Silva - Sina Land - E-Book

Silva E-Book

Sina Land

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Beschreibung

Uralte Briefe, ein mystischer Wald und eine verschollene Frau. Welches Geheimnis verbirgt sich dahinter? Eine Dame, die mit Bäumen redet, ein Herr, der völlig in seinem Leid vergeht, und ein Rentnerehepaar; ihre Schicksale treffen im Café am Meer zusammen. Henriette und ihr Gemahl, Edgar, kuren jedes Jahr an der Ostsee. Ihr größtes Vergnügen besteht darin, die Eigenarten der anderen Gäste säuerlich zu kommentieren. In diesem Jahr bringen die Gerüchte um die mystische "Weiße Frau", die im nahen Gespensterwald ums Leben gekommen sein soll, weitere Ablenkung. Sie ahnen nicht, in welche Geschichte dieser Mythos sie verstrickt.

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Seitenzahl: 223

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Widmung

Für alle, die immer spüren, dass sie die Wahrheit nicht kennen und sie gerne herausfinden würden.

Ich wünsche euch, dass ihr eine gute Entscheidung für euch treffen könnt.

Inhaltsverzeichnis

Silvas Gedanken

Das Café am Meer

Silvas Brief

Die Bank

Silvas Brief

Das neue Buch

Silvas Brief

Der Gespensterwald

Silvas Brief

Jessica und Pit

Silvas Brief

Die „Weiße Frau“

Silvas Brief

Mythos versus Geschichte

Silvas Brief

Krankengymnastik

Silvas Brief

Erinnerung

Silvas Brief

Heiligendamm

Silvas Brief

Lagebesprechung

Silvas Brief

Analogie

Silvas Brief

Schwester und Bruder

Silvas Brief

Club der einsamen Herzen

Silvas Brief

Unbeantwortetes

Silvas Brief

Neutrale Erfahrung

Silvas Brief

Adrenalin

Silvas Brief

Bo -Lennard

Silvas Brief

Planlos

Silvas Brief

Gemeinsamer Abend

Silvas Brief

Unruhe

Silvas Brief

Lehrerin in Aktion

Silvas Brief

Redeschwall

Silvas Brief

Die brennende Frage

Jens Brief

Jessicas Schmerz

Jens Brief

Zu dritt

Jens Brief

Zerrissenheit

Jens Brief

Verdacht

Jens Brief

Vater-Tochter-Gespräch

Jens Brief

Vergangenes

Jens Brief

Wahrnehmungen

Sophie-Marlens Vision

Bilder

Sophie-Marlens Vision

Erkenntnisse

Sophie-Marlens Vision

Fäden

Sophie-Marlens Vision

Hangover

Sophie-Marlens Vision

Schachpartie

Sophie-Marlens Vision

Jessicas Wut

Sophie-Marlens Vision

Luft anhalten

Sophie-Marlens Vision

Autorally

Sophie-Marlens Vision

Jessica und ihr Vater

Sophie-Marlens Vision

Suche

Sophie-Marlens Vision

Die Wahrheit

Sophie-Marlens Vision

Briefe

Sophie-Marlens Vision

Gefahr im Verzug

Sophie-Marlens Vision

Polizeieinsatz

Sophie-Marlens Vision

Trauerfeier

Silvas Gedanken

Schaukeln

Silvas Gedanken

Es ist ungerecht, so aus dem Leben gerissen zu werden. Vor allem, wenn man gerade einen Neuanfang wagt. Ein solches Ereignis ist dermaßen verblüffend, dass man sogar dem liebevollen Licht widersteht, das sich einem in diesem Augenblick zuwendet. Es ist sonnenklar, dass man nur weiterzugehen braucht - doch es erscheint einem unmöglich. Die Seele hängt am Dasein. Das dringliche Gefühl, dass nicht alles erledigt ist, das Leben nicht am Ende steht, hält einen zurück. Man bleibt in einer Zwischenwelt gefangen. Die Hoffnung auf eine Chance, das Vorhaben doch noch zu beenden und in die Realität zurückzukehren, hindert einen daran, fortzuschreiten. Und urplötzlich steckt man zwischen den Welten fest, ist weder in der einen noch in der anderen handlungsfähig.

Das Café am Meer

„Schau nur, er sitzt schon wieder dort!“ Edgars weiße Haare stehen zu Berge. Der Ostseewind plustert sie auf und zerrt an ihnen herum, als gehören sie zu einem Wischmopp. Er starrt aus sicherer Entfernung hinter dem Mäuerchen auf der Terrasse durch die Fensterscheibe des Cafés am Meer, seine Augen fixieren einen Herrn, der an einer Kaffeetasse nippt.

„Wir können doch trotzdem hineingehen?“ Henriette, seine Gemahlin, schaut ihn auffordernd an. „Die weiße Frau aus meinem Buch hat dort zwar immer gesessen, aber ich nehme auch mit einem anderen Platz vorlieb.“ Sie zieht die Kapuze ihres Regencapes enger zusammen, um ihre Dauerwelle vor den heftigen Böen zu schützen. „Mir ist kalt und es fängt bestimmt gleich an zu regnen. Außerdem habe ich Hunger“, murrt sie.

Edgar verzieht das Gesicht. „Aber dann sehen wir heute wieder nicht aufs Meer hinunter. Und du immer mit deiner weißen Frau.“

„Vielleicht ist an den anderen Tischen am Fenster noch ein Platz frei. Wir müssen ja nicht unbedingt dort sitzen, wo Mister Rollkragenpulli gerade seinen Kaffee schlürft.“

„Was hat der Kerl hier überhaupt zu suchen? Soll er doch zum Italiener gehen. Da passt er besser hin. Der schaut genauso finster aus wie dieser Giovanni, der uns letztes Mal ewig keine Nachspeise gebracht hat. Mafioso. Der kommt bestimmt auch aus dem Süden“, brummelt Edgar und krault seinen massigen Bauchansatz.

„Meiner Käsesahne, die ich gerne essen würde, ist es schnuppe, ob er jetzt wie wir aus Bayern stammt oder aus Berlin, oder ob er hier in Nienhagen überwintert oder nur einen Ausflug macht. Die schmeckt zum Glück immer gleich. Und jetzt lass uns endlich reingehen, oder du musst mir einen weiteren Mantel kaufen.“

Edgar schaut sie finster an. „Der hätte doch auch zu einem anderen Zeitpunkt kommen können. Schließlich haben wir den Platz jetzt bereits seit drei Jahren inne, und das in jedem Winter.“

Sein Gemecker ignorierend reißt sie die Tür des Cafés auf. Eine wohlige Wärme empfängt sie, ihre Wangen brennen. Stefan, der Cafébesitzer, begrüßt sie im Vorbeigehen mit einem Lächeln. Henriette inspiziert den Kuchen auf den Tellern, die er geschickt zwischen den Sitzplätzen hindurchbalanciert.

„Wie ich es mir dachte. Nirgends ein Fensterplatz frei“, murrt ihr Ehemann.

„Dann nehmen wir eben den.“ Mit ihrem Ringfinger zeigt sie zu einem Tisch in der Ecke, dort, wo das Bild von der Fischerflotte hängt. „Da war die ‚Weiße Frau‘ auch mal gesessen.“ Zielgerichtet steuert sie auf den freien Platz zu und setzt sich demonstrativ mit dem Blick Richtung Fenster. „In der zweiten Reihe sieht man auch gut“, plärrt sie ihrem Gatten entgegen, der immer noch unschlüssig im Eingangsbereich an der Theke herumsteht. Mister Rollkragenpulli, der nur drei Ellen entfernt wie angegossen auf ihrem Stammplatz sitzt, hebt nicht einmal den Kopf. Er macht nicht den Anschein, als hätte er ihre unterschwellige Beschwerde gehört. Was für ein unmöglicher Kerl. Mit hochgezogener Augenbraue fixiert sie ihn. Als sie merkt, dass der sich trotz ihrer finsteren Blicke nicht beim Kaffeetrinken stören lässt, winkt sie mit hektischen Bewegungen ihren Gatten zu sich.

Die Creme klebt an ihrem Gaumen, sie zerdrückt die Sahne mit der Zunge und genießt den Moment, indem sich der Tortenboden in ihrem Mund von der geschmeidigen Auflage löst. Ginge es nach ihr, könnte man den Boden genauso gut weglassen. Schade, dass es hier nie Erdbeeren gibt, wenn sie ihren dreimonatigen Aufenthalt an der Ostsee verbringen, denkt sie. Blöd, dass Edgar für sein Asthma das raue Seeklima braucht, ansonsten würde sie Mallorca bevorzugen. Wärme, Sonne pur und vor allem Früchte in sämtlichen Variationen. Im Cocktail, im Tiramisu, auf der Schokotorte, im Pfannkuchen und ... im Eis.

Ihr Gemahl neben ihr rückt mit seinem Stuhl näher an sie heran und flüstert verstohlen: „Jetzt gibt er schon wieder den halben Kuchen zurück. Der Mann hat keinen Anstand.“

Mit müden Augen winkt Mister Rollkragenpulli den Kellner herbei und hält ihm wortlos seinen Teller entgegen.

„Ich würde ja nie was übriglassen“, kontert sie.

„Schon klar.“ Er winkt dem Kellner zu, und ohne etwas zu sagen, scheint der seine Bestellung zu verstehen.

Ihr süffisanter Blick durchbohrt ihn, dann aber lächelt sie vergnügt und klopft ihm auf sein Bäuchlein. „Du doch auch nicht, Schnurzelchen.“

Unsanft wischt er ihre Hand weg. „Kuchen kann mir gestohlen bleiben.“

Mister Kuchenbüffet, so wie sie den Kellner stets nennt, kommt mit einem Pils an ihren Tisch. „So, der Herr, hier Ihr kleines Bier anstatt des Kaffees. Darfs sonst noch was sein?“

Verschwörerisch schiebt Henriette die Kerze beiseite und lehnt sich zum Ober hinüber. „Eine weitere Anekdote von der ‚Weißen Frau‘ hätte ich gerne.“

„Aber Sie haben doch jetzt das Buch gekauft. Da steht alles drin, was es über sie an Mythen gibt.“

Ihr Gemahl schüttelt den Kopf und greift schleunigst ein anderes Thema auf. „Was soll das eigentlich mit dem Kühlschrank? Sie könnten doch viel mehr verdienen, wenn Sie die Sachen, die die Leute übriglassen, einfach wegwerfen, anstatt sie für die Gäste aufzubewahren.“

Der Ober schmunzelt ihn an. „Sehen Sie, genau deshalb. Wir wollen nichts wegwerfen. Die Schweine von Henner sind schon fett genug von all den Pizza- und Nudelresten, die Giovanni ihnen gibt. Unsere Gäste bekommen, für was sie bezahlt haben. So verschwinden eben alle Reste in den Kühlschrank. Die meisten sind froh, wenn sie am Abend eine weitere warme Mahlzeit bekommen, und wenn wir nur den Rest vom Mittagessen aufwärmen und ansprechend drapieren.“

„Braucht man da nicht eine Lizenz, oder sowas?“

Stefan winkt ab. „Haben wir alles geklärt und geregelt. Nach einem Tag kommt alles weg, was dann noch übrig ist. Und Ihnen hat der Fisch gestern doch auch geschmeckt.“ Er nickt in Henriettes Richtung.

Sie beißt sich auf die Lippen. „Ja, der war gut. Aber ...“ und atmet tief aus. „Wird denn da nichts verwechselt bei so vielen Gästen?“

„Selbstverständlich kennzeichnen wir alles akribisch. Da spuckt keiner ins Essen des anderen.“ Herzhaft lacht er. „Darfs denn jetzt noch was sein? Ich kann gerne den Rest für heute Abend in den Kühlschrank stellen.“ Er blinzelt sie verschwörerisch an.

Dankend lehnt sie ab, zügelt sich, obwohl ihr Bauch nach einem leckeren Bissen Apfelküchelchen schreit. Weil sie in die Sommerkleidung passen möchte, wenn sie wieder zuhause sind.

Edgar tätschelt ihre Hand, und sie legt die Speisekarte beflissen beiseite. Er nickt in Richtung Mister Rollkragenpulli, der gerade auf die Rechnung kritzelt. Unauffällig versucht sie sich zu verrenken, sieht aber nicht, was genau er schreibt. Dann steht er auf, legt sein Geld auf das Tablett, zieht seine Jeans mitsamt dem Gürtel hoch und verschwindet erst zur Garderobe und daraufhin aus dem Lokal. Verstohlen liebäugelt sie mit ihrem Stammplatz und starrt begierig von der Ferne auf das Geschriebene hinüber. Nur zu gerne würde sie den Platz wechseln, doch der Gedanke, dass sie sich auf die von ihm aufgewärmte Stelle setzen müsste, zähmt ihren Drang.

Silvas Brief

Mein Liebster, mein Abendstern,

ich habe versprochen, dir meine Tochter näher vorzustellen, damit du sie besser kennenlernst. Womit fange ich an? Am liebsten würde ich sie zu unserem Treffen mitbringen. Dann könntest du dir selbst ein Bild von ihr machen. Sie lediglich zu beschreiben, ist weit schwieriger. Dass sie mein ein und alles ist, weißt du, das brauche ich dir nicht zu schreiben. Ich lege dem Brief am besten ein Foto von ihr bei. Das sagt mehr aus als tausend Worte. Bin so gespannt, was du zu ihr sagst.

Einen allerliebsten Kuss

Dein Morgenstern

Die Bank

„Silva?“, flüstert Sophie-Marlen gedankenverloren, bekommt aber keine Antwort.

Wie angewachsen sitzt sie an der Klippe des Gespensterwaldes auf einer Holzbank. Der Wind zerzaust ihre halblangen Haare. Die dünnen Fransen, wirbeln ungezügelt durch die Luft. Versonnen schaut sie aufs Meer hinunter. Dort wo sich die Wellen an den Bohlen brechen, schäumen sie auf und sprudeln an ihnen entlang, bis sie im Sand auslaufen. Die Spuren, die sie hinterlassen, im Augenblick, wo sie sich zurückziehen, muten sie finster an, selbst wenn sie jede Unebenheit im Untergrund glätten und damit sämtliches Vorherige ungeschehen machen.

„Ungeschehen machen. Könnte man die Ereignisse nur ungeschehen machen“, flüstert sie.

Dieses Wellenspiel beruhigt ihre ständige Aufgewühltheit, just in dem Moment, in dem sie hierherkommt. Der Ort ist alles auf einmal für sie. Unruhe und Beruhigung, je nachdem, was sie braucht. Hektik und Gelassenheit im Wissen, dass die Vorgänge seinen größeren Sinn haben. Sehnsucht, die weder Ziel hat noch Erfüllung, weil es nichts mehr zu schaffen gibt, lediglich das Akzeptieren der Situation bleibt. Das Leben folgt seinen Lauf und oft hat sie erlebt, dass es keine Rücksicht darauf nimmt, wie die Menschen sich vorstellen, dass es zu sein hat. Ein langes Seufzen und sie atmet tief durch, wie sie es fortwährend macht, wenn die Umstände verwirrend für sie sind, oder die Gedanken sich nicht entscheiden, wo sie genau mit einem hinwollen.

„Silva, bist du hier?“

Die Luft ist kühl, doch sie friert nicht. Es war keine Zeit für einen Mantel, es drängte sie mit solch einer Intensität an den Ort des Geschehens, dass ihr Kleid zu reichen hatte. An die Schuhe hatte sie dennoch gedacht. Freilich läuft sie lieber barfuß, um den Boden unter ihren Füßen bis ins Detail zu spüren und zu wissen, wo sie hintritt, damit sie sich und niemanden anderen verletzt, aber heute ist es selbst ihr zu kalt dafür.

„Wie geht es dir im Moment, Silva?“

In sich gesunken verschließt sie die Augen. Aber kein Bild stellt sich in ihr ein. Die Füße zappeln, als würde sie auf einem Ameisenhaufen stehen und jede einzeln abschütteln. Diese Unruhe, lässt sie nichts Gutes erahnen. Die Seele von Silva fühlt sich an, als würde ein Mensch unstet vor ihr auf- und ablaufen, obwohl man ihm schon fünf Mal gesagt hat, er dürfe sich gerne setzen. Warum kommt sie nicht zur Ruhe? Immer, wenn sie versucht, sich in sie hineinzuversetzen, hat sie das Gefühl, den Pumuckl höchstpersönlich vor sich zu haben. Dabei hüpft ihre Wahrnehmung flatterig zwischen Wut und Verzweiflung hin und her.

„Warum nur bist du so unzufrieden, Silva?“

Ihre Finger nesteln am Ärmel des Kleides, suchen etwas und doch nichts. Einen Knopf zum dran drehen, einen Reißverschluss, der abzutasten ist, oder eine Falte, die dort nicht hingehört und sich glattstreifen lässt. Zermürbt öffnet sie die Augen. Das ist alles so durcheinander, zu wenig aufgeräumt, völlig unstrukturiert.

„Silva, kannst du mir nicht ein einfaches Bild schicken? Schlicht, ruhig, auf den Punkt gebracht?“

„Ich hätte da ein klitzekleines Problemchen ...“, haucht ein zartes Stimmchen neben ihr.

Ihr Körper zuckt, die Augen suchen nach der Unterbrechung. Das sind nicht die Energien von Silva.

„Wer hat ein Problem?“

„Ich“, hört sie ein kleinlautes Wispern. „Ein klitzekleines.“

Suchend sieht sie sich um. Zu den massigen und vom Wind verdrehten Bäumen um sie herum passt die Zartheit nicht. Dies ist kein Ton, lediglich ein Tönchen. Ihr Blick fällt auf ein winziges Bäumchen, gleich neben der Bank, der ausgewachsen offenbar eine Buche und damit Teil des mystischen Gespensterwaldes sein wird. „Ach, du bist es.“ Wohlwollend nickt sie. „Also eigentlich wollte ich gerade ...“ Ihr Zeigefinger deutet in die Luft, doch dort ist niemand zu sehen. Ihr Blick huscht zum Meer hinunter. „Silva, du kennst sie bestimmt. Ist ja hier ständig unterwegs. Findet keine Ruhe. Du weißt schon. Unglückliches Schicksal. Kann nicht loslassen. Belästigt euch wohl öfter hier?“ Ihr Finger wischt über den Ärmel, als wären tausend Blätter auf sie herabgefallen.

„Ja, das ist mein, nein unser klitzekleines Problemchen“, säuselt das Stimmchen.

„Tja ...“ Sie wischt sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Da kann ich euch nicht helfen.“ Ihre Mundwinkel zucken und sie schaut wieder aufs Meer hinaus, schüttelt vom Fuß eine imaginäre Ameise.

„So eine klitzekleine Reinigung vielleicht. Machst du doch bei meinen großen Geschwistern auch immer, wenn die Leute all ihre Sorgen hierlassen und sie völlig zugemüllt sind.“

„Ja, ja, kann ich. Was hat sie denn bei dir abgeladen?“

„Angst“, piepst er. „Und das kann ich gar nicht abhaben, das macht mich ein klitzekleines Bisschen nervös. Das ist, wie wenn diese blöden Käfer mal wieder über mich herfallen.“

Ihre Finger wischen an den Beinen herum, als müsse sie selbst ein wuseliges Getier vertreiben. „Kenne ich. Na gut, dann. Darf ich?“

Ihr Blick verweilt weiterhin auf dem weiten Meer. Mit den Händen formt sie eine Schale und murmelt in sich gekehrt vor sich hin. „Ana Aris Path Spiro, Imani Nion Rath.“ Jäh hält sie inne. „Du sperrst dich. Ich spür das ganz genau“, sagt sie, ohne die Augen zu öffnen. „Ich habe da einen Stopp.“

„Tschuldigung. Sowas hat noch nie jemand für mich gemacht“, wispert das Stimmchen kleinlaut. „Weiß ja gar nicht, was ich da machen muss.“

„Einfach nur offen sein?“

Ein Zischen erklingt, als würde jemand die Luft ausblasen. „Und wie geht das?“

„Na, stell dir vor es regnet und du brauchst dringend Wasser. Kann ich jetzt?“

Es ist still neben ihr.

„Seth Finiso, Bica Bostulo, Inab Aris.“ Sie wartet. „Besser?“

„Jo“, tönt es langgezogen an ihrer Seite. „Jetzt weiß ich endlich, warum die Großen das so lieben.“

„Bin noch nicht fertig. Seth Admorata Aris.“

Für sie fühlt es sich an, als würde das Bäumchen breit grinsen.

„Kann ich dann jetzt. Also mit Silva reden. Ich müsste da ... was klären.“

Nichts ist zu hören.

„Hallo! Kannst du mal aus der Leitung gehen. Ich hör sie sonst nicht. Ach ja, und Danke heißt Anash.“

„Anash“, säuselt es neben ihr. Das Bäumchen hört sich an, wie in einer Trance. Der kleine Kerl scheint zu genießen. Lächelnd wischt sie sich durch die Haare und verdrängt ihn aus ihren Gedanken.

Silvas Brief

Mein Liebster, mein Abendstern,

ich freue mich tierisch, dass dir das Bild von meiner Tochter so gefallen hat. Sie ist einfach eine süße Maus. Ich kann mir ein Leben ohne sie nicht vorstellen. Darum ist es mir so wichtig, dass du sie besser kennenlernst. Der Gedanke, dass ich nur mit einem von euch beiden zusammen sein könnte, lässt mich schwindlig werden. Aber das habe ich dir ja schon gesagt, dass es mich zerreißen würde, wenn ich mich für einen von euch beiden entscheiden müsste. Ich bin so froh, dass du mir versichert hast, dass dies nie der Fall sein wird und du sie gerne mit aufnimmst in deinem Herzen, obwohl du meine Tochter nicht einmal kennst. Ich habe große Hochachtung vor der Aussage, dass du dir sehr wohl bewusst bist, dass es mich nur im Doppelpack gibt.

Einen allerliebsten Kuss

Dein Morgenstern

Das neue Buch

„Liebste Henriette wärst du so gütig mir deine Aufmerksamkeit zu schenken?“ Mit griesgrämigem Ausdruck bestreicht Edgar sein Butterbrot mit Erdbeermarmelade. „Gibt es für dich denn nichts anderes mehr als Bücher?“

Das Ehepaar sitzt in der angemieteten Ferienwohnung beim Frühstück. Gebannt blättert Henriette auf die nächste Seite, den Blick stur auf den Text gerichtet. Gestern hat sie in der Buchhandlung in Kühlungsborn eine Lektüre über den Gespensterwald erstanden. Um dieses Stück Land ranken sich viele Mythen. Die Faszination nahm sie schon bei den ersten Zeilen gefangen.

„Gut, dann unterhalte ich mich halt mit meinem Butterbrot, wenn du geistig mit Abwesenheit glänzt.“ Scheppernd lässt er das Messer auf den Teller fallen.

Henriette schreckt hoch und fasst sich an die Brust. „Willst du, dass ich einem Herzinfarkt erliege?“ Sie mustert ihn. „Ist alles in Ordnung mit dir? Bekommst du wieder keine Luft?“ Sofort springt sie vom Stuhl auf und sucht nach dem Asthmaspray.

Beschwichtigend hebt er die Hände. „Was soll schon sein? Ich sitze hier und unterhalte mich mit mir selbst, während du dich in deinen Text verbeißt. Was gibt es denn so Interessantes? Willst du heute nicht frühstücken?“

Die Augenbraue hochgezogen, lässt sie sich zurück auf den Stuhl sinken. „Ach, du mein Armer. Ich weiß, der Bäcker hatte keine Semmeln mehr für dich zum Frühstück. Das ist schlimm, aber dafür gibt es heute ein weichgekochtes Ei. Du musst dich nicht grämen.“

Sein Gesicht färbt sich rot. „Ich ärgere mich nicht über den Bäcker. Mich nervt, dass ich für dich nicht existiere.“

Lächelnd tätschelt sie ihm seine Hand. „Du bist doch für mich immer das Wichtigste.“

„Kann ich dann für fünf Minuten deine Aufmerksamkeit haben?“

Wohlwollend blinzelt sie. „Was gibt es denn so Dringendes, dass meine Gruselgeschichten warten müssen. Es ist gerade voll spannend. Man könnte glauben, dass in jeder Ecke des Gespensterwaldes eine faszinierende Geschichte lauert. Ich muss da heute unbedingt hin. Wir wollten doch dieses Jahr eh unseren Mut unter Beweis stellen, wenn wir schon die letzten Jahre zu feige dazu waren.“

Edgar schaut gen Himmel. „Aber wir wollten doch nach Wismar fahren, solange es nicht wie gestern in Strömen regnet. Ich habe mich so darauf gefreut.“

Erneut tätschelt sie ihm seine Hand. „Das machen wir morgen. Ich bin so drin in der Geschichte, da brauche ich unbedingt live Anschauungsmaterial.“ Sie atmet tief durch. „Ich bin an der Stelle, an der Holger von Svendson im Wald diese Stimme hört.“ Ein Zucken durchfährt sie. „Stell dir vor, du stehst mitten im Wald und nimmst eine Stimme wahr. Das ist gruselig!“

„Ich verstehe dich nicht. Warum liest du das, wenn es so gruselig ist? Willst sogar dorthin? Das ist doch verrückt.“

Gleichgültig zuckt sie mit den Schultern. „Es ist eben gruselig und aufregend zugleich. Für meinen Geschmack verbringen wir hier zu viel Zeit mit herumsitzen. Höchste Zeit für ein Abenteuer.“

„Was ist so schlimm am Zeitung lesen? Du liest doch auch.“ Edgar protestiert und tippt mit dem Finger auf ihr Buch.

„Gar nichts. Aber wir erleben all die schönen Dinge nur in unserem Kopf. Ich will sie tatsächlich durchleben. Komm, sei kein Hasenfuß. Lass uns einen Spaziergang machen. Die letzten Jahre war der Wald jedes Mal gesperrt, weil das Ufer abgerutscht ist. Dieses Jahr haben wir zum ersten Mal die Gelegenheit dazu, ihn zu sehen. Das dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Die halbe Welt fährt hierher, um den Gespensterwald zu sehen, und wir haben ihn sogar direkt vor der Nase und schauen ihn aus Feigheit nicht an.“

Abwartend legt sie den Kopf schief. „Komm schon, wenn unsere Körper durchgelüftet sind, liest es sich auch gleich wieder viel schöner.“

Edgar brummt.

„Es ist höchste Zeit, uns unserer Angst zu stellen!“, triumphiert sie.

Er dagegen schüttelt den Kopf. „Aus dir werde ich mein Leben lang nicht schlau werden. Aber genau das liebe ich ja an dir.“ Seine Hand drückt die ihre.

Silvas Brief

Mein Liebster, mein Abendstern,

okay, ich versuche mal, deinem Wunsch nachzukommen, und schreibe dir, was meiner Tochter gefällt. Beginnen möchte ich mit ihrem Lieblingsbuch. Sie ist vernarrt in die Geschichte vom kleinen Waschbären, der nicht wusste, dass er etwas Besonderes ist. Meine Kleine ist auch außergewöhnlich. Natürlich würde das jede Mutter von ihrem Kind behaupten. Aber sie hat eine Eigenheit, die sie für mich einzigartig macht. Sie redet mit den Sternen. Das hört sich für dich gewiss seltsam an. Mir kommt es vor, als würde sie dort oben viel mehr sehen, wie ich. Als würde sie von dort oben Antworten bekommen. Wie auch immer, wenn du sie kennenlernst, wirst du es selbst erleben. Ich freue mich darauf.

Einen allerliebsten Kuss

Dein Morgenstern

Der Gespensterwald

Eine halbe Stunde später treten Henriette und Edgar vor die Tür. Ein Stück weg von der Küste ist der Wind erträglich und fühlt sich nicht so dermaßen stechend an, dass man das Gefühl hat, keine Luft zu bekommen. Die letzten Tage hat er extrem Gas gegeben. Je näher sie auf die Steilküste zukommen, umso intensiver wird er.

„Die Menschen haben sich allesamt in den Häusern verschanzt“, bemerkt Edgar knurrend. „Nur du musst bei dem Mistwetter raus.“

„Ist doch schön“, kontert sie. „Weder Miss Pelzkragen, noch Mister Sandale sind zu sehen. Wir haben das Meer und die Küste komplett für uns allein.“ Der Wind fegt ihr die Kapuze von den Haaren und sie zieht sie eilends zurück. Edgar amüsiert sich über sie, aber das mindert nicht annähernd ihre Abenteuerlust.

Am Zaun der Klippen angekommen, schaut sie fasziniert in die aufgeschäumten Wellen hinunter. Das Salzwasser peitscht an die Bohlen. Die Luft ist feucht und riecht nach Algen. Ein paar Möwen kreischen über ihren Köpfen und streiten sich um das, was die vereinzelten Besucher am Strand unten in den Mülleimer geworfen haben. Henriette lugt zum Wald hinüber, der sich gleich am Ende der Promenade eröffnet. Die Baumkronen biegen sich und das Geräusch der Wellen wird untermalt vom Rauschen der Blätter. Wie oft haben sie schon hier gestanden und dorthin geschaut, wo die kleine Absperrung für die Radfahrer ist. Genüsslich saugt sie die salzige Luft ein.

Edgar stellt sich neben sie. „Na, doch nicht so mutig, wie du gedacht hast?“ Schmunzelnd bindet er seinen Schal fester zu, den der Wind aus seinem Kragen entfesselt hat, und stopft ihn in den Mantel.

„Endlich mal was anderes!“, bestätigt sie sich mehr selbst, als ihm. „Bisher war jeder Tag gleich. Frühstücken, raus an die Luft, damit du deine Dosis Salzluft abbekommst. Mittagessen im Café am Meer, oder zumindest Kaffee und Kuchen am Nachmittag, dann Abendessen und Fernsehen. Für mich ein Buch. Für dich die Glotze. Das war es. Nein, mein Lieber. Dieses Jahr werden wir nicht jeden Tag dasselbe erleben!“ Trotzig reckt sie die Nase höher in den Wind. „Dieses Jahr gibt es ein Abenteuer. Ob du willst oder nicht!“

Edgar schüttelt ungläubig den Kopf. „Was ist so falsch an unserer Zeit hier?“

„Dieser Wald, hat unser Leben verändert“, zitiert sie eine Leserzuschrift aus der Zeitung.

Hustend angelt er nach seinem Taschentuch.

„Siehst du! Tagein tagaus nur Atemnot. Jetzt werden wir deiner Lunge einen Adrenalinstoß verpassen, sodass ihr das Husten vergeht.“ Kraftvoll reibt sie ihre klammen Hände und dreht sich mit vollem Entschluss dem Gespensterwald zu.

Bei der Absperrung für die Fahrräder schaut sie auf die kleine Hütte. Dort steigen sie normalerweise über die gefühlt tausend Treppenstufen hinab zum Meer. Demonstrativ sieht sie dorthin, wo die Bäume knarzen.

„Sei kein Hasenfuß“, stachelt sie Edgar an, der sehnsüchtig nach unten an den gewohnten Strand schaut. „Was soll schon geschehen?“

Wieder hustet er. Dieses Mal wohl mehr aus Verlegenheit. Wissend grinst sie.

„Es ist taghell. Solch ein Wald wird doch erst zum furchterregenden Monster, wenn die Dunkelheit über ihn hereinbricht.“

Ihr Mann mustert sie. Offenbar erwartet er, dass sie kneift. Aber diesen Triumph wird sie ihm nicht gönnen! Nicht heute, wo das Abenteuer auf sie wartet.

Die massige Brust hervorstreckend wagt sie einen Schritt durch die Absperrung hindurch.

Kopfschüttelnd folgt er ihr. Der Weg führt sie auf eine Märchenwelt zu, die aus verdrehten Baumstämmen und knarzenden Ästen besteht. Rechts und links biegen sich die Hüter des Waldes wie ein Tor, durch das sie zu schreiten haben.

„Du musst das nicht tun. Ich glaube dir auch so, dass du mutig bist“, lacht Edgar.

Henriette atmet tief durch, packt die Hand ihres Gatten und schreitet hinein in die Welt der Mythen.

Vom Wind zerborstene Buchen türmen sich neben ihr auf und begleiten sie. Augenblicklich ziehen die Böen nicht mehr an ihrer Kapuze, lediglich das Rauschen über ihr zeigt, dass sie hier zwar vor den Windstößen geschützt sind, er dennoch weiter an den Baumwipfeln zerrt. Edgar lässt sich mitziehen. Das gibt ihr das Gefühl, als hätte sie eine Leibgarde dabei. Das Surren in diesem Wald hört sich an, wie wenn ein Schwarm Killerbienen über sie hinwegfliegen würde. Ihr Körper ist angespannt bis in die Haarspitzen. Suchend hält sie Ausschau nach einem Lichtblick und starrt auf einen helleren Fleck. Der Boden unter ihnen ist aufgeweicht vom Regen der letzten Tage, das erschwert das Vorwärtskommen. Geschickt umschiffen sie die größeren Wasserpfützen und steuern auf eine kleine Lichtung zu, die den Blick auf das Meer freigibt. Wie in einen rettenden Hafen tritt sie nah an die lichtdurchflutete Kante, hält sich am Geländer fest und streckt den Kopf in den Wind. Das Rauschen am Strand gibt ihr just das Gefühl, als wäre sie vollkommen allein auf der Welt.

„Dann können wir ja jetzt umkehren“, atmet Edgar durch. „Ich finde, das war mutig genug.“

Henriette bläst die Luft aus und schaut an ihm vorbei und hinüber zur nächsten Lichtung. Ein Schrei entfährt ihr.

Schleunigst packt er sie an der Hand. „Was ist denn?“, fragt er mit leichter Schnappatmung.

„Da!“ Über seinen Arm hinweg und an der Küste entlang deutet sie auf einen weiteren lichten Platz. „Da sitzt jemand“, sagt sie außer Atem.

Edgar lehnt sich an das Geländer und kneift die Augen zusammen. „Wo?“

„Na da, auf der ...“ Sie verstummt. „Da war ... eben noch jemand gesessen. Ein Mann ...“