vollgestopft war er. Melissa drehte sich in ihrem Maschinenraum. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich Melissa, während sie die drei parallel zueinander ausgerichteten Leuchtstoffröhren neben der Motorhaube betrachtete. Zwei leuchteten seit der Installation vor vier Jahren kräftig, aber die Dritte flackerte immer wieder. Sie würde sie wohl bald austauschen müssen, damit sie nicht ganz den Geist aufgab. Ihre Fingerspitzen strichen über die Oberfläche.
Seltsam. Sonst fühlte sie sich absolut wohl in ihrem Zimmer. Nirgends war mehr eine glatte Wand zu erkennen, außer neben ihrem Bett. Selbst ihre Möbel waren bereits beklebt oder zugestellt. Sie schüttelte den Gedanken ab. Das ungute Gefühl lag sicher nur an ihrem Plan zu verschwinden.
Melissa verließ ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Ihre Hand ruhte einige Sekunden länger als sonst auf der Klinke. Abschied, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Es fühlt sich an wie ein Abschied, dachte sie. Melissa riss ihre Hände von der Türklinke und drehte sich abrupt um. Wenn sie jetzt nicht ging, würde sie es sich vielleicht anders überlegen.
Ihre Fäuste waren immer noch entschlossen geballt, als sie das Laken vom Gemälde riss. Im nächsten Augenblick erwachte ihre Großmutter zum Leben. Das detailgetreue Bild lächelte und glitt aus dem Rahmen.
„Hallo Arionas, Melissa. Geht es dir gut, Kind?“, wandte sie sich sofort an Melissa.
„Ja, danke. Wegen gestern bin ich hier.“ Ihre Haltung entspannte sich. Jetzt gab es kein Zurück mehr. „Ich habe Fragen. Nicht nur zum Amulett. Auch zu Mama.“
„Das dachte ich mir schon. Also, stelle sie.“
Melissa schluckte. Womit sollte sie anfangen? Zu offensichtlich konnte sie die Fragen nicht stellen.
„Warum wurde Mama entführt?