Tschup - Sina Land - E-Book

Tschup E-Book

Sina Land

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Beschreibung

Die Wahrheit hinter dem Schein "Dieser Schnullersammler ist doch verrückt!" Ferdinand schiebt sein altes Fahrrad über den Marktplatz. Am Lenker baumelt eine Kette mit verlorengegangenen Schnullern. Im Korb auf dem Gepäckträger stapeln sich Pullover, ein Seidenschal, einzelne Handschuhe und eine Socke. Er ist erst seit kurzem von seinem Bootshaus in ein Hexenhäuschen im Dorf gezogen. Fremden begegnen die Leute von Mitterwasser grundsätzlich mit Abstand. Doch die Gerüchte, die sich um den schrulligen Segler ranken, halten sich nicht nur hartnäckig, sondern sagen ihm obendrein nach, dass er seinen damaligen Nachbarn umgebracht hat. Was ist dran, an den Anschuldigungen? Ist dieser Neuling ein Mörder oder einfach nur ein Mensch, der eben gerne Dinge sammelt?

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Der Schnullersammler

Sammelt ihr auch etwas?

Fotos, Sprüche, Überraschungseierfiguren, Steine,

Lebensgeschichten, Wollsocken oder Kuchenrezepte?

Manchmal sind es diese kleinen Dinge,

die uns glücklich machen.

Widmung

Für all diejenigen, die den Mut haben,

zu ihrem ganz eigenen Leben zu stehen.

Ich wünsche euch stets genug Kraft,

um in euch selbst zu ruhen.

Inhaltsverzeichnis

Rettungsaktion

Fünf Jahre später

Schnuller an die Macht

Besuch

Schulweg

Dankbarkeit

Aberglaube

Beidhändig

Schnullerträume

Frau Ratzke

Cinderella

Seele beruhigen

Eichhörnchen

Ein Fundstück weniger

Fundamt

Stifte

Mutterherz

Neuankömmling

Fundsachen

Reden zwecklos

Erfolgsbremse

Gerüchteküche

Ausfliegende Briefe

Briefbomben

Halbwahrheiten

Gespenst

Schulausflug

Panik

Brieferfolg

Polizeiarbeit

Opa-Besuch

Partylaune

Verweigerung

Aufruhr

Party

Überraschung

Verdächtigungen

Dreibeiniger Kater

Alptraum

Vorahnung

Schmerz

Schule

Unterstützung

Malergeschäft

Wiedersehen

Flausen im Kopf

Schwarzer Wolf

Strafarbeit

Bärlauch

Friseurtermin

Elternabend

Zeichnungen

Das Bootshaus

Nachtgespenst

Ausgangssperre

Malen

Aufmöbeln

Segelboot

Sofie

Wahre Liebe

Besuch

Malkontakt

Entführung

Romantik

Überschritten

Einsamkeit

Einsatz für einen Freund

Erleichterung

Partyraum

Wind

Arztgespräch

Enttäuschung

Dokument

Malen

Schulausflug

Vorahnung

Erinnerungen

Die Fehlenden

Christians Haus

Telefonat

Hilfe

Wiedersehen

Einkuscheln

Zynismus

Tornado

Arbeitsteilung

Aussprache

Gänseblümchen

Nicht aufgepasst

Partylaune

Aufklärungsrunde

Heilung

Einladung

Schnulleralarm

Gänseblümchen

Traum

Heilung

Duo-Bild

Rettungsaktion

„Was für ein gigantischer Tag!“ Ferdinand steht am Steg vom Bootshaus, das er zu einer Wohnung umgebaut hat, und genießt eine Pfeife. Ein rotes Eichhörnchen, von der Frühjahrssonne aufgeweckt, sitzt ihm gegenüber auf dem Geländer und knabbert an einem Sonnenblumenkern herum, der eigentlich für die Vögel gedacht war. Beim Anblick des Kerlchens lächelt er. In dem Moment kommt ihm seine Enkelin Luna in den Sinn und das Lächeln intensiviert sich. Was ist sie mit ihren vier Jahren für eine pfiffige Dame. Bevor sie völlig übermüdet auf seinem Sofa eingeschlafen ist, hat sie am Vormittag den halben Wald mit ihm gemeinsam hierhergebracht und zu Tieren aus Zweigen und Behausungen aus Moos verbastelt. Schade, dass sie nicht länger bei ihm bleiben kann. Morgen ist Oma-Tag. Er seufzt. Gerne würde er zusammen mit seiner von ihm getrenntlebenden Frau Serafina die Zeit gemeinsam mit der Enkelin verbringen. Genüsslich zieht er an der Pfeife und schaut am Ufer entlang bis hinüber zum einzigen Nachbarhaus in dieser Gegend. Die Welt sieht hier stets so friedlich aus, ihm gegenüber so freundlich gesinnt. Schade, dass seine Frau das nie so gesehen hat, sich mehr vor der Einsamkeit hier draußen gefürchtet hat, anstatt sie wie ein Geschenk zu betrachten.

„Hilfe!“, hört er jemanden gedehnt schreien.

Augenblicklich fragt er sich, ob bei seinem Nachbarn Christian wieder Jugendliche herum-schleichen und sich ein Späßchen erlauben? Öfter schon hat er sie von seinem Grundstück vertrieben, weil die Jungspunde seinen Schuppen als Partylager missbrauchten.

Erneut ein Schrei. Spitzer als der erste.

Sofort beschleunigt sich Ferdinands Atem. Die Stimme klingt nicht wie die eines angetrunkenen Halbwüchsigen, eher wie die von Christian. Die glatte Wasseroberfläche trägt einen weiteren Ruf zu ihm herüber.

„Hilfe!“ Die Stimme hört sich panisch an.

Über das Geländer der Veranda spähend schaut er zum Haus am Waldrand hinüber. Unter ihm klatschen die Wellen vom See an die Planken, als wollten sie ihn dazu antreiben, nach Christian zu sehen. Leider versperrt ihm das Schilf am Ufer die Sicht.

„Christian“, schreit er wissend, sodass man über den See hinweg auf der anderen Seite jedes Wort versteht.

Keine Antwort.

Erneut ruft er seinen Namen.

Stille.

Nachdenklich kratzt er sich am Nacken. Sofort legt er seine Pfeife beiseite, klettert mit hektischen Bewegungen auf das Geländer und hält sich am Dach des Bootshauses fest. Das Haus seines Nachbarn ist zu sehen, aber ansonsten keine Menschenseele. Eilends steigt er zurück auf den Bretterboden, dreht sich zum Fenster, legt die Hände an die Scheibe, um die Spiegelung zu umgehen, und lugt nach drinnen. Luna schläft tief und fest. Erleichtert wendet er sich wieder dem Haus vom Nachbarn zu. Sie würde es gar nicht bemerken, wenn er kurz hinüberginge, um die Lage zu checken. Womöglich ist der Nachbar beim Bäume ausschneiden von der Leiter gefallen und jetzt nicht fähig, sich zu bewegen. Oder er ist in den See gestolpert, was fatal wäre, denn er hat nie schwimmen gelernt. Sein Gehirn befeuert ihn mit sämtlichen Dramen, die Christian dazu bringen könnten, um nach Hilfe zu rufen. Erneut lugt er durch das Fenster. Luna schläft. Kurz lächelt er, weil sie den weißen Schnuller mit dem blauen Wal umklammert, als könne er sich während ihres Schlafs verselbständigen und davonlaufen. Tief atmet er durch. Nur rasch nachsehen, was beim Nachbarn los ist. Die Engel werden in der Zeit auf sie aufpassen. In ein paar Minuten ist er zurück.

Ferdinand hastet über den Steg, welcher sein Bootshaus mit dem Ufer verbindet, öffnet das Holztürchen, springt mit einem beherzten Schritt an Land und rennt den Kiesweg an der schmalen Liegewiese entlang. Seine Clogs bieten ihm nicht genügend Halt, er rutscht in ihnen hin und her, wie wenn sie mit Seifenlauge eingeschmiert wären. Als könne ihm seine Strickmütze die vermisste Festigkeit verleihen, umklammert er die Krempe. Am Findling wird es ihm zu blöd und er kickt die Schuhe von den Füßen, läuft barfuß weiter. Es ist so still, unheimlich still, zu still für jemanden, der vor ein paar Minuten um Hilfe gerufen hat. Jugendliche sind hier keine zu sehen. Der gehetzte Laufschritt beschleunigt sich erneut, als sein Blick auf die Schuppentür vom Nachbarn fällt. Christian lehnt dort zwischen Tür und Angel, sieht elend aus, sein Gesicht schneeweiß mit roten Flecken versetzt, am Hals aufgequollen und nach Luft schnappend. Das treibt ihm zusätzlich den Schweiß auf die Stirn.

„Was ist los?“, fragt er und bemüht sich, seinen Atem zu beruhigen.

Christian verdreht die Augen und versucht, etwas zu sagen.

Ferdinand kniet sich auf den Boden und fragt erneut.

„Bienen“, wispert er. „Bienen.“

„Bist du nicht allergisch gegen Bienenstiche?“

Christian nickt langsam.

Jetzt bemerkt Ferdinand, dass an seinem angeschwollenen Hals feurig eine Einstichstelle wie eine rotblinkende Boje aufleuchtet. Der Stachel steckt noch in der weißlichen Umrandung fest.

„Shit“, entfährt es ihm. In Sekundenschnelle überlegt er sich eine Rettungsaktion.

„Ruhig atmen“, sagt er und unterdrückt das Zittern in seiner Stimme. „Ich mach das weg. Aber du darfst dich nicht bewegen. Wenn ich den Stachel quetsche, dann ergießt sich das ganze restliche Gift in deinen Körper.“

Christian verdreht erneut die Augen.

Ferdinand zupft mit spitzen Fingern vorsichtig die Stachelspitze aus der Haut und wirft ihn weg. „Das wäre geschafft“, sagt er und atmet auf. „Hast du dein Notfallset hier?“

Sein Gegenüber schüttelt fast unmerklich den Kopf.

Entsetzt starrt Ferdinand ihn an.

„Mist! Was mache ich denn jetzt mit dir?“ Wieder sucht er Halt an seiner Seglermütze. „Eiswürfel? Apis-Kügelchen?“

Christian deutet in Richtung Küchenfenster und ringt um Luft.

„Okay, das ist ein Anfang. Bin gleich wieder da.“

Gefühlte zwei Sekunden später packt er das in ein Geschirrtuch eingeschlagene Würfeleis auf seinen Hals. Einen Würfel steckt er ihm in den Mund.

„Ich habe leider keine Apis-Kügelchen gefunden, nur ein leeres Fläschchen. Aber das Eis sollte auch helfen, die Schwellung zu stoppen.“

Gehorsam und mit pfeifenden Atemgeräuschen lutscht Christian an dem Eis.

Ferdinand zückt unterdessen sein Handy und tippt die Notfallnummer. „Man geht schon rann!“, schimpft er. Kurz darauf schildert er einem Sanitäter, was passiert ist, und bekommt das Versprechen, dass sofort der Krankenwagen losgeschickt wird. Nach dem Auflegen überlegt er krampfhaft, was zusätzlich hilft. Bis der Notarzt hier ist, vergeht kostbare Zeit. Was, wenn der Kreislauf von Christian schlapp macht? Hastig zieht er seine Jacke aus und stopft sie unter die laschen Beine seines Nachbarn.

„Schön hierbleiben! Und ruhig weiteratmen.“

Im Normalfall würde sein Nachbar über den gelungenen Witz lachen, das ist ihm klar. Im Moment bleibt ihm nur ein zaghaftes Nicken.

Aufgewühlt schaut er sich am Waldrand um. Ein paar spitze Blätter, die vorwitzig zwischen dem Gras herausragen, fesseln seinen Blick. „Spitzwegerich!“, sagt er erleichtert. „Besser als nichts! Bin gleich wieder da. Halt durch!“ Zielstrebig stapft er über das hochstehende Grün und kämpft sich durch den wilden Strauchbewuchs bis hin zur Wiese, wo er den Spitzwegerich gesehen hat. Er atmet auf. Dort steht das Kraut in rauen Mengen herum. Hastig rupft er die Pflanzen aus und prescht zurück. Neben Christian kniend zerquetscht er ein paar Blätter zwischen den Handflächen, zerreibt sie, bis die grüne Flüssigkeit austritt und formt sie zu einem kleinen Knäuel.

„Da, kau das!“ Mit diesen Worten stopft er ihm das Faserbündel in den Mund.

Christian versucht es, aber es will ihm nicht recht gelingen.

„Mach, das ist gegen die Schwellung. Wenn wir Glück haben, bremst das den Entzündungsprozess. Der Spitzwegerich enthält ein natürliches Antibiotikum. Es wird eine Weile dauern, bis die Sanitäter hier in der Einöde ankommen. Bis dahin musst du durchhalten!“

Die restlichen Pflanzenteilchen zermahlt er erneut in seinen Handflächen. Dann schiebt er das Eiswürfelhandtuch beiseite, schmiert die Paste auf die äußerliche Einstichstelle und verteilt sie auf dem aufgedunsenen Hals. Darüber legt er die Kühlpackung.

„Es wird gleich besser werden. Immer weiter kauen. Schluck den Speichel hinunter. Und ruhig atmen. Ruhig. Ganz ruhig.“ Hörbar atmet er mit ihm in einem langsamen Rhythmus und hofft darauf, dass es Christian zusätzlich hilft.

Eine Weile später, noch bevor die Sanitäter eintreffen, entspannt sich die Atmung von seinem Nachbarn und Ferdinand bläst erleichtert die Luft aus.

Fünf Jahre später

„Hey Tschup“, Arvid winkt freudestrahlend über den Marktplatz zum Garten von Ferdinands neu angemieteten Häuschens hinüber. „Wieder einmal auf der Suche?“

Ferdinand lächelt und hebt die Hand. „Na klar, ich kann doch die armen Schnuller nicht hier herumliegen lassen.“ Demonstrativ fuchtelt er mit dem neuesten Fundstück in der Luft herum. „Habe ihn bei der Apotheke vorne gefunden. Hast du eine Ahnung, wer den verloren haben könnte?“

Arvid verzieht den Mund und kratzt sich an seinem wild abstehenden dünnen Resthaar. „Was ist mit dem Jungen von den Landkes? Die haben doch nochmal Nachwuchs bekommen. Drei Söhne. Die sind auch nicht zu beneiden. Da ist mir meine Tochter lieber.“ Lächelnd lehnt er sich an den Gartenzaun und brüllt über das Reich der alten Frau Ratzke hinweg, dass zwischen ihren Häusern steht.

Ferdinand hält nichts von der Schreierei. „Heute Abend bei mir? Kommst auf einen Tee vorbei? Kriegst ihn ausnahmsweise auch mal heiß.“

Arvid zeigt ihm einen dicken Daumen mit Verband.

„Ich sehe ihn mir gerne an. Eigentlich dürfte es schon besser sein, mit der Salbe, die ich dir draufgemacht habe.“

Schnuller an die Macht

„Dann werde ich mal meine Mission erfüllen!“, krächzt Ferdinand mit heiserer Stimme und zieht den Rollkragen vom Strickpulli über den Mund. An der Haustür bleibt er stehen, zupft den Seidenschal am rostigen Herrenrad zurecht und bindet ihn fester an den Lenker. Seine Besitzerin freut sich gewiss darüber, wenn sie ihn heil zurückbekommt. Den Strickschal daneben schiebt er ein wenig beiseite, damit die Kette mit den verlorengegangenen Schnullern sich beim Fahren nicht in der Vorderspeiche verkantet. Sein Blick fällt in den Korb auf dem Gepäckträger und den darinsitzenden Kuschelbären, mit dem wuscheligen Fell. Den Platz teilt er sich mit einem Pulli, der seine beste Zeit schon hinter sich hat. Dennoch hat er ein Recht darauf, seinen Besitzer zu finden. Ferdinand zieht seine Mütze weiter ins Gesicht, stellt den Kragen von der Segeljacke hoch. Das Fahrrad benimmt sich störrisch, lässt sich nicht über den Rand des Blumenbeetes hieven, das ihn täglich bis zum Gartentor begleitet. Genervt hebt er den Lenker an. Dabei klappert die Schnullerkette gegen das rostige Metall, als ob sie ihn ermahnt, vorsichtig zu sein, weil wichtiges Frachtgut an Bord geladen ist. Ferdinand denkt an all die Kinder, deren Schnuller aus dem Kinderwagen gepurzelt sind und die deswegen schlaflose Nächte verbringen, weil die neuen ihnen nicht halb so vertraut erscheinen und kein Gefühl der Geborgenheit schenken. Und all die Eltern, die verzweifelt durch die Straßen streichen, um das Ersehnte zu finden und eine friedliche Nacht zu bekommen.

Am Gartentor balanciert er das vollbepackte Rad umständlich um den Pfosten herum. Sein Blick fällt auf das Keramikschild. „Ferdinand Reich“, murrt er. Als ob er je in Geld geschwommen wäre, lacht er bitter. Aber Unzufriedenheit hat ihn trotzdem nie geplagt. Mehr vom Leben zu verlangen ist eine Herausforderung des Schicksals, das ist seine Meinung. Das Tor scheppert ins Schloss und er steigt auf sein Rad, um den Marktplatz zu umrunden. Ein kaum hörbares Stöhnen, begleitet das Quietschen der Pedale. Das rechte Knie braucht ein paar Umdrehungen, bis es warm wird, und rund läuft. Sein Weg führt ihn über das Kopfsteinpflaster vorbei an den Nachbarhäusern, die allesamt wie seines aussehen, als wären sie dem Hexenhäuschen von Hänsel und Gretel Modell gestanden. Er kommt am Brillenladen von Arvid Hepp vorüber, aber seine Lesebrille hat er ausnahmsweise gestern Abend nicht verlegt. So bleibt er nicht stehen, sondern fährt weiter, vorbei an den Leuten, die heute Morgen in dicke Kleidung eingemummelt sind und von einem Geschäft zum anderen eilen. Die Kette mit den Schnullern klappert bei jedem aus dem Pflaster herausstehenden Hindernis. Ab und an drückt er auf die Hupe. In der Form von Donald Ducks Entenkopf quakt sie mehr, als dass sie hupt, stammt vom Kinderfahrrad seiner Enkelin. Das war ein Geschenk von ihr an ihn. Der Gedanke an sie, zieht ihm das Herz zusammen und er hat zu tun, dass er diesem Zug nicht nachgibt und mit seinem Rad im dornigen Rosenbusch vom Schreibwarenladen landet.

„Hallo Tschup“, schreit Herr Gebert vom Laden und winkt ihm eindringlich zu. „Haben Sie die kleine Besitzerin vom Schnuller mit dem Hasengesicht schon gefunden?“

Ferdinand winkt zurück. „Leider nein.“

Der Mann bremst eine Frau mit ausladendem Gemüsekorb unter dem Arm, die gerade an ihnen vorbeigeht.

„Sie wissen nicht zufällig, wer gestern vorne bei der Apotheke mit einem Kinderwagen gestanden hat?“

Ferdinand stellt sich zu ihnen und lehnt sein Rad an den Blumentrog, der den Autofahrern hier den Weg versperrt.

„Grüß Gott gnädige Frau“, sagt er und nickt ihr zu.

Lächelnd beäugt sie ihn. „Oh, der Schnullersammler höchstpersönlich. Einen schönen Guten Morgen.“ Mit strahlendem Lächeln hält sie ihm ihre Hand entgegen. „Frieda Hingerl. Habe Sie schon öfter fahren gesehen. Ein Schnuller mit Hasengesicht sagten Sie?“ Nachdenklich schiebt sie ihre Brille auf dem Nasenrücken hoch. „Die Mutzkes waren gestern hier. Sie wissen schon, die vom Malerladen schräg gegenüber. Die Kleine hatte Ohrenschmerzen. Eine Entzündung, oder so, sagten sie. Ich habe ihnen empfohlen, Zwiebelwickel zu machen. Das hilft und die Zwerge können in der Nacht wieder schlafen. Bei meiner Enkelin hat das auch geholfen. Aber der Apotheker hat ihnen einen Fiebersaft verkauft. Das ist doch nichts für die Kleinen. Alles pure Chemie.“

Herr Gebert hält die Hand hoch, um sich zu verabschieden. „Ja also, ich muss dann auch wieder. Ich schließe um neun den Laden auf. Gute Suche noch.“ Eilends dreht er sich seinem Schreibwarengeschäft zu, wo ein paar vereinzelte Kunden schon vor seiner Ladentür miteinander plaudern.

Ferdinand nickt, hat keine Lust, den Plausch sofort zu beenden. „Meine Enkelin hat den Fiebersaft nie genommen“, sagt er deshalb schnell. „Die hat ihn mir immer entgegengespuckt. Dann habe ich halt wieder Wadenwickel gemacht. War bestimmt sowieso gesünder.“

„Ja, da haben Sie recht. Wie geht es denn Ihrer Enkelin heute? Bestimmt gedeiht sie prächtig.“

Augenblicklich verpasst ihm das erneut den wohlbekannten Stich im Herzen.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen“, wehrt er ab. „Bin ja erst seit kurzem hierhergezogen.“

Ihre trüben Augen mustern ihn. „Aber Sie treffen sie bestimmt regelmäßig, oder? Wenn ich mir vorstelle, ich würde nicht jeden Tag die Kurzen zum Mittagessen bei mir haben. Der Gedanke allein verursacht mir Herzrasen.“

Seine Finger umklammern die bröseligen Korkgriffe am Fahrradlenker. Er braucht dringend etwas zum Festhalten.

„Haben Sie denn die Frau mit dem Seidenschal schon gefunden?“, redet die Dame zum Glück gleich weiter.

„Leider nein. Ich kann mich einfach nicht daran erinnern, an wem ich den schon gesehen habe.“ Er ringt sich ein kehliges Lachen ab.

„Wäre ja auch ein Wunder. So ein kleines Dorf ist Mitterwasser nun auch wieder nicht, dass man sich jede Kleidung von allen einzelnen Bewohnern merken könnte.“

„Da haben Sie wohl recht!“, lacht er erneut, um ja kein Gespräch über seine Enkelin mehr aufkommen zu lassen. „Es fällt mir schon schwer, mir die Leute zu merken, denen ich begegnet bin.“

„Wollen Sie denn die Sachen nicht zum Fundbüro bringen?“

Gedanklich ist er augenblicklich nicht mehr auf dem Marktplatz von Mitterwasser, sondern an seiner alten Arbeitsstelle im Fundamt. Er war noch mit Serafina verheiratet und seine Tochter in anderen Umständen.

„Das ist keine gute Idee. Wissen Sie, ich finde es immer schade, wenn die Sachen dort nur vor sich hingammeln. Meistens wissen die Menschen gar nicht mehr, dass sie etwas verloren haben, außer es sind Geldbörsen mit einem Vermögen darin, was eher selten vorkommt. Oder sie haben keine Ahnung, an welchem Ort die Dinge verloren gegangen sind. Nur allzu oft, werden die Sachen nach einem Jahr an ärmere Länder weitergegeben, was ja völlig in Ordnung ist, aber ich möchte es wenigstens versucht haben, den Besitzer zu finden, bevor die Fundsachen einem anderen zugeteilt werden. Sind ja auch oft Stücke dabei, die man nicht so einfach verloren wissen möchte und sich extrem freut, wenn man sie wiederhat.“

„Na, dann wünsche ich Ihnen viel Glück, bei Ihrer Suche. Ich muss nach Hause zum Kochen. Die Enkerle kommen bald von der Schule und haben einen Bärenhunger. Die essen ja oft nix in der Pause.“ Winkend läuft sie weiter über den Marktplatz und verschwindet in einer Seitengasse, der übervolle Korb an ihrem Arm baumelnd.

Ferdinand bleibt zurück und beschließt, die alten Zeiten samt all den Gedanken ruhen zu lassen, setzt sich erneut auf sein Rad und fährt über das Kopfsteinpflaster hinüber zum Malerladen der Mutzkes.

Leider hängt an der Tür ein Schild. „Wenn wir hier sind, kommen Sie gerne herein. Ansonsten sind wir auf der Baustelle unterwegs. Hinterlassen Sie einen Zettel und wir rufen Sie an.“

Mit hochgezogenen Augenbrauen beäugt er einen Holzbriefkasten neben der Tür. An einer Schnur hängt ein abgenagter Bleistift. Ein Block mit Abreißzetteln liegt auf dem Deckel. Er balanciert sein Rad zwischen seinen Beinen aus, reißt einen der Blätter ab und schreibt darauf: „Wird bei Ihnen ein Schnuller mit Hasengesicht vermisst?“ Dann stopft er die Nachricht in den Briefkastenschlitz und dreht seine Runde weiter über den Marktplatz, um die gefundenen Sachen für die Leute sichtbar zu machen und die Menschen unterwegs zu fragen.

Gegen Mittag drapiert er alle Fundstücke am Brunnen, der in der Mitte des Platzes steht. Normalerweise verspritzt er sein Wasser aus den Hälsen von Fischen in den darunterliegenden Trog, doch über den Winter ist er zum Schutz vor der Kälte mit Holz ummantelt. Dort sind seine Kostbarkeiten bestens aufgehoben. Es gibt sogar ein Geländer, an dem er die Kette mit den Schnullern befestigt. Wie jeden Tag warten sie hier geduldig auf ihre Besitzer. Zufrieden betrachtet er sein Werk, steuert das Linke der drei Kaffees an, isst zu Mittag und freut sich über das Lachen der Kinder, die mit ihren für Erstklässler völlig überdimensionierten Schulranzen vor dem Fenster an ihm vorbeiziehen.

Besuch

„Guten Abend Tschup.“ Arvid steht vor seiner Haustür im Dunkeln und hält ihm eine Tüte entgegen. „Gehst du heute noch segeln?“ Spöttisch lachend zeigt er auf seinen blauweißen Strickpulli.

„Lass stecken, für das Bootshaus und das Segeln bin ich inzwischen zu alt. Bist spät dran“, knurrt Ferdinand. „Dachte schon, du würdest mich versetzen.“ Er nimmt einen kräftigen Zug von seiner Pfeife, die an seinem Mundwinkel baumelt.

Arvid verdreht die Augen. „Hatte ein dringendes Problem mit meiner pubertierenden Rotzlöffelchendame. Kannst froh sein, dass ich überhaupt hier auftauche.“

Ferdinand hat die Hände in seinen Hosentaschen.

„Was ist?“ Arvid wedelt mit der Tüte. „Hab extra ein paar von den Keksen aus dem Keller stibitzt. Ist das genug Eintrittsgeld, oder lässt du mich hier draußen erfrieren?“

„Schau nicht so und komm endlich rein. Der Tee ist bestimmt schon kalt! Dieses Mal kann ich aber nichts dafür. Bedank dich bei deinem Fräulein Tochter.“

Schulweg

Luna hüpft neben Katharina her. Ihr Schulranzen wippt bei jeder Bewegung auf dem Rücken hoch und runter. Ihre blonden Locken fliegen mit. Das Haarband rutscht bei jedem Hüpfer tiefer über die Stirn und auf die Nase herunter.

„Spielen wir heute weiter am Baumhaus? Ich beeil mich mit den Hausaufgaben, dann können wir ganz bald los.“ Zupfend schiebt sie das Band von ihren Augen und in die Locken zurück, was bewirkt, dass diese wie wilde Federn von ihrem Kopf abstehen.

Katharina zieht eine Schnute. „Ich kann nicht“, murrt sie. „Bin heute bei Oma und Opa.“

Erneut rutscht das Stirnband. Luna drückt mit der ganzen Hand das Band in die Haare zurück und befreit damit ihr Sichtfeld. Mit fragendem Blick schaut sie ihre Freundin an. „Dann komme ich halt zu deinen Großeltern. Oder mögen die das nicht?“

Augenblicklich sieht Katharinas Gesicht zerknittert aus. „Ich würde viel lieber am Baumhaus spielen.“

„Aber bei Opa spielen ist doch viel schöner“, versucht sie Luna aufzumuntern.

Diese jedoch knurrt, wie ein Hund, der einen davor warnt seinen Knochen anzufassen.

Luna schaut schwärmerisch gen Himmel. „Ich würde so gerne bei meinem Opa sein, ihn besuchen, mit ihm Malen, im Wald Verstecken spielen, mit seinem Boot auf dem See herumpaddeln, beim Segeln wilde Abenteuer erleben ...“

Katharinas Miene verfinstert sich. „Meiner lässt mich gar nicht spielen. Bei ihm muss ich den ganzen Tag nur lernen.“

Luna wurschtelt das Band endgültig aus den Locken heraus. Dabei verheddert es sich so in ihren Haaren, dass sie es nicht schafft, es herauszuziehen. Genervt bleibt sie stehen und schnauft, die Hände in die Hüften gestützt bläst sie in die Strähnen. „Blödes Ding!“, schimpft sie.

„Warte“, sagt Katharina siebengescheit und zupft fachmännisch und vorsichtig eine Haarsträhne nach der anderen aus dem Band heraus. Ein paar Haare leiden darunter und fliegen abgerissen durch die Luft.

„Ich hätte auch gerne so schön Glatte wie du. Die kann man viel leichter kämmen“, jammert Luna.

Sofort streicht sich Katharina geschäftig übers Gesicht, als hätte sie ebenfalls ein Haar zu bändigen, obwohl sie alle fein säuberlich in ihrem Haargummi zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden sind.

„Wenn ich nur wüsste, wie ich zu Opa komme. Dann würde ich heute zusammen mit dir zu ihm fahren. Meiner ist echt klasse. Den musst du unbedingt mal kennenlernen. Dann bauen wir uns zu dritt im Wald eine Hütte und spielen Auswanderer“, schwärmt Luna.

„Was ist ein Auswanderer?“

„Mein Opa ist so einer. Er hat kein Haus wie Mama und Papa oder unsere Lehrerin Frau Feinkel. Der schläft in einem Bootshaus.“

„Auf einem Boot?“ Katharinas piepsige Stimme überschlägt sich.

„Nein, im Haus vom Boot.“ Luna bückt sich zu einem vertrockneten Grashalm und zupft ihn ab. „Weißt du, der ist anders. Der wohnt direkt am See. Da hat er ein Haus auf dem Wasser, aber auch ein Schlauchboot und ein Segelboot. Mit dem fährt er sich Brot und Butter holen. Der hat auch ein ganz witziges Klo. Da wenn man den Knopf drückt, dann verschwindet das nicht in das Rohr, sondern in so einen Art Garten, wo viele kleine Tierchen das Fressen und Erde draus machen.“

„Ihhh, die essen das Pipi?“ Ihre Freundin schüttelt es durch.

„Und das Andere auch! Das ist für diese Tierchen wie für uns ein Sahnepudding, sagt Opa.“

Katharina bleckt die Zunge und macht ein Geräusch, als müsse sie spucken. „Komm jetzt weiter. Oma kennt keinen Spaß, wenn ich zu spät zum Mittagessen komme.“ Eilig läuft sie voraus.

Luna wirft den Grashalm in den Bach. Essen mit Opa, das wäre jetzt das Schönste auf der Welt. Verträumt tappt sie hinter ihrer Freundin her.

Nach den Hausaufgaben sitzt Luna in ihrem Zimmer und hat sich in ihre „geheime Ecke“ zurückgezogen, eine Kuschelecke mit einem Baldachin aus Gardinenstoff. Eigentlich hätte sie es gerne aus einem Stoff gehabt, durch den man nicht durchsehen kann. Erst dann wäre es eine Kuschelhöhle, wo sie sicher sein kann, dass sie niemand beobachtet. Denn ihre Mama sieht es nicht gerne, dass sie ständig ihre Schatztruhe hervorzieht und darin ihre Kritzeleien ansieht, die sie vor vielen Jahren gemalt hat. Einmal hat sich Mama verplappert und gesagt, dass Luna diese zusammen mit ihrem Opa gemalt hat. Seitdem hütet sie ihren Schatz noch intensiver, schiebt die Kiste jeden Abend weit unter ihr Bett, damit Mama sie nicht findet. Warum sie die Zeichnungen nicht mag, weiß Luna nicht. Wenn sie nachfragt, schimpft Mutter immer gleich mit ihr. Darum versteckt sie sich lieber mit ihrem Schatz und hütet ihn in ihrer Kiste.

Dankbarkeit

Ferdinand schiebt sein Rad zum Brunnen und zupft vorsichtig den Seidenschal aus der Einkerbung hervor.

„Hallo“, tönt es langgezogen von der Ecke des Malergeschäftes herüber. „Warten Sie! Bitte.“

Er dreht sich um und schaut auf eine junge Frau, die heftig mit einem Schal wedelt und auf ihn zu rennt. Sie kommt vor ihm zum Stehen. „Tut mir leid“, sagt sie schwer atmend, die Hände auf die Knie gestützt. „Ich habe leider keine Ahnung, wie Sie heißen, alle nennen Sie nur den Schnullersammler.“

Er schmunzelt. „Das ist schon in Ordnung.“ Er hält ihr die Hand hin. „Ich bin Ferdinand, Sie können aber auch gerne Tschup sagen. Und wer sind Sie?“

Die Frau strahlt ihn an. „Chupete, wie Schnuller auf Spanisch? Diesen Namen hat Ihnen bestimmt Frau Diaz vom Friseurladen gegeben. Ein schöner Name. Das wäre auch etwas für unseren Nachwuchs. Sie streichelt über ihren Bauch, der eine deutliche Beule abzeichnet. Vielleicht wird es ja ein Junge. Ich hätte nichts dagegen. Unsere Madam treibt uns in den Wahnsinn. Hoffentlich wird sie ruhiger, wenn sie ein Geschwisterchen bekommt.“

„Das haben Mädchen so an sich“, sagt Ferdinand schmunzelnd und erinnert sich an die schlaflosen Nächte, in denen die Enkelin seine Tochter so gefordert hat, dass sie einen Nervenzusammenbruch hatte. In dieser Zeit hat er Luna gerne zu sich genommen, um der Mama ein wenig Ruhe und Erholung zu ermöglichen.

„Sagen Sie Chupete, haben Sie zufällig gestern einen Schnuller gefunden?“

„Einen?“ Er lacht schallend auf und zeigt auf die Kette, an der ein ganzes Dutzend in allen Farben und Formen hängt.

„Sind Sie Frau Mutzke?“

Die Schwangere schaut ihn ungläubig an und nickt emsig.

„Dann der weiße mit dem Hasengesicht?“ Er löst ihn aus dem Gewirr der anderen und hält ihn ihr entgegen.

„Sie scheinen Ihre Schnuller aber gut zu kennen. Reden die mit Ihnen und erzählen Ihnen, wie sträflich sie vernachlässigt wurden.“ Frau Mutzke lächelt ihn dankbar an. „Sie haben meiner Tochter das Leben gerettet und uns Eltern sozusagen die Nächte. Ein Kuschelelefant ist eben kein Ersatz.“

Ihr Lachen ist so dermaßen ansteckend. Genau für diese gigantischen Momente bestückt er tagtäglich sein klappriges Fahrrad. Das Strahlen der Leute, die etwas Geliebtes zurückbekommen, fühlt sich für ihn jedes Mal an wie eine wohlige Dusche mit liebevollem Wasser.

„Sie sind ein klasse Mensch“, sagt Frau Mutzke voller Euphorie und bis er fähig ist zu schlucken, weil ihm völlig andere Aussagen in seinen Ohren klingen, hat sie ihn schon umarmt und an ihr Herz gedrückt. Wäre er kein gestandener Mann, dann hätten seine weichen Knie nachgegeben.

Aberglaube

Ferdinand kommt von seiner Abendrunde über den Marktplatz zurück zu seinem Haus. Vor dem Gartentor zuckt er zusammen. Da war ein Schatten. Suchend schaut er sich um, sieht niemanden. Ihn fröstelt, war ihm doch schon die ganze Zeit über, als würde jemand hinter ihm herschleichen. Sich selbst rügend schüttelt er den düsteren Gedanken ab und drückt den Griff vom Gartentor. Stutzend hält er inne. Vor ihm wuselt etwas vorbei. Eilends versteckt er sich hinter einem Pfosten. Tschups Bewegung gefriert. Ein rotes Eichhörnchen! Ihm ist sofort noch kälter als zuvor. Noch vor einer Minute freute er sich nach einem langen Marktplatztag auf die warme Stube und jetzt das! Ein Schauer läuft über seinen Rücken. Fuchtelnd wirbelt seine Hand durch die Luft, um das Tier zu verscheuchen. Es ist, wie in dieser unglückseligen Nacht, bevor ... Er atmet schwer. Auch da war es keines mit einem dunklen Fell. Nein, eines mit einer rötlichen Einfärbung. Bitte nicht erneut ein Unglück. Mit dem Fahrrad zwischen den Beinen stampft er mit einem Fuß auf dem Boden auf. Die Schnullerkette scheppert dabei bedrohlich am Lenker. Doch selbst der Lärm scheint das Tier nicht aus seiner Starre zu lösen. Am liebsten würde er wegsehen, wie die kleinen Kinder, die fest davon überzeugt sind, dass sie augenblicklich unsichtbar sind, wenn sie die Augen schließen und die Erwachsenen nicht sehen. Bitte keine roten Eichhörnchen fleht er gen Himmel. In Windeseile überlegt er, was heute für ein Tag ist. Nein, nicht Mittwoch. Wenigstens dies bleibt ihm erspart. Todesmutig schiebt er sein Fahrrad auf den Pfosten zu und drückt hektisch auf den Donald-Duck-Kopf. Wie aus dem Nichts sprintet es so schnell an ihm vorüber, dass er im ersten Moment nicht sicher ist, ob es überhaupt verschwunden ist. Suchend sieht er sich um, doch es ist nirgends zu sehen.

In der Küche kramt er hektisch nach den Stummelkerzen und dem Räucherwerk.

„Getrockneter Salbei“, murmelt er. „Die Tüte muss doch irgendwo hier in der Schublade sein.“ Er wird nicht fündig, aber dafür kommen ihm ein paar Sandelholzstückchen in die Finger, die in der Tüte über die Jahre mehr Mehlstaub hinterlassen haben, als funktionstüchtige Hölzchen. Die Streichholzschachtel ist dagegen gefüllt und stets gebrauchsfertig. Beflissen zündet er die Kerze auf dem Tisch an und dann die drum herumstehenden Stummel, die er in der Speisekammer gefunden hat. Mit zittrigen Fingern zupft er ein Sandelholzstäbchen aus der Tüte und hält es gegen eine der Flammen. Es braucht eine Weile, bis das Stück anbrennt, dann aber verbreitet sich sofort ein wohlig erdiger Duft im Zimmer. Das beruhigt ihn. Das rauchende Hölzchen zwischen Daumen und Zeigefinger schlappt er in der Küche umher. Die Flammen flackern hinter ihm und der Rauch markiert jeden seiner Schritte. Beschwörungsformeln vor sich hinmurmelnd, konzentriert er sich darauf keine Ecke des Zimmers bei seiner energetischen Reinigung zu vergessen. In den anderen Räumen verhält er sich ebenso, bis er an der Haustür angelangt. Unwirsch reißt er sie auf und fuchtelt unter ihr wild mit dem Stäbchen herum. Der am Türrahmen angebrachte getrocknete Kräuterbuschen wedelt mit jedem Luftzug hin und her. Zufrieden dreht er sich in Richtung Flur zurück, um die feuerfeste Schale zu suchen, die er immer dann hervorkramt, wenn es mehr braucht als nur ein bisschen Räuchern, um die unguten Geister zu vertreiben. Aus dem Augenwinkel nimmt er etwas Weißes wahr, das nicht aussieht wie ein vertrocknetes Blatt von der Kletterrose. Einen Fuß im Gang, den anderen auf dem Absatz der Haustür, dreht er sich zurück und schaut neben die Stufe. Sein geschulter Blick sagt ihm sofort, was es ist. Weißes Plastik. In der Mitte ein blauer Walfisch. Die Vorderseite braucht er nicht zu sehen, um zu wissen, dass er dort im Rosenbeet einen Nuckel finden wird. Mitsamt den rauchenden Hölzchen kratzt er sich versonnen an der Backe. Dies ist nicht irgendein verlorener Kindertraum. Nein, das ist derselbe Schnuller, den seine Enkelin hatte!

Just geben seine Knie nach und er setzt sich auf die Stufe. Die Hände reiben gedankenverloren seine rechte Kniescheibe, der Blick klebt auf dem weißen Corpus Delicti. Was treibt dieser in seinem Vorgarten? Eines ist sonnenklar. Es ist nicht der Schnuller von seiner Enkelin. Sie geht inzwischen in die vierte Klasse und ihrer, falls ihn seine Tochter Victoria aufgehoben hat, schaut gewiss nicht so neu aus, wie dieser. Das Räucherstäbchen erlischt. Im selben Moment knarrt ein Brett am Gartenzaun. Erschreckt starrt er hinüber. Etwas Rötliches sitzt stocksteif auf den Hinterpfoten auf der Latte und schnuppert nach ihm. Ferdinand wird übel. Das Eichhörnchen von vorhin huscht in seinen Garten hinab, spurtet mit drei Sprüngen über das vertrocknete Beet und ist mit einem Satz auf der anderen Seite verschwunden. Wie elektrisiert schaut er ihm hinterher, springt auf, ignoriert das Stechen in seinem Knie und kickt den Schnuller mit dem Fuß weg. Im hohen Bogen fliegt er hinter dem Tier her. Die Hände auf die Brust gedrückt, zwingt er sich zum tiefen Durchatmen. Erst als er sich sicher ist, dass das Corpus Delicti nicht von Geisterhand wieder in seinen Garten zurückgeflogen kommt, dreht er sich der Haustür zu und verschwindet nach drinnen.