Das Zeitalter der Resilienz - Jeremy Rifkin - E-Book

Das Zeitalter der Resilienz E-Book

Jeremy Rifkin

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Beschreibung

Die Geschichte der Menschheit und die Zukunft unserer Spezies auf der Erde - beides zusammen muss ganz neu gedacht werden. Der Ökonom und Bestsellerautor Jeremy Rifkin zeigt, wie die Inbesitznahme der Erde und das industrielle Effizienzdenken alle Lebensbereiche durchdrungen und uns an den Rand des ökologischen Untergangs geführt haben. Nur ein radikaler Wandel unseres Selbstbildes kann uns noch retten. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse stellen dem Homo oeconomicus einen Menschen entgegen, der sich als Ökosystem begreift, sich an seine Umwelt anpasst und widerstandsfähig wird, statt die Natur auszubeuten. Rifkin liefert die übergreifende Erzählung für den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen globalen Weg vom Zeitalter des Fortschritts zum Zeitalter der Resilienz. »Jeremy Rifkin schlägt vor, dass wir die Natur als unser Klassenzimmer betrachten und es wagen, jeden Aspekt unserer Existenz neu zu überdenken, damit das Leben auf der Erde wieder aufblühen kann. Ein Dialog, der längst überfällig ist.« Jane Goodall »Brillant – Mit ›Das Zeitalter der Resilienz‹ beweist Rifkin erneut, dass er einer der großen Vordenker unserer Zeit ist.« Sigmar Gabriel

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JEREMY RIFKIN

DAS ZEITALTER DER RESILIENZ

LEBEN NEU DENKEN AUF EINER WILDEN ERDE

Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Historischer Blick und Zukunftsbild – Bestsellerautor Jeremy Rifkin kann beides. Er zeigt, wie industrielles Effizienzdenken alle Bereiche des Lebens durchdrungen und uns an den Rand des Abgrunds geführt hat. Ist die Menschheit noch zu retten? Ja, aber dafür bedarf es eines radikalen Wandels unseres Selbstbilds und unseres Denkens. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse über die Entstehung des Menschen oder den Einfluss biologischer Uhren und elektromagnetischer Felder ermöglichen genau dies: eine neue Geschichte der Evolution, die dem Homo Oeconomicus einen Homo Oecologicus entgegensetzt. Einen Menschen, für den es mehr denn je überlebenswichtig ist, sich an seine Umwelt anzupassen. Rifkin liefert die übergreifende Erzählung für den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen globalen Weg vom Zeitalter des Fortschritts in das Zeitalter der Resilienz.»Jeremy Rifkin ist der ökonomische und ökologische Botschafter der weltweiten Energiewende ... er präsentiert einen visionären Ansatz, wie ihn in den letzten fünfzig Jahren niemand vorzubringen wagte.« Sigmar Gabriel»Dieses Buch stellt einen Plan vor, der überlebenswichtig ist für die Millionen ohne Arbeit und für einen Planeten, der geheilt werden muss.« Dr. Vandana Shiva»Eine Musslektüre für Investoren, Unternehmen und Entscheider gleichermaßen.« Richard Branson»Für Jeremy Rifkin ist die Zukunft immer schon da. Der amerikanische Bestseller-Autor und Trendforscher sieht die Umrisse dessen, was auf uns zu kommt, meist schon dann, wenn andere am Horizont nur ein ungewisses Flirren wahrnehmen.« Focus»Dieser Mann hat einen Plan für den Planeten« t3n(Stimmen zu »Der globale Green New Deal«)

Vita

Jeremy Rifkin, einer der bekanntesten gesellschaftlichen Vordenker, ist Gründer und Vorsitzender der Foundation on Economic Trends in Washington. Seine Bücher sind internationale, in 35 Sprachen übersetzte Bestseller und lösten weltweite Debatten zu den großen gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen aus, siehe zum Beispiel Das Ende der Arbeit, Access und Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. 2019 erschien Der globale Green New Deal. Rifkin berät zahlreiche Organisationen und Regierungen – unter anderem Deutschland, die EU, China – und unterrichtet an der renommierten Wharton School der University of Pennsylvania.

Für Carol L. Grunewald

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Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

INHALT

Impressum

INHALT

EINLEITUNG

TEIL 1

EFFIZIENZ VS. ENTROPIE — Die Dialektik der Moderne

Kapitel 1

Masken, Beatmungsgeräte und Toilettenpapier — Wie Anpassungsfähigkeit über Effizienz triumphiert

Eine öffentliche Distanzierung von der Effizienz

Der Niedergang des Industriekapitalismus

Kapitel 2

Taylorismus und das Gesetz der Thermodynamik

Das Evangelium der Effizienz

Die Entropie gewinnt immer: Die einzige ewige Wahrheit

Das Gesetz der Thermodynamik: Nach diesen Regeln wird gespielt

Kapitel 3

Die wirkliche Welt — Das Kapital der Natur

Große Erwartungen: Die Grüne Revolution in der Landwirtschaft

Vorsicht Syndemie

Wir Kohlezeitmenschen

TEIL 2

DIE PRIVATISIERUNG DER ERDE UND DIE VERARMUNG DER ARBEITER

Kapitel 4

Das große Beben — Die Privatisierung von Raum und Zeit

Wie Uhrwerk und Perspektive den Lauf der Geschichte änderten

Stille Kommunikation: Eine neue Form der Sozialisierung

Kohle fördern und Dampf ablassen

Die Standardisierung der Weltzeit

Kapitel 5

Der Raubzug — Die Kommerzialisierung der Sphären, Gene und Radiowellen der Erde

Inbesitznahme der irdischen Sphären

Die Lithosphäre: Der Boden unter unseren Füßen

Die Hydrosphäre: Die Privatisierung des Wassers

Die Kommerzialisierung der Gene

Die Ausbeutung des elektromagnetischen Spektrums: GPS, das globale Nervensystem

Die Neuverkabelung des menschlichen Gehirns

Führung durch Algorithmen: Bekannte Bekannte, bekannte Unbekannte und unbekannte Unbekannte

Prävention: Zukunft verhindern, ehe sie eintritt

Kapitel 6

Das Dilemma des Kapitalismus — Mehr Effizienz, weniger Arbeitnehmer, verschuldete Verbraucher

Die Nachfragekrise

Das Camelot der Vorstadt

Das Ende der Arbeit

Die Verpfändung der Zukunft

Überdrehte Effizienz

Endspiel

Spielifizierung: Knechtschaft soll Spaß machen

TEIL 3

WIE WIR AN DIESEN PUNKT GEKOMMEN SIND — Ein neues Verständnis der Evolution

Kapitel 7

Das ökologische Individuum — Der Mensch als dissipative Struktur

Die Menschwerdung des Menschen

Leben neu denken: Von Objekten und Strukturen zu Prozessen und Mustern

Jeder ein Ökosystem

Kapitel 8

Eine neue Ursprungsgeschichte — Wie biologische Uhren und elektromagnetische Felder das Leben takten und gestalten

Biologische Uhren: Die Choreografen des Lebens

Architekten des Lebens: Elektromagnetische Felder und biologische Muster

Kapitel 9

Jenseits der wissenschaftlichen Methode — Komplexe adaptive sozioökologische Systeme

Eine neue Wissenschaft für eine verwildernde Erde

Von der Prognose zur Anpassung

Der Geist des Homo sapiens: Auf Anpassung programmiert

TEIL 4

DAS ZEITALTER DER RESILIENZ — Das Ende des Industriezeitalters

Kapitel 10

Die Infrastruktur der Resilienzrevolution

Die Soziologie infrastruktureller Umbrüche

Das Ende des Kapitalismus

Ein Brückenkopf in den Vereinigten Staaten

Kapitel 11

Die Entstehung der bioregionalen Ordnung

Sezessionsfieber

Gegenmigration: Die Flucht zurück aufs Land

Die neue bioregionale Ordnung

Pioniere: Die Bioregionen des Kaskadengebirges und der Großen Seen

Kapitel 12

Abschied von der repräsentativen Demokratie — Auftritt der Peerocracy

Neuformatierung der Freiheit: Autonomie vs. Teilhabe

Der Geist der Peerocracy

Partizipative Haushaltsplanung: Eine Weiterentwicklung der Demokratie

Kollektive Leitung der Schulen

Peerocracy und Beaufsichtigung der Polizei durch die Bürger

Unterschiede zwischen verteilter und dezentraler Ordnung

Zwei Ansätze der Peerocracy

Starthilfe für die Revolution

Kapitel 13

Das biophile Bewusstsein

»Nehmen Sie ein Kind in den Arm«

Empathie und Bindung

Ein neuer Bund mit der Natur

Glück neu denken

Die Schule der Natur

Der Weg aus dem Empathie-Paradox

Ich habe teil, also bin ich

Heimkehr

DANK

ANHANG

ANMERKUNGEN

Einleitung

Kapitel 1: Masken, Beatmungsgeräte und Toilettenpapier

Kapitel 2: Taylorismus und das Gesetz der Thermodynamik

Kapitel 3: Die wirkliche Welt

Kapitel 4: Das große Beben

Kapitel 5: Der Raubzug

Kapitel 6: Das Dilemma des Kapitalismus

Kapitel 7: Das ökologische Individuum

Kapitel 8: Eine neue Ursprungsgeschichte

Kapitel 9: Jenseits der wissenschaftlichen Methode

Kapitel 10: Die Infrastruktur der Resilienzrevolution

Kapitel 11: Die neue bioregionale Ordnung

Kapitel 12: Abschied von der repräsentativen Demokratie

Kapitel 13: Das biophile Bewusstsein

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EINLEITUNG

Die Viren kommen in immer neuen Wellen. Das Klima erwärmt sich weiter. Die Erde verwildert zusehends. Lange haben wir geglaubt, wir könnten die Natur zwingen, sich an unsere Spezies anzupassen, doch heute bleibt uns nichts anderes übrig, als uns an die unberechenbare Natur anzupassen. Wir haben keine Bedienungsanleitung für das Chaos, das sich um uns herum offenbart.

Wir sind die jüngste Säugetierart der Erde mit einer Geschichte von nur 200 000 Jahren. Die meiste Zeit – mehr als 95 Prozent – haben wir ähnlich wie unsere Mitprimaten und -säugetiere jagend und sammelnd von den Gaben der Erde gelebt, wir haben uns an die Jahreszeiten angepasst und nur einen flüchtigen Fußabdruck hinterlassen.1 Was hat sich geändert? Wie wurden wir zu den Ausbeutern, die die Natur beinahe in die Knie gezwungen haben, nur damit sie sich heute aufbäumt, um uns abzuschütteln? Treten wir einen Schritt zurück und betrachten die inzwischen abgegriffene Geschichte von der Sonderstellung des Menschen. Während der finstersten Phase der Französischen Revolution im Jahr 1794 entwarf der Philosoph Nicolas de Condorcet seine große Zukunftsvision, während er auf die Guillotine wartete. Er schrieb:

Die Natur hat der Vervollkommnung der menschlichen Fähigkeiten keine Grenzen gesetzt. Die Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen ist wahrhaft grenzenlos, und der Fortschritt dieser Vervollkommnungsfähigkeit hat keine Grenze als die Lebensdauer des Planeten, auf den uns die Natur geworfen hat.2

Condorcets Prophezeiung lieferte die ontologische Grundlage für das, was später als »Zeitalter des Fortschritts« bezeichnet werden sollte. Heute erscheint uns Condorcets Menschenbild naiv oder gar lächerlich. Doch der Fortschritt ist nur die jüngste Ausformung der uralten Überzeugung, dass wir Menschen aus anderem Holz geschnitzt sind als alle anderen Lebewesen, mit denen wir den Planeten teilen. Wir gestehen uns zwar widerwillig ein, dass der Homo sapiens aus dem gemeinsamen Quell des Lebens entspringt, der bis zu den Regungen der ersten Mikroben zurückreicht, aber wir halten uns trotzdem gern für eine Ausnahme.

Während der Moderne haben wir Gott weitgehend hinter uns gelassen, und dennoch glauben wir an seine Zusage an Adam und Eva, sie und ihre Nachfahren sollten »herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.«3 Auch ohne seine religiöse Dimension haben wir dieses Versprechen ernst genommen und damit unsere Ökosysteme in den ökologischen Kollaps geführt.

Doch allmählich sehen wir ein, dass uns die Erde niemals untertan war, und dass die Akteure der Natur deutlich mächtiger sind als wir dachten, während die Menschheit im großen Bild des Lebens auf dieser Erde immer kleiner und unbedeutender erscheint. Nun bekommen wir es mit der Angst zu tun. Wir öffnen die Augen für die schmerzliche Realität, dass wir als Spezies ein furchtbares Gemetzel auf unserer Erde anrichten – Überschwemmungen, Dürren, Waldbrände und Wirbelstürme, die in aller Welt Schneisen der Verwüstung hinterlassen und Ökosysteme zerstören. Wir spüren, dass diese Naturgewalten größer sind als wir, dass sie sich nicht mit herkömmlichen Rezepten bekämpfen lassen, und dass sie bleiben werden, mit bedrohlichen Folgen. Wir erkennen allmählich, dass wir und unsere Mitgeschöpfe auf einen Abgrund zusteuern, von dem es kein Zurück mehr gibt.

Die Warnung, dass der von Menschen gemachte Klimawandel das sechste Massensterben auf unserem Planeten verschuldet, ist inzwischen auch im politischen Mainstream angekommen. Überall schrillen die Alarmglocken. Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft, Finanzen und Wissenschaft sowie die gesamte Öffentlichkeit hinterfragen die Glaubenssätze, nach denen wir unser Leben ausgerichtet, uns den Sinn unserer Existenz erklärt und unsere Lebenswirklichkeit verstanden haben.

Das Zeitalter des Fortschritts ist tot und wartet nur noch auf seine Obduktion. Schon werden allenthalben Forderungen lauter, dass wir – die Menschheit – alles überdenken müssen: unser Verständnis von der Welt, unsere Art zu wirtschaften, unsere politische Ordnung, unseren Platz in Raum und Zeit, unser gesamtes Handeln und unser Verhältnis zu unserem Planeten.

Doch bislang ist unser Denken bestenfalls unausgereift und schlimmstenfalls vernebelt. Was bedeutet es, unsere gesamte Existenz zu überdenken? Wir haben eine gewisse Ahnung. Immer und überall geht es darum, wie wir uns am besten an das drohende Chaos »anpassen« können. Wir hören diese Frage zu Hause am Küchentisch genauso wie am Arbeitsplatz, in der Freizeit und im Alltag.

»Resilienz« oder Widerstandsfähigkeit ist dabei ein Schlagwort, auf das wir immer wieder stoßen. Mit diesem Begriff definieren wir uns angesichts der bedrohlichen Zukunft, die inzwischen vor der Tür steht. Das Zeitalter des Fortschritts ist zu Ende und das Zeitalter der Resilienz bricht an. Alles, was wir zu wissen meinten, was wir glaubten und auf das wir uns verlassen haben, gilt nicht mehr. Wir stehen am Beginn einer neuen Reise, auf der wir neu über unsere Spezies und ihren Platz auf der Erde nachdenken müssen und die Natur unsere Schule ist.

Der Übergang vom Zeitalter des Fortschritts zum Zeitalter der Resilienz bewirkt schon heute ein philosophisches und psychologisches Umdenken und einen Einstellungswandel. Es handelt sich um einen Umbruch, der die vollständige Neuausrichtung unserer Verortung in Raum und Zeit verlangt.

»Effizienz« bestimmte die zeitliche Orientierung der Menschheit während des gesamten Zeitalters des Fortschritts. Bei dem Projekt der Effizienz geht es darum, die Gewinnung, Nutzung und Entsorgung natürlicher Ressourcen zu optimieren und damit den materiellen Reichtum der Gesellschaft immer schneller zu vergrößern, und zwar auf Kosten einer Ausbeutung der Natur. Das Gebot der Effizienz gibt den Takt unseres Alltags und unserer Gesellschaft vor. Dieses Gebot hat uns erst zur beherrschenden Spezies auf der Erde gemacht und dann die Natur in den Ruin gestürzt.

In letzter Zeit werden in der Wissenschaft, in Vorstandsetagen und in der Politik Stimmen laut, die die einst unantastbare Effizienz infrage stellen und andeuten, dass sie uns mit dem eisernen Griff, mit dem sie die gesamte Gesellschaft gepackt hält, buchstäblich erdrosselt. Wie sollen wir also die Zukunft neu denken?

Wenn im Zeitalter des Fortschritts die Effizienz den Takt vorgab, dann ist es im Zeitalter der Resilienz die Anpassungsfähigkeit. Die Umorientierung von der Effizienz zur Anpassungsfähigkeit ist die Voraussetzung, um unsere Entfremdung von der Erde zu überwinden und uns in die Vielzahl der irdischen Akteure einzugliedern – eine Neuorientierung menschlichen Handelns auf einem zunehmend unberechenbaren Planeten.

Diese Neuausrichtung beeinflusst schon jetzt unsere althergebrachten Vorstellungen davon, wie wir unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben zu führen, zu messen und zu bewerten haben. Der Übergang von der Effizienz zur Anpassungsfähigkeit geht mit umfassenden Umwälzungen in Wirtschaft und Gesellschaft einher, etwa der Verschiebung von Produktivität zu Erneuerbarkeit, von Wachstum zu Wohlstand, von Eigentum zu Zugang, von Märkten mit Käufern und Verkäufern zu Netzwerken mit Anbietern und Nutzern, von linearen Prozessen zu kybernetischen Prozessen, von vertikaler zu lateraler Integration, von zentralisierten zu dezentralen Wertschöpfungsketten, von Unternehmenskonglomeraten zu agilen, hoch technisierten kleinen und mittelgroßen Genossenschaften, verlinkt in variablen Gemeingütern, von geistigem Eigentum zu Open Source, von Nullsummenspielen zu Netzwerkeffekten, von der Globalisierung zur Glokalisierung, vom Konsumismus zu Ökosystemdienstleistungen, vom Bruttoinlandsprodukt zu Indikatoren der Lebensqualität, von negativen externen Effekten zur Kreislaufwirtschaft, von der Geopolitik zur Biosphärenpolitik.

Die nun anbrechende dritte industrielle Revolution führt uns von der analogen Bürokratie zu digitalen Plattformen, sie bettet die Menschheit wieder ein in die ureigene Infrastruktur unseres Planeten – die irdischen Sphären – und markiert das Ende des Industriezeitalters. Mit dem anbrechenden Zeitalter der Resilienz wird ab der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ein neues Wirtschaftsparadigma aufkommen, und das Finanzkapital – das Herz des Industriezeitalters – wird durch eine neue Wirtschaftsordnung auf der Grundlage des »ökologischen Kapitals« ersetzt.

Diese zeitliche Umorientierung geht Hand in Hand mit einer grundlegenden räumlichen Umorientierung, die bereits in einem veränderten Umgang mit dem Raum spürbar wird. Im Zeitalter des Fortschritts war Raum gleichbedeutend mit passiven natürlichen Ressourcen und Führung mit der Verwaltung der Natur als Eigentum. Im Zeitalter der Resilienz besteht der Raum aus den Lebenssphären der Erde – der Hydrosphäre, der Lithosphäre, der Atmosphäre und der Biosphäre –, die sich gemeinsam zu den Mustern und Strömen einer dynamischen Erde fügen.

Wir beginnen allmählich zu verstehen, dass auch wir selbst, genau wie unsere Mitlebewesen, nichts anderes als Prozesse, Muster und Ströme sind. Eine neue Generation von Physikern, Chemikern und Biologen stellt die lange vertretene Annahme infrage, dass wir als autonome Wesen aufeinander und auf die Natur wirken. Sie zeichnen eine ganz andere Geschichte des Menschen und hinterfragen dabei den alten Glauben an unser autonomes Selbst.

Jedes einzelne Lebewesen ist ein Fortsatz der irdischen Lebenssphären. Die Elemente, Mineralien und Nährstoffe der Lithosphäre, das Wasser der Hydrosphäre und der Sauerstoff der Atmosphäre zirkulieren unentwegt in Form von Atomen und Molekülen durch unseren Körper, sie fügen sich nach den Bauplänen der DNA zu unseren Zellen, Geweben und Organen und werden im Laufe unseres Lebens fortwährend ausgetauscht. Die meisten Gewebe und Organe unseres Körpers befinden sich unentwegt im Fluss. Unser Skelett wird etwa alle zehn Jahre fast vollständig ausgetauscht. Unsere Leber wird etwa alle 300 bis 500 Tage ersetzt, die Zellen der Magenschleimhaut alle fünf Tage und die Paneth-Zellen des Darms alle zwanzig Tage.4 Rein physikalisch betrachtet ist ein Erwachsener zehn Jahre alt oder jünger.5Aber unser Körper gehört nicht nur uns allein, sondern wir teilen ihn mit zahlreichen Lebensformen – Bakterien, Viren, Protisten, Archaeen und Pilzen. Mehr als die Hälfte der Zellen in unserem Körper und ein großer Teil der DNA, die uns zu Menschen machen, sind gar nicht menschlich, sondern gehören anderen Lebewesen, die in jedem Winkel unseres Körpers leben. Die Spezies und Ökosysteme der Erde enden also nicht vor unserem Körper, sondern strömen in jedem Moment durch uns hindurch. Jeder von uns ist eine halbdurchlässige Membran. Wir sind buchstäblich Teil des Planeten, und diese Tatsache sprengt die liebgewonnene Idee vom Menschen, der sich über die Natur erhebt.

Wir sind also untrennbar in die natürlichen Ströme eingebettet, und das geht sogar noch weiter. Wie jede andere Spezies bestehen auch wir aus einer Vielzahl biologischer Uhren, die fortwährend unsere inneren Rhythmen an den Tag-und-Nacht-Zyklus sowie die Jahreszeiten anpassen, die mit der Drehung der Erde und ihrem Lauf um die Sonne zusammenhängen. Neuerdings erkennen wir auch, dass endogene und exogene elektromagnetische Felder nicht nur auf den Planeten wirken, sondern auch auf jede Zelle, jedes Organ und jedes Gen und auf diese Weise eine wichtige Rolle bei der Abstimmung und dem Erhalt unserer körperlichen Funktionen spielen.

Wir sind irdische Wesen, und zwar mit jeder Faser unseres Seins. Unser neues Verständnis unseres Daseins im Raum zwingt uns auch zu einer Neubewertung unserer eigenen Natur, unserer Beziehung zu unseren Mitlebewesen und unseres Platzes auf der Erde.

Diese Neubewertung des Wesens der Natur geht Hand in Hand mit neuen Vorstellungen von gesellschaftlicher Organisation und Führung und einem neuen Selbstverständnis als sozialer Organismus. Im Zeitalter der Resilienz wandelt sich politische Steuerung von der Verfügung über natürliche Ressourcen zum Schutz bioregionaler Ökosysteme. Die bioregionale Steuerung wird wiederum dezentral auf regionale Gemeinschaften verteilt, die die Verantwortung für die Anpassung an und Verwaltung der Biosphäre aus Litho-, Hydro- und Atmosphäre übernehmen.

In dieser neuen Welt, in der wir die Grenzen zwischen Natur und Kultur einreißen, ist die parlamentarische Demokratie, die einst als gerechtestes und umfassendstes Herrschaftssystem galt, zunehmend abgehoben und weit entfernt vom zupackenden Umgang mit der Natur. Schon heute weicht die »repräsentative Demokratie« hier und da einer »verteilten Peerocracy«,6 nun, da sich eine jüngere Generation aktiv in die Verwaltung ihrer jeweiligen Bioregionen einbringt.

Im nun anbrechenden Zeitalter werden die Bürger von fleißigen und effizienten Zuschauern der Politik – deren Verantwortung sich darin erschöpft, einen Klüngel von Politikern zu wählen, die ihre Interessen vertreten sollen – zu aktiven Mitwirkenden, die Verantwortung für ihre Bioregion übernehmen. Vorbild für solche Bürgergremien sind die Schöffengerichte, in denen Bürger über Schuld und Unschuld von Mitbürgern entscheiden.

Das sind nur einige wenige der Veränderungen, die sich heute abzeichnen, wenn die Menschheit nun die historische Kehrtwende vom Zeitalter des Fortschritts zum Zeitalter der Resilienz in Angriff nimmt. Weitere werden folgen, wenn wir unsere Handlungsspielräume neu definieren, während sich unser Planet auf unfassbare Weise weiterentwickelt und wir uns anpassen müssen, um zu überleben und zu neuer Blüte zu gelangen.

Dieses Buch ist eine Art Rundgang, auf dem wir uns ansehen, wie weit wir gekommen sind, seit Adam und Eva den aufrechten Gang erlernten, das Rift Valley in Afrika verließen, sich in die Savanne hinauswagten und von dort aus über alle Kontinente zogen.

Der Mensch ist der große Suchende, wobei wir seit jeher mehr vom Leben wollen als das tägliche Überleben. Das wäre nicht genug als Erklärung für die innere Unruhe, die uns schon seit dem ersten Atemzug unserer urzeitlichen Vorfahren antreibt. In uns brodelt und wühlt etwas anderes – ein Gefühl, das kein anderes Lebewesen kennt. Ob wir es uns eingestehen oder nicht, wir sind unermüdlich auf der Suche nach dem Sinn unseres Daseins. Diese Frage begleitet uns in jedem Moment und mit jedem Atemzug, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Sie ist es, die uns antreibt.

Doch irgendwann sind wir vom Kurs abgekommen. Lange Zeit haben wir Wege gefunden, uns den Zwängen der Natur anzupassen, genau wie unsere Verwandten in unserer evolutionären Großfamilie. Doch vor etwa zehntausend Jahren, mit dem Ende der letzten Eiszeit und dem Anbruch eines gemäßigten Zeitalters, des Holozäns, haben wir uns zum Prometheus aufgeschwungen und die Natur gezwungen, sich an uns anzupassen. Mit dem Aufstieg der großen landwirtschaftlichen Imperien vor fünf Jahrtausenden sowie der vorindustriellen und industriellen Revolution des Spätmittelalters und der Moderne – was wir als Zivilisation bezeichnen – steht immer mehr die Herrschaft über die Natur im Mittelpunkt. Unser Erfolg – wenn man das so nennen möchte – lässt sich in einer beängstigenden Zahl ausdrücken: Der Homo sapiens macht zwar weniger als 0,5 Prozent der gesamten Biomasse der Erde aus, doch wir verbrauchen ein Viertel der Nettoprimärproduktion aus der Photosynthese. Dieser Anteil könnte nach derzeitigem Kenntnisstand in den nächsten 30 Jahren sogar noch bis auf 44 Prozent steigen. Damit bliebe dem übrigen Leben auf dem Planeten nur noch wenig mehr als die Hälfte der Nettoprimärproduktion.7 Das ist ganz offensichtlich nicht nachhaltig und tragbar. Die Menschheit ist der Ausreißer des Lebens, und im beginnenden Anthropozän stürzen wir nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Mitlebewesen in ein geologisches Massengrab.8

Im Gegensatz zu allen anderen Spezies haben wir allerdings zwei Gesichter. Wir sind Zerstörer, aber wir könnten auch Heiler sein. In die Schaltkreise unseres Gehirns ist mit der Empathie eine besondere Fähigkeit eingebaut, die sich als elastisch und geradezu unendlich erweiterbar erwiesen hat. Diese seltene und kostbare Fähigkeit hat sich schrittweise entwickelt, ging teils wieder verloren, nur um wieder zurückzukehren und dabei immer neue Höhen zu erklimmen. In den letzten Jahren hat eine jüngere Generation diese Empathie über unsere Spezies hinaus auf unsere Mitlebewesen ausgeweitet. Biologen sprechen von Biophilie – ein Zeichen der Hoffnung für einen neuen Weg in die Zukunft.

Anthropologen sagen uns, dass der Mensch das anpassungsfähigste Lebewesen ist. Es ist nun die Frage, ob es uns gelingt, mithilfe dieser prägenden Fähigkeit in den Schoß der Natur zurückzukehren und dabei die Bescheidenheit, Achtsamkeit und Kritikfähigkeit aufzubringen, die nötig sind, um unsere Spezies und unsere biologische Großfamilie zu neuer Blüte zu führen. Um die große Kehrtwende von der Anpassung der Natur an die menschlichen Bedürfnisse zur Anpassung der Menschheit an die Natur zu schaffen, ist eine Abkehr vom traditionellen Verständnis der Wissenschaft nötig, das bis auf den englischen Philosophen Francis Bacon zurückgeht; ein Verständnis, das der Natur ihre Geheimnisse zu entreißen sucht und die Erde als Rohstoff und Ware für die ausschließliche Nutzung durch den Menschen betrachtet. An dessen Stelle muss ein radikal neues Paradigma treten – das Denken in komplexen adaptiven Systemen (KAS). Dieser neue Ansatz begreift die Natur nicht als Rohstoff-, sondern als Lebensquelle und die Erde als komplexes, sich selbst organisierendes System. Weil sich ein solches nicht vorausberechnen lässt, benötigen wir eine Wissenschaft, die sich auf Prognose und aufmerksame Anpassung verlegt und keine, die einen konkreten Kurs erzwingen will.

Der verwildernde Planet wird unseren kollektiven Mut auf die Probe stellen. Bleibt zu hoffen, dass uns der Weg, den wir im Zeitalter der Resilienz einschlagen, in einen neuen Garten Eden führt – nur diesmal nicht als Herrscher, sondern als Gleichgesinnte unserer Mitlebewesen, mit denen wir unsere irdische Heimat teilen.

TEIL 1

EFFIZIENZ VS. ENTROPIE

Die Dialektik der Moderne

Kapitel 1Masken, Beatmungsgeräte und Toilettenpapier

Wie Anpassungsfähigkeit über Effizienz triumphiert

Wer sich mit Wirtschaft beschäftigt, kennt ein Zitat, das unser Selbstverständnis im Zeitalter des Fortschritts auf den Punkt bringt. Adam Smith, der erste moderne Wirtschaftswissenschaftler und Begründer der Disziplin, schrieb in seinem Klassiker Wohlstand der Nationen die folgenden Sätze, die seit zwei Jahrhunderten vielen als Essenz des menschlichen Wesens gelten:

Wenn daher jeder einzelne soviel wie nur möglich danach trachtet, sein Kapital zur Unterstützung der einheimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und dadurch dieses so lenkt, daß ihr Ertrag den höchsten Wertzuwachs erwarten läßt, dann bemüht sich auch jeder einzelne ganz zwangsläufig, daß das Volkseinkommen im Jahr so groß wie möglich werden wird. Tatsächlich fördert er in der Regel nicht bewußt das Allgemeinwohl, noch weiß er wie hoch der eigene Beitrag ist. Wenn er es vorzieht, die eigene nationale Wirtschaft anstatt die ausländische zu unterstützen, denkt er nur an die eigene Sicherheit, und wenn er dadurch die Erwerbstätigkeit so fördert, daß ihr Ertrag den höchsten Wert erzielen kann, strebt er lediglich nach eigenem Gewinn. Er wird in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, der keineswegs in seiner Absicht lag. Es ist auch nicht immer das Schlechteste für die Gesellschaft, dass dieser nicht beabsichtigt gewesen ist. Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.1

Für Adam Smith war die Effizienz das Ziel, nach dem der Homo oeconomicus strebt und dem sich die Gesellschaft zu unterwerfen hat.

Am 14. Mai 2021 druckte die New York Times einen Gastbeitrag mit dem mysteriösen Titel »Ihr Auto, Ihr Toaster, Ihre Waschmaschine funktionieren nicht ohne, und heute herrscht weltweite Knappheit«.2 Autor war der Wirtschaftswissenschaftler Alex T. Williams. Der Artikel warnt vor einem ökonomischen Sprengsatz im Herzen des kapitalistischen Systems, der ausreichen könnte, um die gesamte, seit zwei Jahrhunderten geltende Wirtschaftsordnung zum Einsturz zu bringen. Außerdem finden sich einige versteckte Hinweise auf eine neue Ordnung, die an die Stelle der alten treten könnte.

Der Artikel beginnt reichlich trocken mit dem Hinweis auf eine »weltweite Knappheit in der Lieferkette der Halbleiterproduktion«. Dabei handelt es sich um die winzigen Mikrochips, die in den unzähligen Prozessen und Produkten unserer intelligenten digitalen Welt Verwendung finden. Die Halbleiterbranche macht pro Jahr 500 Milliarden Dollar Umsatz. Um zu verstehen, wie ernst das Problem ist, reicht ein Blick auf den Autohersteller Ford: Der Konzern rechnete aufgrund der aktuellen Halbleiter-Knappheit mit Einbußen von 2,5 Milliarden Dollar.3 Wenn man das auf die gesamte von Halbleitern abhängige Weltwirtschaft hochrechnet – von medizinischen Geräten bis zu Stromnetzen – bekommt man einen ungefähren Eindruck vom Ausmaß der Krise. Hinter den Kulissen sprach der amerikanische Präsident Joe Biden mit Managern von Ford und Google, um einzuschätzen, was der drohende Mangel an überwiegend im Ausland gefertigten Halbleitern für die Wirtschaft und die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten bedeutete. Manager von Verizon, Qualcomm, Intel, Nvidia und anderen Konzernen taten sich zusammen, um staatliche Investitionen in die Forschung und Entwicklung von Halbleitern zu fordern und Chipfabriken in den Vereinigten Staaten zu errichten. Für den Anfang forderte das Bündnis 50 Milliarden Dollar aus dem geplanten staatlichen Infrastrukturpaket und verwies auf das Sicherheitsrisiko und einen Zusammenbruch der Wirtschaft, sollten die Halbleiter auch weiterhin knapp bleiben.

Das Problem geht allerdings weit über kurzfristige Lieferengpässe hinaus. In seinem Artikel nennt der Autor zwei Begriffe, die die Krise im Kern erfassen und auf einen grundlegenden Konflikt im Kapitalismus selbst verweisen – den unvermeidlichen Kompromiss zwischen Effizienz und Resilienz.

Die internationale Halbleiterproduktion konzentriert sich heute auf einige wenige Großkonzerne. Die gigantischen Kosten, die der Bau von gewaltigen Halbleiterfabriken verschlingt, schmälern den Gewinn. Die wenigen, hocheffiziente Unternehmen haben es an die Spitze geschafft, indem sie in sogenannte schlanke Logistik- und Zulieferketten investiert und kostspielige Puffer und andere Redundanzen ausgemerzt haben, die im Falle unerwarteter Schwierigkeiten einspringen könnten. So haben sie zum Beispiel die teure Lagerung von überzähligem Inventar genauso beseitigt wie zusätzliche Fertigungsstätten, die kurzfristig Lücken füllen könnten, und zusätzliche Arbeitskräfte, die im Falle einer Störung rasch eingesetzt werden könnten. Auch haben sie keine alternativen Lieferketten, auf die sie rasch wechseln könnten, um Lieferausfälle oder -engpässe aufzufangen.

Dank ihrer schlanken Logistik- und Herstellungsverfahren, mit denen sie ihre Betriebskosten gesenkt und ihre Effizienz gesteigert haben, konnten die Marktführer der Halbleiterproduktion den Wettbewerb überleben, wenn auch auf Kosten ihrer Widerstandsfähigkeit und ihrer Anfälligkeit gegenüber unerwarteten Ereignissen. Williams verweist auf diesen offensichtlichen Widerspruch und fragt: »Was nutzt eine hypereffiziente, superschlanke Fertigung, wenn sie zum Beispiel durch eine Naturkatastrophe zerstört wird und es keinen Ersatz für die Prozessoren gibt, die sie herstellt?«4 Unterm Strich herrscht die Effizienz, doch der Preis ist die Resilienz. Die Halbleiterkrise ist nicht das erste Ereignis, das in der Öffentlichkeit Zweifel an der Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft nach natürlichen oder von Menschen verursachten Störungen aufkommen lässt. Schon im Frühjahr 2020 wurden die Brüche innerhalb des kapitalistischen Systems sichtbar. Viele Länder wurden von der rasanten Ausbreitung des neuartigen Coronavirus auf dem falschen Fuß erwischt, ihr Gesundheitssystem war nicht auf eine Pandemie vorbereitet, die Bevölkerung war ungeschützt, viele Menschen verloren ihren Arbeitsplatz und ihren Lebensunterhalt.

Als der wirtschaftliche Flächenbrand im März 2020 begann, schrieb William Galston, ehemaliges Mitglied der Regierung Clinton, in einem Leitartikel im Wall Street Journal: »Effizienz ist nicht die einzige wirtschaftliche Tugend.« Galston machte sich Gedanken über die wirtschaftlichen Konsequenzen der Pandemie. Die Folgen waren besorgniserregend, doch es gab noch eine weitere Überraschung: Die Vereinigten Staaten waren in keiner Weise auf diesen Ernstfall vorbereitet – und damit waren sie nicht allein. Überall in der westlichen Welt fragten Behörden, Mediziner und die Öffentlichkeit Abend für Abend in den Nachrichten, wo denn die FFP2-Masken, die Schutzkleidung und die Beatmungsgeräte blieben, und warum antibakterielle Seifen, Toilettenpapier und viele andere Dinge des täglichen Bedarfs knapp wurden.

Eine öffentliche Distanzierung von der Effizienz

Galston meinte, es könne etwas nicht stimmen mit einem Wirtschaftssystem, das außerstande ist, während einer Gesundheitskrise, wie sie in einem Jahrhundert nur einmal vorkommt, die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu decken. Mit einer Frage enthüllte er das schmutzige kleine Geheimnis des modernen Kapitalismus: »Was wäre, wenn das unermüdliche Effizienzdenken, das seit Jahrzehnten das unternehmerische Denken beherrscht, das globale Wirtschaftssystem anfällig für Erschütterungen gemacht hat?«5 Galston legte dar, dass der Erfolg der Globalisierung darauf beruht, die Produktion von alltäglichen Gütern und Dienstleistungen in diejenigen Weltregionen zu verlagern, in denen sich durch niedrige Lohnkosten und nicht vorhandene Umweltschutzgesetze effiziente Skaleneffekte erzielen lassen. Diese Produkte werden dann mit Containerschiffen und Flugzeugen aus fernen Ländern in die reichen Länder transportiert. Die Effizienzgewinne durch die Globalisierung seien zwar ein »Kompromiss« und »unvermeidlich«, so Galston, doch die Folge sei, »dass mit steigender Effizienz die Resilienz abgenommen hat«. Zum Abschluss sprach er eine Warnung aus: »Im unermüdlichen Streben nach der Effizienz, die einen wesentlichen Konkurrenzvorteil ausmacht, führen die Entscheidungen einzelner Marktteilnehmer in der Summe zu einer suboptimalen Widerstandsfähigkeit, die ein öffentliches Gut darstellt.«6 In der Unternehmenswelt hört man so etwas gar nicht gern. Indem Galston auf die Schattenseiten der hochgelobten Effizienz und effizienter Märkte im globalen Wirtschaftssystem verwies, legte er den Finger in die Wunde des gesamten Systems, nach dem moderne Gesellschaften funktionieren.

Wäre Galstons Artikel ein einzelner Schuss vor den Bug gewesen, dann wäre er vermutlich ungehört verhallt. Doch wenige Wochen später, am 20. April 2020, veröffentlichte der republikanische Senator Marco Rubio einen Meinungsartikel in der New York Times, in dem er eine widerstandsfähigere amerikanische Wirtschaft verlangte.

Rubio argumentierte aggressiver als Galston und warnte: »In den vergangenen Jahrzehnten haben die wirtschaftlichen und politischen Führer unser Nation, Demokraten wie Republikaner, Entscheidungen zur Struktur unserer Gesellschaft getroffen und dabei Effizienz über Resilienz, Finanzerträge über die Investitionen der Mittelschicht und die Bereicherung Einzelner über das Gemeinwohl gestellt.«7

Den Unternehmen der Vereinigten Staaten warf Rubio vor, ihre Produktion in Entwicklungsländer ausgelagert und zu Hause eine Finanz- und Dienstleistungswirtschaft errichtet zu haben. »Das Ergebnis war einer der effizientesten Wirtschaftsmotoren aller Zeiten«, dem es jedoch »an Widerstandsfähigkeit fehlt, und das kann in einer Krise verheerend sein«. Rubio schlug einen philosophischen Ton an, als er verlangte, die Vereinigten Staaten müssten sich den Konsequenzen eines »hyper-individualistischen Ethos« stellen und sich auf den resilienten Geist besinnen, der das Land groß gemacht habe.8

Die Kritik von Galston und Rubio an den Auswüchsen der Effizienz auf Kosten der Widerstandsfähigkeit war nicht neu. Nur dass nun, da die Bürgerinnen und Bürger zu Beginn der Coronakrise in Supermärkten und Apotheken vor leeren Regalen standen, der Preis für Wirtschaft und Gesellschaft für jedermann sichtbar war.

Schon vor der Coronakrise war aus dem kapitalistischen Establishment Kritik laut geworden. Im Januar 2019 veröffentlichte die Zeitschrift Harvard Business Review einen langen Artikel über den »hohen Preis der Effizienz«. Autor war Roger Martin, emeritierter Dekan der Rotman School of Management an der University of Toronto. Der Artikel begann mit folgender Feststellung: »Seit Adam Smith ist die Beseitigung von Redundanzen der Heilige Gral der Betriebswirtschaftler. Aber was, wenn das Effizienzstreben mehr negative als positive Auswirkungen hat?«9 Zum ersten Mal in der 250-jährigen Geschichte der Zunft hinterfragen Martin und andere aus der exklusiven Welt der Unternehmensführung diese Gemeinplätze. Und für den Fall, dass irgendjemand nicht mitbekommen haben sollte, dass Effizienz das Herzstück der neoklassischen und neoliberalen Wirtschaftstheorie ist, klärt Martin auf:

Die Tugendlehre der Effizienz leuchtet bis heute. Sie wird verkörpert durch internationale Einrichtungen wie die Welthandelsorganisation, die den internationalen Warenaustausch effizienter machen soll. Sie steht im Mittelpunkt des Konsens von Washington, der die Liberalisierung des Handels und der ausländischen Direktinvestitionen, effizientere Formen der Besteuerung, Deregulierung und Privatisierung, transparente Kapitalmärkte, ausgeglichene Haushalte und die Bekämpfung von Redundanzen durch Regierungen und Behörden vorantreiben soll. Außerdem wird die Effizienz an jeder betriebswirtschaftlichen Fakultät dieses Planeten gelehrt.10

Martin greift den Effizienzwahn des Kapitalismus auch von einer anderen Seite her an. Er argumentiert, dass zu Beginn jeder technischen Revolution die ersten Schrittmacher den neuen Markt rasch unter ihre Kontrolle bringen, indem sie in allen erdenklichen Wertschöpfungsketten ihre Effizienz steigern und vertikal in ihren Betrieb integrieren, um Skaleneffekte auszunutzen. Diese Strategie bringe jedoch negative externe Effekte mit sich, die beim Sturm an die Spitze nicht einkalkuliert werden.

Als Beispiel nennt Martin die wenigen Unternehmen, die fast den gesamten internationalen Markt für Mandeln beherrschen. Zu Beginn des Booms galt das Central Valley von Kalifornien als »perfekter Ort für den Mandelanbau«, und heute kommen rund 80 Prozent der in aller Welt geernteten Mandeln aus dieser Region.11

Bedauerlicherweise stieß die Konzentration der Mandelproduktion auf eine einzige Region mit vermeintlich idealen Witterungsbedingungen auf nicht vorhergesehene Umweltprobleme. Zum einen muss die Bestäubung der Mandelblüten innerhalb eines sehr schmalen Zeitfensters erfolgen, und dazu müssen Bienenvölker aus dem gesamten Land in die Region gebracht werden. In den vergangenen Jahren ist die Bienenpopulation jedoch eingebrochen. Allein im Winter 2018/19 starb ein Drittel aller Bienenvölker – ein trauriger Rekord.12 Es gibt viele Theorien für die Ursachen des Bienensterbens, doch es genügt, wenn wir an dieser Stelle festhalten, dass sich der anfangs so effiziente monokulturelle Mandelanbau als besonders anfällig für externe Effekte und weniger widerstandsfähig erwiesen hat.

Martin vergaß übrigens zu erwähnen, dass Mandeln überdies sehr durstig sind. Bei der Produktion einer einzigen Mandel werden 4,5 Liter Wasser verbraucht. Insgesamt gehen 10 Prozent des gesamten in der kalifornischen Landwirtschaft benötigten Wassers auf das Konto der Mandeln im Central Valley – damit verbrauchen die Mandeln mehr als die Einwohner der Städte San Francisco und Los Angeles zusammen.13 Aber es kommt noch schlimmer. Der Klimawandel hat das einst fruchtbare Central Valley in eine Dürreregion verwandelt und bedroht die Zukunft dieses einst so effizienten Standorts für Mandelhaine. Wenn es kurzfristig effizient gewesen sein mag, 80 Prozent der weltweiten Mandelproduktion auf eine einzige Region zu konzentrieren, stieß die Branche nun auf Umweltprobleme, die sie nicht vorhergesehen hatte. Was als ertragreiches Geschäft begann, hat sich als nicht resilient erwiesen.14 Die Lektion ist, dass Monokulturen gleich welcher Art zwar effizient sein mögen, dass sie aber nicht resilient sind.

Der Niedergang des Industriekapitalismus

Effizienz ist ein zeitlicher Wert, Resilienz ein Zustand. Effizienzsteigerung geht oft auf Kosten der Widerstandsfähigkeit, doch das Gegenmittel ist nicht mehr Effizienz, sondern Anpassungsfähigkeit. Während der vergangenen gut fünf Jahrzehnte haben wir verstehen gelernt, dass die Erde ein sich selbst organisierendes System ist, in dem sich alle Lebensformen kontinuierlich und von einem Moment zum anderen an die Energieströme des Planeten und die Evolution der irdischen Sphären anpassen. Die Anpassungsfähigkeit hat große Ähnlichkeit mit dem Konzept der »Harmonisierung« der Natur, das für östliche Religionen und Philosophien typisch ist.

Die Effizienz zielt auf die Beseitigung von Reibungsverlusten, sprich Redundanzen, die Geschwindigkeit und Optimierung von wirtschaftlichen Aktivitäten bremsen könnten. So kann zum Beispiel der Anbau eines bestimmten landwirtschaftlichen Produkts in einer Monokultur in mancherlei Hinsicht effizienter sein, doch wenn diese Monokultur von einem Krankheitserreger befallen wird, kann dies nicht wieder gut zu machende Schäden zur Folge haben.

Das Eingeständnis von Wirtschaftswissenschaftlern und Unternehmern, dass die Effizienz, die einst als praktischer Arm der kapitalistischen Theorie galt, Wirtschaft und Gesellschaft anfälliger für Risiken macht (und damit unsere kollektive Resilienz schwächt) schien aus heiterem Himmel zu kommen. Doch diese Erkenntnis eröffnet eine neue Einschätzung, wie unser Weg in die Zukunft aussehen könnte.

Wenn unsere Effizienzbegeisterung heute abkühlt, wie steht es dann um ihre Zwillingsschwester, die Produktivität, eine weitere Stütze des aktuellen Wirtschaftssystems? Während die Effizienz eine zeitliche Größe ist, handelt es sich bei der Produktivität ganz einfach um das Verhältnis von erzielten Erträgen und den eingesetzten Mitteln, womit vor allem technische Mittel und innovative Unternehmenspraktiken gemeint sind. Sowohl Effizienz als auch Produktivität sind lineare Prozesse und zeitlich begrenzt auf die jeweilige Produktionskette und den Marktvorgang, während die negativen Nebenwirkungen, die in jeder Phase des Prozesses entstehen und weit über die Produktion und Lieferung des jeweiligen Guts hinausgehen können, kaum oder gar nicht berücksichtigt werden. Und natürlich sind es gerade diese negativen externen Effekte, die durch die Effizienz- und Produktivitätssteigerungen entstehen, die den Unternehmen ihre Ertragssteigerungen ermöglichen.

Biologische Systeme funktionieren ganz anders. Sie zeichnen sich nicht durch Effizienz aus, sondern durch Anpassungsfähigkeit, und ihre Leistung wird nicht anhand der Produktivität gemessen, sondern anhand ihrer Erneuerbarkeit. Anpassungsfähigkeit und Erneuerbarkeit gehen in allen Organismen und Ökosystemen Hand in Hand. Ein Beispiel ist die sogenannte Autophagie.

Der 1945 geborene japanische Zellbiologe Yoshinori Ōsumi hat sich sein Leben lang mit der Autophagie beschäftigt. Der Begriff kommt vom altgriechischen autóphagos, sich selbst verzehrend, und bezeichnet das Abfallbeseitigungssystem der Zelle. Dabei handelt es sich um einen Prozess, »bei dem Zellabfälle aufgefangen und in sackartigen Membranen, den sogenannten Autophagosomen, aufgenommen, eingeschlossen und zu einer Struktur namens Lysosom transportiert werden«. Biologen waren lange der Ansicht, bei den Lysosomen handele es sich einfach um »zelluläre Mülleimer« und maßen ihnen keine besondere Bedeutung bei, wie wir das vom Umgang mit unseren Müllhalden und Schrottplätzen kennen.15 Doch Ōsumi erkannte, dass es sich bei der Autophagie um das »Recyclingverfahren eines Organismus« handelte. Nicht mehr benötigte Zellbestandteile werden gesammelt und die Teile, die noch zu gebrauchen sind, werden abgetrennt, um Energie zu erzeugen und/oder neue Zellen zu schaffen.16 Für diese Erkenntnis wurde Ōsumi 2016 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet.

Autophagie ist nur eines von vielen Beispielen von tief in Organismen eingebetteten Prozessen und Mustern, die uns bei der Neuausrichtung unseres Wirtschaftsverständnisses helfen können. In jüngster Zeit ist es in sämtlichen Bereichen der Wirtschaft in Mode gekommen, die Selbsterneuerung von biologischen Systemen nachzuahmen, indem man die »Kreislaufwirtschaft« – wie man das Recycling in der Unternehmenswelt nennt – in fast alle Phasen des wirtschaftlichen Prozesses einbaut, von der Rohstoffgewinnung über die Produktion, Lagerung und Logistik bis hin zum Verbrauch. Dabei wird ein relativ geschlossener Kreislauf geschaffen, der möglichst alles wiederverwendet und kaum Abfälle produziert, um die Umweltkosten für uns und künftige Generationen zu minimieren.

Ist diese Diskussion um Effizienz vs. Anpassungsfähigkeit und Produktivität vs. Erneuerbarkeit nur eine vorübergehende Reaktion auf die aktuelle Krise in Lieferketten, Logistik und Inventar, mit der die Welt zu Beginn der Coronakrise konfrontiert wurde? Oder gehen die Veränderungen tiefer? In den 1960er Jahren, als ich an der Wharton School of Management studierte, und zwischen 1995 und 2010, als ich dort lehrte, wurde jedenfalls nie über die Nachteile von Effizienz und Fortschritt diskutiert, und schon gar nicht über die Gegenmodelle Anpassungsfähigkeit und Resilienz.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten haben wir jedoch eine Reihe von Krisen erlebt: die Terroranschläge des 11. September 2001 auf das World Trade Center und den kometenhaften Aufstieg von Terrorgruppen in aller Welt; die globale Finanz- und Wirtschaftskrise; eskalierende Einkommensunterschiede mit dem wachsenden Reichtum einer globalen Finanz- und Wirtschaftselite und der zunehmenden weltweiten Verarmung von Arbeitnehmern; den Aufstieg ultrarechter, populistischer und faschistischer politischer Bewegungen und Parteien, eine Stärkung von Autokratien und eine Vertrauenskrise der Demokratie.

Doch diese Krisen, die unsere Zivilisation zu destabilisieren drohen, sind nichts im Vergleich zu den beiden großen Gefahren für unsere Existenz: immer rascher aufeinander folgende und immer größere globale Pandemien sowie die exponentielle Erderwärmung, die das sechste Massenartensterben der Erde beschleunigt.

Die letzte Krise, die auch nur entfernt an die Ausmaße der unseren heranreicht, liegt sieben Jahrhunderte zurück, als die Beulenpest Europa und Teile Asiens heimsuchte. Die erste Welle begann 1346, danach flammte sie Jahrhunderte lang immer wieder auf und forderte in Eurasien geschätzte 75 bis 200 Millionen Menschenleben.17 Das gesellschaftliche und politische Chaos, das die Pest anrichtete, führte zu einer massenhaften Verdrossenheit gegenüber der katholischen Kirche, die über ein Jahrtausend lang den Gläubigen Trost gespendet und die Geschicke der westlichen Welt gelenkt hatte. Das Heilsversprechen der Kirche war eine starke Erzählung, die sich im gesamten Westen durchgesetzt hatte, und doch am Ende zu schwach für ein winziges Bakterium: Yersinia pestis. Aus den Ruinen erstand eine neue und umfassende Weltsicht und Erzählung zusammen mit neuen Organisationsformen für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Unter dem Banner des Fortschritts führte diese Neuordnung der Zivilisation Europa, Nordamerika und schließlich den Rest der Welt in die Moderne.

Das Zeitalter des Fortschritts bedeutete nicht für alle Menschen dasselbe, doch es brachte unter anderem den Siegeszug der Demokratie, mehr persönliche Freiheiten, einen Anstieg der Lebenserwartung sowie eine Ausweitung der Menschenrechte. Doch im Mittelpunkt dieser neuen Erzählung stand die Mehrung des materiellen Wohlstands durch Wissenschaft und Technik im Rahmen einer kapitalistischen Marktwirtschaft.

Im Kern des Paradigmenwechsels vom Mittelalter zur Moderne steht das neue Heilsversprechen, die Lebensbedingungen hier auf Erden zu verbessern. Die Verantwortung für seine Erfüllung ruhte auf den Naturwissenschaften und der Mathematik, den praktischen Erfindungen zur Erleichterung des Alltags sowie den Verheißungen des Kapitalismus, das wirtschaftliche Wohl der Gesellschaft zu mehren. Auf diesen drei Säulen basiert das gesamte Zeitalter des Fortschritts. Das verbindende Element war die Effizienz, jene spezifisch moderne Organisation der räumlichen und zeitlichen Orientierung des Einzelnen, der Gemeinschaft und der Wirtschaft. Der Gedanke ist so allgegenwärtig, dass er kaum ausgesprochen und selten hinterfragt und trotzdem überall hochgehalten wird als Mittel zur Einsparung von Zeit und Ausbeutung von Raum mit dem Ziel, das Paradies hier auf Erden zu errichten.

Effizienz ist der Motor der Moderne. Sie bestimmt unseren Umgang mit der Zeit und damit auch mit dem Raum. Wer nach ihr handelt, geht davon aus, dass Effizienz Zeit spart, Zeit gewinnt, Zeit erkauft, Zeit dehnt und damit dem Einzelnen und der ganzen Gesellschaft mehr Zeit schenkt. Je effizienter ein Mensch, eine Institution oder eine Gesellschaft wird, umso sicherer können sie sich sein, ihren Zukunftshorizont erweitert zu haben und der Unsterblichkeit ein Stückchen näher gekommen zu sein. Mit dem Aufstieg der modernen Naturwissenschaften, der Erfindung immer neuer Techniken und dem Siegeszug des Kapitalismus trat eine neue Dreifaltigkeit an die Stelle von Vater, Sohn und Heiligem Geist. So wurde die Effizienz zum unbewegten Beweger und zum Gott des Fortschrittszeitalters.

Kapitel 2Taylorismus und das Gesetz der Thermodynamik

Filmliebhaber kennen die beiden großen Filme des Komikers Charlie Chaplin: Der große Diktator und Moderne Zeiten. Die meisten wissen, dass der erste dieser beiden Filme eine Karikatur auf Adolf Hitler ist, aber nur die wenigsten ahnen, dass der zweite einen Mann aufs Korn nimmt, der ebenfalls gewaltigen Einfluss auf das 20. Jahrhundert hatte. In Moderne Zeiten spielt Charlie Chaplin einen Fließbandarbeiter, der immer schneller Muttern auf Schrauben drehen muss, in dem verzweifelten Versuch, mit dem von der Fabrikleitung vorgegebenen Tempo mitzuhalten; am Ende wird er schließlich in die Maschine gezogen und stürzt die ganze Fabrik ins Chaos.1 Der Film ist eine Parodie auf Frederick W. Taylor, einen der Propheten des Evangeliums der Effizienz. Frederick Winslow Taylor wurde 1856 als Sohn einer wohlhabenden Quaker-Familie in Philadelphia geboren. Er besuchte die renommierte Phillips Academy in Exeter, New Hampshire und entschloss sich danach zu einer Ausbildung als Maschinenbauer. Er erklomm Führungspositionen in mehreren Unternehmen, darunter die Bethlehem Steel Corporation. Später lehrte er an der Tuck School of Business des Dartmouth College und wurde 1906 Präsident des Amerikanischen Ingenieursverbands (American Society of Mechanical Engineers ASME). 1911 veröffentlichte er Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung – die Bibel der Effizienz und eine Anleitung für ihre Verankerung im Herzen der modernen Zivilisation.

Taylor entwickelte ein System der Arbeitsteilung, mit dem das Management buchstäblich jeden einzelnen Handgriff jedes einzelnen Arbeiters in jeder einzelnen Produktionsphase steuerte. Sein System, das später als Taylorismus bezeichnet wurde, basierte auf einem einzigen übergreifenden Grundsatz: der Trennung von Führung und Planung auf der einen Seite und der Ausführung der Tätigkeiten in der Fabrik auf der anderen sowie der Aufspaltung dieser Tätigkeiten in immer einfachere Einheiten, die aufeinander abgestimmt waren, um die Effizienz des Produktionsprozesses zu steigern. Nachdem der Beitrag jedes Arbeiters auf einzelne, einfache, wiederholbare und bis ins Kleinste vorgeschriebene Tätigkeiten reduziert worden war, maßen Vorarbeiter mit der Stoppuhr die für jeden Handgriff erforderliche Zeit, um jede überflüssige und verlangsamende Bewegung zu beseitigen und die Abläufe noch schneller und noch akkurater zu machen. Sie sollten ermitteln, wie viel Zeit eine Tätigkeit unter optimalen Bedingungen in Anspruch nahm, um diese Zeit als Maßstab der Effizienz zu verwenden. Kleinste Veränderungen in den Bewegungsabläufen, die eine Verrichtung verlangsamen konnten, wurden korrigiert, um kostbare Sekunden einzusparen.

Die Tätigkeit der Arbeiter wurde standardisiert, alle Eigenheiten des Verhaltens wurden ausgemerzt, um ein absolut rationales Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Arbeiter nicht mehr von den Maschinen zu unterscheiden waren, die sie bedienten. Alle Faktoren in der Produktion waren Teile einer wissenschaftlich geführten Übermaschine, deren Leistung ständig nach Effizienzkriterien gemessen und deren Wert durch Kosten-Nutzen-Analyse errechnet wurde.

Das Evangelium der Effizienz

Die Fabrik sollte allerdings nur der Brückenkopf sein, über den der Taylor’sche Effizienzfeldzug in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert in die Gesellschaft vordrang. Das Geniale an Taylors Erzählung war ihr wissenschaftlicher Anstrich, der ihr die nötige Legitimität verlieh, um sie der gebildeten Mittelschicht schmackhaft zu machen und den Begriff der Effizienz, der eigentlich aus dem Ingenieurwesen kam und die Leistung von Maschinen beschrieb, für jeden Aspekt des Lebens tauglich erscheinen zu lassen. Das Maschinenzeitalter war angebrochen. Neue, atemberaubende Erfindungen erreichten die breite Bevölkerung: Telefon, Dynamo, Elektrizität, künstliche Beleuchtung, Auto, Flugzeuge, Wolkenkratzer, Radio, Kino, Fließbänder, elektrische Haushaltsgeräte und so weiter. Millionen von Familien gingen staunend durch die Weltausstellungen, angefangen von der in Chicago 1893 bis zu der in New York 1939, wo sie die von den Naturwissenschaften und der effizienten Wirtschaft errichteten Utopien mit Händen greifen konnten. Die Ausstellungsstücke sollten den Besuchern die Zukunft vor Augen führen, die sie selbst mit aufbauen und in der sie leben würden.

Kein Ort war besser geeignet, der Öffentlichkeit diese neue Weltsicht einzuimpfen als das Zuhause. In einer Flut von Artikeln forderten Frauenzeitschriften ihre Leserinnen auf, »fortschrittlich zu denken und sich der Effizienzbewegung anzuschließen«. Sie appellierten an die Vernunft der Leserinnen, sie schreckten allerdings auch nicht vor dem Zeigefinger zurück. Mütter der Mittelschicht wurden ermahnt, die Familie sei »Teil der großen Fabrik zur Produktion von Bürgern«.2 In einer beliebten Frauenzeitschrift forderte die Hauswirtschafterin Christine Frederick die Hausfrauen auf, wissenschaftlich zu denken und den häuslichen Betrieb effizient zu führen. Sie bekannte: »Jahrelang war mir nicht bewusst, dass ich allein beim Wäschewaschen achtzig falsche Bewegungen ausführte, die beim Aufräumen, Wischen und Saubermachen gar nicht eingerechnet.«3 Frederick appellierte an alle Hausfrauen, das Geschirrspülen zu standardisieren und »Bewegungen zu identifizieren, die effizient sind, und andere, die unnötig und ineffizient sind«.4 Experimentierstationen wurden eingerichtet, um die Effizienz der Tätigkeiten im Haushalt zu ermitteln. Bewegungsabläufe wurden gestoppt, um für jede Arbeit im Haushalt optimale Bewegungs- und Zeitsegmente zu finden und Daten zu sammeln, mit denen Hausfrauen »in den Grundsätzen der Haushaltstechnik« unterwiesen werden konnten.5 Der Effizienzkreuzzug war in vollem Gange. »Das Heim sollte mechanisiert und systematisiert« und nach dem Rhythmus der Effizienz optimiert werden.6 Das Heim war das Einfallstor, über das der Taylorismus Einzug in die Gesellschaft hielt, doch die Schule wurde der Lehrer, Führer, Vermittler und Vollstrecker der Effizienzagenda. Nach den Grundsätzen der wissenschaftlichen Betriebsführung wurden Schulen zu Lernfabriken umgestaltet und Kinder zu kleinen Tayloristen geformt, um sie auf die Chancen und Aufgaben »der Welt von morgen« vorzubereiten.

Auch die Medien schürten die Hysterie gegen ein altes Bildungsmodell, das nicht mit den Anforderungen der Arbeitswelt Schritt hielt und die Schüler nicht darauf vorbereitete, Rädchen in einem industriellen System zu werden, welches mit den Mitteln der wissenschaftlichen Betriebsführung Effizienz und Produktivität steigerte und Wohlstand produzierte. Die Evening Post geißelte »unsere mittelalterlichen Schulen«, wie sie sie nannte und fragte: »Wollen wir unsere Kinder auf das 12. oder auf das 20. Jahrhundert vorbereiten?« Der Artikel machte sich über die »Kavaliersbildung« lustig, die »in der Welt, vor allem der Geschäftswelt, keinen Platz mehr hat«.7 Ein weiterer Anhänger des Taylorismus schimpfte: »In der unternehmerischen Führung vieler Schulen gibt es Ineffizienzen, wie man sie in der Welt der Büros und Fabriken niemals dulden würde.«8 Pädagogen nahmen den Fehdehandschuh auf. Schulbehörden drängten auf eine Neuorganisation des staatlichen Schulwesens nach den Grundsätzen der wissenschaftlichen Betriebsführung. Oberste Priorität war die Entmachtung der Lehrer mit ihren individuellen Unterrichtsmethoden. Tayloristen verlangten, Lehrplan, Unterricht und Prüfungen in die Hand der Schulbehörde zu geben, sie zu standardisieren und den Lehrern präzise Vorgaben zur Unterrichtsgestaltung zu machen.

In dieser neuen Schule übernahm die Schulbehörde die Rolle des Managements in Fertigungsunternehmen, und die Lehrer waren die Fließbandarbeiter, die spezifische Aufgaben erhielten sowie detaillierte Anweisungen, wie sie den Stoff zu vermitteln hatten. Wissen wurde in kleinste Häppchen zerteilt, die sich leicht schlucken und in standardisierten Prüfungen wieder hervorwürgen ließen.

Standardisierte Prüfungen und Benotungen wurden zur Norm. Der traditionelle Anspruch einer Wissensvermittlung, der es um das »Warum« ging, wurde ersetzt durch eine fast schon missionarische Begeisterung für das »Wie«. Effizienz wurde das wesentliche Kriterium bei der Beurteilung von Leistung. Aufgaben mussten unter Zeitdruck gelöst werden. Wissen wurde in Fächer eingeteilt, um das Erlernen von konkreten Aufgaben zu erleichtern. Die Qualität einer Schule wurde daran gemessen, wie viele Kinder in einer standardisierten Prüfung ein bestimmtes in Zahlen ausgedrücktes Ergebnis erreichten und damit in die nächste Klasse versetzt wurden. Heutzutage wird die Qualität amerikanischer Highschools am Abschneiden der Schüler bei den landesweiten Hochschulzugangstests abgelesen.

Im Laufe der letzten hundert Jahre erlebte dieser Tayloristische Bildungsansatz zwar geringfügige Korrekturen, doch im Grunde hat sich nichts geändert. Das amerikanische Bildungswesen des 20. Jahrhunderts diente vor allem dem Zweck, Kindern die Taylor’sche Effizienz zu vermitteln und sie für die Arbeitswelt fit zu machen.

Die staatlichen Gesetze zur Bildungsförderung aus dem Jahr 2001 lesen sich, als stammten sie direkt aus dem Taylor’schen Lehrbuch. Im Mittelpunkt stehen noch immer möglichst anspruchsvolle standardisierte Tests und detaillierte Anweisungen, wie Lehrer den Stoff im Unterricht zu vermitteln haben. Inhalte, die sich nicht auf standardisierte Benotungen reduzieren lassen, wurden aus dem Lehrplan gestrichen.

Pädagogikprofessor Wayne Au von der University of Washington beschrieb in einem Artikel den anhaltenden Taylorismus in Lehrplänen und Tests und seine Auswirkungen auf die Schulen der Vereinigten Staaten:

Wissen verkommt zu einem Sammelsurium unzusammenhängender Fakten, Operationen, Verfahren oder Daten, die für die standardisierten Prüfungen auswendig gelernt werden … In der Folge erwerben Schüler vor allem mit niederen Denkfunktionen zusammenhängendes Wissen, und sie lernen dieses Wissen in Häppchen und ausschließlich im Kontext von Prüfung. Die standardisierten Prüfungen behindern also die Wissensvermittlung an den Schulen der Vereinigten Staaten.9

Nirgends erhielt die Effizienzbewegung größere Bedeutung, und nirgends wurde sie in der öffentlichen Debatte mehr missverstanden als im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Den Naturschützern des beginnenden 20. Jahrhunderts ging es darum, die Schönheit der Wildnis aus ästhetischen Gründen zu bewahren und Ökosysteme zu erhalten, um der heimischen Tier- und Pflanzenwelt neben der zunehmend industrialisierten Umwelt einen Platz einzuräumen. Doch die Berufsverbände, die Industrie und die Regierung von Präsident Theodore Roosevelt definierten den Naturschutz zur Effizienzagenda um. Sie argumentierten, die natürlichen Ressourcen seien der Schlüssel für einen raschen Aufstieg zur führenden Industriemacht der Welt. Doch sie warnten auch, dass mit einer zu eiligen Inbesitznahme und Ausbeutung der natürlichen Schätze des Landes die Gans getötet würde, die goldene Eier legte. Daher drängten sie auf eine effizientere Ausbeutung des natürlichen Erbes im Dienste der amerikanischen Industrie und Wirtschaft. Da es sich bei der Ausbeutung von Ressourcen um eine technische Angelegenheit handelte, sollte sie in die Hände von Experten gegeben werden, die sich am besten auf das effiziente Management der natürlichen Reichtümer des Landes verstanden.

Der Umwelthistoriker Samuel P. Hays fasste die Kernpunkte der neuen Naturschutzbewegung so zusammen: »Die Effizienzapostel ordneten die Ästhetik der Zweckdienlichkeit unter. Der Erhalt natürlicher Landschaften und historischer Stätten musste hinter der Steigerung der industriellen Produktivität zurückstehen.«10 Wer glaubt, dass sich in den Vereinigten Staaten am Umgang mit staatlichem Grundbesitz im Laufe der letzten hundert Jahre etwas geändert hat, der möge sich folgende Zahlen zu Gemüte führen: »Aktuell stehen 90 Prozent des staatlichen Grundbesitzes der Öl- und Gasförderung zur Verfügung, und nur 10 Prozent für Naturschutz und andere Werte wie Freizeit und Wildnis«.11 Schlimmer noch, 42 Prozent der in den Vereinigten Staaten geförderten Kohle, 22 Prozent des Rohöls und 15 Prozent des Erdgases, die für 23,7 Prozent der klimaschädlichen Kohlendioxidemissionen der Vereinigten Staaten verantwortlich sind, stammen aus öffentlichem Grund.12 Das Effizienznarrativ der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts war ein probates Mittel, um grundlegendere Fragen von wirtschaftlicher und politischer Gleichheit, Gleichstellung der Frau, Aufhebung der Rassentrennung, Moral und der Verantwortung des Menschen für die Natur auszuhebeln. Effizienz wurde als neutrale Kraft verkauft. So wie Darwin das Buch der Natur umschrieb mit seiner Behauptung, die Auslese garantiere das Überleben des am besten Angepassten, und damit die Fragen der göttlichen Bestimmung ausschaltete, brachten die Grundsätze der wissenschaftlichen Betriebsführung ihre eigene Logik mit, der zufolge Effizienz über den widerstreitenden gesellschaftlichen Interessen steht. Wer die Effizienz infrage stellt, legt sich mit den unhintergehbaren Gesetzen der Naturwissenschaften und der Natur selbst an. Wie sehr wir uns geirrt haben.

Die Entropie gewinnt immer: Die einzige ewige Wahrheit

Während des Industriezeitalters ging ein Drittel der Böden unseres Planeten durch Erosion verloren, und Wissenschaftler sagen uns, dass wir zur Ernährung der Weltbevölkerung nur noch Erdreich für sechzig Jahre haben.13 Für die Entstehung von fünf Zentimetern Erdreich ist ein Jahrtausend und mehr nötig.14 Die Wissenschaftler warnen uns auch, dass der Klimawandel ein massenhaftes Artensterben verursacht, dem in den nächsten achtzig Jahren fast die Hälfte aller heute lebenden Arten zum Opfer fallen könnte.15 Gleichzeitig hat unser Planet ein ernstes Sauerstoffproblem – und es wächst in alarmierender Geschwindigkeit. Die Hälfte des Sauerstoffs, der auf der Erde durch Photosynthese entsteht, wird durch Phytoplankton in den oberen Schichten der Ozeane gebildet. Doch der Anstieg der Meerestemperaturen aufgrund der Klimaerwärmung schadet den winzigen Algen. Neuere Studien gehen davon aus, dass durch den Verlust des Phytoplanktons schon im Jahr 2100 alle Weltmeere unter Sauerstoffmangel leiden könnten.16 Nicht weniger beängstigend ist die Aussicht, dass mit der Erderwärmung durch Treibhausgase Überschwemmungen, Wirbelstürme, Dürren und Waldbrände an Häufigkeit und Intensität zunehmen, Ökosysteme instabil und große Bereiche des Planeten unbewohnbar werden – bis 2070 könnten 19 Prozent der Erdoberfläche so heiß sein, dass sie für Menschen unbewohnbar sind.17 Der Fußabdruck, den die Menschheit auf der Erde hinterlässt, ist gigantisch. Galten vor einem Jahrhundert noch rund 85 Prozent der gesamten Landfläche des Planeten als Wildnis, sind es heute weniger als 23 Prozent, und auch dieser Rest wird in ein paar Jahrzehnten verschwunden sein.18 Wie konnten wir zulassen, dass es so weit kommt? Warum haben wir das nicht früher kommen sehen? Dazu gibt es zahlreiche Meinungen. Doch einen großen Teil der Verantwortung tragen unbestritten Naturwissenschaftler, Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer, die uns gemeinsam das Märchen von der Weltwirtschaft auftischten, die den Interessen und dem Wohl der Menschheit diene.

Diese Geschichte beginnt mit dem französischen Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes, der oft als erster moderner Philosoph bezeichnet wird. Der 1596 im französischen La Haye en Touraine geborene Descartes war ein Musterschüler der Mathematik und Physik. Als Junge bestaunte er die neuen Erfindungen, mit denen der Mensch seine Herrschaft über die Natur festigte. Für ihn waren diese mechanischen Geräte Teil eines viel größeren Bildes, eines mechanischen Universums – also eines rationalen Universums, das nach den Gesetzen der Mechanik funktioniert. Descartes war der Ansicht, diese Gesetze ließen sich erkennen und zum Wohl der Menschheit nutzen.

Descartes erinnerte sich später, wie er am Abend des 10. November 1619 zu Bett ging und drei Träume hatte, in denen ihm der Geist der Wahrheit eine neue Philosophie offenbarte, die anders war als alles, was vor ihr kam. Als er erwachte, verstand er den Grundgedanken dessen, was als analytische Geometrie bekannt werden sollte, sowie die Anwendung der Mathematik auf die Philosophie. Descartes überlegte,

dass es keinen Unterschied macht, ob die Frage der Messung bei Zahlen, Formen, Sternen, Klängen oder irgendeinem anderen Objekt gestellt wird. Ich erkannte, dass es eine allgemeine Wissenschaft geben musste, die dieses Element, aus dem sich Probleme um Ordnung und Messung ergeben, als Ganzes erklärt. Diese Wissenschaft wird universelle Mathematik genannt, und ihre Aufgabe sollte es sein, auf allen Gebieten die Wahrheit zu finden.19

Descartes glaubte, der entfesselte Geist könne, mit den Waffen der Mathematik ausgestattet, eine geordnete, berechenbare und dauerhafte Entsprechung des Lebens auf der Erde erschaffen, genau wie Gott einst das Universum erschaffen hatte. »Gib mir Materie und Bewegung und ich werde das Weltall erschaffen«, sagte er – vielleicht der kühnste Satz, den je ein Mensch geäußert hat.20