Planet Aqua - Jeremy Rifkin - E-Book

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Jeremy Rifkin

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Beschreibung

Zu lange haben wir Menschen eine dem Wesen unserer Existenz widersprechende Zivilisation und Infrastruktur aufgebaut, warnt der weltweit führende Ökonom und Vordenker Jeremy Rifkin. Denn jetzt rebelliert die Hydrosphäre unseres Planeten und ist dabei, unsere Spezies und unsere Mitgeschöpfe im Zuge des Klimawandels in ein Massensterben zu stürzen, während sie nach einem neuen Gleichgewicht sucht. Rifkin fordert uns auf, unseren Platz im Universum ganz neu zu definieren. Auf Basis solider Forschungsergebnisse nimmt er uns mit auf eine Reise in die Zukunft, auf der wir jeden Aspekt unseres Lebens überdenken müssen - wie wir mit der Natur umgehen, die Gesellschaft steuern, das Wirtschaftsleben konzipieren und uns in Zeit und Raum bewegen. Entscheidend ist, dass wir lernen, wie wir uns an die natürlichen Wasserkreisläufe anpassen können. »Eine dringend benötigte neue Dimension des Klimagesprächs und eine kluge Lektüre für Führungskräfte in der Wirtschaft, die unsere sich verändernde Welt steuern.« Paul Polman, ehemaliger CEO von Unilever, Business Leader, Klima- und Gleichstellungsaktivist »Eine völlig neue Geschichte über unser Heim im Universum, die hoffentlich die Art und Weise verändern wird, wie wir denken, handeln und zusammen mit unseren Mitgeschöpfen auf einem Wasserplaneten gedeihen.« Jane Goodall, Gründerin des Jane Goodall Instituts und UN-Friedensbotschafterin »Rifkins vorausschauendes Buch ist ein Wink an die Menschheit wie Gottes Weisung an Noah angesichts der katastrophalen Flut im Buch Genesis … Eine prophetische Botschaft, die wir aufnehmen, reflektieren und umsetzen müssen.« Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung »Nachdenklich stimmende und fesselnde Vision von der Zukunft der Menschheit, in deren Mittelpunkt das Wasser als Quelle des Lebens steht.« Sir Richard Branson, Gründer, The Virgin Group

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JEREMY RIFKIN

PLANET AQUA

UNSER ZUHAUSE IM UNIVERSUM NEU DENKEN

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer

Campus Verlag Frankfurt / New York

Über das Buch

Zu lange haben wir Menschen eine dem Wesen unserer Existenz widersprechende Zivilisation und Infrastruktur aufgebaut, warnt der weltweit führende Ökonom und Vordenker Jeremy Rifkin. Denn jetzt rebelliert die Hydrosphäre unseres Planeten und ist dabei, unsere Spezies und unsere Mitgeschöpfe im Zuge des Klimawandels in ein Massensterben zu stürzen, während sie nach einem neuen Gleichgewicht sucht. Rifkin fordert uns auf, unseren Platz im Universum ganz neu zu definieren. Auf Basis solider Forschungsergebnisse nimmt er uns mit auf eine Reise in die Zukunft, auf der wir jeden Aspekt unseres Lebens überdenken müssen - wie wir mit der Natur umgehen, die Gesellschaft steuern, das Wirtschaftsleben konzipieren und uns in Zeit und Raum bewegen. Entscheidend ist, dass wir lernen, wie wir uns an die natürlichen Wasserkreisläufe anpassen können.»Planet Aqua« liefert unseine völlig neue Geschichte über unser Heim im Universum, die hoffentlich unser Denken, Handeln und Zusammenleben mit anderen Lebewesen verändern wird.Jane GoodallPressestimmen zu »Das Zeitalter der Resilienz«:»Es mag immer die Frage bleiben, wie weit man ein System mit einer so starren Dynamik, wie sie der Kapitalismus hat, von innen erneuern kann. Wenn ein so vernünftiger, wissenschaftsgetriebener Mensch wie Jeremy Rifkin das tut, ist das allerdings mit Sicherheit ein erster Schritt in eine richtige Richtung.« Süddeutsche Zeitung»Es ist wohl nicht übertrieben, Jeremy Rifkins neuestes Werk als sein Opus Magnum zu bezeichnen.« Deutschlanfunk Kultur

Vita

Jeremy Rifkin ist einer der bekanntesten gesellschaftlichen Vordenker unserer Zeit. Er ist einer der maßgeblichen Architekten der auf die Bewältigung des Klimawandels zielenden Pläne der Europäischen Union und Chinas für den Übergang in eine dritte industrielle Revolution. Und er diente als Berater des Mehrheitsführers im Senat, Charles Schumer, für den US-Infrastrukturplan. Seine Bücher sind internationale, in 35 Sprachen übersetzte Bestseller und lösten weltweite Debatten zu den großen gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen aus, so zum Beispiel »Das Ende der Arbeit«, »Access« und »Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft«. 2019 erschien »Der globale Green New Deal«, 2022 sein Buch »Das Zeitalter der Resilienz«.

Für Carol L. Grunewald –

ein Leben im Gedankenaustausch

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Einleitung

Teil 1

Der Kollaps der hydraulischen Zivilisation

Kapitel 1

Am Anfang war das Wasser

Déjà-vu und die zweite Flut

Wir Wasserwesen: Wie der Mensch aus der Tiefe kam

Kapitel 2

Die Erde wird verdammt — Die Geburt der hydraulischen Zivilisation

Die Entstehung eines sozialen Organismus

Die Erfindung der Wirtschaft

Ertrinken im Fortschritt

Kapitel 3

Geschlechterkampf — Der Konflikt zwischen Mutter Erde und Planet Aqua

Von Göttinnen und Göttern

Frauen als Wasserträger

Kapitel 4

Paradigmenwechsel — Vom Kapitalismus zum Hydroismus

Der Komplex Wasser – Energie – Ernährung

Jenseits des Kapitalismus

Teil 2

Der Seismograf — Wie der Mittelmeerraum zum Ground Zero der Erderwärmung und zum Vorreiter der Wiederkehr des Lebens wurde

Kapitel 5

Nahtod und Wiedergeburt des Mittelmeerraums

Der Tag null: Wenn das Wasser versiegt

Die Auferstehung des mediterranen Ökosystems

Wasser überall, aber kein Tropfen zu trinken

Kapitel 6

Die Lage ist Trumpf — Der Superkontinent Eurasien

Die Brücke zwischen Europa und Asien

Teil 3

Leben auf Planet Aqua

Kapitel 7

Die Befreiung des Wassers

Die Schleusentore öffnen sich

Die Ausbeutung der Hydrosphäre

Kapitel 8

Die große Wanderung — Der Aufstieg der ephemeren Gesellschaft

Die Renaissance der ephemeren Kunst und das neue Verständnis von Raum und Zeit

Platons Holzweg

Kapitel 9

Eine neue Ortsbindung — Woher wir kommen und wohin wir gehen

Das neue Nomadentum

Ephemere Städte und Gewässer

Ein neues Geschäftsmodell: Additive Produktion und Netzwerke von Anbietern und Nutzern

Kapitel 10

Die Zukunft der Hightech-Landwirtschaft

Vertikale Landwirtschaft

Kapitel 11

Das Ende der souveränen Nationalstaaten und der Aufstieg der bioregionalen Verwaltung

Massenmigration und Klimapässe

Sicherheit neu denken: Militärische Verteidigung weicht dem Ziel der Klimaresilienz

Teil 4

Erhabene Gewässer und eine neue Ontologie des Lebens auf der Erde

Kapitel 12

Zwei Arten, dem Wasser zuzuhören

Das Wasser bezähmen oder auf den Wellen reiten?

Neuorientierung in fließender Raumzeit

Kapitel 13

Untergang im Metaversum oder Auftrieb im Aquaversum

Ökologische Vision oder dystopischer Alptraum: Zwei Wege in die Zukunft

Planet Aqua: Ein neues Verständnis unserer Heimat

Dank

Anmerkungen

Am Anfang war das Wasser

Die Erde wird verdammt

Geschlechterkampf

Paradigmenwechsel

Nahtod und Wiedergeburt des Mittelmeerraums

Die Lage ist Trumpf

Die Befreiung des Wassers

Die große Wanderung

Eine neue Ortsbindung

Die Zukunft der Hightech-Landwirtschaft

Das Ende der souveränen Nationalstaaten und der Aufstieg der bioregionalen Verwaltung

Zwei Arten, dem Wasser zuzuhören

Untergang im Metaversum oder Auftrieb im Aquaversum

Einleitung

Stellen Sie sich vor, die Menschheit würde eines Morgens aufwachen und feststellen, dass sich die Welt so fremd anfühlt, als wären wir auf einen anderen Planeten gebeamt worden, weil sich die Eckpfeiler unseres Daseins in Luft aufgelöst haben und wir uns unserer Situation hilflos ausgeliefert fühlen. Dieses erschreckende Szenario ist schon heute Wirklichkeit. Nichts von dem, was wir über unsere Heimat im Universum zu wissen glaubten, scheint mehr wahr zu sein. Die vertrauten Grundlagen, die uns ein Gefühl der Zugehörigkeit und Richtung vermittelt haben, haben sich quasi über Nacht in Luft aufgelöst, und wir fühlen uns wie Asylsuchende im eigenen Land. Jeder von uns ist auf ganz eigene Weise verunsichert und wir wissen nicht mehr, wo wir Trost finden und was wir tun sollen.

Was ist geschehen, dass wir uns auf unserem Heimatplaneten wie Fremde fühlen? So ungern wir das hören: Während der sechs Jahrtausende dessen, was wir als »Zivilisation« bezeichnen, haben wir uns vollkommen falsche Vorstellungen von unserer Existenz und unseren Lebensgrundlagen gemacht. Vereinfacht ausgedrückt haben wir Menschen gerade im Westen geglaubt, dass wir auf einer »Mutter Erde« leben, einem üppig grünen und unerschütterlichen Fundament, auf dem wir fest stehen und das wir unser Zuhause im Weltall nennen. Dieses Heimatgefühl wurde zum ersten Mal am 7. Dezember 1972 erschüttert.

Auf ihrem Weg zum Mond machten die Astronauten von Apollo 17 einen Schnappschuss von der Erde aus 29.400 Kilometern Entfernung. Das Foto zeigt eine blaue Kugel im Sonnenlicht und veränderte unsere gesamte Wahrnehmung von unserem Zuhause. Das Grün der Erde erwies sich als eine dünne Haut auf einem Wasserplaneten, der mit seinen zahlreichen Blauschattierungen in unserem Sonnensystem und vielleicht sogar im gesamten Universum einzigartig ist. Am 24. August 2021 prägte die Europäische Raumfahrtagentur ESA daher den Namen »Planet Aqua«. Die amerikanische National Aeronautics and Space Administration (NASA) stimmt zu und erklärt auf ihrer Website: »Wenn man unsere Erde aus dem Weltraum betrachtet, ist es offensichtlich, dass wir auf einem Wasserplaneten leben.«

Dieser Wasserplanet ist in letzter Zeit Gesprächsstoff an Esstischen genauso wie in Kommunen, Regierungen, Industrie und Zivilgesellschaft. Das liegt daran, dass die Hydrosphäre der Erde inzwischen auf eine Weise außer Rand und Band gerät, wie wir es noch vor wenigen Jahren für unmöglich gehalten hätten, und uns damit zum Abgrund des sechsten Massensterbens bringt. Die Wissenschaft erklärt uns, dass in den kommenden achtzig Jahren – die Lebensspanne der heute Geborenen – mehr als die Hälfte der heute lebenden Arten aussterben könnte.1 Diese Arten bevölkern den Planeten zum Teil schon seit vielen Jahrmillionen.

Unser Klima erwärmt sich durch die Freisetzung der Treibhausgase Kohlendioxid, Methan und Stickoxid in die Atmosphäre. Das hat auch Einfluss auf die Hydrosphäre: Mit jedem Grad Celsius der Erderwärmung verdunstet das Wasser aus dem Boden und dem Meer schneller in die Atmosphäre, die Wasserkonzentration in den Wolken steigt um 7 Prozent, und die Folge sind extremere Wetterereignisse – im Winter tiefere Temperaturen mit starken atmosphärischen Strömungen und Schneefällen, im Frühjahr gewaltige Überschwemmungen, im Sommer anhaltende Dürren, tödliche Hitzewellen und Feuersbrünste, und im Herbst katastrophale Wirbelstürme, die die Ökosysteme heimsuchen, das Leben von Menschen und unseren Mitlebewesen gefährden und gewaltige Schäden in der Infrastruktur anrichten.2

Ein Überblick über den bisher entstandenen Schaden muss unvollständig bleiben. Die Bilanz ist gleichwohl ernüchternd, doch wir müssen ihr ins Auge sehen, um uns aus unserer Leugnung, Gleichgültigkeit oder, schlimmer noch, Verzweiflung herauszureißen.

Aktuell sind 2,6 Milliarden Menschen von starkem oder extremem Wassermangel betroffen. Bis 2040 werden es insgesamt 5,4 Milliarden Menschen in 59 Ländern sein – mehr als die Hälfte der prognostizierten Weltbevölkerung.3

Aufgrund des Wassermangels könnte 2050 die Ernährung von 3,5 Milliarden Menschen gefährdet sein; heute sind es 1,5 Milliarden.4

In den vergangenen zehn Jahren ist die Zahl der durch Wasserknappheit verursachten Konflikte und Kriege weltweit um 270 Prozent gestiegen.5

Eine Milliarde Menschen lebt in Ländern, die nicht über die Mittel verfügen, um sich an neue Umweltbedrohungen anpassen zu können; so entstehen bis 2050 Bedingungen für die Klimamigration und Massenflucht ganzer Populationen.6

Überschwemmungen sind seit 1990 zur häufigsten Naturkatastrophe geworden und machen heute 42 Prozent aus. Besonders betroffen ist China, wo 2010 wegen Hochwasser und Schlammlawinen 15,2 Millionen Menschen evakuiert werden mussten. Auch in Europa haben Überschwemmungen an Häufigkeit und Ausmaß zugenommen und machen aktuell rund 35 Prozent der Naturkatastrophen auf dem Kontinent aus, Tendenz steigend.7

Dürren, Hitzewellen und gewaltige Waldbrände breiten sich auf allen Kontinenten aus, wo sie Ökosysteme vernichten und Infrastruktureinrichtungen zerstören.

Im Spätfrühjahr 2022 waren 32 Prozent der Vereinigten Staaten (ohne Alaska und Hawaii) von »starker bis extremer Trockenheit« betroffen.8 Im Jahr 2023 lebten 1,84 Milliarden Menschen – fast ein Viertel der Menschheit – in von schwerer Dürre betroffenen Ländern, 85 Prozent davon in Ländern mit mittleren oder unteren Einkommen.9

In weiten Teilen der Welt werden Rekordtemperaturen von 43 bis 50 Grad Celsius erreicht. Am 9. Juli 2023 kletterte das Thermometer im Death Valley auf 54 Grad Celsius und blieb damit nur knapp unter der höchsten jemals auf der Erde gemessenen Temperatur.10 Aus der Antarktis wurde während einer außergewöhnlichen Hitzewelle im April 2020 ein Rekord von 18,3 Grad Celsius gemeldet. Die Jahre von 2015 bis 2021 waren die wärmsten seit Beginn der Aufzeichnungen11 und im Juli 2023 erlebte der Planet die heißesten drei Tage in Folge, die je gemessen wurden.12

In den ersten neun Monaten des Jahres 2023 wurden in den Vereinigten Staaten durch 44.011 Brände 9.478 Quadratkilometer Land zerstört.13 Diese Feuersbrünste wurden noch weit in den Schatten gestellt von der Brandkatastrophe in Kanada vom Mai und Juni 2023, die innerhalb von nur sechs Wochen 185.000 Quadratkilometer boreale Nadelwälder zerstörte.14 In diesen Wäldern sind 12 Prozent des von Landökosystemen gebundenen Kohlenstoffs gespeichert; würde dieser durch Brände freigesetzt, entspräche dies der Menge, die durch die Verbrennung von fossilen Brennstoffen in 36 Jahren freigesetzt würde.15

Der Rauch der kanadischen Waldbrände beeinträchtigte auch in weiten Teilen der Vereinigten Staaten die Luftqualität; in New York färbte sich der Himmel orange und die Behörden sprachen von der schlechtesten Luftqualität der Welt. Dort sowie in Chicago, Washington, D.C., und anderen Großstädten des Landes wurde die Bevölkerung aufgerufen, zu Hause zu bleiben.

In neunzehn Nationen sind mindestens 10 Prozent der Bevölkerung vom Anstieg des Meeresspiegels betroffen. In den kommenden drei Jahrzehnten werden nicht nur die tiefliegenden Küstenregionen von China, Bangladesch, Indien, Vietnam, Indonesien und Thailand den Anstieg zu spüren bekommen, sondern auch Metropolregionen wie Alexandria in Ägypten, Den Haag in den Niederlanden oder Osaka in Japan.16

Bis 2050 werden 4,7 Milliarden Menschen in Ländern leben, die großen oder extremen Umweltgefahren ausgesetzt sind – knapp 50 Prozent der prognostizierten Weltbevölkerung.17

Bis 2050 könnten bis zu 1,2 Milliarden Menschen in aller Welt durch Klimakatastrophen aus ihrer Heimat vertrieben werden.18

Die Schmelze der Polkappen und Gletscher sowie die Entnahme beispielloser Mengen von Grundwasser zur Bewässerung und Trinkwasserversorgung haben die Gewichtsverteilung auf der Erde so verändert, dass sie die Rotation der Erdachse beeinflusst, mit nicht absehbaren Folgen für das künftige Leben auf der Erde.19

In den Weltmeeren lässt der Klimawandel den Sauerstoffanteil sinken; in einigen Regionen ist er um bis zu 40 Prozent gefallen.20

Bis 2050 befinden sich 61 Prozent aller Staudämme des Planeten in Flusstälern, die durch Dürre, Überschwemmung oder beides gefährdet sind.21

Rund 20 Prozent des verbleibenden Süßwassers auf der Erde befinden sich in den fünf Großen Seen Nordamerikas.22

Nach Angaben der Weltbank hat sich »die Menge an Süßwasser pro Kopf in den vergangenen fünfzig Jahren halbiert«.23

Nachdem wir den Planeten so lange geplündert haben, könnten wir nun zu seinen Rettern werden – aber nur vielleicht. Es gibt durchaus Anlass zur vorsichtigen Hoffnung, doch naiver Optimismus wäre unangebracht. Um die Wende zu schaffen, müssen wir uns selbst und unsere Beziehung zu unserem Planeten vollkommen neu verstehen. In einer Art Manöverkritik müssen wir uns klarmachen, wie es kommen konnte, dass die Menschheit vor gut sechs Jahrtausenden aus der Reihe aller anderen Lebewesen ausscherte, die sich fließend an einen lebendigen und sich ständig verändernden Planeten anpassten. Unsere frühesten Vorfahren waren Animisten, sie erlebten die Welt als pulsierenden, lebendigen und mit Geistwesen erfüllten Ort, und sich selbst erfuhren sie als untrennbaren Teil dieser grenzenlosen Natur. Der Bruch kam, als unsere Vorfahren begannen, mithilfe ihrer außergewöhnlichen geistigen Kapazität und körperlichen Geschicklichkeit ihre Umwelt nun umgekehrt an ihre Launen und Nützlichkeitserwägungen anzupassen und die Natur auszubeuten.

Vor sechs Jahrtausenden begannen unsere Vorfahren an den Ufern des Euphrat und Tigris24 in der heutigen Türkei und im Irak und wenig später am Nil in Ägypten,25 am Ghaggar-Hakra und Indus im heutigen Indien und Pakistan,26 am Gelben Fluss in China27 und schließlich auch im Römischen Reich,28 das Wasser für die ausschließliche Nutzung durch den Menschen zu bändigen. Sie bauten Dämme und Wasserspeicher, Deiche und Schleusen, gruben Kanäle und lenkten Flüsse in andere Bahnen, um das Wasser in Besitz zu nehmen und zu kommerzialisieren. Es war ein tiefer Eingriff in die Ökologie dieser Bioregionen. Mit dieser Infrastruktur begann etwas, das Historiker als urbane oder hydraulische Zivilisation bezeichnen. Das Auffangen von Wasser setzte sich bis in unsere Zeit ungebrochen fort und erreichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen neuen Höchststand.

Auch wenn Historiker und Anthropologen dieser gewaltigen Umorientierung der Hydrosphäre des Planeten kaum Beachtung geschenkt haben, von Soziologen und Wirtschaftswissenschaftlern ganz zu schweigen, wäre unser urbanes Leben ohne diese hydraulische Infrastruktur vollkommen undenkbar. Die Gesellschaften, Wirtschaftssysteme und Regierungsformen, die die Menschheit in den letzten sechs Jahrtausenden hervorgebracht hat, ruhen auf dem Fundament dieser Infrastruktur. Zwar haben Menschen in Nischen jenseits dieser gewaltigen Apparate existiert, einige sogar bis heute, doch es sind die großen urbanen hydraulischen Zivilisationen, die den historischen Fußabdruck der Menschheit geprägt haben.

Angesichts der Erderwärmung, die überwiegend dem auf fossiler Energie basierenden Komplex Wasser – Energie – Ernährung anzulasten ist, kollabiert die Zivilisation weltweit. An ihre Stelle tritt ein Neustart der Beziehung des Menschen zur Hydrosphäre des Planeten. Wir lernen einmal mehr, uns an die Anforderungen eines lebendigen, sich ständig verändernden und selbst organisierenden Planeten anzupassen. Die Hydrosphäre spielt dabei eine zentrale Rolle als Regisseur des Lebens. Wir benötigen heute eine Form des Neo-Animismus, basierend auf einer wissenschaftlich und technisch versierten Wiederannäherung an unseren vom Wasser geprägten Heimatplaneten.

Unsere Neuorientierung auf unserem entfesselten Planeten bringt uns zurück zu einer Vorstellung, die westliche Philosophen als »das Erhabene« bezeichnet haben. Der Gedanke geht zurück auf den irischen Denker Edmund Burke und seinen Aufsatz Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen aus dem Jahr 1757. Zeitgenossen griffen den Gedanken auf und machten das Erhabene zu einem zentralen Begriff der Aufklärung und der Romantik, der bis heute nachwirkt.

Burke beschrieb das Gefühl des »Schreckens oder Schmerzes«, von dem wir im Angesicht einer übermächtigen Naturgewalt überwältigt werden – sei es eine eindrucksvolle Bergkette, eine zerklüftete Schlucht, ein tobender Waldbrand, eine tosende Flut, ein rasender Wirbelsturm, eine wütende Windhose, ein aufschießender Geysir, ein Vulkan, der das Land unter glühendem Gestein und Asche begräbt, oder ein Erdbeben, das den Boden aufreißt und alles verschlingt. Aus sicherer Entfernung wird aus diesem Schrecken ein Gefühl der Ehrfurcht vor der entfesselten Naturgewalt. Diese Ehrfurcht gebiert Staunen über die gewaltigen Kräfte der Natur, sie beflügelt unsere Vorstellungskraft, sich über unser Dasein Gedanken zu machen, und gelegentlich stößt sie auch transzendente Erfahrungen an – ein neues Gefühl für unseren Platz im größeren Zusammenhang der Erde und des Lebens.

Die Erfahrung des Erhabenen hat eine philosophische Debatte über den Sinn des Lebens und unsere Verortung in der Welt angestoßen. Wenn sich unsere menschliche Familie heute dem Abgrund und der möglichen Auslöschung des Lebens auf der Erde nähert, rückt die Frage um den Umgang mit dem Erhabenen der Natur wieder in den Mittelpunkt. Jeder von uns stellt sich die große Frage, wie wir das Erhabene der Natur erleben können und ob dieses Erleben nur zu neuen und immer raffinierteren Formen des Utilitarismus führt oder zu einer achtsamen und mitfühlenden biophilen Wiedereingliederung in unser Zuhause im Universum.

Der Aufklärer Immanuel Kant war der Ansicht, im Angesicht des Schreckens, der Ehrfurcht und des Staunens trete die Vernunft – eine immaterielle Kraft, die über den Stürmen der Natur steht und ihrer Macht nicht ausgeliefert ist – auf den Plan, um mittels kühler Objektivität die Natur zu überwinden, zu bezähmen und auszubeuten, ganz im Interesse der Bedürfnisbefriedigung des Menschen. Die menschliche Vernunft bezwingt also den Drachen der Natur.

Der idealistische Philosoph Arthur Schopenhauer glaubte dagegen nicht an die Überlegenheit der Vernunft. Seiner Ansicht nach löst das Erhabene der Naturgewalt zwar zunächst ein Gefühl der Ohnmacht aus, doch es kann auch zu einer anderen Art der Transzendenz führen – einem mitfühlenden Bewusstsein für unsere Zugehörigkeit zu einem unteilbaren, lebendigen Planeten, auf dem jeder Mensch Akteur des ganzheitlichen Geschehens der Existenz ist.

Bis heute stehen sich objektivistischer Utilitarismus und biophile Zugehörigkeit unversöhnlich gegenüber – Künstliche Intelligenz, technische Singularität und Metaversum auf der einen Seite und fortschrittliche, neo-animistische Verbundenheit auf der anderen. Die Frage ist, ob die Menschheit auch weiterhin versuchen wird, die Natur ihrem rationalen Willen zu unterwerfen, oder ob sie den Neustart wagt, sich an die Natur anpasst und sich wieder in die Gemeinschaft des Lebens auf Planet Aqua einreiht.

Dazu müssen wir uns allerdings zunächst einmal klarmachen, dass wir auf Planet Aqua leben. Das Wasser ist unser Milieu, das Medium, in dem wir leben und gedeihen. Die Hydrosphäre ist kein Objekt, sondern Medium und lebensspendende Kraft unseres Planeten. Sie ist der Antrieb der anderen drei großen Sphären des Lebens – der Lithosphäre, der Atmosphäre und der Biosphäre – und Brutkasten allen künftigen Lebens.

Als Erstes müssen wir dazu unsere Ontologie verstehen – die wahre Natur unserer Existenz –, und dann müssen wir dieses Verständnis umsetzen. Dieses Buch erzählt eine Geschichte. Sie beginnt damit, wie wir uns und unsere Mitlebewesen an den Rand der Auslöschung gebracht haben, und endet bei dem Weg, den wir im heraufziehenden neuen Zeitalter einschlagen müssen. Diese neue Erzählung und dieser neue Weg könnte uns und unseren Mitlebewesen einen Neuanfang auf Planet Aqua ermöglichen.

Nichts in diesem Buch ist Theorie, alles wurzelt in den realen Erfahrungen, die uns an diesen Scheideweg unserer Geschichte gebracht haben. Wir wissen nicht, wie sich das neue »Erhabene« zeigen wird. Das hängt davon ab, für welche Zukunft wir uns entscheiden, aber auch von Schmetterlingseffekten und den Wendungen des Schicksals, die uns auf Planet Aqua erwarten.

Die Daten zeigen jedenfalls, dass unsere urbane hydraulische Zivilisation nach sechs Jahrtausenden vor dem Kollaps steht. Die Erwärmung des Planeten hat die lange gebändigte Hydrosphäre entfesselt. Unser Wasserplanet entwickelt sich in eine gänzlich neue Richtung, die wir kaum verstehen. Ökosysteme brechen zusammen, Infrastruktur wird vernichtet, und das Überleben der Menschheit und ihrer Mitlebewesen ist zunehmend in Gefahr. Unsere gesamte Zivilisation wird zu Strandgut und muss auf ganz neue Weise vorgestellt, gedacht und genutzt werden.

So zeigte zum Beispiel eine 2023 veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern der Northwestern University in den Vereinigten Staaten, dass der Klimawandel auch den Untergrund erwärmt und verformt und dass Gebäude, aber auch Wasser-, Gas- und Stromleitungen, U-Bahn-Schächte und andere unterirdische Infrastruktur bedroht sind.29 In Chicago ist dies bereits zu beobachten, und viele der Gebäude, die die Stadt zu einer architektonischen Ikone des 20. Jahrhunderts gemacht haben, sind gefährdet. Auf allen Kontinenten werden Metropolen versinken, und zwar nicht erst in einigen Jahrtausenden, sondern eher innerhalb der kommenden anderthalb oder zwei Jahrhunderte. Das wäre das Ende des urbanen Lebens, wie wir es kennen.

Aber wie es so schön heißt, die Krise ist auch eine Chance. Die Menschheit steht vor der größten Bedrohung ihrer Geschichte: einem massenhaften Artensterben, das sich noch zu Lebzeiten unserer Kinder abspielen wird. Unsere große Aufgabe besteht darin, uns im Einzelnen klarzumachen, woher wir kommen, woran wir glauben und wie wir leben, um eine neue Beziehung zu unserem Planeten und seiner entfesselten Hydrosphäre herzustellen.

Dieser Prozess ist bereits im Gange. Wir können dabei zusehen, wie die urbane »hydraulische Zivilisation« in aller Welt versinkt, während sich Anfänge einer »ephemeren Gesellschaft« abzeichnen, die sich an die unberechenbare Hydrosphäre anpasst. Während sich Erstere durch lange Phasen der Sesshaftigkeit und kürzere Phasen des Nomadendaseins auszeichnet, kehrt sich in Letzterer das Verhältnis um.

Im Zuge dieses Umbruchs lernen wir ein ganz neues Vokabular für die Prozesse, Muster und Praktiken rund um die entfesselte Hydrosphäre auf Planet Aqua: »Slow Water«-Bewegung, »Wasserinternet und Mikronetzwerke«, »Schwammstädte«, »Wasserkalender« und »Wasserjahr« sind nur einige der Neuschöpfungen, die unser Leben auf Planet Aqua beschreiben. Ein weiteres Schlagwort ist die »Entsiegelung«, mit der durch Teer oder Beton versiegelte Flächen geöffnet und durch Grünflächen ersetzt werden, in denen das Wasser in den Boden eindringen und seine natürlichen Wege gehen kann. Oder die »solare Meerwasserentsalzung« – bis 2050 wird schätzungsweise eine knappe Milliarde Menschen Trinkwasser erhalten, das mittels Sonnen- und Windenergie aus Meerwasser aufbereitet wurde. Schon heute kommen tragbare Osmosegeräte auf den Markt, die weniger Strom verbrauchen als ein Handy und auf einem von Dürre versehrten Planeten ein unersetzliches Alltagszubehör werden.30

Infolge der Erderwärmung kommt ein neues Nomadentum auf, das unsere gesamte Vorstellung von Infrastruktur auf den Kopf stellt. Pop-up-Städte, recycelte Infrastruktur, Behelfsunterkünfte aus dem 3D-Drucker, KI-gesteuerte vertikale Gewächshäuser sowie Kunstfleisch und Insektenzucht, die nur noch einen Bruchteil des Wassers benötigen, das in der konventionellen Landwirtschaft verbraucht wird, die Kartierung von Migrationskorridoren und die Ausgabe von Klimapässen stehen erst am Anfang, doch wir werden ihnen immer häufiger begegnen, wenn immer mehr Menschen aus den von der Erderwärmung getroffenen dicht besiedelten Gebieten aufbrechen. Die entfesselte Hydrosphäre verändert die Siedlungsmuster in aller Welt, und das Wasser entscheidet darüber, wie wir und unsere Mitlebewesen uns über den Planeten verteilen.

In Nationalstaaten und festen Grenzen gefangene Regierungen geraten schon heute durch grenzüberschreitende »bioregionale« Institutionen unter Druck, die Verantwortung für gemeinsame Ökosysteme übernehmen. An die Stelle der Globalisierung, die aufgrund der Erderwärmung sowie der Gefährdung von Lieferketten und Seehandel durch globale Katastrophen bereits im Abschwung begriffen ist, tritt die Glokalisierung, das heißt, agilere mittelständische Hightech-Unternehmen rund um den Erdball kooperieren zu verschwindend geringen Grenzkosten direkt in digitalen Netzwerken aus Anbietern und Nutzern und umgehen dabei die traditionellen kapitalistischen Märkte von Käufern und Verkäufern.

Auch die greise »Geopolitik«, die in einem quälenden Endspiel gefangen ist, gerät allmählich unter Druck durch eine neue »Biosphärenpolitik«, denn die Menschheit hat bemerkt, dass wir und unsere Mitlebewesen in einer ganzheitlichen Biosphäre leben und diese teilen müssen. Der Schritt zur Biosphärenpolitik geht einher mit einer ersten Abkehr von der klassischen militärischen Verteidigungspolitik, die dem Schutz der Grenzen und des nationalen Eigentums dient, und einer Hinwendung zu einer grenzüberschreitenden Politik des Klimakatastrophenschutzes.

Der Aufstieg der sogenannten ephemeren oder flüchtigen Gesellschaft bringt auch neue Begriffe zur Beschreibung des Wirtschaftslebens. Eine ökologische Wirtschaftswissenschaft, die sich an den ersten beiden Gesetzen der Thermodynamik orientiert, führt zu einem hybriden Wirtschaftssystem, das nur noch bedingt marktwirtschaftlich funktioniert und in dem das Finanzkapital zunehmend dem ökologischen Kapital untergeordnet ist. Wasser wird zum neuen Angelpunkt der ephemeren Gesellschaft.

Auf Planet Aqua verschieben sich die zentralen Werte: Die Effizienz weicht der Anpassungsfähigkeit, die Produktivität der Regenerativität und das Bruttoinlandsprodukt den Indikatoren der Lebensqualität. Nullsummenspiele verlieren an Bedeutung und das Netzwerk wird zur Norm.

Das Leben auf Planet Aqua bringt neue Formen der Leistungsmessung hervor. Der Komplex Wasser – Energie – Ernährung und ein »virtueller Wasserindex« zur Verteilung von Wasser für die lokale Nutzung beziehungsweise den Im- und Export werden neben der Kohlendioxidbilanz zu neuen Messgrößen beim Handel auf dem Wasserplaneten.

Mit dem Niedergang der urbanen hydraulischen Zivilisation und dem Aufstieg der ephemeren Gesellschaft wächst die Einsicht, dass »Wasserrechte« der wichtigste Motor und die Vitalkraft allen Lebens auf Planet Aqua sind. In aller Welt verabschieden Länder erste Gesetze zum Schutz von Ozeanen, Seen, Flüssen und Überschwemmungsgebieten, mit denen sie die Renaturierung der Hydrosphäre ermöglichen, und ahnden Verstöße.

Diese gewandelte Wahrnehmung unseres Planeten im kosmischen Theater bietet die Chance für einen Neustart unserer Reise in eine neue und lebensbejahende Zukunft. Wir leben auf einem Wasserplaneten, und diese Tatsache bestimmt jeden Aspekt unseres Lebens. Ein erster großer Schritt zur neuerlichen Harmonisierung mit dem Wasser wäre es, unsere Heimat im Universum in »Planet Aqua« umzubenennen und diesen Namen in unseren Verfassungen, Gesetzen und Verordnungen zu verwenden. Das würde den Aufbruch in eine transzendente Reise zur Wiedererweckung des Lebens auf unserem vom Wasser bestimmten Planeten markieren.

Diese und zahllose andere Entscheidungen, die kommende Generationen treffen werden, entscheiden darüber, ob sich die Menschheit erneuert und das Leben auf unserem Planeten neuen Atem erhält. Vor uns liegt eine einzige Aufgabe: Wir müssen unseren Frieden mit der entfesselten Hydrosphäre schließen und neue Wege finden, gemeinsam mit unseren Mitlebewesen aufzublühen. Alles andere ist Zeitverschwendung.

Teil 1

Der Kollaps der hydraulischen Zivilisation

Kapitel 1Am Anfang war das Wasser

Seit Beginn der Geschichte beschäftigt die Menschheit ein großes Rätsel: Woher kommt das Leben? Die ältesten Antworten finden sich in den ersten Zeilen des Buchs Genesis der Bibel. Der französische Talmud-Gelehrte Schlomo ben Jizchak, besser bekannt unter dem Namen Raschi, merkte im 11. Jahrhundert an, der Schöpfungsbericht beginne mit dem verblüffenden Eingeständnis, dass das Wasser bereits vorhanden war, ehe Gott Himmel und Erde erschuf.1 »Im Anfang erschuf Gott Himmel und Erde. Die Erde war wüst und wirr und Finsternis lag über der Urflut und Gottes Geist schwebte über dem Wasser.«2

Gott schied die Urflut und schuf Himmel und Erde und Tag und Nacht, und er bevölkerte die Meere und das Land mit Lebewesen. Zum Abschluss schuf er Adam und Eva, seine liebsten Geschöpfe, die er aus Staub nach seinem Bild formte. Die biblische Schöpfungsgeschichte war allerdings keineswegs die einzige, die von der Existenz einer Urflut vor der Schöpfung erzählt. Die ältere babylonische Zivilisation kannte eine ähnliche Version, genau wie andere Schöpfungsberichte aus aller Welt. Seit Naturwissenschaftler die Geheimnisse der Entstehung des Universums und der Evolution unseres Planeten entschlüsseln und dabei auf die zentrale Rolle des Wassers stoßen, wächst auch das Interesse an diesen Erzählungen von einer Urflut.

Diese Erzählungen von den Anfängen der Erde, die das Wasser noch vor die Ankunft des Lebens stellen, werden in unseren Zeiten des chaotischen Umbruchs in der Hydrosphäre unseres Planeten geradezu überlebenswichtig. Die Erderwärmung, verursacht durch die Verbrennung von fossilen Brennstoffen und die damit einhergehende Freisetzung von Kohlendioxid, Methan und Stickoxiden, beeinträchtigt zwar alle vier Sphären der Erde – die Hydrosphäre, die Lithosphäre, die Atmosphäre und die Biosphäre –, doch die größten Auswirkungen hat sie auf Erstere. Die heutigen Ökosysteme der Erde, die vor elftausend Jahren während der milden Klimaphase des Holozäns entstanden, kollabieren zusehends unter dem Klimawandel und der Entfesselung des Wassers und stehen am Rande des sechsten Massensterbens der Erdgeschichte. (Das letzte vergleichbare Artensterben liegt 65 Millionen Jahre zurück.)

Gleichzeitig bemüht sich die Wissenschaft verzweifelt um ein besseres Verständnis der Hydrosphäre und ihres Zusammenspiels mit der Lithosphäre, der Atmosphäre und der Biosphäre, um sich auf die Veränderungen der Meeresströmungen und des Golfstroms, die Schmelze der Überreste der letzten Eiszeit sowie die Veränderungen der tektonischen Bewegungen und die damit einhergehende Zunahme der Beben und Ausbrüche von Meeresvulkanen einstellen zu können. Wer noch Zweifel haben sollte, welche Bedeutung das Wasser für die weitere Entwicklung unseres Planeten hat, kann sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse ansehen, die den Einfluss der Verteilung des Wassers auf die Neigung der Erdachse nachweisen.3 Das lässt sich seit den 1990er-Jahren beobachten, seit in der Arktis die Schmelze der letzten Gletscher und Eisschilde des Pleistozäns begann. Die dadurch freigesetzten Wassermassen verteilen sich über die Weltmeere, verändern die Gewichtsverteilung auf dem Planeten und beeinflussen die Erddrehung.4

Aktuellere Untersuchungen haben gezeigt, dass auch die Entnahme von Grundwasser durch die Landwirtschaft, die nötig ist, um die inzwischen mehr als acht Milliarden Menschen zu ernähren, zu einer Umverteilung des Wassers führt – und zwar in einem Maße, das die Erdachse verschiebt. In Indien wurden allein im Jahr 2010 rund 350 Milliarden Kubikmeter Grundwasser aus dem Erdboden entnommen. Die Verschiebung der Erdachse durch den menschengemachten Klimawandel mag lediglich dazu führen, dass der Tag um eine Tausendstelsekunde länger oder kürzer wird, doch das genügt, um den gewaltigen Einfluss des Wassers auf den Planeten zu demonstrieren.5

Die Frage, die sich Wissenschaftler stellen, ist: Woher kam das Wasser ursprünglich, und wie war seine Zusammensetzung? Astronomen glauben schon lange, dass es im gesamten Universum Wasser gibt und dass es vor 3,9 Milliarden Jahren in einem Hagel von Eiskometen auf die junge Erde kam. Aktuellere Untersuchungen begünstigen dagegen eine zweite Erklärung, derzufolge Wasser aus geschmolzenem Gestein unter der Erdoberfläche stammt.6 Neue Erkenntnisse lassen außerdem vermuten, dass es auf der jungen Erde keine Kontinente gab, was Anklänge an die biblische Beschreibung einer Urflut vor der Erschaffung des Landes birgt.7

Auch wenn die Wissenschaft den Zusammenhang zwischen Wasser und der Evolution des Lebens noch nicht endgültig geklärt hat, ist unbestritten, dass sämtliche Lebewesen auf der Erde überwiegend aus Wasser bestehen. Was uns zurückbringt zum Garten Eden und zu Adam, der laut Schöpfungsbericht aus Staub oder Lehm geformt wurde. In Wirklichkeit bestehen Spermien überwiegend aus Wasser, und der menschliche Embryo reift im Fruchtwasser der Gebärmutter heran. In einigen Organismen beträgt der Wasseranteil 90 Prozent, und bei einem erwachsenen Menschen sind es immerhin 60 Prozent.8 Dabei besteht das Herz zu 73 Prozent aus Wasser, die Lungen zu 83 Prozent, die Haut zu 64 Prozent, die Muskeln und Nieren zu je 79 Prozent und die Knochen zu 31 Prozent.9 Blutplasma, die hellgelbe Mischung, die Blutkörperchen, Enzyme, Nährstoffe und Hormone transportiert, ist zu 90 Prozent Wasser.10

Wasser steht im Mittelpunkt aller lebendigen Systeme. Die Liste ist eindrucksvoll:

[Wasser ist] ein lebenswichtiger Bestandteil im Leben jeder Zelle und ihr Grundbaustein. Es reguliert die Körpertemperatur durch Schweiß und Atmung. Die Kohlenhydrate und Proteine, die unser Körper als Nahrung benötigt, werden mithilfe von Wasser verstoffwechselt und im Blut transportiert. Über Wasser in Form von Urin werden Abfälle aus dem Körper ausgeschieden. Wasser dient als Stoßdämpfer für das Gehirn, das Rückenmark und den Fötus. Es bildet Speichel und schmiert die Gelenke.11

Rund um die Uhr fließt Wasser in unsere Körper hinein und wieder hinaus. Unser Körper ist ein offenes System, durch seine halbdurchlässigen Hüllen gelangt das Süßwasser aus der Hydrosphäre der Erde in unseren Körper, übernimmt dort Lebensfunktionen, um dann wieder in die Hydrosphäre abgegeben zu werden. Dieser Wasserkreislauf unterstreicht, dass der menschliche Körper – und der aller Lebewesen – keine feste Struktur ist, sondern ein Muster fließender Aktivitäten, und dass er kein geschlossenes System ist, das Energie aufnimmt, um sein autonomes Selbst zu ernähren, sondern ein dissipatives System, das sich von Energie ernährt und Entropie ausscheidet.

Jeder Mensch weiß intuitiv, dass Wasser Leben ist. Ohne Essen können wir in der Regel gut drei Wochen überleben, doch ohne Wasser höchstens drei bis vier Tage. Doch heute ist der Wasserkreislauf in Unordnung geraten, er verändert die Dynamik aller anderen irdischen Sphären und gefährdet unser Überleben und das aller anderen Spezies. An diesem Punkt waren wir schon einmal.

Déjà-vu und die zweite Flut

Am Anfang der Geschichte, wie sie Menschen in aller Welt erzählen, steht eine große Flut, die den gesamten Erdball bedeckte. In der biblischen Tradition schickt Jahwe einen Regen, der alles Leben ertränkt, mit Ausnahme von Noah und seiner Familie sowie einem Paar von jeder Tierart, die auf der Arche gerettet werden. Andere Kulturen erzählen ähnliche Geschichten von einer Flut und der Rettung der Schöpfung. In den letzten Jahren haben Wissenschaftler tatsächlich Belege für katastrophale Überschwemmungen gefunden, die mit dem Ende der letzten Eiszeit verschiedene Regionen der Welt heimsuchten. In Eurasien, Nordamerika und anderswo tauten gewaltige von Eis aufgestaute Seen auf, einst gefrorene Flüsse traten über die Ufer und brachten Tod und Verderben. Die durch die Schmelze verursachten Verheerungen gruben sich offenbar tief in das kollektive Gedächtnis unserer Vorfahren ein und sind die älteste historische Erinnerung, die erst mündlich und später schriftlich bis in die Gegenwart überliefert wurde.

Zehntausend Jahre später, inmitten der Erwärmung des Planeten, lehnt sich die Hydrosphäre ein weiteres Mal auf. Wissenschaftler vermuten, dass die Hälfte aller Spezies in den kommenden achtzig Jahren vom Aussterben bedroht sind.12 Diese Arten leben zum Teil seit Jahrmillionen auf der Erde. Wissenschaftler debattieren heftig über die möglichen Ursachen für dieses Massensterben. Die meisten sehen die Verantwortung bei der Industrie und der Verbrennung von fossilen Brennstoffen, die gewaltige Mengen von Kohlendioxid, Methan und Stickoxiden in die Atmosphäre freisetzt und das Klima erwärmt. Diese Position wird auch durch zahlreiche geologische Beweise gestützt. Andere vertreten die Auffassung, dass der Weg in die Auslöschung bereits mit der Entstehung der ersten großen hydraulischen Zivilisationen im Nahen Osten, Nordafrika, Indien und China vor rund sechstausend Jahren begann.

Während 95 Prozent seiner Geschichte lebte der Homo sapiens als Jäger und Sammler und passte sich genau wie seine Mitlebewesen fortwährend an die Jahreszeiten und die Schwankungen der Natur an.13 Die Hominiden, deren Evolution vor rund 200.000 bis 300.000 Jahren im Homo sapiens gipfelte, lebten auf einem gefährlichen Planeten mit langen Eiszeiten, gefolgt von Warmphasen. Mit dem Rückzug der Gletscher des Pleistozäns vor rund zehntausend Jahren begann das gemäßigte Klima, das wir heute kennen. Mit dem Beginn des Holozäns nahmen unsere Vorfahren eine sesshafte Lebensweise auf, die sich durch Ackerbau und Viehzucht auszeichnete, und es folgte der Aufstieg der urbanen und hydraulischen Zivilisationen vor rund sechstausend Jahren im Nahen Osten und kurz darauf in Indien und China. Erstmals in der Geschichte des Lebens auf der Erde drehte der Mensch die Richtung der Anpassung um: Er folgte nicht mehr dem Auf und Ab der Natur wie alle anderen Lebewesen, sondern passte umgekehrt die Natur an seine Wünsche und Bedürfnisse an. Das war der Anbruch der urbanen Zivilisation – eine über sechs Jahrtausende währende Ära, die mit dem auf der Verbrennung von fossilen Brennstoffen basierenden Industriezeitalter, dem Aufstieg des Kapitalismus, der Erderwärmung und der Entfesselung der Hydrosphäre einen vorläufigen Höhepunkt gefunden hat.

Zur Veranschaulichung einige Zahlen aus den Vereinigten Staaten: Im vergangenen Jahrzehnt erlebte das Land 22 Extremwetterereignisse (die der Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft Schaden von über einer Milliarde Dollar zufügten), die mit Klimawandel und der radikalen Neuorientierung der Kreisläufe der Hydrosphäre zusammenhingen.14 Allein im Jahr 2021 richteten Klimakatastrophen dort Schäden in Höhe von mehr als 145 Milliarden Dollar an, darunter eine Kältewelle im Süden, gewaltige Waldbrände in Arizona, Kalifornien, Colorado, Idaho, Montana, Oregon und im Bundesstaat Washington, eine Dürre und Hitzewelle im Sommer und Herbst im Westen der Vereinigten Staaten, massive Überschwemmungen in Kalifornien und Louisiana, zahllose Windhosen, vier Wirbelstürme und sieben weitere schwere Wetterereignisse. Nach Berechnung der Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde (NOAA) verursachten mit dem Klimawandel zusammenhängende Extremwetterereignisse – alle im Kontext der sich rasch verändernden hydrologischen Kreisläufe – zwischen 2017 und 2021 Schäden in Höhe von mehr als 742 Milliarden Dollar.15 Zum Vergleich: Der 2021 verabschiedete Infrastrukturplan der US-Regierung, der über das kommende Jahrzehnt hinweg die Treibhausemissionen reduzieren und die Infrastruktur für eine klimaresistente Dritte Industrielle Revolution aufbauen soll, sah lediglich 550 Milliarden Dollar für Klimaprogramme vor. Schon 2021 lebten 40 Prozent aller Amerikaner in einem von Klimakatastrophen heimgesuchten Land.16

Mehr noch, 43 Prozent der Bevölkerung leben in Kommunen, die auf Dämme, Deiche, Stauseen und künstliche Riffe angewiesen sind. Ein großer Teil dieser Infrastruktur ist altersschwach und reparaturbedürftig, Dämme sind durchschnittlich fast sechzig Jahre alt und Deiche über fünfzig.17 Diese Anlagen sind nicht auf die Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen, Brände und Wirbelstürme des zunehmend unberechenbaren hydrologischen Kreislaufs ausgelegt. Die Vereinigten Staaten stehen mit diesem Problem nicht allein da. Eine 2022 in der Fachzeitschrift Water veröffentlichte Studie geht davon aus, dass 2050 rund 61 Prozent aller Staudämme des Planeten in Flusstälern liegen werden, »die durch Dürren, Überschwemmungen oder beides stark bis extrem gefährdet sind«.18 Jedes Land steht vor einem ähnlichen Dilemma: Entweder müssen wir die hydraulische Infrastruktur kontinuierlich instand halten und erneuern, was nicht zu schaffen ist, oder wir müssen zulassen, dass das Wasser seinen Weg nimmt, und ein neues Gleichgewicht suchen. Letzteres bedeutet massive Entschädigungen und Umsiedlungen der Menschen in nicht gefährdete Gebiete, um das Wasser zu renaturieren und dem erblühenden Leben neue ökologische Räume zu eröffnen.

Wir können nicht behaupten, man hätte uns nicht gewarnt. Wissenschaftliche Vordenker läuten seit langem die Alarmglocken, darunter auch der renommierte russische Geochemiker Wladimir Wernadski, der bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Biosphäre sprach und die Hydrosphäre als entscheidende Instanz für die Evolution des Lebens auf der Erde beschrieb. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mutmaßte der amerikanische Biologe, Physiologe, Chemiker und Philosoph Lawrence Joseph Henderson, das Wasser könne das fehlende Bindeglied zwischen der belebten Erde und dem Kosmos sein.19 In jüngerer Zeit formulierten die Biologin Lynn Margulis und der Chemiker James Lovelock die inzwischen allgemein akzeptierte Hypothese von der Erde als selbstorganisiertem System, das sie Gaia nannten; auch sie sorgten sich um die Auswirkungen der menschlichen Zivilisation auf die Hydrosphäre der Erde.20 Wernadski, Henderson und Margulis waren sich einig, dass das Wasser die Lebenskraft der Erde und vermutlich auch des übrigen Universums ist. In jüngerer Zeit haben Chemiker, Physiker und Biologen begonnen, die unerforschten Eigenschaften des Wassers aufzuschlüsseln.

Wir Wasserwesen: Wie der Mensch aus der Tiefe kam

Dieses Buch erzählt eine neue Geschichte von der Entstehung des Lebens auf der Erde, die das Wasser zum Protagonisten macht und unsere Wahrnehmung von uns und unserer Beziehung zu unserem blauen Planeten verändern will. Wir Menschen haben uns zwar schon beinahe daran gewöhnt, uns als Nachfahren unserer nächsten Verwandten, der Primaten, zu verstehen, doch tatsächlich reichen unsere evolutionären Wurzeln sehr viel weiter zurück, nämlich bis in die Tiefe der Ozeane. Paläontologen wissen schon lange, dass die wahren Ursprünge unserer Spezies bei den allerersten Mikroorganismen in den Weltmeeren liegen, doch über die Vorgeschichte unserer Spezies gab es lange Zeit kaum belastbare Daten.

Einige der Lücken wurden in den letzten Jahrzehnten geschlossen. Im Jahr 2006 berichtete Neil Shubin von der University of Chicago in zwei in der Zeitschrift Nature veröffentlichten Artikeln, bei einer Grabung in einer alten Felsformation im Bird Fjord auf der kanadischen Insel Ellesmere Island hätten er und sein Team die fossilen Überreste eines bis zu 2,75 Meter langen Lebewesens gefunden, das vor 375 Millionen Jahren lebte, just als die ersten vierbeinigen Landwirbeltiere aus Fischen hervorgingen. Diese sogenannten Tetrapoden hatten Fischschuppen und Kiemen, aber auch anatomische Merkmale, wie sie nur bei Tieren gefunden werden, die einige Zeit an Land verbringen. Shubin und seine Kollegen gaben dem Wesen den Namen »Fishapod«.21 Das Tier hatte einen runden Schädel und einen beweglichen Hals und trug seine Augen wie die späteren Krokodile hoch auf dem Kopf, um aus dem Wasser den Horizont überblicken zu können. Außerdem hatte es einen großen Brustkorb mit verschränkten Rippen, was auf Lungenatmung hindeutete. Die Wissenschaftler vermuteten, dass der Rumpf stark genug gewesen sein müsse, um das Tier in Flachwasser oder an Land zu tragen. Bei der Untersuchung der Brustflossen stießen die Wissenschaftler auf etwas Unerwartetes: die Anfänge der für Tetrapoden typischen Hand, eine Urform eines Handgelenks und fünf fingerähnliche Knochen. Shubin rief aus: »Das ist unser Zweig! Wir sehen hier unseren Ur-Ur-Ur-Ur-Cousin!«22

Im Jahr 2021 brachen Wissenschaftler der Universität Kopenhagen mit 160 Jahre alten Vorstellungen von der Entwicklung des Lebens auf der Erde.23 Mit der Entschlüsselung des Genoms eines primitiven Fischs räumten sie mit der gängigen Vorstellung auf, dass vor 370 Millionen Jahren die ersten primitiven echsenartigen Tiere ihre Flossen zu Gliedmaßen umbauten, Organe zur Atmung an der Luft entwickelten und begannen, das Land zu erobern. Ihre Erkenntnisse zeigen, dass die Fische schon 50 Millionen Jahre früher über Gene für gliedmaßenartige Formen und primitive Lungen verfügten. Menschen und ein archaischer Fisch namens Flösselhecht, der bis heute in den Meeren vorkommt, haben sogar eine anatomische Gemeinsamkeit im Herz-Kreislauf-System, den sogenannten Conus arteriosus, einen kegelförmigen Übergang der Lungenarterie in die rechte Herzkammer, über den der Körper mit Sauerstoff versorgt wird. Diese genetische Gemeinsamkeit zwischen uns und einem urzeitlichen Fisch ist eine außergewöhnliche Entdeckung und zeigt, dass wir eine gemeinsame genetische Geschichte mit einem Tier haben, das seit Hunderten von Jahrmillionen im Meer lebt. Wir haben also eine Verbindung zu den urzeitlichen Gewässern, in denen sich das Leben über Äonen hinweg entwickelt hat.24

Wir sind Wasserwesen, vom ersten Moment des Lebens in der Gebärmutter an. Der Körper eines Erwachsenen besteht zu 60 Prozent aus Wasser und der eines Fötus aus bis zu 70 bis 90 Prozent, auch wenn der Anteil zur Geburt hin abnimmt.25 Zehntausend Jahre alte Felszeichnungen zeigen unsere Vorfahren als Brustschwimmer, und auf gut sechstausend Jahre alten Tonsiegeln aus Ägypten sind Menschen beim Kraulen zu bewundern.26 Hinweise auf das Schwimmen finden sich auch im Gilgamesch-Epos, einem der ältesten bekannten literarischen Werke, das zwischen 2100 und 1200 v. Chr. in Mesopotamien entstand.27

Die gesamte Geschichte des Menschen ist in Wasser getaucht. Wir trinken, schwimmen, tauchen, treiben, planschen und baden, wir werden mit Wasser getauft, kommunizieren mit der Geisterwelt der Tiefe und nutzen Wasser in unserem wirtschaftlichen und sozialen Leben – von der Zeugung bis zum Tod leben wir innerlich und äußerlich in einem wässrigen Milieu. Und die Wassermoleküle, aus denen sich unser flüssiges Dasein – unsere Zellen, Gewebe und Organe – zusammensetzt, fließen fortwährend weiter von neuen Behältnissen und einer neuen Realität zur nächsten. In der Bibel heißt es »Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück«, doch das Leben auf unserem blauen Planeten wäre besser beschrieben als ein Strömen von einer flüssigen Umgebung zur nächsten.

Die genetische Beziehung zu unseren ozeanischen Vorfahren könnte möglicherweise sogar noch tiefer reichen, doch während unseres Wachdaseins bleibt sie uns weitgehend verborgen. Viele unserer Träume haben Wasser zum Gegenstand oder als Leitmotiv. In diesen Wasserträumen geht es oft um unsere intimsten Gefühle – die Ängste, Hoffnungen, Befürchtungen und Erwartungen, die im Unbewussten liegen und unsere Fantasie anstoßen. In der Psychoanalyse werden Träume vom Ertrinken oft als Hinweis auf Überlastung verstanden, während Träume, in denen wir unter Wasser getaucht werden, mit spiritueller Reinigung, Wiedergeburt oder einer Erneuerung des Lebens assoziiert werden. Die Wassermetapher in Träumen gestattet der Psyche besser als jedes andere Bild, die eigenen Tiefen zu erforschen, was vermuten lässt, dass es sich bei der engen Beziehung des Menschen zu Wasser um eine Erinnerung im Innersten unseres kollektiven Unbewussten handelt.

Der Religionsphilosoph Mircea Eliade beschrieb dieses intuitive Gefühl der Menschen für die Bedeutung des Wassers als Lebenskraft:

Das Wasser symbolisiert die Summe der Möglichkeiten. Es ist fons et origo, die Mutter von allem, was existieren kann … Prinzip des Undifferenzierten und Virtuellen, Basis jeder kosmischen Erscheinung, Sammelbecken aller Keime, symbolisieren die Wasser die Ursubstanz, aus der alle Formen entspringen und in die sie zurückkehren, durch Rückbildung oder Kataklysmus. Sie waren am Anfang und kommen wieder am Ende jedes historischen oder kosmischen Kreislaufs; sie werden immer sein – aber nie allein, denn sie sind keimfähig, sie enthalten in ihrer ungebrochenen Einheit die Möglichkeiten zu allen Formen. Dieselbe Funktion haben sie in der Kosmogonie, im Mythos, im Ritual, in der Ikonographie, wie immer die Struktur des kulturellen Zusammenhanges sei: sie sind vor jeder Form und sie tragen jede Form. Eintauchen ins Wasser symbolisiert die Rückbildung ins Vorformale, die gänzliche Neuwerdung, Neugeburt, denn das Untertauchen bedeutet ein Auflösen der Formen, eine Reintegration im undifferenzierten Sein der Präexistenz; und das Auftauchen aus dem Wasser wiederholt den kosmogonischen Akt der Formwerdung. Berührung mit Wasser ist immer auch Regeneration.28

In unserem Sprachgebrauch spiegelt sich oft wider, wie wir uns und andere wahrnehmen. Auch wenn wir uns nur selten bewusst machen, wie sehr wir uns bei der Mitteilung unserer Gedanken auf sprachliche Bilder verlassen, spielen sie eine wesentliche Rolle in unserer Kommunikation. Dabei hat das Wasser »ein nahezu grenzenloses metaphorisches Potenzial«, wie der katholische Priester und Sozialphilosoph Ivan Illich schreibt.29 Hierin zeigt sich die Bedeutung, die wir dem Wasser beimessen. Es ist kein Wunder, dass das Lebenselixier auch unsere gesamte Kommunikation durchströmt.

Die Wassermetapher ist in sämtlichen Kulturen und Sprachen allgegenwärtig. Die Liste ist endlos: unsere Tränen strömen, wir brechen das Eis, wir sehen nur die Spitze des Eisbergs, etwas Vergangenes ist verflossen, wir haben das Gefühl zu ertrinken, jemand ist feucht hinter den Ohren, unser Hirn ist vernebelt, wir schwimmen uns frei, wir werden ins kalte Wasser geworfen, ein Vorschlag wird verwässert, wir schweben auf Wolke 7, wir fühlen uns wohl wie Fische im Wasser, Nachrichten erreichen uns tröpfchenweise, wir surfen im Internet und so weiter.

Da wir Landlebewesen sind, ist es nicht verwunderlich, dass wir das Grün als unseren eigentlichen Lebensraum betrachten. Seit Jahrtausenden identifizieren wir uns mit Land und Landschaften, zumindest bewusst. Wir scheinen das Wasser jedoch oft als etwas Selbstverständliches anzusehen und als Rohstoff zu betrachten statt als lebensspendende Kraft, oder als kommunale Dienstleistung statt als unseren ureigensten Lebensraum.30

Seit einigen Jahren beschäftigen sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen jedoch mit »Wasserschaften« und fragen, welche Bedeutung sie für unser Menschsein haben. Sie bestätigen, dass wir unbewusst nach wie vor Wasserwesen sind. Diese Erkenntnis setzt sich just in dem Moment durch, in dem sich das Klima erwärmt und die Hydrosphäre des Planeten ihre Fesseln abstreift. Atmosphärische Strömungen, Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen, Waldbrände und Wirbelstürme haben uns vor Augen geführt, dass wir und alle anderen Spezies auf einem Wasserplaneten leben.

Die Erkenntnis ist bitter und süß zugleich. Immerhin entdecken unsere Biologen, Umweltforscher, Ingenieure, Architekten, Stadtplaner und andere unsere tiefe Beziehung zum Wasser. Auch wenn das Wasser noch immer als Anhängsel der Landschaft gilt, lernen wir heute unsere tiefere Beziehung zu ihm verstehen.

Wissenschaftler fragen nun, wie wir uns zu blauen versus grünen Räumen verhalten, und stellen fest, dass unsere Affinität zu ersteren ungebrochen ist, auch wenn wir sie jahrtausendelang ausgeblendet haben. Sehen wir uns nur einmal an, wo die Mehrheit der Menschen lebt. Zehn Prozent leben in unmittelbarer Nähe zum Meer, und weitere vierzig weniger als hundert Kilometer von der Küste entfernt.31 Über die Hälfte der Menschheit lebt weniger als drei Kilometer von einer Süßwasserquelle entfernt, und unter zehn Prozent haben eine Entfernung von zehn Kilometern oder mehr zurückzulegen.32

Heute, da die Hydrosphäre die große Unbekannte der Erderwärmung ist, erinnern sich Experten und Öffentlichkeit an die Auswirkungen von Blauflächen auf Leib und Seele. In neuen Untersuchungen geht es zwar oft um die Vergrößerung von Grünflächen, doch hinter der Lithosphäre steht immer die Hydrosphäre.

Eine von Wissenschaftlern des Instituts für Hygiene und Public Health am Universitätsklinikum in Bonn durchgeführte Metastudie zu den Auswirkungen von Blauflächen auf unsere physische und mentale Gesundheit bestätigte die positiven gesundheitlichen Auswirkungen der Nähe zum Wasser. Bei der Annäherung an Wasserflächen werden wir uns der zunehmenden Feuchtigkeit und der Vielfalt des Lebens rund um das Wasser bewusst. Unsere Sinne erwachen, die Farben, Geräusche, Bewegungen und der gesamte Kontext versetzen uns in eine Realität, die viel reichhaltiger ist als die laute, steinerne und stinkende Umgebung der Stadt.

Teilnehmer an verschiedenen Experimenten berichteten von einem intensiveren Gefühl der Präsenz und Lebendigkeit inmitten der Reichhaltigkeit der aquatischen Umgebung. Geräusche, Farben und Bewegung des Wassers bewirken eine Vielfalt geradezu berauschender körperlicher Reaktionen und ein tiefes Gefühl des Einsseins mit der natürlichen Umwelt. Die Autoren der Metastudie beschrieben die verschiedenen Experimente und führten einige der gemeinsamen Erfahrungen der Teilnehmer auf:

Menschen empfinden das Geräusch des Wassers als angenehm, sie messen der Vielfalt und besonderen Natur dieser Geräusche vom Flüstern über das Plätschern bis zum Tosen besondere Bedeutung bei und empfinden leises Rauschen als erholsam. Auch die Farbe des Wassers bewirkt emotionale Reaktionen. Blaues Wasser wird als rein wahrgenommen, gelbes Wasser oft nicht. Blaues Wasser wird außerdem oft mit Kühle in Verbindung gebracht, weißes Wasser mit Tosen und Gewalt.33

Wer jemals am Meeresufer gestanden und zugesehen hat, wie die Wellen heranrollen und sich wieder in die Tiefe zurückziehen, kennt die hypnotische Faszination dessen, was dahinter und darunter liegen könnte. Es gibt wohl niemanden, den der Blick über die Weite des Ozeans unberührt ließe und der sich nicht eingeladen fühlte, über die Größe der Existenz, die Entstehung dieses schier grenzenlosen Raums und unseren Platz auf der Erde nachzudenken.

Jede Kultur weiß die erholsamen Kräfte der Natur zu schätzen. Untersuchungen zu Bildern, die wir uns an die Wände hängen, haben gezeigt, dass »Wassermotive durchweg zu den beliebtesten zählen«.34

Auch wenn alles Leben auf unserem Planeten vom Wasser abhängt, vergessen wir oft, wie wichtig es für die anderen großen Sphären der Erde ist. Eine Parabel des amerikanischen Schriftstellers David Foster Wallace trifft den Kern unserer engen, aber selten reflektierten Beziehung zum Wasser:

Zwei junge Fische schwimmen nebeneinander her, als ihnen ein älterer Fisch entgegenkommt und grüßt: »Guten Morgen, Jungs! Wie ist das Wasser heute morgen?« Die beiden Jungen schwimmen ein Stück weiter, dann sieht der eine den anderen an und fragt: »Was zum Teufel ist Wasser?«35

Wasser ist allgegenwärtig, es bestimmt jeden Moment unserer physischen Existenz und unsere sämtlichen Beziehungen zur Welt, auch wenn wir es oft nicht wahrnehmen, weil es das Element ist, in dem wir leben. Eine Untersuchung von Shmuel Burmil, Terry Daniel und John Hetherington zur Allgegenwart des Wassers beginnt mit den Spiegelungen: