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Piraten, Freibeuter, Buccaniere - sie schäumten die Meere und tun es wohl auch immer noch, wenn auch die heutigen Vertreter dieses Seewerks nicht so sehr unseren Sinn für Romantik und Abenteuer erregen, wie es etwa Klaus Störtebeker und Konsorten taten und tun. Doch wer meint, dass die Seeräuberei eine rein männliche Domäne , irrt, es gab einige sehr erfolgreiche Frauen in diesem Beruf, wie etwa Grace O'Malley. Ihr irischer Landsmann David Slattery geht sogar so weit zu erklären, seiner Meinung nach sei die Piraterie ein Frauenberuf. Weshalb er uns in seiner Geschichte mit einer Piratenkönigin bekannt macht, und sie ist wahrlich nicht die einzige in unserer Sammlung. In dieser Anthologie finden sich sowohl Geschichten, die der klassischen Vorstellung der Seeräuberei entsprechen, als auch solche, die von Piratinnen und Piraten im übertragenen Sinne handeln.
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Seitenzahl: 431
Veröffentlichungsjahr: 2022
Klappentext:
Piraten, Freibeuter, Buccaniere – sie schäumten die Meere und tun es wohl auch immer noch, wenn auch die heutigen Vertreter dieses Seewerks nicht so sehr unseren Sinn für Romantik und Abenteuer erregen, wie es etwa Klaus Störtebeker und Konsorten taten und tun.
Doch wer meint, dass die Seeräuberei eine rein männliche Domäne , irrt, es gab einige sehr erfolgreiche Frauen in diesem Beruf, wie etwa Grace O‘Malley. Ihr irischer Landsmann David Slattery geht sogar so weit zu erklären, seiner Meinung nach sei die Piraterie ein Frauenberuf. Weshalb er uns in seiner Geschichte mit einer Piratenkönigin bekannt macht, und sie ist wahrlich nicht die einzige in unserer Sammlung.
In dieser Anthologie finden sich sowohl Geschichten, die der klassischen Vorstellung der Seeräuberei entsprechen, als auch solche, die von Piratinnen und Piraten im übertragenen Sinne handeln.
Piratengeflüster
-
Herausgeberinnen.
Karin Braun & Gabriele Haefs
Impressum
© 2022 Gabriele Haefs, Line Baugstø, Brigitte Beyer, Peter Braukmann, Karin Braun, Viktor Braun, Isabell de Col, Annette von Droste-Hülshoff, Günther Eichweber, Nikolaus Gatter, Giancarlo Gemin, Michael Habel, Wolfram Hänel, Wilhelm Hauff, Marion Hinz, Sylvi Jane Husebye, Ulrich Joosten, Lauff Josef, Eris von Lethe, Jack London, Alexander Mochalov, Philip Newth, Susanne Pohl, David Slattery, Hannah Steenbock, Benedikt Wrede Herausgegeben von: Karin Braun, Gabriele Haefs Coverbild: MicArt63 (https://popstreet.shop/de)
Lektorat: Gabriele Haefs
Satz & Layout: Karin Braun
Übersetzt von: Sophia Wulfert, Gabriele Haefs, Karin Braun (https://wegkreuzungen.de)
ISBN Softcover: 978-3-347-65432-7
ISBN E-Book: 978-3-347-65435-8
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Inhaltsverzeichnis
Stiller Abgang
Marion Hinz
Ellen
Line Baugstø
Die Legende von Black Ed und Bloody Ann
Zoë Bernhardt
Todeskuss
Marion Hinz
Der Hungerkreuzer
Brigitte Beyer
Die Augenklappe
Peter Braukmann
Piratenliebe
Karin Braun
Omuamua
Viktor Braun
Die Piratin von Peace Island
Isabelle de Col
Die Vergeltung
Annette von Droste-Hülshoff
Aufbruch in eine neue Welt
Günther Eichweber
Paartherapie
Nikolaus Gatter
Drei und ein Halber
Giancarlo Gemin
Bloody Mary
Michael Habel
Kein Land in Sicht
Marion Hinz
Beim Piratenkongress
Gabriele Haefs
Janne und das Schiff des Knochenbrechers
Wolfram Hänel
Das Gespensterschiff
Wilhelm Hauff
Die Schiffsleichter
Sylvi Jane Husebye
Der Lange Weg
Ulli Joosten
Störtebeker – Das Geisterschif
Josef Lauff
Goya läßt grüßen
Eris von Lethe
Bei den Austernpiraten
Jack London
Danilka und der Pirat Rotbart
Alexander Mochalov
Wie die schwarze Rosa an ihr Piratenschiff kam
Philip Newth
Die falschen Feuer von Thiessow
Volker Pesch
Fördepiratinnen
Susanne Pohl
Erdi
David Slattery
Die letzte Prinzessin
Hannah Steenbock
Die Deichkobolde
Benedikt Wrede
Auf Leben und Tod
Marion Hinz
Biographien
Stiller Abgang
Marion Hinz
Schwankt auf den Planken
unser Pirat auf hoher See
wir erwarten seinen Sturz
haben schweres Geschütz
Macheten und Messer
und rasselnde Säbel
gerichtet fixiert
einer hält Wacht oben im Mast
keiner fürchtet sich mehr
die Macht ist gesunken
ein Schuss ein Schrei
ein Halt gesucht
die Reling verfehlt
gnadenlos verfolgt
unser Blick den Fall
in die Flut den Abgang
filmreif das Ende
wir haben verstanden
wir wissen Bescheid.
Wie man ein Pirattaxi kapert
Line Baugstø
In Norwegen gibt es sogenannte Pirattaxis: Taxis, die gar keine sind, ohne Zulassung oder Schild auf dem Dach, einfach Autos, die durch die Straßen fahren und Kundschaft auflesen, und das billiger machen als die offiziellen Taxis. Mit solchen Pirattaxis kann man allerlei Abenteuer erleben.
Ellen steht über das Waschbecken gebeugt da und betrachtet ihr Gesicht im Spiegel. Das Make-up ist nicht mehr ganz perfekt. Sie macht einen Finger nass und wischt sich ein paar schwarze Flecken um die Augen weg. Als sie den Lippenstift hervorholt, bemerkt sie, dass ihre Hände etwas zittern.
Sie wäscht sich die Hände. Am liebsten würde sie sich auch Wasser ins Gesicht spritzen. Vorsichtig befeuchtet sie ihre Stirn und Schläfen. Das hilft etwas. Sie zündet sich eine Zigarette an.
Zwei junge Mädchen kommen herein und fragen nach Feuer. Sie rauchen Menthol-Zigaretten. Ellen sieht sie an und schätzt sie auf ungefähr 16 Jahre. Sie fragt sich, wie sie wohl reingekommen sind. Immerhin gibt es eine Altersbeschränkung von 20 Jahren. Ellen hat gerade einmal seit einem halben Jahr rechtmäßigen Zutritt.
Sie tritt die Kippe auf dem Boden aus und geht wieder hinein. Ein Mann mittleren Alters mit dünnen, fettigen Haaren hat ihren Platz eingenommen. Nina, ihre Freundin, sitzt rauchend da und blickt durch ihn hindurch. Ellen stellt sich an den Tisch. Nina lehnt sich zu dem Mann hinüber und sagt, dass er gehen muss. Er grinst sie an und fragt, ob sie mit ihm tanzen will. Dann schlägt er vor, dass Ellen auf seinem Schoß sitzen kann. Schlussendlich geht er. Nina zieht eine Fratze hinter seinem Rücken.
Gleich darauf kommt ein großer, recht gut aussehender Typ herüber. Er hat etwas zu enge Jeans an, aber einen tollen Hintern. Nina geht mit ihm zur Tanzfläche. Ellen passt auf ihre Tasche auf. Ein blonder, pickliger Junge kommt herüber und hat vor, mit Ninas Stuhl abzuhauen. Sie sagt, dass er besetzt ist.
Von dem kleinen Zweiertisch in der Ecke hat sie keine so gute Aussicht. Aber sie ist mehrmals zur Toilette gegangen und ist sich ganz sicher, dass er auch heute nicht hier ist. Sie hat ihn nur das eine Mal gesehen, als sie mit ihm nach Hause gegangen ist. Vielleicht kommt er normalerweise nicht hier her.
Nina kehrt mit dem großen, gut aussehenden Typen zurück. Er nimmt sich einen Hocker und quetscht sich zwischen sie. Er sieht Ellen kaum an. Aber das ist sie gewohnt.
Hauptsächlich aus Höflichkeit bleibt sie noch eine Weile sitzen. Jetzt kann sie gehen, ohne dass Nina sauer wird. Der Typ – er hat sich nicht vorgestellt – lächelt zufrieden, als sie endlich Zigaretten und Feuerzeug zusammenpackt und aufsteht. Nina winkt.
Draußen auf der Straße rauscht die Stille in ihren Ohren. Ein eiskalter Regen peitscht auf den Asphalt, und die Taxischlange ist kilometerlang. Ihr ist schwindelig und sie ist müde. Bei dem Gedanken daran, alleine nach Hause zu gehen, wird ihr plötzlich übel.
Er sitzt in einem alten Volvo, 78-er Modell, vor dem Freia-Schokoladengeschäft am Grand Hotel. Auch er ist ganz alleine. Da hängen keine Kumpel an den Fenstern herum, keine jungen Mädchen liegen halb bewusstlos mit einer fast leeren Flasche Bordeaux Blanc auf dem Rücksitz. Er ist ein bisschen dick und sieht irgendwie lieb aus.
Sie denkt nicht lange nach, bevor sie ihn fragt.
- Hast du Lust, mich nach Hause zu fahren?
- Nein.
Die Antwort lässt keinen Raum für Diskussionen. Aber er kurbelt auch nicht das Fenster hoch.
- Bitte. Ich mag nicht laufen. Es ist so ein Mistwetter.
- ‚Nein’, habe ich gesagt.
- Es ist nicht so weit. Ich wohne in Torshov. Wo musst du lang?
Er fängt vorsichtig an, das Fenster hochzukurbeln.
Ellen steht mitten auf der Straße neben dem Auto. Sie spürt, wie sich die Nässe den Weg durch ihre dünnen Schuhe bahnt. Sie spürt, wie erschöpft sie ist.
- Fährst du mich nach Hause, wenn du mit mir schlafen darfst?
Er hört augenblicklich auf, das Fenster hochzukurbeln. Er sieht sie an. Sein Unterkiefer hängt ein bisschen herunter, der Mund steht halb offen. Er sieht sie an. Nicht abschätzend. Nicht spöttisch. Es liegt fast schon eine Bitte in seinem Blick.
- Ja.
Ellen läuft um das Auto herum und setzt sich auf den Beifahrersitz.
- Østgaardsgate, sagt sie. - Fahr einfach hoch Richtung Torshov, dann zeig' ich dir den Weg.
Sie lehnt sich zurück und lässt die Wärme des Autos ihren leicht bekleideten, durchgefrorenen Körper wärmen. Dann fängt sie an, ihn zu instruieren, wie die Sache ablaufen soll.
- Es passiert nur dieses eine Mal. Du darfst nie zu mir zurückkommen. Niemals! Hast du verstanden?
Er nickt.
- Ist es … willst du Geld dafür haben oder so?, fragt er.
- Im Zweifelsfall bin es wohl ich, die dich bezahlen muss, oder?
Er sieht sie erschrocken an.
- Wenn wir da sind, kommst du mit hoch. Mach keinen Quatsch. Wir gehen sofort ins Bett. Danach gehst du. Du fragst nichts. Du gehst einfach, und dann sehen wir uns nie wieder. In Ordnung?
- Ja doch, in Ordnung.
Er wirkt jetzt überzeugt. Aber sie merkt an seinem Fahrstil, dass er nervös ist. Sie sieht ihn an. Er ist ein bisschen dick. Bei Weitem nicht schön, aber auch nicht direkt hässlich. Nicht, wenn man ihn genauer betrachtet.
Er ist wohl einsam, denkt Ellen. Es kommt sicher nicht jeden Tag vor, dass Mädchen ihn auf diese Weise auflesen. Die Kumpel werden ihm das nie glauben.
- Machst du das, um umsonst nach Hause gefahren zu werden?
- Vielleicht, antwortet sie nur.
Tut sie etwas anderes als das, wovon jeder Junge träumt?
Alle Umwege überspringen. Direkt zur Sache kommen. Der einzige Unterschied ist, dass ein Mädchen sich niemals so leicht hätte überreden lassen wie dieser Junge.
Ich habe jetzt die Oberhand, denkt Ellen. Aber es macht sie nicht sonderlich glücklich.
Sie zeigt und erklärt ihm, wo er parken kann. Sie bittet ihn, leise zu sein, während sie die Tür aufschließen. Im Zimmer schaltet sie nur eine einzige Lampe an und beginnt sofort, sich auszuziehen. Sie fühlt sich aufgedreht und ein bisschen erregt.
Kein Vorspiel, kein Fummeln, kein Kuscheln. Er dringt einfach direkt in sie ein, und sie steuert es selbst.
Er ist ganz schön dick, ja, aber nicht abschreckend. Und er riecht gut. Sauber. Während er auf ihr liegt, sieht sie vor sich, wie er sich geduscht und zurechtgemacht hat und saubere Klamotten angezogen hat, um am Abend in die Stadt zu gehen. Samstagabend.
Nach einer Weile kommt er zum Abschluss. Sie nicht, aber das macht nichts. Das tut sie nie, wenn sie zum ersten Mal mit jemandem zusammen ist. Es gefällt ihr trotzdem.
Er rollt sich von ihr herunter und macht den Anschein, liegen bleiben zu wollen.
- Jetzt musst du gehen, sagt sie.
- Ich kann doch wohl noch eine rauchen?
- Nein, sofort. So war es abgesprochen.
Er protestiert nicht. Er holt seine Sachen und zieht sich zügig an. Ellen wischt das Sperma mit der schmutzigen Unterhose weg und wirft sich einen Morgenmantel über. Er bindet sich die Schnürsenkel, und Ellen fängt an, Weintrauben zu essen. Dann öffnet sie ihm die Wohnungstür, gibt ihm eine Rispe Trauben und deutet ihm zu gehen.
- Tschüs. Denk an unsere Abmachung.
- Aber…
Er sieht aus, als ob er etwas sagen will. Ellen schließt die Tür, bevor er es aussprechen kann. Sie hört ihn die Treppe hinuntergehen. Dann isst sie die Weintrauben auf und raucht eine Zigarette.
Die Legende von Black Ed und Bloody Ann
Zoë Bernhardt
Jeden Abend, als ich noch ein kleiner Junge war, lagen mein Bruder William und ich im Bett. Vater setzte sich zu uns und löschte Stück für Stück die hell brennenden Kerzen in unserem Zimmer. Das Licht wurde immer schwächer, bis das Zimmer fast gänzlich in Dunkelheit getaucht und das Gesicht meines Vaters nur noch schemenhaft im Dämmerlicht beschienen zu erkennen war.
„Vater, kannst du uns noch eine Geschichte erzählen?“, fragte ich ihn jeden Abend.
„Welche Geschichte möchtest du denn hören, Thomas?“, fragte er mich jeden Abend, wohlwissend, welche Geschichte ich hören wollte.
„Die Legende von Black Ed und Bloody Ann bitte“, antwortete ich. Wie jeden Abend. Dann fing er an zu erzählen.
Seit über 40 Jahrzehnten nun schon umsegeln sie die großen Meere dieser Welt.
Kein Schiff, das mehr als nur einen Sack Gold an Bord hat, bleibt von ihnen verschont.
Allein die Silhouette ihres Schiffes, der Mary Jane, lässt jedem vom Kapitän bis zum Schiffsjungen einen eiskalten, grausigen Schauer über den Rücken laufen.
Keine Stadt an den Küsten, vor denen sie segeln, ist vor ihnen sicher.
Sie rauben und plündern und wenn es sein muss, töten sie auch und das nur aus reinstem Vergnügen.
Ihre Namen sind genauso bekannt wie gefürchtet.
Das grausige Piratenpaar Black Ed und Bloody Ann.
Sie leben das freie Piratenleben auf hoher See.
Sie fahren, wohin sie wollen. Die frische Seeluft in den Haaren. Das Salz des Meeres auf der Zunge schmeckend und leicht brennend auf ihren Gesichtern spürend.
Sie können in die verschiedensten Länder und Städte und dort nach Belieben verweilen.
Geld, Schmuck, Kleidung, Speis und Trank haben sie im Überfluss und wird neues Geld benötigt, dann sind das nächste Schiff oder die nächste Stadt nicht weit entfernt.
Doch die Freiheit hat auch ihren Preis.
Black Ed und Bloody Ann haben sich durch ihre ruchlosen Taten Feinde gemacht und die lauern überall.
Von England über Frankreich bis Spanien liegen die Gebiete ihrer Feinde, die bis heute Jagd auf die beiden machen und nicht ruhen werden, bis sie das Paar gefangen haben und ihre Köpfe auf den Stadtmauern zur Warnung ihrer Anhänger aufgehängt sind.
Doch bisher hat sie nie etwas aufhalten können. Kein Schiff der reichen französischen Krone, kein Schiff der großen spanischen Krone, nicht einmal die unbesiegbare Flotte unserer englischen Krone. Seeungeheuer konnten die Mary Jane nie greifen, Sirenen nie die Ohren der Mannschaft betören und sie gegen scharfe Felsen kentern lassen, und sobald feindliche Piratenschiffe den Anblick ihres Schiffes auch nur von weitester Ferne vernahmen, drehten sie ab.
Also haltet Ausschau und seid immer auf der Hut, denn ihr wisst nie, wann Black Ed und Bloody Ann euren Hafen ansteuern werden.
„Woher weiß ich, wie die Mary Jane aussieht?“, fragte ich meinen Vater.
„Das kann ich dir leider nicht genau sagen, Thomas. Denn das weiß keiner so genau. Einige beschreiben sie als ein wunderschönes, reich verziertes Kampfschiff. Andere meinen, sie sei ein altes, dunkles, fast schon brüchiges Schiff, welches allein durch seine blutroten Segel von anderen Schiffen zu unterscheiden sei.“
„Ich glaube, ich würde die Mary Jane erkennen, wenn ich sie sähe“, meinte ich und stellte mir mein ganz eigenes Bild der Mary Jane vor.
Groß, größer noch als jedes Kampfschiff, welches ich je im Hafen vor unserer Stadt gesehen hatte. Gebaut war sie aus schwarzem Holz, und ihre Reling war mit goldenen Reliefs verziert. Vorn am Bug wanden sich die Reliefs in die vergoldete Figur einer wunderschönen Frau, von der das Schiff auch seinen Namen erhalten hatte.
Black Ed, im langen braunen Ledermantel, mit schwarzen, buschigen, langen Haaren, sowie Barthaaren, stand an dem mächtigen Steuerrad und hielt den Kurs. Seine Frau, Bloody Ann, neben ihm. Den Kompass in der einen, die Karte in der anderen Hand.
Die großen dunkelroten Segel spannten und blähten sich im treibenden Seewind, der Mann im Krähennest nach ihrem nächsten Ziel Ausschau haltend, und über allem thronte flatternd im Wind das Erkennungszeichen eines jeden Piraten. Ein Totenkopf über zwei gekreuzten Säbeln. Das Warnzeichen für jedes sich nähernde Schiff.
„Wenn du meinst, mein Junge“, sagte dann mein Vater leicht lächelnd und gab mir und meinem Bruder noch einen Kuss auf die Stirn, bevor er alle Kerzen löschte und sich auch zu Bett begab.
Meistens würden mein Bruder und ich noch eine Weile wach liegen und uns über die Legende unterhalten oder wohl eher gesagt, streiten.
Ich, der ich begeistert war von dem freien und unabhängigen Leben der Piraten und am liebsten selbst einer werden wollte, geriet mit meiner Bewunderung und meinem tiefsten inneren Wunsch immer wieder an meinen Bruder, der nur die grausamen Taten der Piraten bedachte und am liebsten nichts mit ihnen zu tun haben wollte, es lieber hätte, wenn es erst gar keine Piraten gäbe.
„Ich verstehe dich gar nicht, William. Denkst du denn nicht, dass das Leben viel schöner wäre, wenn wir frei wären, keine Regeln, keine Pflichten hätten?“, fragte ich ihn dann oft.
„Das mag schon sein, aber sie töten dafür Menschen, Thomas“, erwiderte er entsetzt.
„Dann werde ich eben der erste Pirat, der keine Menschen tötet“, trotzte ich seinem Argument stur.
„Du und ein Pirat. Träum weiter, kleiner Bruder. Bleib lieber an Land bei Vater. Hier ist es viel sicherer für dich.“
20 Jahre später
Ich stehe am Steg und schaue auf das weite Meer hinaus.
Immer wenn ich hier an diesem Steg stehe und meinen Blick über die dunklen, kräftigen Wellen schweifen lasse, der Wind mir durch das Haar streift und hin und wieder Schiffe am weiten Horizont auftauchen oder nach und nach von ihm verschluckt werden, habe ich dieses Gefühl in der Brust. Es ist wie, als ob um meine Taille ein starkes Seil gebunden wäre, welches versucht, mich auf das Meer zu ziehen, und entweder es zieht nicht stark genug oder irgendetwas Stärkeres hält mich am Steg fest, ich rühre mich keinen Zentimeter.
Ich bin hier, um die neue Lieferung für meinen Vater abzuholen, neue Stoffe und Gewürze, die mein Vater dann an die Bürger unserer Stadt weiterverkauft.
Das Handelsschiff fährt in den Hafen ein und ich lade nach einem kurzen Gespräch mit dem Kapitän des Schiffes und der Bezahlung die Ware auf unser einziges Fuhrwerk. Eine große Holzfläche mit zwei Rädern, die ich eigenhändig an einer Holzstange nach Hause ziehe.
Zu Hause angekommen helfe ich meinem Vater noch, die Ware zu verstauen, kalkuliere die Umsätze dieser Woche und setze mich dann in mein Zimmer und lese.
Mein Bruder ist schon seit ein paar Jahren nicht mehr regelmäßig zu Hause. Er ist zur Schule gegangen und hat danach als einer der Klassenbesten die einmalige Möglichkeit, bekommen, in die Royal Navy einzutreten. Angefangen hat er als einfacher Matrose und ist jetzt schon Offizier. Mein Vater und ich sind sehr stolz auf ihn.
Doch leider waren seine schulische Ausbildung und die monatlichen Kosten für die Royal Navy sehr hoch, eigentlich zu hoch für meinen Vater und sein Geschäft. So hat Vater Schulden gemacht, die er bis heute noch nicht zurückzahlen konnte, weswegen er sich eine weitere solche Bildung für mich, seinen zweiten Sohn, nicht mehr leisten konnte.
So ging ich nur zur Schule, bis ich lesen, schreiben und rechnen konnte, und half von da ab an meinem Vater im Geschäft.
Heute kommt William nach Hause. Es ist seine letzte Nacht hier in unserer Stadt, bevor er morgen mit der Marine in See sticht.
Wir gehen in einen Pub und bestellen jeder einen Eintopf und einen großen Krug Bier.
Der Pub ist aufgeheizt durch die Menschen an den voll besetzten Tischen um uns herum. Die unterschiedlich lauten, teils hitzigen Gespräche lassen die Luft im Raum schwingen und summen.
„Du weißt, wir beide sind mächtig stolz auf dich“, sagt mein Vater zu William.
„Danke, Vater“, antwortet er und nimmt einen Schluck aus seinem Krug.
„Weißt du schon, wo die große Fahrt hingehen soll? Wie lange wirst du unterwegs sein?“, frage ich neugierig.
„Was, vermisst du mich etwa schon?“, antwortet mein Bruder leicht belustigt und schüttelt dann den Kopf.
„Nein, ich weiß noch nicht, wie lange wir unterwegs sein werden. Die Mission ist allerdings klar. Black Ed und Bloody Ann finden und sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft ziehen.“
Ich verziehe daraufhin kurz das Gesicht, allerdings lang genug, dass William es bemerkt.
„Ich weiß, wie deine Einstellung gegenüber den Piraten ist, Thomas. Aber wirklich glaube mir, wenn ich sage, es ist besser so. Wir sind nicht die Bösen. Wir sind die, die auf der guten Seite stehen, für Recht und Ordnung.“
„Ich weiß, William. Dennoch erwarte nicht von mir, dir und der Krone viel Erfolg zu wünschen, denn tief hier drin“, dabei deute ich auf die Stelle an meiner Brust, in der mein Herz gelegen ist. „Tief hier drin, da wäre es eine Lüge!“
„Lasst uns bitte nicht darüber streiten. Meine Söhne, ich bitte euch, es ist unsere letzte Nacht gemeinsam“, schreitet mein Vater kurzerhand ein, bevor die Situation zwischen mir und meinem Bruder noch eskalieren konnte.
„Gut“, meinten mein Bruder und ich darauf.
Nach ein paar Krügen Bier verabschiedete sich William dann, da er zum Aufbruch am nächsten Morgen ausgeschlafen und in guter Verfassung sein wollte.
Als mein Vater und ich nun so allein dasaßen, kamen wir nicht umhin, einige Gesprächsfetzen vom Nachbartisch aufzuschnappen.
„Ein paar zusätzliche starke Arme könnten uns durchaus von Hilfe sein …“
„Wir haben beim letzten Sturm einige Mann verloren und Segel lassen sich ja bekanntlich nicht von allein setzen …“.
„Geschweige denn Waren verladen …“
Ich muss leicht schmunzeln. Die Vorstellung, ein Schiff zu betreten, Teil einer Mannschaft zu sein, dort meine Arbeit zu leisten wie mein Bruder, gefiel mir doch zu sehr.
Mein Vater scheint meine Gedanken zu lesen, denn er sagt:
„Biete dich doch an, mein Junge.“
Schockiert starre ich ihm in die Augen.
„Aber Vater, das kann ich nicht, wer soll dir sonst im Geschäft helfen?“
„Ach, mein Sohn. Dein halbes Leben habe ich das Geschäft allein geführt, ein paar Monate mehr oder weniger ohne dich werden mir schon nicht das Leben kosten.“
„Bist du dir absolut sicher?“, frage ich ihn.
„Geh schon. Es ist dein großer Traum.“
Sicheren Schrittes gehe ich zum Nachbartisch und stelle mich breitschultrig vor den Männern auf.
„Ich höre, ihr sucht nach Zuwachs für eure Mannschaft? Ich bin jung und stark und keiner Aufgabe abgeneigt, sei sie noch so widrig. Also, falls ihr mich haben wollt, so stehe ich euch zur Verfügung.“
Die Männer tauschten ein paar kurze Blicke, musterten mich dann bis Kopf zu Fuß und brachen in lautes Gelächter aus.
Ich blickte verwirrt in die lachende Gesellschaft.
Einer der Männer fing meinen Blick ein und beruhigte sich wieder, was auch die anderen dazu veranlasste, das Gelächter nach und nach einzustellen.
Er antwortet mir:
„Die Statur hast du, aber reden tust du wie eine Prinzessin!“
Wieder fielen die Männer in Gelächter ein.
„Ich versichere euch, euer Eindruck von mir ist falsch. Ich bin wie gemacht für die See und die Gefahren, die sie mit sich bringt“, antworte ich mit fester Stimme, was einige der Männer zum Schweigen bewegen zu scheint, denn das Gelächter wird nach und nach schwächer.
„Ist das so?“, fragt der Wortführer der Mannschaft und zieht misstrauisch eine seiner buschigen Augenbrauen hoch.
„Ja, Sir“, antworte ich gefasst und versteife meine Position, spanne jeden Muskel meines Körpers an, um größer und stärker zu erscheinen.
Erneut mustert mich der Mann man Kopf bis Fuß, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, die qualmende Pfeife im Mund und antwortet dann:
„Na, wenn das so ist. Lasst es uns herausfinden. Morgen früh bei Dämmerung brechen wir auf. Sei da, das Schiff wartet nicht auf dich!“
Bis zum Anbruch der Dämmerung konnte ich vor Aufregung nicht schlafen, also lief ich noch einmal durch die Straßen meiner Stadt und ließ mich von Kindheitserinnerungen durchfluten.
Ich verabschiedete mich von meinem Vater und versicherte ihm, bald zurückzukehren.
Als ich zum Hafen ging, drehte ich mich noch ein letztes Mal um zu meinem Vater, der mir mit traurig glänzenden Augen hinterherschaute. Tränen rannen sein Gesicht herab.
Auf dem Schiff werde ich vom Kapitän in Empfang genommen. Er gibt mir und ein paar anderen Männer die Anweisung, den Anker zu lichten und die Segel zu hissen.
Ich war noch nie auf einem Schiff gewesen und hatte keine Ahnung, was „Anker lichten“ oder „Segel hissen“ bedeuten sollte oder wo auf dem Schiff nun „Backbord“ und „Steuerbord“ lagen. Ich beschloss also, erst zu schauen, was die anderen Männer machten, und ihnen es dann nachzutun.
Zuerst holten wir den Anker an Bord und lösten die Taue, die das Schiff am Hafen hielten. Dann sollten wir die Segel spannen, damit das Schiff losfahren konnte. Diese Aufgabe stellte sich für mich als besonders schwierig heraus, da ich nicht wusste, wie ich die Konten und Schlaufen der Seile richtig binden sollte.
Nach dieser Arbeit sollten wir erst einmal unsere Sachen verstauen und uns zur Ruhe legen. Wir gehen also unter Deck zu unseren Schlafplätzen, die sich als bloße, von Balken zu Balken befestigte, in der Luft hängende, aufgespannte Laken herausstellten. Lagern unsere Sachen und legen uns in die Laken, um ein wenig Schlaf zu finden.
Gut geschlafen habe ich auf diesem Schiff nie richtig. Die ersten Nächte besonders nicht. Ich war noch nicht an das Geschaukel und den heftigen Wellengang gewöhnt, sodass ich oft an Deck rennen musste und mich über der Reling übergab.
Die Arbeit war hart, härter als ich gedacht hatte, und die Männer waren eine raue und rüde Gesellschaft mit wenig Erbarmen für Neulinge.
Schnell erkannte man, dass ich für nur wenige Arbeiten auf dem Schiff zu gebrauchen war. Nicht dass ich unfähig war, mir fehlte einfach das notwendige Wissen. So wurden mir nur die niederen Aufgaben zugeteilt und ich musste tagtäglich das Deck schrubben, das Schiff von Ratten befreien und Eimer mit Essensresten und die Nachttöpfe der Männer im Meer ausleeren.
So hatte ich mir das Leben auf dem Meer nicht vorgestellt.
Dazu kam oft noch der tagelange Hunger, denn es wurde strikt rationiert, da die Vorräte für die lange Fahrt reichen mussten.
Nach mehreren Wochen hatte ich mich aber an den Hunger, den Wellengang und die Gesellschaft gewöhnt und durch Beobachten der Männer an Deck hatte ich mir die grundlegenden Handgriffe angeeignet und ließ keine Gelegenheit aus, sie zu üben und zu perfektionieren.
Wir waren jetzt schon seit drei Monaten auf dem Wasser unterwegs, ohne jemals einen Landzug oder eine andere Sterbensseele gesehen zu haben.
Langsam wurde die eintönige Arbeit auf dem Schiff kräftezehrend und ich bekam immer mehr das Gefühl, dass irgendetwas auf diesem Schiff ganz und gar nicht stimmte.
Ich und die anderen auf dem Festland angeheuerten jungen Männer durften uns nur in genau definierten Stellen auf dem Schiff aufhalten. In unseren Laken, auf dem Deck und in der Kombüse, aber auch nur, um das Essen für die Mannschaft zu holen. Alle anderen Winkel und Ecken waren für uns streng verboten, und jeder Verstoß gegen dieses Verbot wurde hart bestraft.
Für die anderen Männer war es kein Problem, sich nur auf ihre Arbeit zu konzentrieren und den Regeln zu folgen. Leider war ich schon immer zu neugierig gewesen, weswegen es mich nachts oft aus meinem Laken riss und ich das Schiff erkundete.
In einer der letzten Nächte überhörte ich ein Gespräch zwischen zweien der höhergestellten Seeleute.
Sie stritten darüber, ob man in den nächsten Wochen an Land anlegen sollte, um die Vorräte aufzufüllen und die ersten Waren loszuwerden. Der eine Mann lehnte den Vorschlag sofort ab. „Das ist viel zu gefährlich. Was ist, wenn einer vom Festland zur Kontrolle kommt. Du weißt doch ganz genau, dass wir uns in den Gebieten von Black Ed und Bloody Ann befinden.“
Ich stutzte und blieb wie angewurzelt stehen. Black Ed und Bloody Ann. Konnte das möglich sein? Das sind doch nur zwei Gestalten aus einer alten Legende, und selbst wenn es sie gegeben hat, dann sind sie doch jetzt schon lange tot. Oder nicht?
Heute ist ein grauer Tag. Die Wellen schlagen hoch am Bug, das Salz der See brennt wie Feuer auf meiner Haut und der Wind schlägt mir unablässig ins Gesicht. Es war so, als ob das Meer das Unheil ankündigte, das unser Schiff in wenigen Momenten ereilen sollte.
Ich war erneut dabei, den Kücheneimer mit den Essensresten zu entleeren, und als ich gerade ansetzte, die schleimige, in ihrem eigenen stickenden Saft schwimmende Masse über der Reling auszukippen, fiel mein Blick auf eine große, dunkle Silhouette, die wie aus dem Nichts am Horizont auftauchte und immer näher zu kommen schien.
Ich stelle den Eimer beiseite und gehe ich mich mit einer Hand an der Reling festhaltend ein paar Schritte auf dem Deck entlang.
Keine fünf Minuten später erschallt auch schon der Ruf aus dem Krähennest. „Piraten!“.
Die Männer auf dem Schiff rufen sich gegenseitig Befehle zu und stürmen zu allen Seiten auseinander, doch ich starre unablässig auf das sich immer schneller nähernde Schiff. Die Rufe der Männer verhallen in meinen Ohren und das rege Geschehen um mich herum verschwimmt völlig vor meinen Sinnen. Ich höre nur das Rauschen der immer stärker schlagenden Wellen. Rieche nur noch das Salz des Meeres, vermischt mit dem Angstschweiß der Männer um mich herum. Sehe nur noch das Schiff vor mir. Das Schiff aus meinen dunkelsten Träumen und sehnlichsten Wünschen. Schwarzes Holz mit Gold verziert und blutroten Segeln. Keinen Zweifel. Das Schiff, was da auf mich zufuhr, war die Mary Jane. Das berüchtigte Schiff des gefürchtetsten Piratenpaares auf den Weltmeeren. Black Ed und Bloody Ann.
Plötzlich packt mich eine starke Hand am Arm, zieht mich aus meiner Trance und ich schaue erstaunt in das erzürnte Gesicht des Kapitäns.
„Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe, Junge. Du sollst unters Deck gehen. Geh, verschwinde!“
Mit einer ruckartigen, starken Bewegung reißt er mich herum und stößt mich von der Reling weg. Noch immer etwas benommen und mit einem stechenden Schmerz im Oberarm stolpere ich meinen Weg unter Deck. Immer wieder werde ich von heraneilenden Männern aus dem Weg geschubst. Die ersten Kanonenkugeln beginnen durch die Luft zu fliegen.
Ich muss von diesem Schiff herunter. Zu den Rettungsbooten, aber nicht ohne eine Waffe. Sobald die Piraten auf dem Schiff waren, musste ich mich verteidigen können. Also mache ich mich auf in die Kapitänskajüte. Ich war mir sicher, dass dort noch extra Waffen lagerten.
Dort angekommen höre ich plötzlich ein lautes Hämmern an der Tür.
Seltsam? Es sind doch alle Männer auf Deck. Wer sollte denn noch hier in der Kapitänskajüte sein?
„Halte durch“, rufe ich der Person zu. „Ich komme gleich zurück und öffne die Tür.“ Ich renne den schmalen Gang rauf und runter. Meine Augen suchen verzweifelt nach etwas Brauchbarem, um die Tür aufbekommen zu können.
Ich renne durch die Gänge, durchsuche jede Kajüte, während das Schiff von den Kanoneneinschlägen schwankt und wankt.
Irgendwo finde ich dann doch einen eisernen Haken und stolpere zurück zur Tür, an der es immer noch laut hämmert.
„Pass auf, ich breche die Tür jetzt auf!“, rufe ich zu dem Unbekannten hinter der Tür.
Nach ein paar Anläufen mit einigen Malen Abrutschen höre ich dann doch das Holz der Tür knacken. Das Schloss ist gebrochen, die Tür ist auf. In einem einzigen, schnellen Ruck öffnet sich die Tür und ich falle geradezu in die Kapitänskajüte.
Mich aufrappelnd versuche ich auszumachen, wem ich gerade die Tür geöffnet habe. Ich glaube meinen Augen kaum. Seelenruhig den Waffenschrank ausräumend, die Waffen, eine nach der anderen mit Bedacht prüfend, steht da eine Frau. Eine junge Frau. Eine wilde, starke, hübsche Frau. Den letzten Gedanken verwerfe ich schnell wieder. Wie kann ich mir ein Urteil über diese junge Dame erlauben, ich kenne sie ja kaum. Doch von einer Dame konnte ich eigentlich nicht sprechen, denn ihr Aussehen entsprach ganz und gar nicht dem Bild einer Dame. Sie trug zerrissene, abgetragene Kleidung und ihr Haar fiel unordentlich an ihren Schultern hinab. Ihre Gesichtszüge, mit denen sie die Waffen des Kapitäns inspizierte, waren hart und beinah undeutbar und ihre Hände waren genauso sauber wie meine.
„Was macht Ihr da?“, frage ich die junge Frau verstört.
„Uns eine geeignete Waffe zur Verteidigung suchen. Was sonst? Außerdem vielen Dank. Das mit der Tür, meine ich.“
Mit einem Kopfnicken deutet sie hinüber zur Tür, die so weit aus den Angeln liegt, dass sie nicht mehr als solche zu erkennen ist.
„Ich denke, dass mit den Waffen solltet Ihr lieber mir überlassen“, sage ich und gehe schnellen Schrittes zu ihr hinüber.
„Wenn Ihr meint“, antwortet sie und bedeutet mir mit einem einladenden Lächeln, mich an den Waffen zu schaffen zu machen. Also schreite ich an den Waffenschrank und beginne, die Waffen zu inspizieren. Eine nach der anderen nehme ich aus dem Schrank und tue so, als wüsste ich mein Handwerk, was allerdings genau dem Gegenteil entsprach. Ich habe keine Ahnung von Waffen und wie man damit umgeht.
Als ich eine lange Pistole aus dem Schrank nehme, beugt sich die Frau über meine Schulter und sagt: „Die würde ich an Eurer Stelle nicht nehmen. Die hat zu wenig Schuss.“
Dann nehme ich einen Säbel heraus, woraufhin sie nur kommentiert: „Und, was wollt Ihr damit, wenn jemand auf Euch schießt?“
Irgendwann war ich so genervt von ihren ständigen Einwänden, dass ich ihr die Wahl ihrer Waffe überließ und mich selbst aber für den Säbel entschied, denn ich könnte keinerlei Schusswaffen bedienen.
Ich konnte Kampfesgeschrei, klirrende Säbel und laute Schüsse schon unter Deck hören, weswegen ich vorschlug, schnellstmöglich zu verschwinden.
„Endlich mal eine Idee, die nicht so dumm klingt“, erwiderte die Frau und ging an mir vorbei.
„Ähm, wisst Ihr überhaupt, wo es lang geht?“, frage ich sie skeptisch, während ich ihr nacheile.
„Ach, diese Schmugglerschiffe sind doch alle gleich aufgebaut“, antwortet sie selbstsicher und winkt meine Frage ab.
„Schmugglerschiff?“, frage ich nur und kann ihren Worten einfach keinen Glauben schenken.
„Dein erstes Mal auf hoher See?“, fragt die Frau und schaut mich mit genau dem gleichen fragenden Ton an, der sich auch in ihrer Stimme abzeichnet. Doch sie wartet gar nicht auf meine Antwort: „Es lagern teure Gewürze und Stoffe unter Deck, dazu gibt es eine Kapitänskajüte voller Waffen und eine unbekannte entführte Frau befindet sich an Bord. Also, das klingt für mich sehr nach Schmugglern.“ Sie lächelt mich an, doch ihr Lächeln ist bedrückt, so wie als wohne in ihr eine Traurigkeit, die sie nicht zeigen möchte.
„Ihr seid entführt worden?“, stelle ich die offensichtlichste Frage der Welt.
Die Wände abklopfend geht sie den Gang entlang und ignoriert meine Frage völlig. Dann sagt sie: „Hier ist es, hast du noch den Haken, mit dem du die Tür geöffnet hast?“
„Erst, wenn Ihr mir meine Frage beantwortet habt“, antworte ich mit fester Stimme.
Sie atmet einmal tief ein und dann wieder aus, dann nimmt sie erneut Luft und antwortet: „Okay, dieses ganze „Ihr“-Gerede nervt mich jetzt schon, ich bin Kelly und alles andere lass uns später klären.“
Ihrem Nicken über meine Schulter hinweg folgend, konnte ich sehen, was sie meinte. Die ersten Zweikämpfe hatten sich schon auf unseren Gang ausgeweitet und waren direkt auf den Weg in unsere Richtung. Ich eile zur Kapitänskajüte, hole den Haken und übergebe ihn Kelly.
„Mein Name ist übrigens Thomas“, sage ich und gehe ein, zwei Schritte in Deckung, als Kelly ausholt.
„Erfreut … dich … kennen … zu … lernen“, mit vier starken Hieben hatte sie die versteckte Tür aufgeschlagen, sodass wir uns nun durch den geheimen Schmugglergang flüchten können.
Eine ganze Weile reden wir gar nicht, doch dann überkommt mich doch die Neugier.
„Du bist also entführt worden. Von wo denn?“, frage ich.
Kelly geht in geduckter Haltung, als würde sie jeder Zeit einen Angriff erwarten. Ich mache es ihr gleich.
„Hab ich nicht gesagt, wir reden später darüber“, antwortet sie gereizt „Wir sollten lieber so schnell wie möglich zu den Rettungsbooten kommen.“ Doch da bricht auch schon die Decke über uns herein. Das gebrochene Holz wirbelt Staub und Holzspäne in der Luft auf.
Ein Mann tritt aus dem Nebel heraus. Er hält einen Säbel in der Hand, das Gesicht vernarbt. Sein Bart ist rabenschwarz. Er trägt einen blutroten Mantel aus Leder und edlen Stoffen über seiner prächtigen Zahl an Waffen, die er um Brust und Hüfte trägt.
Schützend trete ich vor Kelly.
„Was auch immer Ihr wollt, Sir. Die junge Dame lasst aus dem Spiel.“
Der Bärtige lächelt mich hämisch an. Das Lächeln entblößt seine schwarz-gelben Zähne.
„Armer naiver Junge, das Mädchen ist der einzige Grund, warum ich hier bin.“
Das Letzte, was ich mitkriege, ist, wie wir beide unsere Säbel ziehen und ich mich tapfer ihm gegenüberstelle. Dann bekomme ich etwas Hartes gegen den Kopf und sehe nur noch schwarz.
Langsam öffne ich meine Augen. Sie treffen auf ein gleißendes Licht, das einen stechenden Schmerz durch meinen Kopf fahren lässt und mich dazu zwingt, meine Augen erneut zu schließen.
Ich versuche blind, meinen Körper und seinen Zustand zu erspüren. Mein Rücken ist an etwas Hartem und Feuchten angelehnt und meine Beine liegen lang vor mir ausgestreckt. Mir gelingt es, sie ein wenig zu bewegen, auch wenn sie sich ungewöhnlich schwer anfühlen. Ich wandere mit meiner Aufmerksamkeit langsam weiter meinen Körper entlang. Meine Hüfte und Taille lassen sich bewegen. Meine Brust hebt und senkt sich bei jedem meiner tiefen Atemzüge. Doch mein Nacken schmerzt genauso wie mein Kopf. Angekommen bei den Händen und Armen merke ich es dann. Ich kann sie zwar bewegen, aber nur begrenzt, und etwas schnürt sich bei jeder Bewegung brennend in die Haut meiner Handgelenke und Arme ein. Mir wird klar, ich bin gefesselt.
Ich wage es erneut, die Augen zu öffnen, doch diesmal langsamer. Mehrere Male blinzelnd, setzt sich das Bild vor meinen Augen zusammen. Ich schaue auf ein Schiffsdeck, auf dem Männer ihre Arbeit verrichten. Dumpfe Rufe dringen an meine Ohren und verstärken sich, je länger ich dem Treiben an Deck zuschaue. Einer der Männer schreit: „Kapitän, der Junge ist aufgewacht!“ Ich folge ihm mit meinem Blick. Beobachte, wie er hinauf zum Steuerrad rennt, um dort den Kapitän ausfindig zu machen.
Und dort sehe ich sie, Kelly. Die junge Frau, die ich aus der Kapitänskajüte des Handels- oder eher Schmugglerschiffes befreit habe. Ich will ihr zurufen, doch als ich den Mund aufmache und Luft hole, spüre ich erst, wie trocken meine Kehle ist.
Also schließe ich ihn wieder und starre sie nur an, hoffe, dass sie meinen Blick erwidert. Doch der Blick über ihre Schulter löst sich erst, als zwei weitere Personen neben ihr auftauchen und mich nun drei Augenpaare mit düsterem Blick und unbewegter Miene von oben herab anstarren.
Über ihnen wird eine Flagge gehisst. Eine schwarze Flagge mit zwei gekreuzten Schwertern, darüber thront ein kalkweißer Totenkopf, und beim Anblick der blutroten Segel fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Vor mir stehen nicht nur die junge Frau, die ich gerettet habe, der Mann, der mir das Bewusstsein geraubt hat und mich hier gefangen hielt, und eine Frau, die mich mit ihren Blicken zu töten versucht. Vor mir steht auch das meistgefürchtete Piratenpaar der sieben Weltmeere, Black Ed und Bloody Ann, und … ihre Tochter. Erst jetzt, da ich Bloody Ann mit eigenen Augen sehe, erkenne ich die fast schon erschreckende Ähnlichkeit mit Kelly.
Die drei Piraten setzten sich in Bewegung und schreiten langsam und bedrohlich die Stufen hinunter auf Deck, bis Black Ed nur wenige Schritte vor mir zum Stehen kommt.
Plötzlich wird es still auf dem Schiff und ich nehme wahr, wie die Mannschaft Stellung einnimmt und mich und ihren Kapitän einkreist.
Die ganze Szenerie lässt die Panik in mir aufsteigen. Schweiß bricht aus allen Poren meiner Haut, Tränen steigen mir in die Augen und ich versuche verzweifelt, mich aus meinen Fesseln zu befreien, um mehr Raum zum Atmen zu bekommen, welches mir in den letzten Sekunden immer und immer schwerer zu fallen scheint.
Eigentlich hatte ich mir dies schon immer gewünscht. Black Ed und seiner Bloody Ann zu begegnen und sie als Mitglied ihrer Mannschaft zu begleiten. Aber jetzt, festgebunden als Gefangener, kann ich nicht mal erahnen, was sie mit mir anstellen werden. Denn eins ist sicher. Sie sind immer noch Piraten, die erbarmungslos mit ihren Feinden umgehen.
„So, das ist also der Knabe, der meine Tochter befreit haben soll?“, fragt Black Ed abwertend, doch bevor es mir möglich ist, mit trockener, kratziger Stimme loszusprechen, habe ich bereits seinen Säbel unter meinem Kinn, was mich dazu zwingt, ihn anzuschauen. Ihn anzuschauen. Direkt in seine schwarzen, vor Abneigung brennenden Augen.
„Er sieht nicht so aus, also ob er das Zeug dazu hätte. Also, was sollten wir am besten mit ihm tun. Was denkst du meine Liebe?“, er dreht sich mit einem süffisanten Lächeln zu seiner Frau.
„Vielleicht, wir sollten ihn einfach über die Planke gehen lassen“, sie schreitet auf ihren Mann zu, legt eine Hand auf seine Schulter und erklärt.
„Mein Liebster, bedenke, er gehörte zu den Männern, die unsere geliebte Kelly gefangen hielten. Wir wissen nicht, wie viel er wusste. Vielleicht hat er sie nur befreit, um von uns am Leben gelassen zu werden.“ Nun dreht sie sich wieder der Mannschaft zu: „Und, letztendlich sind wir keine Tiere und können auch Gnade zeigen.“
Die ganze Mannschaft lacht daraufhin, bis ihr Kapitän sie auf ein Handzeichen hin zum Schweigen bringt.
„Meine Frau hat da einen sehr guten Grund genannt. Männer, macht die Planke fertig!“
Die Mannschaft macht sich daraufhin an die Arbeit und ich kann nur mit anschauen, wie die Planke Stück für Stück über das offene Meer hinausgeschoben wird.
Ich werde gepackt, meine Fesseln werden losgebunden, doch noch immer haben mich starke Arme im Griff und beginnen, meinen regungslosen, schwachen Körper zur Planke zu schleifen.
Ein trauriges, verzweifeltes „Nein, bitte!“, krächze ich, aber es wird von niemandemn wahrgenommen.
Doch dann tritt Kelly vor: „Vater, bitte!“
Black Ed dreht sich zu seiner Tochter um und ordnet seine Männer erneut stumm dazu an, mit der Arbeit aufzuhören und still zu stehen.
„Sieh ihn dir doch an. Denkst du wirklich, so sieht ein Schmuggler aus? Ein Seemann? Es ist ein Wunder, dass er die Tür überhaupt aufgekriegt hat. Außerdem war er vollkommen hilflos auf unserer Flucht. Er versteht weder etwas von Waffen, noch kannte er den Geheimgang auf dem Schmugglerschiff. Er war vollkommen überrascht, als ich die Geheimtür eingeschlagen habe. So reagiert kein Schmuggler, nicht mal, wenn er sein Leben retten will. Ich sage dir und glaube mir bitte, er war keiner von diesen Männern.“
Ich kann Eds Gesichtsausdruck nicht sehen, aber er starrt eine ganze Weile seine Tochter an, die ihn mit unbewegter Miene einfach nur zurück anstarrt. Dann endlich dreht er sich zu mir um und beginnt mich auszufragen.
„Stimmt, dass? Du bist kein Schmuggler?“, ich kann sehen, wie Kelly hinter dem Rücken ihres Vaters die Augen verdreht.
„Ja“, ist das Einzige, was ich herausbekomme.
„Wie bist du dann auf diesem Schiff voller ekelhafter, ehrenloser und nichtsnutziger Leichtmatrosen gekommen?“, blafft er mich an.
„Sie haben mich an Land rekrutiert. Ich komme aus einer kleinen englischen Hafenstadt. Ich wollte schon immer die Welt umsegeln und ich dachte, ich mache auf einem Handelsschiff einen guten Start. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es sich dabei um ein Schmugglerschiff handelte. Auch noch eines, das die Tochter des großen Black Ed und der berüchtigten Bloody Ann an Bord hatte.“
Der Säbel, der bisheer an meiner Kehle geruht hatte, wurde gesenkt, und in Black Eds Gesicht sah ich nun erstaunen.
„Du hast von uns gehört. Gut“, ich starrte ihn daraufhin fassungslos an.
„Was erzählt man denn so auf dem englischen Festland über uns?“, fragte er, setzte dabei wieder sein hässlichstes Grinsen auf und zog beide Augenbrauen nach oben.
„Also…“, setzte ich an. „Also, es gibt so eine Art Legende über das grausigste Piratenpaar, das jemals existiert hat“, ich wusste gerade nicht, ob ich mich immer weiter in meine Todesspirale redete, aber ich hielt es für das Beste, bei der Wahrheit zu bleiben.
„Es wird erzählt, dass Ihr ruchlos vorgeht, und schon Eure Namen lassen einen jeden Seemann erschauern, denn Ihr plündert und mordet, wie es Euch beliebt, ohne Gnade, und lebt dann von dem erbeuteten Gold. Frei von irgendwelchen Gesetzen oder Regeln. Die einzigen Gesetze, die für Euch gelten, sind die der See“, den letzten Teil hatte ich mir selbst einfallen lassen, da ich auch immer selbst so empfunden hatte.
„Und du denkst auch, dass wir ruchlos, gnadenlos und mörderisch sind?“, diesmal ist es Bloody Ann, die die Frage stellt und mich förmlich mit ihrem eisernen Blick am hölzernen Deck des Schiffes festnagelt.
„Na ja, ich kenne nur die Legenden. Was für mich zählt, ist aber die Freiheit, dieIihr lebt. Die Freiheit, alles tun zu können, unabhängig davon, aus welchem Stand man ist oder wie viel Geld man besitzt. Die Freiheit, die einem nur die offene See geben kann und sonst keiner.“
„Mir gefällt der Junge“, meint Black Ed und tritt näher an mich heran.
„Ich stimme meiner Tochter zu. Du hast nicht das Zeug zum Schmuggler. Wir setzen dich gerne auf dem Festland ab, sobald wir einen sicheren Hafen erreichen.“
Mit einem weiteren Handzeichen werden mir die Fesseln abgenommen und ich werde aus den starken Griffen der Männer befreit.
Dankend reibe ich vorsichtig meine geschundenen und geschwollenen Handgelenke. Doch da kommt mir ein Gedanke. Ein riskanter Gedanke, aber ich habe schon mein Leben durch meine Ehrlichkeit gerettet, vielleicht kann mir dieser Wunsch auch nur durch meine Ehrlichkeit erfüllt werden.
„Mr. Black Ed“, setzte ich zur Frage an, „Kapitän Black Ed“, unterbricht man mich.
Ich nicke entschuldigend und gebe ihm somit zu verstehen, dass ich verstanden habe, dann setzte ich erneut zu meiner Frage an.
„Kapitän Black Ed, ich bin mit den Legenden um Euch und eure Frau und Gefährtin aufgewachsen und seitdem ich zum ersten Mal von Euch und Eurem Leben gehört habe, erträume ich mir nichts sehnlicher, als Euer Leben zu führen. Das freie Piratenleben. Also viel lieber als im nächsten Hafen abgesetzt zu werden, bitte ich Euch nun darum, mich in Eure Crew aufzunehmen.“
Black Ed dreht sich abrupt zu mir um und schaut mir mit einem geschockten Gesichtsausdruck direkt in die Augen, auch Bloody Ann und Kelly haben sich nach meiner Frage mit nicht minder geschockten Mienen zu mir umgedreht.
Black Ed schaut mich eindringlich an, doch als er merkt, dass ich meine Bitte ernst meine, breitet sich ein ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht aus.
„Wir haben bei unserer Rettungsmission gute Männer verloren, Junge. Es ist mir nur recht, ein neues Mitglied für unsere Crew gewinnen zu können. Kelly!“, er ruft seine Tochter, die auch direkt dem Ruf ihres Vaters Folge leistet.
„Was gibt es Vater?“, fragt sie leicht genervt.
„Kelly, mein Liebling, ich möchte, dass du dich unseres Neuzugangs annimmst und ihm alles beibringst, was es über das Piratenleben und die Piraterie zu wissen gibt“, dabei zeigt er auf mich. Kellys Miene versteinert.
„Aber Vater, warum ich?“, fragt sie empört.
„Weil du die bist, die ihm am besten kennt. Vor allem bist du in etwa in seinem Alter, du weißt am besten wie am mit so einem Burschen umzugehen hat.“
Entgeistert starrt sie abwechselnd mich und ihren Vater an.
„Aber Vater, …“, setzt sie an.
„Ich will keine Widerreden hören. Das bist du mir und auch ihm schuldig.“
Immer noch widerwillig, aber resignierend nickt Kelly und willigt ein.
„Komm mit!“, fordert sich mich auf, aber nicht ohne ihrem Vater vorher noch einen Todesblick zu schenken.
Die nächsten Wochen verlaufen für die Crew ruhig und ereignislos. Für mich hingegen sind sie aufregend, anstrengend und nicht selten gar tumultartig.
Nach nur wenigen Tagen stelle ich bereits fest, dass das Leben auf dem Piratenschiff ganz anders ist als das auf dem Schmugglerschiff. Alles ist viel chaotischer und die mir bekannten, sonst geordneten Abläufe verlaufen viel spontaner. Jeder Mann und jede Frau essen, wann es ihnen beliebt, legen sich schlafen, wenn sie sich danach fühlen, und vor allem sind alle für die nötigen Arbeiten auf dem Schiff gleichwertig verantwortlich und jeder kennt sich damit aus.
Auch wenn ich mir schon vieles auf dem Schmugglerschiff aneignen konnte, so gibt es immer noch viel Neues für mich zu lernen.
Kelly weist mich in alles ein und ich versuche so gut es mir gelingt, ihr zu folgen. Leider ist sie nicht die Geduldigste und so wird sie oft aufbrausend mir gegenüber, wenn ich mal einen Knoten nicht auf Anhieb schlagen kann oder erneut Backbord mit Steuerbord verwechsele.
Dennoch nehme ich ihr ihre Ausbrüche nicht zu übel. Schließlich ist Kelly die Einzige auf dem Schiff, mit der ich überhaupt rede. Alle anderen Crewmitglieder ignorieren mich oder machen sich über meine Unfähigkeit lustig.
Abends sitze ich meist am Rand des Bugs und schaue schweigend in die Ferne. Auf die schaukelnden Wogen, die wie tiefschwarzer Samt im Licht des Mondes glänzen.
In den letzten Tagen hat sich Kelly auch zu mir gesellt.
Zuerst hat sich mit mir einfach nur dagesessen und gemeinsam haben wir auf das Meer gestarrt, doch irgendwann fing sie an, mich über mein Leben auszufragen. Mein Leben, das ich führte, bevor ich mich einem Schmugglerschiff anschloss.
Ich erzählte ihr von unserer kleinen Hafenstadt, von dem regen Treiben auf dem Marktplatz in den Morgenstunden, den schmalen, schlammigen Straßen zwischen den aneinandergereihten Häusern, die hinter zum Hafen führten, wo die angelegten Schiffe sich in den Wellen wiegten.
Ich erzählte ihr von meinem Vater und seinem kleinen Geschäft und meinem großen Bruder William und seiner Anstellung bei der Royal Navy. Ich vermisse sie mehr, als ich mir eingestehen möchte. Nicht nur meinen Vater und meinen Bruder, sogar die Erinnerungen an die mir immer so verhasste Kleinstadt lässt einen schmerzenden Stich durch mein Herz fahren.
„Aber warum willst du das alles wissen?“, frage ich und unterbreche damit meinen Redefluss.
„Warum willst du unbedingt Pirat werden?“, gab sie knapp zurück.
„Ich dachte, das hätte ich bereits zum Ausdruck gebracht?“, ich sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. Hatte sie mir nicht zugehört, als ich meine Ansichtsweise zu Piraten ihren Eltern vorgetragen hatte?
Als sie immer noch nicht antwortete, begann ich meine Einstellung nochmals zu wiederholen:
„Piraten haben ein freies, unabhängiges Leben. Sie sind an nichts und niemanden gebunden. Ich will nun Pirat werden, um –
„– um genau diese Freiheit und Unabhängigkeit zu leben“, beendete sie meinen Satz.
„Aber hast du nie an die all die Gefahren gedacht, mit denen ein Pirat tagtäglich lebt? Du kannst nicht mal einen Säbel führen, geschweige denn ein Segel hissen. Du würdest als Pirat nicht lange überleben.“
Traurig senkte ich den Blick auf das Holz vor meinen Füßen. Ich wüsste, dass Kelly nicht ganz unrecht hatte. Sie hatte recht, der Freiheitsgedanke überschattete wirklich alle anderen Aspekte eines Piratenlebens, aber dennoch konnte ich ihn nicht einfach loslassen. Denn was wäre die Alternative. Das Geschäft meines Vaters führen und mich und fast mein ganzes Einkommen einem reichen Bürgermeister verschreiben, der Monat für Monat immer reicher wird, während ich darum bangen muss, dass mir am Ende des Monats genug Geld bleibt, um mich selbst zu versorgen?
„Dafür habe ich ja dich. Als meine Lehrerin. Damit du mir alles Nötige beibringst, sodass ich nicht in den ersten Wochen als Pirat sterbe.“
„Tja, momentan bist du aber ein ziemlich schlechter Schüler. Ich sehe nicht viel Hoffnung für dich, wenn du nicht bald lernst, Backbord von Steuerbord zu unterscheiden.“
Wir beide mussten daraufhin lauthals lachen. Als wir uns wieder gefangen hatten, fragte ich dann erneut: „Das alles hat aber trotzdem nicht meine erste Frage beantwortet. Wieso willst du alles über mein altes Leben wissen?“
Mein Blick in ihrem fing sich in ihrem und ich konnte eine leise, tiefe Traurigkeit in ihren Augen erkennen.
„Weißt du, ich glaube dir nicht. Dass du nur Pirat werden willst, um ein freies und unabhängiges Leben zu führen. Nein, ich denke, es gibt da einen anderen Grund. Und ich glaube, du willst aus genau demselben Grund dein Leben auf dem Festland für ein Leben auf dem Meer eintauschen, aus dem nur zu gern ich mein Leben auf dem Meer gegen das auf dem Festland eintauschen würde.“
Sie wich nun meinem Blick, aus dem sie die ganze Zeit, während sie gesprochen hatte, standgehalten hatte.
„Und aus welchem Grund sollte das sein?“, fragte ich sie nun herausfordernd.
Ihr Blick begegnete erneut meinem, aber diesmal war ihr Ausdruck eindringlicher, durchdringender, und ihre sonst so hellblauen Augen glichen einem dunklen, fast schwarzen Blau.
„Um der endlosen, kräftezehrenden, monotonen Langeweile deines alten Lebens zu entfliehen, und dafür würdest du alles tun. Sogar dein Leben in Gefahr bringen“, damit wandte sie sich von mir ab und stand auf.
Doch bevor sie hinunter auf das Deck und damit aus meiner Sichtweite verschwunden war, drehte sie sich noch einmal um.
„Morgen früh, wenn die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont scheinen, treffen wir uns genau hier. Bring einen Säbel mit. Wir wollen doch noch einen echten Piraten aus dir machen.“
Sie schenkte mir noch ein kurzes Lächeln, dann war sie auch schon verschwunden.
Ich blieb noch eine Weile am Bug sitzen und dachte über Kellys Worte nach.
Wir greifen an. Ein Schiff der englischen Krone. Mit viel Gold und wertvollen Schätzen an Bord.
Kellys Kampfunterricht hat bei mir gefruchtet und so wurde mir von Black Ed und Bloody Ann erlaubt, auf Raubzüge mitzugehen.