Pinto - Der fünfte Plan - Sina Land - E-Book

Pinto - Der fünfte Plan E-Book

Sina Land

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Beschreibung

Wenn alles zählt und doch nichts. Schwangerschaft: Freude oder Katastrophe? Für Davids Exfrau Lydia, die sich kurz vor den Wechseljahren befindet, ist die Erkenntnis, schwanger zu sein, eine Katastrophe. Doch wie sie grundsätzlich gestrickt ist, organisiert sie das Problem schleunigst aus der Welt. Als fürsorglicher Vater soll David herhalten. Aber der ist unauffindbar. Auch Gwendolin sucht ihn, weil sie ihn als seelische Unterstützung für ihre abzuwendende Scheidung braucht. So stehen die Damen beide ohne Vorwarnung vor der Tür seiner Tochter Ellena. Ihr kleines Tinyhouse wird zum Auffanglager für gestrandete Herzen. Von alledem nichts ahnend genießt David unterdessen mit Freunden ein Skiabenteuer, das unterwartet zum Alptraum wird.

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Lila Frosch

Heiratsvermittler

Wie ein Traum

Schockstarre

Frauenwelt

Skiwochenende

Wein

Mutter-Sorgen

Du nervst

Sonne und Schnee

Mist

Frauenarzttermin

Angst

Skivergnügen

Schließ die Augen

Pfarreransichten

Freunde sein

Zöpfeflechten

Auf Schienen

Dreh- und Angelpunkt

Vorbei

Wärme

Känguru

Karten spielen

Feuer am Dach

Solistenprobe

Wie schön

Hüttenwirt

Mein Sofa

Ellenas Verbundenheit

Kein Empfang

VIP-Plätze

Haus am See

Drei Damen und ein David

Er gehört mir

Er gehört mir

Hüttensepp

Eine tickende Zeitbombe

Libretto

Lagebesprechung

Mayday

Doktor Fleming

Nie mehr

Misses Unausstehlich

Shit

Fakten auf den Tisch

Offenes Buch

Verarztung

Leise, leise, leise

Das Ruder in der Hand

Jipi Yeah

Telefonieren

Krimi

Nudelsuppe

Hascherl

Medikamente

Schöne Maid

Klartext

Ich kann nicht

Minimalismus

Suger

Knuts Angelegenheiten

Halleluja

Nachrichten

Wuschig

Verhör

Abspann

Schnellmethode

Lila Frosch

Aufbruch

Hilf Himmel

Matratzenlager

Sardinien

Gute Nach

Gute Nacht

Hilfseinsatz

Hurrikan

Nachtruhe

Lila Frosch

Nächtliche Eskapaden

Gefahr

Frühstücksstopp

Hunger

Aufgeklärt

Spiel

Der Schlüssel

Stille

Morgen

Romeo und Julia

Ski-Doo

I come around

Und auf einmal ist alles anders

Lila Frosch

Horrorfilm

Ich bin frei

Aussprache

Vater-Tochter

Überforderte Gehirnzellen

Chaos

Schwere Entscheidung

Babyblues

Ellena und Gwen

Wut im Bauch

Notfallsystem im Einsatz

Lila Frosch

Redezeitt

It’s over now

Dinge abschließen

Wie ein Traum

Widmung

Für alle, deren Leben sich in letzter Zeit komplett auf den Kopf gestellt hat.

Ich wünsche euch, dass ihr stets in dem Drama auch die Chance für einen Neuanfang steht.

Lila Frosch

Kinderlied von David. Er summt es immer dann, wenn er einen Menschen vermisst, heute speziell Gwendolin.

Lila Frosch

Ich nehm dich in den Arm

Damit du nicht alleine bist

Und halte dich recht warm

Lila Frosch

Ich knuddel dich ganz fest

Damit du weißt, ich hab dich lieb

Und dich keiner je alleine lässt

Heiratsvermittler

„Welcome to Bavaria!“

Das Telefon trällert in voller Lautstärke. Die Melodie hat sich David erst gestern auf sein Handy geladen. Zu seiner Situation findet er den Text nach wie vor passend, obwohl er inzwischen seit vier Monaten hier wohnt. Ein Baden-Württemberger in einem Haus am bayerischen Staffelsee. „Heiligs Blechle!“, hätte seine verstorbene Mutter dazu gesagt.

Die Melodie wird eindringlicher. Normalerweise würde er sich freuen, dieses Lied zu hören, doch falls es - wie er schwer vermutet – Gwen ist, dann wird er sich das Rangehen verkneifen. Genervt zieht er die Bettdecke über den Kopf.

„Welcome, welcome, welcome ...“, trällert es munter weiter.

Was will sie denn von mir? Hatte sie ihm nicht erst gestern in allen Einzelheiten erklärt, dass ihre Religion wichtiger sei, wie er? Zu faul, um das Gespräch wegzudrücken, klatscht er sich das Kissen auf die Ohren.

Aus dem Augenwinkel sieht er eine Gestalt an seinem Bett vorbeihuschen „Also, wenn du nicht rangehst, dann ich. Da kann ja kein Mensch schlafen. Und das, wo heute Samstag ist und ich endlich mal keine Vorlesungen habe.“

„Bavaria, Bavaria, Bavaria ...“, tönt es und Moritz drückt ihm unwirsch das Telefon in die Hand. „Aktivier mal deine Mailbox. Dann hört das Ding von alleine auf.“

Widerwillig nimmt David das Handy an sich und wischt den Anruf weg. Aus dem Augenwinkel sieht er, wen er abgewürgt hat. „Das war Willi“, murrt er.

Moritz zieht ihm die Decke weg.

„Hey, geht‘s noch?“, protestiert David. „Du vergisst, dass du deine Wohnlizenz hier ganz schnell verspielt hast.“

Breit grinsend wirft ihm sein Mitbewohner die Decke entgegen. Seine verwuschelten Haare verschwinden darunter. Es wird dunkel. Händeringend befreit er sich, ist urplötzlich hellwach und hechtet ihm hinterher, an der Glasfront entlang und an seinem Schlaflager vorbei.

Moritz rennt um den Tisch herum. Man könnte meinen, der Jungspund wäre sein Sohn und nicht der Exfreund seiner Tochter, so ausgelassen jagen sie hintereinander her. David erwischt sein Shirt und stoppt ihn. „Kerl, sei froh, dass die Schiebetür zum Garten, im Winter klemmt. Sonst könntest du im See Eisbaden gehen.“ Ausgelassen lachend nimmt er ihn in den Schwitzkasten. Moritz ergibt sich und hebt die Hände.

„Gnade für den armen Studenten. Ich schreibe bald die ersten Semesterprüfungen. Die Freude der Münchner Profs, wenn ich krank bin, kannst du ihnen nicht gönnen.“

„In Ordnung. Ich lasse dich frei. Bist schon genug mit dem Lernen gestraft. Aber du übernimmst den Abwasch für mich.“

Moritz zupft sich das Shirt zurecht. Das Handy trällert erneut den Song von „Bavaria“. Mit herausforderndem Blick tippt er auf Davids Brust. „Ich hab noch was gut bei dir. Dieses Ding hat meinen Schlaf gekostet.“

Zischend bedeutet er ihm leise zu sein und hebt ab. „Willi!“, sagt er, zwinkert und stellt auf laut.

„Hey Schlafmütze. Gehst du auch mal dran. Ich habe ein wichtiges Date für dich. Also komm endlich in die Pötte.“

David zieht die Augenbrauen hoch. Moritz stellt sich neben ihn, um mitzuhören. „Ich dachte, du wolltest heute mit uns zum Rodeln? Und welches Date? Ich hab dich um keines gebeten.“

„Nein, ich kann heute nicht, bin noch in Ludwigsburg. Leider. Ich komme hier im Moment nicht weg. Täglich Besprechungen, wegen der neuen Weine, die wir ins Sortiment mit aufnehmen wollen. Mein Schwiegersohn hat die falschen Bestellungen herausgegeben. Da muss ich einspringen, bevor er den Südtiroler Rachengurgler an Ostern an meine VIP-Kunden verschenkt. Eine Katastrophe!“

„Oh“, jammert Moritz. „Hab mich schon so aufs Rodeln gefreut. Und wie soll Laurentia das aushalten, wenn du dieses Wochenende nicht nach Bayern kommst.“

„Frag mich mal“, winselt Willi. „Und sie wird das kommende Wochenende zusätzlich auf mich verzichten müssen, um dich – altes Haus – unter die Fittiche zu bringen.“

Davids Augen weiten sich und Moritz kichert. „Der hat dich - altes Haus – genannt. Darf der das, wenn sogar ich einen Anschiss dafür kassiere?“

„Ruhe hier“, redet er dazwischen. „Ich brauch keinen Heiratsvermittler!“

Willi schnauft schwer ins Telefon. „Aber Skifahren willst du doch, oder?“

„Na, das hört sich schon besser an. Raus mit der Sprache. Was gibt‘s?“

„Du schaufelst dich das nächste Wochenende frei, den Freitag und den Montag zusätzlich. In Garmisch gibt es eine kleine Skihütte. Eine Kundin von mir, die Calina, hat dort einen freien Platz ergattert und nimmt uns mit. Traum Schneelage, Traum Wetter und Traum Pisten. Na, wie klingt das?“

Wie ein Traum

Zurzeit das Lieblingslied von Moritz.

Alles wie ein Traum

Yeah, wir leben jetzt

Besser kanns nicht sein

Ich mach alles, was fetzt

Alles wie ein Traum

Wir sind alle vogelfrei

Denken nicht an die Zeit

Sorgen sind wie ein Hai

Alles wie ein Traum

Lass uns jetzt auf die Reise gehen

Das Leben ist so schön

Ich will die Welt nun glühen sehen

Schockstarre

Lydia sinkt in ihrem Badezimmer vor der Wanne auf dem Boden. In den Händen hält sie ein Plastikteil, auf das sie fortwährend starrt. Wie in einem Schock gefangen, ist sie nicht fähig aufzustehen, um den pfeifenden Kochtopf von der Herdplatte im unteren Stockwerk zu schieben. Ein schlichtrosa Streifen bannt sie. Da springt ihr rationales Nachdenken an. Eilends rechnet sie ihr Alter plus achtzehn und versinkt im nächsten Drama. Eine Oma würde sie sein, wenn dieses werdende Etwas reif für den Führerschein ist. Ihre Tochter Ellena wäre dann ... wieder zählt sie innerlich. Die junge Dame studiert längst an der Filmakademie in Ludwigsburg. Oh Gott. Das ist so krass, dass ihre Angst die Realität verbietet.

Das Pfeifen aus dem unteren Stockwerk intensiviert sich in ein überdimensionales Dauerfiepen. „Der Druckkochtopf!“ Mit diesem Gedanken ist sie augenblicklich im Tagesgeschehen zurück. Das Blaukraut steht auf dem Ofen! Sofort hat sie das Szenario eines explodierenden Topfes im Kopf. Ihre Tante hat letztes Jahr den Kochtopf samt Kraut zu früh geöffnet. Die Druckwelle hat die lila Pampe an die weiße Raufasertapete gepfeffert. Drei Tage lang hat sie ihr geholfen, das Zimmer frisch zu streichen. Hektisch rappelt sie sich hoch und sprintet die Treppen hinunter.

In der Küche angekommen starrt sie auf einen Topf, der sich im unteren Drittel rötlich verfärbt hat. „Scheiße! Der glüht!“ Blitzartig überdenkt sie ihre Optionen. Ist Zeit, um an den Ofen zu treten und auszuschalten, oder wird er ihr gleich um die Ohren fliegen? Mutig hechtet sie zum Drehknopf, zieht daran und rennt zurück in Deckung hinter die Tür. „Vom Herd ziehen“, ist ihr nächster Gedanke. Möglichst schnell die Temperatur senken, erscheint ihr die beste Idee, um eine Explosion zu umgehen. Entsetzt starrt sie auf das Rot, das sich inzwischen ins Orange verfärbt hat. Entschlossen begibt sie sich abermals aus ihrem Schutz und rennt zum Ofen, schnappt sich den Topflappen, wägt ab, wirft ihn beiseite, holt zwei Kochlöffel aus der Schublade und schiebt damit das glühende Metall von der Kochstelle. Erneut sucht sie ihre Deckung auf und atmet tief durch. Hier im Haus erscheint ihr der Topf, wie eine tickende Zeitbombe. Das Ungetüm muss hier raus, sonst ... sorgenvoll verzieht sie das Gesicht … hat sich die Sache mit der Schwangerschaft von alleine erledigt. Ihr Blick fällt auf die Terrasse. Es schüttet in Strömen und der Regen hinterlässt auf den Pflastersteinen einen See aus Pfützen. Dauerregen seit Tagen. Dort ist er besser aufgehoben, wie im Haus, falls ...

Eilendes holt sie aus der Garage die dicken Gartenhandschuhe und zwei alte Lappen. Damit spurtet sie in die Küche zurück. Zumindest hat das Unterteil des Topfes inzwischen wieder die Farbe dunkelrot. Das sagt ihr, dass das Wagnis kalkulierbar ist. Wie ein Hund, der versucht abzuschätzen, ob er einem Menschen trauen kann, pirscht sie sich erneut an den Herd heran. Wäre nur Severin nicht gestorben. Der hätte sofort einen passenden Plan aus der Hosentasche gezogen. Würde wenigstens ihr Exmann David sich um sie kümmern. Aber nein, sie sitzt ja hier mutterseelenalleine in diesem Apartment und schlägt sich mit einer Bombe herum. Beherzt spurtet sie zur Terrassentür, öffnet sie sperrangelweit, hetzt zum Topf, packt ihn mit Kochhandschuhen und hechtet damit hinaus in den Regen. Fiebrig stellt sie ihn an der vom Haus entferntesten Ecke auf den Boden und rennt zurück zur Tür. Von dort aus beäugt sie argwöhnisch die Farbe. In diesem Moment wünscht sie sich so intensiv, dass Severin hinter ihr stünde, dass sie meint, ihn wahrhaftig wahrzunehmen. Was treibt das Schicksal nur für ein seltsames Spiel mit ihr? Es nahm ihr die Liebe ihres Lebens. Ja, sie hat ihn mehr geliebt, wie David, ihren Exmann. Mit ihrem Seelenmensch hat sie sich blind verstanden. Mit ihm wäre die Situation nicht so verfahren. Er hätte mit ihr diese Schwangerschaft durchgestanden und sich den witzelnden Leuten gestellt, die sich über eine werdende Mutter in ihrem Alter auslassen. Anfänglich vermutete sie, dass ihre Periode sich wegen der Wechseljahre verspäten würde, trotzdem ihr der Zeitpunkt für diesen hormonellen Umbruch deutlich zu früh erschien. Den Gedanken, dass sie schwanger sein könnte, hat sie abgewehrt wie Ellena ihre Buchweizenbratlinge. Was hätte sie vor Jahren dafür gegeben, wenn ihr Sohn Thomas nicht gestorben wäre. Gedankenverloren legt sie die Hand auf ihren Bauch. Eine Abtreibung? Unmöglich. Undenkbar. Schlicht nicht vorstellbar. Ihr geliebtes Kind ist damals nicht einmal zur Schule gegangen, im Moment, in dem es in ein Auto gelaufen ist. Die Tatsache, dass sie ihren Sohn für immer verloren hat, hätte sie um ein Haar seelisch zerbrochen. Da liegt der Gedanke für sie extrem fern, ein Ungeborenes umzubringen, das sich entschlossen hat, sie erneut zur Mutter zu erwählen.

Ihr Blick wandert zum Topf und ihr Mund steht offen. Dieses schwere Etwas springt in der Regenpfütze wie ein Hüpfball. Das Wasser unter ihm brodelt. Die Hitzeblasen entladen ihre Luft schlagartig und lassen ihn in der Pfütze tänzeln. Glück im Unglück, sagt sie sich und schüttelt den Kopf über ihre verrückten Umstände.

Frauenwelt

Davids Eigenkomposition.

Was nur ist mit den Frauen los?

Ich bin wütend

Weil Gwendolin mit mir spielt

Weil Lydia ständig bei mir anruft

Weil Ellena sich trotzig fühlt

Was nur ist mit den Frauen los?

Spielen sie bloß mit mir?

Gwendolin, weil sie mich will und doch nicht?

Lydia, weil sie mich braucht und doch nicht?

Ellena, weil sie trotzig ist und doch nicht?

Was nur ist mit den Frauen los?

Ich bin wütend!

Sie spielen und ziehen an mir

Sie nerven und entziehen mir Kraft

Sie reden und doch schweigen sie sich aus

Skiwochenende

Am darauffolgenden Wochenende stehen die drei Herrn am Parkplatz der Alpspitzbahn und warten in Skianzügen und mit ihrer Ausrüstung bewaffnet auf die Kundin von Willi.

„Ich habe noch nie so wenig Zeit für die Anfahrt zu der Skipiste gebraucht“, trällert David. Vergnügt zieht er das Band um seine Skier enger und stülpt die Schlaufen der Stöcke über deren Spitzen. „So, ich wäre dann so weit. Halt der Helm!“ Lässig nimmt er ihn unter den Arm. „Weißt du, wie lange ich für so ein Wochenende stets im Bus gesessen bin und das mit tausend anderen, die alle auf der Rückfahrt nur noch vor Alkohol gegrölt und gestunken haben.“ Ihn schüttelt es.

„Dann war es also doch nicht so schlecht, nach Bayern zu ziehen“, stellt Willi fest.

Schmunzelnd wackelt er mit dem Kopf. „Manchmal muss der Mensch eben zu seinem Glück gezwungen werden.“

Moritz bindet sich sein Halstuch um und zieht die Jacke zu. „Wann kommt sie denn, diese Katy?“

„Calina!“ Willi verdreht die Augen. „Was ist los mit dir? Sind alle Gehirnzellen plötzlich aufgebraucht, sobald du die Uni verlässt?“

„Ist ja gut. Ich nenn sie Katy. Ist mir doch egal, wie die richtig heißt.“ Sein Handy brummt und er zieht es aus der Jackentasche. Seine ausgelassene Stimmung kippt in dem Moment, als er auf das Display schaut.

„Schlechte Nachrichten?“, fragt David und mustert seine Reaktion.

Moritz winkt ab und schiebt den Schnee unter seinen Schuhen zusammen. „Ach, das ist nur Ellena. Ich habe aber keine Lust mit ihr zu reden. Die braucht nur wieder irgendeinen Mist. Soll sie doch den Charles deswegen anrufen.“

David nickt wissend und knetet die kalten Hände. „Ist das eine Familienverschwörung gegen uns?“ Seit Wochen hatte weder sein Mitbewohner etwas von Ellena gehört noch er von Lydia. Und jetzt tauchen sie beide bei ihnen auf, wie Phönix aus der Asche.

„Kannst nicht du mal mit deiner Tochter reden?“ Moritz schaut ihn mit einem Augenaufschlag an, den er nur von seinem verstorbenen Sohn Thomas kennt.

„Du, ganz ehrlich. Ellena ist im Moment nicht gut auf mich zu sprechen. Ich habe gerade keinen Draht zu ihr.“ Es ist seltsam für ihn, das so auszusprechen. Ein Satz, den er bisher nie über seine Lippen gebracht hätte. Keine Ahnung, was sie bedrückt, sie hat sich von ihm ein stückweit zurückgezogen. Das war bis dato nie passiert. Lydia, ja die hat sich in ihrer Ehe stets in ein Schneckenhaus verzogen und sich abgekapselt, sodass niemand mehr an sie herangekommen ist, aber doch nicht Ellena. Je weiter seine Exfrau sich von ihm entfernt hat, umso intensiver war bisher ihr Vater-Tochter Bündnis zusammengeschweißt.

Eine Mittvierzigerin kommt in einem engen Skianzug geschnürt auf sie zu. Ihre Pudelmütze wippt im Takt. Die Skier über die Schultern getragen, tritt sie forschen Schrittes auf sie zu.

Willi öffnet die Arme. „Wie schön Calina, dass du uns tatsächlich dieses Abenteuer ermöglichst.“

Sie winkt mit den Stöcken und stellt ihren Ballast im hölzernen Skiständer ab. „Hallo allerseits. Kein Problem. Mein Bruder hat die Hütte dieses Wochenende vom Alpenverein übernommen. Leider musste er kurzfristig zu einer Schulung und kann nicht selbst fahren. Von daher. Sein Pech unser Vergnügen.“ Gleichgültig zuckt sie mit den Schultern, zieht die Handschuhe aus und begrüßt Willi per Handschlag. Dann Moritz und als letztes David. Ihr Blick bleibt lange an ihm haften. Dazu ein Blinzeln. Was sollte das? Bei seinen Klienten würde er sagen, das war der Hinweis, dass sein Gegenüber mit dem ersten Eindruck zufrieden ist. So nach dem Motto: Ist doch gar nicht so schlecht, was ich da sehe. War er hier zur Fleischbeschau? Welche Märchen hat Willi der Dame über ihn erzählt? Dass er ein verhungerter Gigolo ist, der gerne ein nettes Wochenende zu zweit mit ihr verbringen würde? Hat sein Freund geplant, sich zu später Stunde zusammen mit Moritz abzusetzen und ihn mit ihr alleinzulassen? Krampfhaft sucht er den Blick von Willi, aber der hält Ausschau nach der Gondel. Erst als er sich neben ihn stellt und ihm unauffällig in die Seite boxt, zwinkert er mit einem verschwörerischen Lächeln zurück.

„Wie ist das eigentlich ...“, hört er Moritz fragen. „Sind wir dort oben Selbstversorger?“

Calina lächelt. „Aber nein. Der Sepp wird uns versorgen. Er ist der Hüttenwirt. Zusammen mit einem weiteren kümmert er sich um die ganzen Alpenvereinshütten. Im Normalfall können die nur von den Mitgliedern gemietet werden. Dann kocht er auch für die Leute und sorgt für Wärme. Ihr werdet sehen, das wird ein echt uriges Wochenende. Ich liebe diese Hütte und für die nächsten Tage ist bestes Wetter angesagt.“ Euphorisch schnappt sie sich ihre Skier und läuft mit einer Leichtigkeit zum Kartenschalter, die mit solch klobigen Schuhen nur eine Frau an den Tag legen kann.

Wein

Willis abgeänderte Version vom Lied, welches sie stets bei den Weinproben auf seinem Schloss zum Besten geben.

Was für ein Sein

Nun sind die Sorgen tagelang fort

Das Weingut meilenweit von dir weg

Und wenn du weg bist an einem fernen Ort

Dann tu nur das, was dir gefällt

Mutter-Sorgen

„Mom, was ist denn los mit dir?“ In der weisen Voraussicht, dass das Gespräch länger dauern wird, klemmt sich Ellena das Handy zwischen Ohr und Schulter, steckt ihr Kabel ein und stopft sich die Ohrstöpsel in die Muschel. Immer, wenn ihre Mutter mit einem Seufzen das Telefonat anstimmt, nimmt sie Anlauf für eine Schleife, die meist im Drama endet. Sie landet ständig bei den Themen, die Ellena furchtbar findet. Die Frage, warum sie nicht Musik studiert, anstatt ihr Talent an der Filmakademie zu verplempern, taucht fortlaufend auf und wenn es nur in einer kleinen Nebenschleife ist. Ein Teilstück dieser Aufführung dreht sich dabei stets um die Frage, weshalb sie nicht bei ihr in Bamberg wohnt, wo ihre Mutter an der Philharmonie Arien singt oder im Orchester Cello spielt. Es ist nicht so, dass sie diese Stadt furchtbar fände, aber ihr Studienfach wird eben in Ludwigsburg unterrichtet und nicht dort, wo ihre Mom lebt.

„Stopp!“, unterbricht sie die ewige Leier. „Was ist eigentlich los?“

Ihre Mutter verstummt. „Ich wollte doch nur wissen, wo dein Vater steckt. Er geht nicht ans Telefon und meldet sich auch nicht auf meine Nachrichten.“ Sie sagt es mit einem dermaßen Entsetzen in der Stimme, als ob das etwas völlig Unmögliches wäre.

„Du kennst ihn doch, wenn er in der Praxis seine Klienten betreut, geht er nicht ans Handy. Außerdem Mom, ihr seid geschieden und das nicht erst seit gestern. Was gibt es denn so Dringendes?“

„Ich wollte ja nur kurz mit ihm reden.“

Ellena bläst die Luft aus. „Kannst du nicht stattdessen mit deinem Knut reden? Mit dem besprichst du doch sonst auch alles.“

„Nun ja, ... also ... ich wollte eben nicht mit ihm sprechen, sondern mit deinem Vater. Kannst nicht du ihm sagen, dass er mich anrufen soll? Auf dich war er immer schon besser zu sprechen, als auf mich.“

Sie räuspert sich. Wieder eine alte Leier! Aber dieses Mal täuscht sich ihre Mom. Der Draht zu ihrem Dad ist im Moment keineswegs mühelos. Ihre Kaumuskulatur verspannt sich, die Zähne knirschen.

„Was ist los Ellena, du kannst mir doch diesen kleinen Gefallen tun, wenn du schon sonst nur Augen für deinen Vater hast. Nie denkst du darüber nach, was das alles mit mir macht! Du musstest ja schon immer deinen Egoismus ausleben und ...“

Nach Luft schnappend unterbricht sie ihre Mom unwirsch. „Hör auf. Ich werde mit Dad gar nichts reden. Das sind deine Angelegenheiten. Das geht mich nichts an!“

Ihre Mutter schnappt nach Luft.

„... und nenn MICH nicht egoistisch! Wer ist denn umgezogen, um sich in Bamberg mit der Musik auszutoben? Du hättest genauso in Ludwigsburg bleiben können, dann würdest du jetzt neben mir sitzen und Händchen halten. Also komm mir nicht damit! Und jetzt ruf Dad selbst an.“ Genervt legt sie auf.

Die Wut in ihr befördert den Tonfall in ungeahnt barsche Höhen. Trotzdem tut es ihr nicht leid. Eltern! Warum bringen die nicht ihren eigenen Mist auf die Reihe, anstatt an die Kinder Vorschriften zu verteilen, wie sie ihr Leben zu regeln haben. Und was ihren Dad betrifft ... Der hat ja jetzt Moritz und braucht sie nicht mehr.

Ein weiteres leidiges Thema. Ihr Exfreund! Und ein zweiter, der ihre Liebe nicht erwidert. Im Moment, wo mit ihrem Ex Schluss war, da dachte sie, dass Charles, endlich bereit für sie ist. Doch dies war ein Irrtum, welcher ihr bis heute im Magen liegt. Dieser Gigolo ist ein Springer, der von einem Bäumchen zum nächsten wechselt und dabei seine Frauen schneller vergisst, als sie fähig ist, vom Baum herunterzusteigen, um ihn festzuhalten. Dad sagte vor einer Weile, dass dieser Mensch immer seine Freiheit braucht. Sie seufzt.

Ein Geräusch ertönt, wie wenn jemand auf ein Xylophon klopft. Im Messenger ist eine Nachricht für sie eingetroffen. Von Claudia? Sie hatten sich später im Studenten-Bistro „Blauer Engel“ verabredet. Ist etwas dazwischengekommen? Eilends wischt sie über die Anzeige von ihrem Handy.

Eine Mitteilung von Moritz! Augenblicklich hält sie die Luft an und beschließt ihre Nachrichtentöne zu personalisieren. Ach, bequemt er sich jetzt doch ihre Nachricht anzuschauen und ihr zu schreiben, ob er nächstes Wochenende im Haus am See ist? Sie hatte versprochen den Familienhund zu ihrem Dad zu bringen. Das würde sie jedoch nur machen, wenn besagter Ersatzsohn nicht zugegen ist. Darauf, sich anzuhören, wie cool es ist mit ihrem Dad zusammenzuwohnen und was für ein bombiger Vaterersatz er ist, verzichtet sie gerne.

Erneut knirschen ihre Zähne. Dieser Armleuchter hat sich doch glattweg für das Studium in München bei ihrem Dad in Bayern eingenistet. Geht‘s noch! Bei IHREM Dad! Nur flüchtig schaut sie auf die Meldung, um sie gleich darauf zu löschen, bremst sich jedoch, als sie auf einen grinsenden Smiley und eine Schneeflocke starrt. Stutzend hält sie inne. Bis dato hat er nie ein solches Symbol durchgeschickt. Bomben, Säbel, Kackhaufen, das sind seine Zeichen für einen emotionalen Ausdruck, aber keine schnöden Smileys. Das bringt sie dazu, genauer zu lesen.

„Was für ein geiles Wochenende. Dein Dad ist echt cool drauf.“

Entsetzt starrt sie auf die Worte, dann auf den Smiley und am Ende auf die Schneeflocke. Hat er noch alle Tassen im Schrank? Was treibt er da mit ihrem Dad? Die Betonung liegt auf „ihrem“! Gemeinsame Tage mit ihm stehen ihr zu und nicht ihm! Heißt das, dass sie in Zukunft Termine mit ihrem Vater ausmachen muss?

Du nervst

Ellenas innerliche Endlosschleife, wenn sie mit ihrer Mutter telefoniert.

Du nervst mit deinen Worten.

Warum hast du nicht Musik studiert?

Guck mich mal an, ich hab sogar einen Vertrag!

Warum studierst du nicht hier und ziehst zu mir?

Die Philharmonie bieten dir alles, jeglichen Betrag.

Du nervst mit deinen Worten.

Musst du unbedingt Filme machen?

Fällt dir denn nie das Klavierspielen mehr ein?

Und dann noch dieser Moritz, da fehlen mir die Worte.

Musste es denn ein solcher Milchbubi sein?

Du nervst mit deinen Worten.

Dein Ansinnen macht mich krank.

Du kannst doch jederzeit nach Bamberg ziehen.

Hast doch früher so gerne Musik gemacht.

Willst du denn nicht in einem Orchester spielen?

Sonne und Schnee

An der Bergstation angekommen atmet David tief durch. Die anderen wuseln schon zur Plattform, um sich die Skier anzuschnallen. Durchatmend hält er inne, genießt den Moment über allem zu stehen, sieht hinunter ins grüne Tal, lässt sich gefangen nehmen von der weißen Berglandschaft, versucht, sich jeden einzelnen Gipfel einzuprägen, saugt die Klarheit der frischen Luft in sich ein. Intensiv genießt er, dass sich sein Denken hoffentlich die nächsten Tage nicht um Gwendolin dreht. Simpel, nur sein atmen und die Schönheit hier in sich aufsaugen. Das ist für ihn Freiheit, körperliche, ebenso seelische, weil die Gefühle frei sind von dem, was einen belastet. „Preaso“, murmelt er. So fühlt sich für ihn Frieden an.

„Willst du hier Wurzeln schlagen?“ Die überdrehte Stimme von Moritz reißt ihn aus dem Wohlbehagen. „Ich mein ja nur, die frischgewalzte Piste wartet, was willst du mehr? Wir sehen uns unten!“ Er juchzt und stürzt sich ohne einen einzigen Bogen den steilen Hang hinunter.

„Jungspund“, murrt Calina ihm hinterher. „Verzogener Rotzlöffel! Kann der nicht auf uns warten?“

„Lass ihn rumpeln.“ Willi winkt ab. „Wir treffen ihn bestimmt an der Liftstation.“ Gemütlich zieht er die Handschuhe an, streift die Bänder der Skistöcke über und fährt ihm nach, mit ausschweifenden Carvingbögen und einem breiten Grinsen im Gesicht.

David nimmt an, dass Calina ihm sofort hinterherfahren wird. Doch sie bleibt stehen und schaut den Abfahrern hinterher. Augenblicklich schluckt er. Hat Willi sie angespitzt an seiner Seite zu bleiben? Himmel, er will keinerlei Hüttenabenteuer, nur seine Ruhe haben und die Natur genießen. Etwas ungelenk stapft er zu ihr und lässt die Skier fallen, um in die Bindung zu steigen. Widerwillig drängt er sich dazu, anstandshalber ein paar Worte mit ihr zu reden.

„Wird ein schöner Tag heute“, sagt er beiläufig, schaut sie nicht an, konzentriert sich auf die Schnallen seiner Schuhe und drückt sie zu.

„Sicher“, sagt sie ebenso unbeteiligt, dann nichts mehr.

Verwundert schaut David sie an, doch sie würdigt ihn keines Blickes. Warum steht sie hier herum, wenn sie nicht vorhat mit ihm zu reden? Genervt schüttelt er den Kopf und beschließt, sie nicht weiter zur Konservation zu drängen, konzentriert sich auf sich, steigt beschwingt in die Bindung, schlüpft mit den Handschuhen durch die Bänder seiner Stöcke und besinnt sich voll auf den Traum, der vor ihm liegt. Als Einheimische wird sie ja wissen, wo es langgeht. An der Kante atmet er tief durch, sein Grinsen ist zurück. Euphorisch hält er die Luft an, schiebt sich über den Absatz hinweg und schwingt kurze, kleine Kurven. Sofort ist er in seinem Rhythmus. Die frisch gewalzte Piste verschafft ihm ein Wedeln vom Feinsten. Ein Gefühlsrausch umfängt ihn. Die kalte Luft streift an seinen Wangen entlang, doch die Sonne hält bereits dagegen. Tränen laufen ihm aus den Augenwinkeln. Verursacht vom Fahrtwind, oder vom Glück, oder von der Befreiung, im Moment nicht von Gwendolins katholischen Einstellungen drangsaliert zu sein. „She loves you yeah, yeah, yeah ...“, trällert er von den Beatles und lässt sich von der Melodie den Hang hinuntertragen. Ein paar ausgiebigere Bögen im langsameren Takt, die knappen, schwungvollen im kurzen. Das ist Freiheit pur. Kein innerer Zwang, nur genießen. Seine Beine tragen ihn galant den Hang hinunter, ohne zu meckern, obwohl er die letzten Wochen nicht viel Zeit hatte Sport zu treiben. Die Arbeit in der psychologischen Praxis hat ihn völlig gefangen genommen. Sogar Floh, seinen wolligen Bettvorleger auf vier Pfoten, hat er kurzzeitig auf Heimurlaub zu Annalena und Patricius geschickt. Seine Freunde teilen sich den Hund mit Tochter Ellena. Sie bringt ihn zurück, wenn sich die Abläufe in der Praxis besser eingespielt haben. Dann hat er vor, Floh mit zur Arbeit zu nehmen, um ihn als Therapiehund zu nutzen. Dazu wird eine Ausbildung notwendig und dafür braucht es Zeit.

Unten angekommen bremst er elegant ab und stellt sich in der Wartespur vom Lift an. Es stehen nur drei einzelne ihm unbekannte Menschen dort. Wo sind Willi und Moritz? Hektisch schaut er sich um. Zu blöd, dass sie nicht ausgemacht haben, an welcher Station sie sich treffen. Sind sie schon weiter nach unten abgefahren, durch den Felsspalt hindurch und Richtung Tal? Augenblicklich ärgert er sich, weil er so unaufmerksam war. Was hetzen sie denn so? Suchend schaut er zur Kante der Bergstation hinauf und über den gesamten Hang hinunter. Sind sie erneut hochgefahren, um die Piste ein weiteres Mal zu genießen? Genervt scannt er ebenso die Liftspur ab. Es wird doch nicht so schwer sein, die beiden dort zu finden! Eine Skijacke mit Graffitimuster und eine im schlichten Rentnerbeige. Trotz der markanten Klamotten wird er nicht fündig. Da kommt ihm der hautenge Anzug von Calina in den Sinn. Der sticht gewiss ebenfalls heraus. Sein Blick sucht erst gezielt und geruhsam, wird kurz darauf fahrig und hastig. Ihr Overall ist nicht zu finden. Ist es nicht möglich, vier Menschen in einem Rudel zusammenzuhalten? Das ist ja schlimmer, wie bei einer Gruppensitzung in seiner Praxis. Einer muss grundsätzlich zum Pinkeln, der Nächste braucht ein Taschentuch, einer hat immer vergessen, das Handy auszuschalten, und Hans-Jürgen bekommt pünktlich zu Beginn der Runde seinen Hustenanfall. Unwirsch wischt er sich samt Handschuh und Stöcke eine widerspenstig unter dem Helm hervorwippende Locke aus dem Gesicht und beschließt, nicht zu warten, sondern den Hang erneut zu genießen. Dann eben ohne den Rest der Mannschaft.

Mist

Calinas Lied, wenn sie die Wohnung putzt.

Mist, Mist, Mist

Ich putz dich blank

Ich mag das nicht

Mist, Mist, Mist

Ich hass das Tun

Ich mag das nicht

Mist, Mist, Mist

Ich feg dich fort

Ich mag das nicht

Frauenarzttermin

Ungläubig starrt Lydia auf den Fleck, der ihr Leben schlagartig auf den Kopf stellt.

„Was machen Sie nur für Sachen!“ Die Frauenärztin fährt erneut mit dem Ultraschallgerät über die Stelle, die sich deutlich als weißumrandeter schwarzer Klecks mit einem kleinen weißen Knäuel darin abzeichnet.

„Sehen Sie? Hier! Dort kann man den Herzschlag sehen.“

Lydia hört ihre Worte, nimmt sie aber nur dumpf wahr, so, als würde die Ärztin nicht mit ihr, sondern mit jemanden reden, der neben ihr sitzt.

„Das hatte ich auch noch nicht. Eine schwangere Frau in Ihrem Alter. Bei vielen Patienten setzt in diesem Zeitraum bereits die Frühphase des Klimakteriums ein.“

Bitte lass es doch die Wechseljahre sein, betet sie innerlich. Die Ärztin täuscht sich! Dessen ist sie sich sicher. Lydia selbst erkennt keinen Herzschlag, nur einen weißen Fleck, der etwas unstet auf dem Bildschirm hin- und herwandert, weil die Doktorin mit dem Ultraschallkopf so sprunghaft in ihrer Bauchdecke herumbohrt.

„Das kann nicht sein ...“, besteht sie vehement auf einen Irrtum.

„Doch, das kommt durchaus vor“, kontert die Ärztin und druckt ein Bild aus.

„Wie soll denn das gehen?“, stottert sie weiter, endlich dringen kleine Fetzen des Gesagten in ihre Wahrnehmung vor.

„Bisher ist noch jedes Kind auf die Welt gekommen. So wird das bei Ihnen auch sein.“ Ihr beschwichtigendes Lächeln hat keinerlei beruhigende Wirkung auf sie. Im Gegenteil. Schweißperlen treten auf die Stirn und ihr ist, als müsse sie augenblicklich ein Fenster aufreißen. Eilends schiebt sie ihre Ärmel hoch, um sich ein wenig Luft zu verschaffen und die Hitze zu vertreiben.

„Vielleicht müssen Sie gegen Ende der Schwangerschaft ein paar Wochen liegen und jetzt einen Gang zurückschalten, aber das ist alles kein Beinbruch. Kann man alles überstehen.“

Und ob das einer ist! Sie hat eben eine weitere Solorolle im neuen Stück der Philharmoniker übernommen. Endlich ist sie fest in der Altstimme damit besetzt und nicht nur im Ersatzfall, wie letztes Mal. Da darf sie keine Sekunde fehlen, hat sogar bei den Proben mehr Stunden anwesend zu sein, als sonst. Bei einem Solo werden keinerlei Patzer geduldet und ein sich hängen lassen beim Einstudieren ebenso wenig. Wie sagt ihr Chorleiter ständig? Wenn ich euch mitten in der Nacht aufwecke und ihr euren Part singen müsst, dann sitzt jede Pointierung, jedes Vibrato und jede Atempause perfekt. Das ist sein Ziel und genauso das der Philharmonie. Da ist kein Platz für eine Schwangerschaftsübelkeit und Schwächeanfälle.