Tempa - Sina Land - E-Book

Tempa E-Book

Sina Land

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Beschreibung

"Heute Nacht darf nichts schieflaufen!" Die Uhr, sie tickt gnadenlos. Valentina hetzt im Schein einer einzelnen Laterne an den Bahnschienen entlang. Im Kopf das Bild, dass sie gleich an die Unterführung sprühen wird. Sie muss sich beweisen, es den anderen zeigen, was sie kann, es weiterbringen, als beim letzten Mal. Sie braucht, verdammt noch mal mehr Zeit! Ist es möglich sie anzuhalten? Valentina ist urplötzlich gezwungen sich mit der Rostocker Uhr auseinanderzusetzen. Hilft ihr ein tickender Zeiger das zu finden, was sie sucht? Ihren Vater?

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Seitenzahl: 256

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Widmung

Für alle, die gerne einen Moment lang die Zeit anhalten würden.

Ich wünsche euch,

viele schöne Momente,

in denen die Zeit stehen bleibt.

Inhaltsverzeichnis

Die Zeit

Die Uhr von Rostock

Selbstportait

Heiße Nacht

Zeit gewinnen

Frustgespräche

Zeit?

Vorahnung

Ein einziger Moment

Begegnungen

Zeit absitzen

Letzte Chance vertan

Abgelaufene Zeit

Deal

Zeit anhalten

Kirchenansichten

Vermisste Zeiten

Gottes Rückrufaktion

Zeiteinheit

Vorstellungsrunde

Zeit vergeuden

Mutteralltag

Zeit verrennt

Klosterzelle

Tickende Uhr

Randalierende Jungs

Verrückte Zeit

Eingesperrt

Drängende Zeit

Neuer Versuch

Die Uhr

Schutzpatron

Traum von der Uhr

Alte Freunde

Zeit auf Zeit

Strippenzieher

Zeit für Menschen

Schatten der Erde

Zeit egal

Julius als Mentor

Neue Zeit

Neue Aufgabe

Hilf mir Zeit!

Zweisamkeit

Zeit mit einem Vater

Tätig werden

Zeit miteinander

Fragen über Fragen

Zeit für den Alleingang

Vaterschaften

Zeit erwischt

Wahrheiten

Zeit des Wissens

Malen offiziell

Endlich Zeit

Prophet

Zeit der Euphorie

Sicherheit

Zeitblätter der Uhr

Verschwunden

Undurchschaubare Zeit

Eli, Eli, Eli

Zeit des Ausgleichs

Wendepunkt

Zeit zu handeln

Kalenderblatt

Zeit für Neues

Rührei mit Speck

Ausprägungen

Gleise

Zeit anhalten

Bahnhof

Zeit für euch

Gemeinsame Zeit

Zeit für Hubertus

Kater

Zeit für Rosemarie

Jungs

Sich Zeit nehmen

Dreisamkeit

Zeit für Steven

Geschenke

Zeit für Lou

Initiative Stricken

Zeit für Schwester Marcella

Hilfsaktionen

Zeit für Sheila

Der Unscheinbare

Zeit für Konstantin

Pilgerweg

Zeit für Gudrun

Im Garten

Zeit, sich zu freuen

Vatergespräche

Zeit für mich

Mitternacht

Zeit für Aufbruch

Pilgerreise

Neue Zeit

18. Geburtstag

Erwachsenenzeit

Familie

Elternzeit

Sechs Jahre später

Zeit angehalten

Die Zeit

Mein Leben ist getaktet

unausweichlich

durch Sekunden

Die Zeit wird knapp

frustrierend

die Minuten

Ich will mich messen

unbedingt

nur noch ein paar Stunden

Venz Rilke

Die Uhr von Rostock

„Die Rostocker Uhr ist die Jüngste ihrer Generation, aber sie tickt immer noch unablässig. Das hat sie schon getan, als Amerika noch gar nicht entdeckt war.“

Valentina sitzt im Gymnasium und hört ihrem Geschichtslehrer zu. Die Zeit des Unterrichts zieht sich wie der Kaugummi in ihrem Mund. Sie schiebt ihn hin und her, formt ihn, dehnt ihn zu einem langen Strang und beißt darauf herum, bis er wieder zu einem kleinen Paket geschrumpft ist. Wenn das mit den Stunden, Minuten und Sekunden nur ebenso möglich wäre, man sie ziehen, zusammenpressen und nach Belieben formen könnte. Dann säße sie jetzt hier nicht dumm herum, sondern wäre am Üben. Sie angelt nach dem Bleistiftstummel in ihrem Mäppchen, setzt gezielt Striche auf ihren Mitschrieb und übermalt die Buchstaben mit einem geschwungenen Herz. Im Moment, als der Lehrer in ihre Richtung schaut, zieht sie ihren Hut tiefer ins Gesicht. Den Zylinder hat sie am Jahrmarkt erstanden und seit ihren Sprayaktionen kommt für jedes erschaffene Graffiti eine Anstecknadel dazu. Morgen wird sie sich eine neue kaufen. Es ist jede Einzelheit geplant. Sie wäre fähig, sofort loszulegen. Hoffentlich läuft heute Nacht alles glatt.

„Sie ist ein besonderes Kunstwerk. Eines, das die Menschen seit Generationen fasziniert.“

Kunstwerk, murrt sie kaum hörbar. Ihre Graffitis sind Kunstwerke. Was interessiert sie die Geschichte einer Uhr? Der Wettbewerb ist wichtiger. Er entscheidet über Sieg oder Versagen, daran ändert die Zeit gewiss nichts.

„Hier sehen sie einen Vergleich der Uhren von Rostock, Lübeck und Wismar. Diese hier ist die älteste.“ Er deutet mit dem Pointer auf ein Bild an der Wand.

Valentina schaut weg. Dieses Jahr dreht sie eine Ehrenrunde, hat sich die euphorischen Ausführungen von ihrem Lehrer schon einmal reingezogen. Sie schaltet ab, während die Klasse in das Mittelalter abtaucht. Sie kritzelt mit dem Bleistift auf dem Anmeldezettel für den Wettbewerb herum. In dieser Nacht hält sie nichts mehr zurück. Üben ist angesagt! Noch 22 Tage. Da reichen keine schlichten Trockenübungen. Sie braucht sie live. Die Zeit bis dahin dürfte sich ruhig ziehen, wie ihr Kaugummi, jedes Training zählt. Stattdessen dehnt sich dieselbige im Unterricht in ungeahnte Längen. Mit genervter Miene zeichnet sie Ballons, vertieft den Dreh mit den Glanzlichtern und versucht sich in einer neuen Technik, um den Rand intensiver zu definieren.

„Das Besondere an dieser Uhr ist, dass sie mehrere unterschiedlichste Anzeigen vereint. Auf diesem Ziffernblatt zum Beispiel …“

Ihr Blick driftet hinüber zu Jonathan, in der Szene heißt er Jesse. Wut durchflutet ihren Körper. Sie drückt den Bleistiftstummel. Gedanklich tritt sie ihren Rivalen mit den Springerstiefeln. Die Stummelspitze bricht ab und fliegt wie ein Geschoss über den Tisch und zu ihrem Vordermann. Gernot schießt herum und schaut sie mit zusammengekniffenen Augen an.

„Loser“, zischt er durch die Zähne.

Valentina zieht ihren Hut ins Gesicht, um ihm ihre Anspannung nicht zu zeigen. Sie quetscht den Stift so fest, dass er bricht.

Gernot, in den heißen Nächten Grove genannt, schaut abfällig auf ihre Zeichnung. „Das ist nichts!“

In ihr kocht das Blut. „Blas dich nicht so auf. Ich beweise es dir, dass ich besser bin als du.“

Er zeigt ihr eine Geste, die besagt, dass er sich bei dem Gedanken übergeben muss und dreht sich zum Lehrer zurück.

„Anhand der Rostocker Uhr können sie sehen, dass die Handwerker damals wahre Meister ihrer Kunst gewesen sind. Sie haben versucht, all ihr Wissen in einem einzigen Bauwerk zu verewigen. Es vereint Mystik und Physik in ihrer Genialität“, schwärmt der Lehrer.

Valentina bläst ihre lange Strähne aus dem Gesicht, schluckt ihre Wut hinunter. Als der Pauker in ihre Richtung schwenkt, lächelt sie verbissen und wischt beflissen über ihren Stiefel, als wolle sie die weinrote Farbe aufpolieren. Dann setzt sie geübt einen hochinteressierten Blick auf und holt einen anderen Bleistift aus ihrem Mäppchen. Sie wird es Jesse und Grove beweisen, dass sie die Richtige für diesen Wettbewerb ist. Das Startgeld für das Festival, bei dem die Graffiti-Meister gekürt werden, ist hoch. Das können sich die beiden nicht alleine leisten. Nur gut, dass sie sich schon ein Jahr lang das Taschengeld dafür zurückgelegt hat, ansonsten wäre sie faktisch echt der Loser. Seit dieser schnöselige Sozialarbeiter beschlossen hat, ihre nächtlichen Eskapaden – so wie er es nennt – mit Taschengeldentzug zu kurieren, schmälern sich ihre Finanzen merklich, aber das Geld für den Wettbewerb hat sie nicht angerührt. Bisher sind ihre Erklärungen, dass sie üben muss, sie sonst keine Chance hat, in dieser Szene zu bestehen, nicht auf offene Ohren gestoßen. Er hat eben null Plan, dass Künstler ausgefallene Wege einschlagen müssen, um einmal groß rauszukommen. Es wäre ihr egal, was er denkt, aber er hat ihre Mutter fest im Griff. Leider glaubt sie alles, was dieser Supermensch ihr erzählt, selbst wenn sie bisher nur E-Mails von ihm bekommen hat. Außerdem ist sie Besitzerin eines Bioladens. Das besagt alles. Modern ist anders. Sie hängt wie Klebstoff an ihren Grufti-Ansichten. Die Klagen über Valentinas Outfit sind täglich Grund genug für sie, um auf Durchzug zu schalten. Mutter ist der Meinung, dass man eine Stoffhose nur beim Springreiten anzieht, aber nicht in der Schule. Ein Karohemd ausschließlich auf einer amerikanischen Ranch und nicht im bürgerlichen Deutschland. Und eine Weste ohne Ärmel gehört für sie in die dreißiger Jahre, nicht in die Moderne. Was hat sie schon Ahnung, was hip ist.

„Kommen wir zu den Unterschieden bei den heute üblichen Uhren. Wenn sie genau hinsehen, dann entdecken sie, dass diese nur einen einzigen Zeiger hat, dafür aber auf dem Ziffernblatt 24 Stunden angezeigt werden.“

Der Lehrer deutet auf einen im Bild vergrößerten Ausschnitt bei der 12.

Ich habe jetzt keine Zeit für die Uhr. Die Stunden sind begrenzt. Die Anmeldung muss morgen raus. Bis dahin sind Jesse und Grove zu überzeugen. Mit einem fahrigen Zickzack streicht sie ihre Zeichnung durch, zerknüllt frustriert das Papier und lässt den Kopf genervt auf die Hände fallen.

Selbstportait

Perfektion und Schnelligkeit

Venz Rilke

Heiße Nacht

Valentina schaut mit gehetztem Blick auf ihr Handy. Die Anzeige mahnt sie zum Wachbleiben. Sie nimmt einen intensiven Atemzug und schält sich unter der Bettdecke heraus. Ihr schwarzes Kapuzen-Shirt liegt vorbereitet am Boden. Die dunkle Jeans mit dem tiefen Schritt darunter. Sie schlüpft in die Klamotten, packt die Spraydose und tappt mit langsamen Bewegungen Richtung Zimmertür. Vorsichtig öffnend, späht sie in den Gang hinaus. Im Haus ist alles leise, trotzdem horcht sie angestrengt und mit voller Aufmerksamkeit, ob ein Geräusch von nebenan zu hören ist, bevor sie einen Fuß über die Schwelle setzt. Ihre Mutter scheint fest zu schlafen, es regt sich nichts im Zimmer neben ihr. Auf Zehenspitzen schleicht sie, mitsamt ihrer Dose in der Hand, die Treppenstufen hinunter. Sie sind aus Marmor und geben zum Glück keine Laute von sich. An der Garderobe greift sie sich die Turnschuhe und stellt sie hinaus ins Dunkle. Die Haustür ist stets ihre Herausforderung schlechthin. Sie geräuscharm zu schließen ist eine Kunst. Bei ihren letzten nächtlichen Ausflügen ist ihr diese zum Verhängnis geworden. Sie steckt den Schlüssel von außen ins Schloss, hält die Luft an, dreht ihn und zieht zu. Kein Krach. Der Verschluss schnappt lautlos zurück. Erleichtert atmet sie aus. Ein erster kleiner Sieg ist errungen. Draußen verschwindet sie strumpfsockig, mit den Schuhen in den Händen auf die Straße und hinter die Büsche, um sich Mutters Blickfeld zu entziehen. Dann schlüpft sie hinein und läuft ihrer Mission entgegen.

Valentina hastet an den leerstehenden Häusern neben dem Bahnhof vorbei. Auf der Straße ist niemand zu Fuß unterwegs. Nur vereinzelt ziehen Autos an ihr vorüber. Trotzdem stört Valentina es, sie hat keine Lust darauf gesehen zu werden. Kurzerhand beschließt sie, ihre Abkürzung über die Gleise zu nehmen. So wird sie sogar vor Jesse und Grove eintreffen und somit früher dran sein, das verschafft ihr einen Vorsprung. Heute wird sie es ihnen beweisen, dass sie die Beste ist. Sie brauchen sie, daran werden sie nach dieser Aktion nicht mehr zweifeln. Sie hätte gerne mehr Möglichkeiten, um zu Üben. Aber die passenden Locations zu finden, ist schwierig und man setzt sich ständig der Gefahr von Sozialstunden aus. Auf Papier trainieren, ist eine mickrige Variante. Extrem routiniert wird man nur beim Sprühen und das auf verschiedenartigsten Untergründen. Das ist wichtig. Im Wettbewerb weiß keiner vorab, was einen genau erwartet. Sie bleibt am letzten Gleis stehen und hält Ausschau nach dem Nachtzug. Ein Schimmer ist zu sehen. Shit! Wenn sie jetzt losrennt, läuft sie mitten in den Lichtkegel hinein. Die Streugutkiste! Eilig öffnet sie den Plastikdeckel und ist erleichtert, neben dem kleinen Rest Kies Platz zu finden. Sie springt leichtfüßig in den Innenraum und zieht den Deckel über sich zu. Dann verharrt sie im Dunklen, lauscht den Geräuschen des nahenden Zugs. Es darf heute Nacht nichts schieflaufen, konzentrier dich, mahnt sie sich. Der ICE rauscht vorüber und sie hält den Atem an. Die Kiste wackelt vom Sog, den der Zug erzeugt. Betend hofft sie darauf, dass ihre Behausung dem standhält. Als das Wackeln endet und das Rauschen vom ICE verstummt, atmet sie erleichtert aus, reißt den Deckel auf und schnappt nach Luft.

„Weiter“, treibt sie sich an. „Ich brauche Vorsprung.“

Zeit gewinnen

Zeit, was ist sie?

Ich brauche Zeit

Zeit, wie ist sie?

Ich brauche mehr als die anderen

Zeit, wo ist sie?

Ich brauche sie zurück

Venz Rilke

Frustgespräche

„Du schaust müde aus.“ Julius beobachtet Rainer-Maria nachdenklich über seinen Küchentisch hinweg.

„Stress in deinem Sozialarbeiterjob?“

Er brummt.

„Willst du noch was trinken? Was Alkoholisches? Anstatt Wasser?“

Rainer-Maria schüttelt den Kopf. „Ach, ich weiß auch nicht, diese Jungspunde werden immer dreister. Heute gehört es fast schon zum guten Ton, dass man als junger Erwachsener bei seinem Unieinstieg einen Porsche geknackt hat, oder zumindest sich den von seinem Vater für ein nächtliches Rennen ausgeliehen hat. Man könnte gerade meinen, die Jugend verfällt zurück in die Zeiten von James Dean.“

„Vielleicht siehst du das zu extrem. Die jungen Leute haben sich in jeder Zeit ausgetobt. Das ist es doch, was diesen hormongesteuerten Lebensabschnitt ausmacht. Du redest, als hättest du unsere eigenen wilden Zeiten völlig verdrängt.“

Rainer-Maria murrt. „Aber muss man dabei immer gleich mit einem halben Fuß im Knast stehen?“

Julius verzieht das Gesicht. „Hast gerade wieder einen auf dem Kieker?“

Er schaut seinen Freund mit finsterem Blick an. „Du bist witzig. Auf dem Kieker. Kurz vor dem Erwachsenwerden haben sie das letzte Mal die Chance, die Gleise für ihr Leben neu zu justieren. Wenn sie erst einmal im Knast gesessen sind, dann wird es schwierig.“

„Dass ihr Sozialarbeiter aber auch immer jeden vor sich selbst retten müsst. Sieh es doch ein. Manche wollen gar nicht gerettet werden. Und das betrifft jede Schicht. Es ist egal, ob die Grünschnäbel aus der Gosse kommen, oder ein Abitur in der Tasche haben. Daran wirst auch du nichts ändern.“

„Es ist irgendwie, als würde mir die Zeit davonlaufen. Die Kleine zum Beispiel, von der ich dir erzählt habe. Sie wird bald achtzehn. Ab dann gelten die härteren Strafen und es ist kein dummer Streich mehr, wenn sie die Wände mit Graffiti beschmiert.“

„Meinst du die mit dem Zylinderhut?“

Er nickt. „Sie ist schon ein paar Mal dabei erwischt worden. Wenn sie der Polizei ein weiteres Mal ihre Handschrift hinterlässt, wandert sie bei Volljährigkeit in den Knast. Verstehst du? Die Zukunft ist in diesem Moment verbaut. Mir brennt die Zeit unter den Nägeln. Sie braucht eine Richtungsänderung, bevor die Polizei sie erneut erwischt, und ich habe keine Ahnung, was ich noch tun kann, um sie von einer Richtungsänderung zu überzeugen.“ Er lässt frustriert den Kopf hängen.

Julius nickt. „Du hörst dich an, als wärst du ihr Vater.“

Gequält verzieht er das Gesicht. „Scherzkeks! Hör auf damit. Du weißt genau, dass ich keine eigenen Kinder habe und sicher bin, dass mein Erbgut nicht in ihren Adern fließt. Es fühlt sich nur manchmal so an, als würde all der Einsatz nichts bringen. Es ist doch mein Job, den jungen Leuten zu zeigen, dass es andere Wege gibt, als straffällig zu werden.“

„Job ja, aber das Mädel scheint dir schon besonders am Herzen zu liegen.“

Rainer-Maria weicht seinem Blick aus, schiebt den Stuhl vom Tisch zurück und steht auf.

„Du, ich muss morgen raus. Ist schon fast halb drei. Die schweren Jungs nehmen keine Rücksicht darauf, wenn ich mich die Nacht zuvor bei meinem Freund ausgeheult habe.“

Julius begleitet ihn zur Haustür. „Zum Glück ist es meinen Fresken egal, ob ich ausgeschlafen bin, oder nicht.“ Er lacht heiser.

Zeit?

Alte Zeit

Neue Zeit

Verbindende Zeit

Venz Rilke

Vorahnung

Auf seinem Weg nach Hause ist Rainer-Maria froh über frische Luft und Bewegung. Von einer inneren Unruhe getrieben, beschleunigt er seinen Schritt. Die schummrigen Lichter vom Bahnhof gegenüber erhellen seinen Weg. Es sind keine Menschen mehr unterwegs, nur ein Polizeiauto fährt auf der anderen Seite Streife, um die Obdachlosen einzusammeln. Das einzige intensive Geräusch ist das Knirschen des Kieses unter seinen Sohlen. Er nimmt die Abkürzung am Bahndamm entlang. Die Gedanken, um das Mädchen Valentina lassen ihn nicht los. Venz nennen sie die Leute der Szene. Dieser seltsame zylinderartige Hut, wie aus dem Mittelalter und die Reiterhose dazu. Alle kuriosen

Einzelheiten ergeben dennoch einen eigenartigen, in sich stimmigen Stil. Sie ist offenbar selbst ein Graffiti, das sie kreiert hat. Warum liegt ihm ausgerechnet ihr Verhalten so im Magen? Julius hat Recht, sie ist nicht seine Tochter und doch bekommt er ihre Geschichte nicht aus dem Kopf. Sie sagte etwas von „Künstler brauchen Freiraum, um zu Üben“. Hoffentlich hat sie damit nicht ihre nächste, schon geplante Spray-Aktion gemeint. Bizarr getrieben von einer inneren Ratlosigkeit und dem Gedanken an ihr uneinsichtiges Verhalten, legt er erneut an Tempo zu. Er kommt ins Schwitzen, öffnet den Reißverschluss seiner Jacke. Falls sie dabei ist einen neuerlichen Graffiti-Feldzug zu planen, hat er keine Möglichkeit, es ihr auszureden.

Als er um die Ecke biegt und auf die Unterführung zusteuert, beschleunigt sich sein Puls. In der Ferne sieht er drei dunkle Gestalten. Sie stehen an der Mauer vom Elektrohäuschen. Sein Herz rast. Sie hantieren – er hält die Luft an – mit Spraydosen. Er stoppt, überlegt. Es scheint, als würde er die Sprayer just in Aktion ertappen. Sein Blick scannt mit zusammengekniffenen Augen die Situation ab. Sein innerer Kritiker fordert Gerechtigkeit, drängt ihn, einzugreifen, sie daran zu hindern, öffentliches Eigentum zu beschädigen.

„Aufhören“, brüllt er und rennt los.

Gehetzte Blicke treffen auf ihn. Zwei heben etwas vom Boden auf und rennen los.

Seine Beine sind schnell. Er nähert sich, hofft darauf, einen von ihnen zu erwischen. Seine Kondition ermöglicht ihm einen Sprint. Da dreht sich die dritte Person um. Sie ist kleiner und zierlicher, als die anderen, die bereits hinter den Büschen verschwunden sind. Er fixiert die letzte, starrt in ein fahles Gesicht und stutzt. Die lange Strähne! Einen kurzen Moment friert seine Bewegung ein. Ihre Blicke treffen sich. Er hat es geahnt. Valentina!

„Shit“, kommt es ihm entgegen. Sie lässt die Dose fallen und rennt Richtung Bahnhof.

Die Polizei, schießt es ihm durch den Kopf. Bitte nicht! Er spurtet ihr hinterher, um sie vor den Amtsträgern zu erwischen. Wenn er versagt, dann ist sie fällig, daran ist nichts zu rütteln. Eilends beschleunigt er seine Schritte. Sie fordern seine letzten Kraftreserven. Doch das Mädchen ist schnell. Sie wirft die Dose in seine Richtung und biegt abrupt in einen Trampelpfad mit hohem Gras ein, nimmt Kurs auf die Gleise. Er weicht aus. Ihm wird heiß.

„Nein“, schreit er voller Verzweiflung. „Bleib stehen.“

Er hört einen Zug aus der Ferne und fordert den letzten Rest seiner Kondition ein. Die Lichter der Lok erleuchten Valentinas Gesicht, er sieht ihr Entsetzen. Im selben Moment erwischt er ihren Ärmel, reißt an ihr, zieht sie zu Boden, wirft sich mit seinem ganzen Gewicht auf ihren Körper und drückt sie ins Gras. Just in diesem Augenblick rauscht der Zug vorbei, der Sog zerrt wie eine Furie an ihnen. Es kostet ihm alle Kraft, um dem standzuhalten.

„Der ICE“, keucht er und ihre beiden Lungen ringen nach Luft.

Als der letzte Wagon vorüber ist, lässt er sich erschöpft zur Seite rollen. In diesem Moment ist es ihm egal, ob sie davonläuft. Hauptsache, der Zug hat sie nicht überrollt. Er atmet schwer, presst seine Hand in die Rippen, um das Stechen zu beruhigen, und drückt sich behäbig zum Sitzen hoch.

„Bist du in Ordnung?“, fragt er Valentina atemlos.

Sie bewegt sich nicht, aber er hört sie schluchzen. Ihr Körper zuckt. Er schiebt sich zu ihr und berührt behutsam ihren Rücken. Da schießt sie hoch und schaut ihn an, als hätte er vor, sie zu vergewaltigen.

„Rühr mich nie wieder an“, brüllt sie aus Leibeskräften.

Er ist so geschockt, dass er abrupt von ihr wegrutscht. Wie paralysiert rappelt er sich auf, stellt sich hin. Seine Beine geben nach, er taumelt rückwärts. Ohne Plan starrt er sie an. Ihr scheint es ähnlich zu ergehen, ebenso unwissend, was zu tun ist. Dann aber kommt ihm ein einziger klarer Gedanke: Die Spraydose. Er tappt einen weiteren Schritt zurück und sagt mit gebührendem Abstand:

„Hör zu, ich möchte nur wissen, ob alles in Ordnung ist mit dir.“

„Hau ab“, schreit sie.

„Ist ja gut. Ich hole jetzt die Dose. Darauf sind deine Fingerabdrücke. Du weißt, was das bedeutet. Ich behalte sie, bis morgen Nachmittag. Du kommst nach der Schule in die Sozialstation und wir reden miteinander, wie es mit dir weitergeht.“

„Verdammter Mistkerl“, brüllt sie unter Tränen.

„Ich gebe die Dose nicht weiter, solange du Morgen auftauchst und deine Bereitschaft im Handgepäck hast, etwas für dich zu tun.“

Sie schreit ihm unkontrolliert Schimpfwörter entgegen, während er zurück zur Sprühdose humpelt.

„Und hör auf zu schreien. Die Polizei ist drüben am Patrouillieren.“

Sie verstummt und flüchtet in die andere Richtung.

Ein einziger Moment

Nur ein einziger Moment

Unachtsamkeit

Nur ein einziger Moment

Langsamkeit

Nur ein einziger Moment

Die Sekunde hat dich besiegt.

Venz Rilke

Begegnungen

Der Pfarrer bleibt am Eingang der Sankt-Michaelskirche stehen und bekreuzigt sich. Vereinzelt tummeln sich Leute in den Gängen. Er lässt die Größe des Innenraums auf sich wirken, sucht nach dem normalen Aufbau einer Kirche und ist ratlos, als er auf die Bankreihen schaut, die sich alle in der Mitte treffen. Sein Augenmerk gilt der anatomischen Uhr, vor der sich die Pilgergruppe zur Vorbereitung auf ihre Reise täglich trifft. Er wird nicht fündig, bei seiner Suche. Intuitiv hätte er erwartet, dass sie im Hauptschiff bei der Orgel steht, aber in dieser Kirche scheint alles anders zu sein, wie er es von einem Gotteshaus gewohnt ist. Er schreitet andächtig durch die Gänge, schaut nach Seitenaltären, findet jedoch dort nur Grabstätten von Adeligen. Sie haben im Mittelalter den Aufbau des Gebäudes mit ihren finanziellen Mitteln unterstützt. Auf dem Boden ist in jede Steinplatte ebenfalls eine Inschrift gemeißelt. Als ihm bewusstwird, dass auch unter seinen Füßen lauter letzte Ruhestätten liegen, mutiert er zum kleinen Jungen und versucht, die Platten zu umschiffen, was bei der Menge an Beschriftungen ein Ding der Unmöglichkeit darstellt. Letztendlich läuft er auf den Lüftungsgittern. Dort fühlt er sich am wohlsten. Beim hintersten Seitenschiff, sinniert er darüber, ob er die Größe der Uhr überschätzt und sie übersehen hat. Er überlegt sogar, ob dies die richtige Kirche ist. Da sieht er einen Mann mit Latzhose und Staffelei.

„Entschuldigen Sie lieber Bruder, ich suche die anatomische Uhr. Ich betreue normalerweise eine andere Pfarrgemeinde. Bin ich hier richtig?“

Julius nickt. „Sie stehen fast davor.“ Er zeigt um die Ecke.

„Hinter dem Altar?“, fragt der Pfarrer erstaunt.

„Die Menschen wussten schon damals, wie sie ihre Schätze zu schützen haben. Indem man sie nicht präsentiert. Während des Kriegs haben sie ihr Kunstwerk sogar eingemauert, damit es keiner findet und sie nicht Schaden nimmt.“

Der Pfarrer macht ein paar Schritte um den Aufbau herum und ist überwältigt von ihrer Größe und Schönheit. „Jetzt kann ich verstehen, dass die Pilger unbedingt hier ihre Vorbereitung und Aussegnung haben wollen. Ich dachte, ich könne sie ebenso über diesen Zeitraum in unserer Kirche begleiten. Innenschau bleibt Innenschau, egal, ob man unter einem Baum steht, oder in einem Beichtstuhl sitzt.“

„Oder vor einer Uhr steht“, murmelt Julius.

Der Pfarrer nickt und versucht sich einen Überblick zu verschaffen.

„Das kann man nicht alles auf einmal erfassen“, lacht der Restaurator. „Die damaligen Erbauer haben sich alle Mühe gegeben, das gesamte Wissen der damaligen Zeit in dieser Uhr zu verstecken. Sie mag die jüngste ihrer Art sein. Aber sie ist diejenige, die am längsten ununterbrochen tickt. Als Kolumbus unterwegs war, hat sie schon die Zeit in Einheiten geteilt und seitdem nie wieder damit aufgehört. Wir mussten sogar schon einmal die Anzeigescheiben auswechseln. Die erste lief von 1885 - 2017. Seitdem gibt es die neue. Dort unten steht die alte.“ Er zeigt auf eine Aufstelltafel.

Der Pfarrer ist überfordert mit der Menge an Informationen und Eindrücken. Die Figuren, die Scheiben, die Tierkreiszeichen, die Evangelisten. „Tja“, sagt er. „Wo fange ich da an, mit meinen Schäflein einzusteigen? Da wird uns die Vorbereitungszeit von zehn Tagen nicht reichen.“

„Was machen Sie denn da genau? Wird das so eine Art Meditation?“, fragt Julius und lehnt sich an seine Leiter.

Der Pfarrer schüttelt den Kopf. „Lassen Sie mich von vorne anfangen. Ein paar Schäflein meiner Gemeinde wollen den Jakobsweg erleben, auf ihm zu sich selbst finden und letztendlich auch zu Gott. Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Sie haben mich gefragt, ob ich sie ein wenig einstimmen und vorbereiten würde. Zehn Tage lang, wollen sie sich, bevor sie losgehen, hier vor der Uhr treffen und sehen, was die Zeit mit ihnen bisher gemacht hat. Sie alle sitzen gefühlsmäßig in einer Sackgasse, würde ich sagen. Die Vorbereitung hilft ihnen vielleicht, die Zeit zurückzudrehen oder sogar für einen Moment anzuhalten.“

Julius schaut ihn mit großen Augen an. „Wie kann man denn die Zeit zurückdrehen?“, fragt er den Pfarrer mit hochgezogener Augenbraue.

„Rein physisch natürlich nicht, aber seelisch schon. Sie haben alle mit etwas zu kämpfen, das in der Vergangenheit ihren Ursprung hat. Dem wollen sie sich annähern, hinsehen, hinspüren, sich die Dinge bewusst machen.“

„Und was bringt das? Ich denke, die Vergangenheit kann man nicht verändern. Was macht es dann für einen Sinn in ihr herumzuwühlen?“

Der Pfarrer nickt in sich gekehrt. „Die Wege unseres Herrn sind unzählig. Wenn man eine Abzweigung verpasst hat, kommen neue auf einen zu. Die Zeit heilt nicht nur Wunden, sondern bringt auch neue Chancen.“

Julius kratzt über seinen Dreitagebart, scheint aber die Bedeutung nicht zu verstehen.

„Sehen Sie, mein lieber Bruder. Jeder hat in der Vergangenheit schon mal eine Abzweigung verpasst. Der Herr führt sie in der Zeit zurück und lässt sie neu entscheiden. Sie dürfen neu wählen. Und dafür sind wir hier. Hier vor dieser Uhr der Zeitlosigkeit.“

Der Pfarrer stellt sich mit gefalteten Händen an das Geländer und kniet nieder für ein Gebet. Julius lässt er zurück. Der steigt die Leiter hoch und widmet sich der Lukasfigur, schleift an seiner Kleidung.

Er versinkt in ein Dankgebet, hält eine Idee fest, bekreuzigt sich, steht auf und schreitet zu ihm zurück.

„Mein Bruder, Sie brauchen nicht zufällig jemanden, der Ihnen zur Hand geht beim Restaurieren?“

Julius kratzt sich am Kopf. „Lehrlinge sind schwer aufzutreiben“, sagt er. „Aber Arbeit hätte ich genug.“

„Vielleicht hilft Ihnen einer der Pilger die nächsten Tage ... körperliche Arbeit ist eine gute Grundlage, um die Zeit anzuhalten und neue Wege zu gehen“, sinniert er nachdenklich. Mit „Gott zum Gruße“, lässt er ihn stehen und nimmt diesen Gedanken innerlich mit.

Zeit absitzen

Ich will keine Zeit im Knast verbringen

Das ist Zeit

Die ich nicht habe

Ich brauche Zeit für meine Kunst

Das ist Zeit

Um sich zu spüren

Venz Rilke

Letzte Chance vertan

Rainer-Maria sitzt in seinem Büro der Sozialstation. Es fällt ihm schwer, sich auf den Bürokram zu konzentrieren. Die Welle der Schüler vom Gymnasium ist vor ein paar Minuten am Fenster vorübergezogen. Sie rollt stets eine halbe Stunde zeitversetzt zum Schulschluss vor seiner Nase vorbei. Nur von Valentina ist nichts zu sehen. Er steht auf, dreht sich weg vom Schreibtisch, trottet zur Fensterscheibe hinüber, öffnet sie und schaut in alle Richtungen. War es ungeschickt, sie gestern Nacht laufen zu lassen? Im Moment, indem sie um ein Haar der Zug erfasst hätte, dachte er, ihr ist klar, dass ihr Ultimatum mit dieser Aktion abgelaufen war. Kommt sie deswegen nicht?

Seine Hände klatschen auf den Fenstersims. „Mensch Mädchen. Mach dir doch nicht dein Leben kaputt“, schimpft er ungehalten. Er reibt sich unsanft über die sommersprossige Nase, als könne er damit seinem Gehirn beim Analysieren helfen. Wenn sie heute nicht bei ihm auftaucht, bleibt keine andere Wahl, als zu handeln. Alles in ihm sträubt sich dagegen, sie der Polizei auszuliefern. Aber nur, um sie zu schützen, einen Bericht zu fälschen, würde ihm seinen Job kosten. Das ist ein zu hoher Preis. Er wundert sich, dass er diesen Gedanken überhaupt als Möglichkeit in Betracht zieht, sind ihm die Abläufe in seiner Arbeit ansonsten heilig. Bei jedem, der Jugendlichen und jungen Erwachsenen schöpft er alles aus, was das Gesetz zulässt, um sie vor einer Haftstrafe zu bewahren, doch über diese Grenzen hinaus würde er seinen eigenen Kopf riskieren.

Er läuft zu seinem Schreibtisch zurück, nimmt ihre Akte und schaut auf das Geburtsdatum. Noch würde sie dem Jugendrichter vorgeführt werden, was die bessere Alternative ist, als nach dem Erwachsenengesetz verurteilt zu werden. In ein paar Tagen hat sie Geburtstag. Da bleibt nicht viel Spielraum. Er blättert in der dicken Akte herum und schüttelt beständig den Kopf. Was treibt sie nur, immer wieder in das alte Schema einzusteigen? Es kommt ihm vor, als triebe sie irgendetwas Unsichtbares an, sich zu beweisen. Wenn sie nur mit ihm reden würde. Er knallt den Ordner auf den Tisch und läuft aus dem Zimmer zu seinem Kollegen nebenan, um sich von ihm einen Rat zu holen.

Kurz vor Feierabend ist Valentina immer noch nicht aufgetaucht. Der Rat des Arbeitskollegen klingt nach. „Lass den Dingen seinen natürlichen Lauf. Manchmal brauchen sie einen größeren Denkzettel.“ Doch er wehrt sich gegen diese Worte. Aus Verzweiflung ruft er den Seelsorger des Viertels an, um mit ihm zu reden. Er schildert ihm die Lage.

„Ich habe da keinen passenden Rat für Sie. Gottes Wege sind anders, als die Gesetze des Staates. Wenn ein Schäfchen in meiner Gemeinde sich verirrt, habe ich die Erfahrung gemacht, dass es weitaus dienlicher ist, sie in den Dienst ihrer Mitmenschen zu stellen. Das wirkt manchmal Wunder. Aber diese Möglichkeiten haben Sie nicht, oder?“, haucht der Pfarrer ins Telefon.

„Es gibt die Sozialstunden, die Jugendliche in gemeinnützigen Einrichtungen abarbeiten. Diese Option ist leider bei ihr schon verstrichen. Die letzten hat sie im Kindergarten abgeleistet. Die Erzieherinnen waren alle zufrieden. Sie ist ein umgänglicher Teenager, ... wenn es nicht um die Graffitis geht. Da ist sie, wie ausgewechselt.“

„Ja, manche Schäflein haben zwei Seiten und nicht immer entscheiden sie sich für die lichtvolle und landen tief im Schatten ihrer selbst.“

Rainer-Maria ist schwer ums Herz. „Sie zieht es wohl mehr auf die dunklen Straßen.“

„Das tut mir leid. Ich könnte Ihnen im Moment nicht einmal ein Projekt anbieten. Wir sind gerade voll ausgelastet mit den Pilgern. Aber wenn ich mich irgendwie einbringen kann, dann lassen Sie mich es wissen.“

Er bedankt sich, da klopft es an die Tür und sie öffnet sich einen Spalt. Sein Blick fällt auf einen weinroten Springerstiefel und eine beigefarbene Reiterhose.

„Vielen Dank Herr Pfarrer. Ich lass es Sie wissen.“ Mit den Worten legt er auf, ohne die Verabschiedung seines Gegenübers abzuwarten.

„Valentina“, sagt er atemlos. „Du hast mich ganz schön zappeln lassen.“

Sie schiebt ihren Hut aus dem Gesicht und quetscht sich durch die Tür, als wäre es ihr wichtig, nicht gesehen zu werden. Sie drückt die Tür leise ins Schloss, dreht sich zu ihm, ohne ihn anzusehen, steckt die Hände in die Hosentaschen und läuft entschlossen auf seinen Schreibtisch zu. Dann lässt sie sich in den leeren Stuhl fallen.

Rainer-Maria öffnet den Schrank, holt die Sprühdose heraus und stellt sie mittig auf den Tisch.

Ihr Blick fixiert das Karohemd, das unter ihrer ärmellosen Weste hervorschaut.

Er setzt sich ihr gegenüber an seinen Arbeitsplatz und blickt sie mit bemüht gelassenen Zügen an.

„Das war deine letzte Chance“, sagt er und ringt mit sich, um gefasst zu klingen.

Sie sieht ihn nicht an. Zupft an einem Faden herum.

„Dir ist klar, was jetzt passiert?“

Sie zuckt mit den Schultern. „Knast?“ Ihre Stimme klingt absolut nicht lässig, sondern gebrechlich, wie bei einer alten Frau. Das bricht ihm das Herz und er braucht eine Weile, sich in den Griff zu bekommen.

„Sage mir wenigstens, warum du das gemacht hast. Du wärst um ein Haar dabei drauf gegangen. Ich hoffe, das ist dir klar?“