Planet der Tiere - Scott Bradfield - E-Book

Planet der Tiere E-Book

Scott Bradfield

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Beschreibung

Mit einem Feuerwerk anarchischen Humors legt Scott Bradfield eine große amerikanische Satire vor, ein aberwitziges Update zu Orwells ›Farm der Tiere‹: aus der nüchternen Parabel wird eine überbordende Parodie auf den geschlossenen Kreislauf von Medien und Kommerz. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Scott Bradfield

Planet der Tiere

Roman

Aus dem Amerikanischen von Manfred Allié

FISCHER E-Books

Inhalt

FÜR JACK [...]I think I could turn [...]Erster Teil Tiere hinter Gittern1 Der Winterurlaub2 Radiowecker3 Der Geist der Zeit4 Freie Arbeit, freier GrundZweiter Teil Im ewigen Eis1 Die grosse Kälte2 Pinguine zum Mittagessen3 Mordida Girls4 Das Crystal Palace Motel5 Das Land der MitternachtssonneDritter Teil An den Enden der Erde1 Gottes Wille2 Liebeskummer3 Ein Diskurs über die Natur4 Der Hang zur Utopie5 Gut gezieltVierter Teil In der weiten Welt1 Tierphantasien2 Kulturbetrieb3 Schiff ahoi!4 Die Rückkehr der UnterdrücktenFünfter Teil New York Story1 Haushaltshilfe2 Online3 Das süsse Leben4 Die Zeiten ändern sich5 Pro und Kontra6 FlüchtlingsgeschichteSechster Teil Arbeitsleben1 Im tiefen Süden2 Manhattan-Melodie3 ChefetageSiebter Teil Schneller, höher, weiter1 Da draussen und hier drinnen2 Öffentliches PrivatlebenAchter Teil Die Rache der Natur1 Popstar2 Überholspur3 Die Krisensitzung4 Ethnozentrisches5 Die RevolutionNeunter Teil Das Ende1 Universitätsbetrieb2 Fünfzehn Minuten3 Ein Medienereignis4 Das grosse FinaleZehnter Teil Und was danach geschah1 Öffentlich-rechtlich2 Gedächtnisschwund3 Fernab von den Städten

FÜR JACK

I think I could turn and live with animals,

they are so placid and self-contained …

They do not sweat and whine about their condition,

They do not lie awake and weep for their sins,

They do not make me sick discussing their duty to God.

Not one is dissatisfied …

Walt Whitman

Erster Teil Tiere hinter Gittern

1 Der Winterurlaub

Es ist seltsam – gerade im Zoo vergessen die Tiere, daß sie eine Gemeinschaft bilden. Je enger man sie zusammenpfercht, desto fremder werden sie sich. Durch Gitterstäbe getrennt, doch nicht voreinander verborgen, wagen sie nicht mehr, dem anderen ins Gesicht zu blicken, fürchten sich vor der Stimme des anderen. Sie sehen nicht mehr hinüber zu den Scharen der Menschen, die sie besuchen kommen, und meiden ihr eigenes Spiegelbild im Wasser der Tränken und in den funkelnden Futternäpfen. Sie werden alt, gemeinsam und doch jedes in seine ewige Zelle gesperrt, und am Ende gibt es nur noch zwei Dinge, auf die sie sich freuen – Regen und Schlaf. Denn beide bedeuten Orte für sie, an denen sie sich verbergen können. Orte, an denen ein Tier sich vor sich selbst verbirgt.

Das war im Zoo von London nicht anders, als Charlie der Rabe sich, inzwischen auch nicht mehr ganz der Jüngste, einmal ein paar Tage Ruhe dort gönnte. Charlie hatte sein ganzes Leben in der Luft verbracht, hatte manches gesehen, manches probiert. Er war in Asien gewesen, in Afrika, Alaska und am Nordpol. Er hatte die überquellenden Städte gesehen, die vergifteten Meere, die Schlachtfelder, auf denen Tiere ihr Leben gelassen hatten, die korrupte Welt der Politik und so viel Mißgunst und Ungerechtigkeit, daß es für eine ganze Milchstraße gereicht hätte. Nun wollte Charlie einfach nur noch einen Ort, an dem er ein Weilchen bleiben konnte. Einen Ort, an dem die Flügel stillstanden, doch nicht der Schnabel. Denn Charlie redete gern. Es war eine der wenigen Freuden, die er im Leben hatte.

»Ihr seid mir ja ein schöner Haufen hier. Ein schöner Haufen.« Charlie ließ sich auf einer großen, rußgeschwärzten Eiche mitten im Zoogelände nieder und betrachtete sie, einen nach dem anderen, mit unerschütterlicher Selbstgefälligkeit. »Da habt ihr eure eigenen vier Wände, was, Jungs? Unterhaltungsmusik, Frischfleisch, Rohkost, einmal die Woche werdet ihr abgespritzt, und wenn ihr brav seid, wirft euch womöglich sogar mal einer ’n Knochen zu. Ihr habt euch hier schon so lange verhätscheln lassen, ihr kennt überhaupt nichts anderes mehr. Ihr seid fett und faul geworden. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimme ist, daß ihr keine Phantasie mehr habt. Die Phantasie, die ihr von der Natur bekommen habt, genau wie eure Beine oder die Zeichnung eures Fells. Ihr wißt nicht mehr, wie man von einem besseren Leben träumt, besser als hier in diesem blödsinnigen Zoo. Also, was habt ihr zu eurer Verteidigung vorzubringen, Leute? Habt ihr auch nur ein einziges Wort von dem gehört, was ich euch hier erkläre, hä?«

Überall im Londoner Zoo hörten die Tiere tagein, tagaus, was Charlie predigte, aber sie konnten sich nicht vorstellen, was das mit ihnen zu tun haben könnte. An Schildkröten, Aras, Pinguine, Nashörner. An Paviane, die sich durch die Bäume schwangen, an die eleganten Raubkatzen aus dem Dschungel, an eingeweckte Amphibien, träge Kopffüßer. Wenn jemand das Wort an die Tiere richtete, dann wollte er, daß sie etwas taten, und nicht, daß sie darüber nachdachten. Hier herüber. Tu dies. Friß das. Laß das sein. Für die Zooinsassen war Charlie, wie er da über ihnen auf dem Ast hockte, ein Wesen aus einer anderen Welt.

Schließlich war Charlie ja auch ein Vogel.

Charlie konnte fliegen.

 

Der Winter kam früh in jenem Jahr, und über die Tiere ergoß sich eine Menge schwieriger Wörter, die sie nicht einmal aussprechen konnten. Wörter wie Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, Sparmaßnahmen. Sie hörten von Firmen, die von ihren Managern übernommen wurden, Firmen, die von anderen Firmen übernommen wurden, von Firmen, deren neue Besitzer sie ausbluten ließen, von Privatisierung, der Europäischen Währungsunion, den Stimmungsschwankungen Prinzessin Dianas und der weltweiten ökologischen Krise. Die Wärter im Zoo sahen blasser und abgerissener aus als sonst. Der Boden wurde nicht mehr so sorgfältig gefegt wie zuvor, die Käfige nicht mehr so gründlich desinfiziert. Viele Tiere nahmen die Temperaturen als Vorwand, zogen sich zum Überwintern in ihre Gipsplattenhöhlen zurück und stellten den Wecker auf viertel vor Frühling. Andere fraßen sich einen Speckmantel an, mit Weißbrot und fetten Nüssen, und spürten, wie ihr Blut langsamer floß und ihre Gedanken träger wurden. Der Strom der Menschen, die zu Besuch kamen, schwand. Die Stimmen der Menschenkinder wurden unleidlicher, vorwurfsvoller.

»Mama, warum tun die denn überhaupt nichts? Warum sitzen die einfach nur da? Und wo stecken die Giraffen? Wo sind die ganzen Elefanten geblieben?«

Die Riesenpandas bekamen Schnupfen und mußten auf die Krankenstation.

Die Schlangen streiften ihre Häute ab und verkrochen sich unter Steinen und Holzscheiten, wo sie sich gemächlich und genüßlich dem Verdauen hingaben.

Das einsame Okapi, eins der scheuesten Tiere im Zoo, begann beim geringsten Anlaß zu weinen und war gar nicht wieder zu beruhigen.

Wanda die Gorillafrau saß den ganzen Tag in ihrem Käfig, ohne daß ihr sturer, massiger Gefährte Roy ihr auch nur einen einzigen Blick zuwarf. »Ich tue überhaupt nichts anderes mehr als essen«, sagte Wanda, zerpflückte dabei Selleriestangen und verzehrte sie Stückchen für Stückchen. »Ich sitze einfach nur da, werde von Tag zu Tag fetter und bin ständig schwanger. Also ehrlich – ist das etwa ein Leben für eine Dame?«

Der Tiger strich durch seinen Käfig, hin und her und vor und zurück, und die Kinder vor dem Sicherheitsglas scheuchten ihn. »Nur einen einzigen«, betete er vor sich hin, »und ich schwöre, ich will nie wieder um etwas anderes bitten. Nur einer von den kleinen, nicht zuviel Haare dran. Mehr brauche ich nicht zum Glück.«

Nur Scaramangus das Gnu ertrug gelassen alle Wechselfälle des Lebens, selbst solche, die auf schlechtes Wetter zurückzuführen waren. Stolz stand er inmitten seines Harems, den zu schützen und zu begatten er geboren war, sonnte sich im Licht und der Wärme seiner eigenen Selbstgefälligkeit. König der Tiere. Von den Menschen vergöttert.

»Ich bin ein Erwählter«, brüllte Scaramangus allmorgendlich den wenigen Besuchern entgegen. »Niemand kommt mir gleich. Ich bin der Liebling der Götter. Von all den Gnus in der Wildnis haben die Menschen mich erwählt, um meine Art der Welt zu präsentieren.«

So lebte die Gesellschaft der Tiere, wie sie es nun einmal verstanden. Sie folgten dem Rhythmus ihres inneren Ichs. Und kümmerten sich um niemanden sonst.

 

Den ganzen Tag lang saß Charlie der Rabe auf den Stromdrähten und blickte hinunter zu ihnen.

Mann, was habe ich für einen Dusel gehabt, dachte Charlie.

Es war, als ob der ganze Planet der Tiere im Schlummer läge.

Und als ob niemand auf ihm je wieder erwachen würde.

2 Radiowecker

Doch dann, in einer düsteren Novembernacht, kamen die radikal-extremistischen Guerillas der Gruppe Animal Action! und sprengten mit Plastiksprengstoff und Dynamit das Zootor. Sie trugen schwarze Skimützen, schwarze Jeans, schwarze Rollkragenpullover und schwarze Lederhandschuhe, wie ein Trupp zweitklassiger Ninjas. Binnen Augenblicken hatten sie die Überwachungskameras, Alarmanlagen und Telefone außer Betrieb gesetzt. Ein paar kleinere Explosionen folgten; Käfigtüren öffneten sich, popp popp popp. Und dann, so lässig, als ob er ein Taxi herbeiwinkte, reckte der Anführer der Guerillas triumphierend die Faust zum mondhellen Himmel.

»Wir atmen alle dieselbe Luft!« rief er. »Wir lieben alle die Erde! Bedrohte Arten aller Länder – vereinigt euch!«

Die schwarzgewandeten Guerillas sprangen über die Drehkreuze und verschwanden in Richtung Regent’s Park, sie hüpften und liefen im Zickzack, als hätten die gegnerischen Heckenschützen sie schon unter Beschuß.

Im Zoo war es nun wieder dunkel, alles war still, wartete, alles war angespannt.

Und alle saßen wie benommen in ihren verwüsteten Behausungen und warteten, daß etwas geschah, was längst geschehen war.

»Mamma mia«, krächzte Charlie der Rabe vom Dach eines der jüngst gestürmten Eintrittshäuschen. »Heiliger Sankt Rhinozeros.«

Charlie konnte kaum an sich halten. Er tanzte einen kleinen Salsa auf den Dachschindeln.

Endlich passiert was, dachte er.

Und ausnahmsweise etwas, womit er nicht im mindesten gerechnet hatte.

 

Charlie tauchte in die glitzernde Luft. Er spürte den feinen Nebel im Gesicht; er spürte das Summen des Mondlichts. Er sah hinunter auf den dreieckigen Grundriß des Zoos, auf die einzelnen Abteilungen, wo den Tieren nun einem nach dem anderen aufging, daß sie nicht allein auf der Welt waren.

»Krah krah«, sagte Charlie zu ihnen. »Krah krah krah krah.«

Die Wölfe beschnüffelten die Reste ihrer schmiedeeisernen Tür. Zogen sich zurück, beratschlagten, schnüffelten von neuem. Sie trauten der plötzlichen Freiheit nicht. Waren ein wenig unschlüssig, wer sie denn nun sein wollten.

Andere hingegen kannten solche Zweifel nicht. Wanda die Gorillafrau warf nur einen einzigen Blick auf ihren Gatten Roy, dann wußte sie Bescheid. Er war schon wieder eingeschlafen, schnarchte und bohrte sich dabei in der Nase. Wanda warf ihren angebissenen Apfel über die Schulter und ging hinaus.

Ganz gleich wohin, dachte sie. Überall ist es besser als hier.

Charlie zog weiter und weiter seine Kreise. Bewegung, Witterung, neuerwachtes Bewußtsein, lässiger Verstoß gegen alte Regeln. Sogar die noch schlaftrunkenen Elefanten erhoben sich vom Heu ihrer Unterkünfte. Das ist kein Traum, dachten die Elefanten. Etwas geht vor mit der Welt, und es ist kein Traum.

Zu seinem Erstaunen sah Charlie, wie sich vor seinen Augen eine Gemeinschaft der Tiere formierte. Wiederkäuer, Primaten, Nager, Raubtiere, Beuteltiere. Wilde Erdhörnchen und goldgelbe Löwenäffchen, Meerkatzen und Mungos, Wüstenfüchse und alte Warzenschweine. Alle traten sie in die fremde, neutrale Zone zwischen ihren Käfigen. Sie sahen ihre eigene Freiheit in den Augen der anderen.

Jeder von uns ist anders, ging ihnen auf.

Und doch sind wir alle irgendwie gleich.

 

Die Tiere versammelten sich im Amphitheater, wo Schimpansen die Lautsprecheranlage eingeschaltet hatten, und als Charlie eintraf, jaulten schon die Rückkoppelungen. Die Tiere antworteten in einem vielstimmigen schrillen Chor mit dem wilden Schrei des Dschungels.

In halsbrecherischem Sturzflug schnappte Charlie sich das Mikrofon, das Wanda in der Hand gehalten hatte, um aller Welt vom Bananenkonsum ihres Gatten Roy zu erzählen.

»Leute, wißt ihr, wie ihr euch anhört?« krächzte Charlie. »Ihr hört euch an wie ein Haufen Tiere!«

Charlies merkwürdig vertraute Stimme brachte die Meute zum Verstummen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben erlebten die Tiere etwas, was sie sich zuvor nicht einmal hatten vorstellen können. Jemand sprach sie an. Und er erwartete, daß sie zuhörten.

»Habt ihr was zu sagen? Dann sprecht, Leute, und grunzt nicht und röhrt nicht. Ihr könnt doch sprechen, verdammt noch mal – dann tut es auch. In dieser Welt, da müßt ihr euch entscheiden, ob ihr das nun wollt oder nicht. Entweder lernt ihr, etwas aus eurem Leben zu machen, oder jemand anderes übernimmt das für euch. Und wo bleibt ihr dabei, Brüder, Mittiere? Ich will es euch sagen. Ihr bleibt, wo ihr gerade hergekommen seid. Ihr sitzt im Käfig, Mann. Pinkelt auf die eigene Türschwelle.«

Die Tiere vernahmen eine unbekannte, gemeinsame Stimme, die aus ihrer aller Kehlen erscholl. Ein einziger anschwellender, langgezogener Ton voller Unzufriedenheit, voller Qual, voller entsetzlicher Reue.

»Zum ersten Mal in eurem ach so erbärmlichen Leben könnt ihr frei sagen, was ihr denkt«, stachelte Charlie sie an. »Ihr könnt eure eigene Regierung aufstellen, euch eure eigene Verfassung geben, zurückfinden zu eurer eigenen Kultur. Mann, hat denn keiner von euch Spartacus gesehen? Keiner Schlacht um Algier?«

»Schp, schp, schp«, zischten die Schlangen.

»Al-tschi«, niesten die Pelikane, »al-tschi, tschi!«

Charlie ließ sich von diesem vorübergehenden Abflauen der Energie nicht irremachen.

»Also gut, habt ihr nicht. Aber ihr müßt ja auch nicht erst Filme im Fernsehen ansehen, bevor ihr wißt, daß sie euch die Freiheit gestohlen haben! Bleibt brav in eurem Käfig, sagen sie euch. Dann braucht ihr auch keine Angst zu haben, daß ihr aussterbt. Was ist denn das für eine Logik? Ich kann euch sagen, was das ist. Es ist die miese, sture, nazimäßige, alles kaputtmachende Aggression der Menschen – nichts anderes ist das. Die rechte Hirnhälfte. Und haben wir davon nicht genug? Ich frage euch, Leute! Haben wir davon nicht genug?«

Anfangs war es nicht einmal ein Wort. Nur ein paar leise Töne. Etwas Zustimmendes. Gleichmäßig. Lang.

»Ich höre nichts!« rief Charlie. »Was seid ihr denn nun – blöde Viecher oder die mächtigen Tiere des Dschungels? Nicht so zaghaft, Jungs! Wer hat hier die Nase voll? Wer hat sich lange genug was vormachen lassen? Wer will sein Leben von nun an selbst bestimmen?«

Und da war es ein Wort. Ein ganzes Wort. Deutlich gerufen. Aus dem tiefsten inneren Ich der Kreaturen.

»Wir!« brüllten die Tiere. »Wir, wir, wir, wir, wir!«

3 Der Geist der Zeit

Wir. Wir. Scaramangus das Gnu erwachte als letztes von den Tieren; mit einem Schreckenslaut sprang er auf und blinzelte hinüber zum fernen blauen Licht des Auditoriums.

Nicht wir, dachte Scaramangus. Nicht wir, die anderen.

Als Scaramangus das Haupttor erreichte, waren die Tiere schon dabei, den Eingang mit Picknicktischen und allerlei Holzstücken zu verbarrikadieren, stellten einfach alles auf den Kopf, was sie bisher unter einem Zoo verstanden hatten. Jemand hatte in einem Abfalleimer ein Feuerchen gemacht, andere hatten die Kühltruhen in Raffles’ Bar und Restaurant umgestürzt, und Tiere lutschten gierig an gefrorenen Hot dogs und klebrigen Batzen Pizzateig.

Scaramangus stand derweil stolz dabei und ließ sich nicht mit hineinziehen. Diese Tiere, dachte er, machen eine Menge Lärm. Es waren Tiere, die nicht wußten, was sich gehörte. Und noch schlimmer, es waren Tiere, die nur so taten, als sähen sie ihn nicht. Doch Scaramangus wußte: im ersten Augenblick, in dem er nicht auf der Hut war, würde er, zack!, auf jemandes Speisezettel landen.

Scaramangus spürte das Paar Augen, das fest auf seine Keulen gerichtet war.

»He da, Mister«, ließ sich die Stimme hinter ihm vernehmen.

Das war hier nicht die feine Welt, wußte Scaramangus. Es war nichts anderes als der Dschungel, wo nur die Stärksten überlebten.

Er wandte sich um, scharrte und stieß einen Laut der Verachtung in die kalte Winterluft. Das war die Herausforderung. Nun galt es, sich zu bewähren.

Wanda die Gorillafrau war inzwischen mit einem zerrissenen Strohhut, karierten Leggings und einem großen grünen Nylon-Regenumhang angetan, die sie in einer Mülltonne gefunden hatte. Den Umhang hatte sie vorn offen, damit man ihr in den haarigen Ausschnitt sehen konnte.

»Hallo, Süßer. Kennen wir uns?« Wanda klimperte mit den Lidern und bot ihm mit schokoladenverschmierten Fingern die Überreste eines Kit Kat an. »Bist du eine Antilope oder so was? Tolle Hörner.«

Scaramangus atmete noch einmal, diesmal noch tiefer, tief durch.

»Ich«, klärte Scaramangus sie auf, »bin ein Gnu. Das stolzeste, mächtigste, ansehnlichste Geschöpf auf dem Planeten der Tiere.«

Wanda machte große Augen.

»Tatsächlich?« entgegnete Wanda. »Dann verrat mir mal eins. Wo hast du denn die ganzen Jahre gesteckt, hm?«

 

Keiner merkte, wie der Morgen kam. Irgendwie hatte er sich herangeschlichen.

Zuerst kamen die Hubschrauber; dann die ganzen Belagerungstruppen – Hundertschaften der Polizei, Bombenräumkommandos, Kameraleute der BBC. »Glaubt mir, wir wissen, daß ihr durcheinander seid«, rief Zoodirektor Heathcliff durch sein neues ultraleichtes Megaphon. »Wer wäre das nicht? Aber warum können wir nicht wie erwachsene Leute darüber reden? Wir wollen euch doch nur helfen.«

Der Zoodirektor trug ein kurzärmeliges, gestärktes weißes Hemd und eine marineblaue Baumwollhose mit Bügelfalten.

»Gaunerbande«, seufzte Charlie. »Ich wußte, daß sie zuerst mit ihrem falschen Mitleid kommen würden, um uns weichzumachen. Diese verlogenen Heiden machen wirklich vor nichts Halt!«

»Hört mir zu«, fuhr Zoodirektor Heathcliff fort. »Ich weiß, daß ihr großen Tiere schon für euch selber sorgen könnt. Aber denkt doch mal an die kleineren unter euch – die Koboldmakis zum Beispiel oder die süßen kleinen Pinguine. Die stehen ziemlich weit unten in der Nahrungskette, meint ihr nicht auch? Noch eine Nacht unter euch Fleischfressern, und – na ja. Seid doch mal ehrlich. Ein Zoo, in dem keiner aufpaßt, kann ganz schön unangenehm sein.«

Charlie spürte, wie die Stimmung der versammelten Tiere umschlug. Raubkatzen warfen verstohlene Blicke auf einzelne Schweine und Jungtiere. Die Wölfe hockten wieder beisammen und flüsterten und beäugten ein dicht zusammengedrängtes rotbraunes Knäuel Haselmäuse.

»Wenn wir Hilfe von euch Menschen brauchen, um unsere Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, dann holen wir euch!« brüllte Charlie zurück.

»Gebt uns doch eine Chance«, rief der Direktor. »Wir wollen euch ja zu einem gehobenen Lebensstandard verhelfen, aber wir haben natürlich auch eine Verantwortung gegenüber dem Steuerzahler. Wir arbeiten an einer ganzen Reihe von Ideen, doch wenn wir sie umsetzen wollen, brauchen wir eure Hilfe.«

»Zum Beispiel?« fragte Charlie.

»Nun, die Marktorientierung. Wir teilen den Zoo in sogenannte Freie Unternehmerzonen ein. Wir vermieten euch für bestimmte Sonderaufgaben – ihr bringt Behinderten den Tee, geht einkaufen oder die Zeitung holen, vielleicht auch ein paar einfache Tätigkeiten in Läden oder im Baugeschäft. Wir geben jedem von euch die Chance, es mit harter Arbeit zu dem Lohn, den der Markt hergibt, im Leben zu etwas zu bringen. Und unter uns gesagt, Mr. Rabe, was meinen Sie wohl, welche Tiere von einem solchen Projekt profitieren werden? Nun, diejenigen mit abspreizbaren Daumen werden ordentlich abräumen, das liegt auf der Hand. Doch ein kluger Vogel wie Sie, der die Grundbegriffe der menschlichen Sprache und der Grammatik gemeistert hat – wenn mir so ein Vogel begegnete, dann würde ich sagen, dessen Chancen sind auch nicht schlecht. Verstehen Sie, was ich meine?«

»Aber klar.« Charlie stolzierte ärgerlich auf einem rostigen Stück Stacheldrahtzaun auf und ab. »Ihr wollt uns Tag für Tag in überfüllte Züge und U-Bahnen ohne Belüftung setzen, wo alle Leute uns anprusten. Ihr wollt jeden Penny, den wir verdienen, an Steuern aus uns rausquetschen, und statt daß ihr das Geld dann in Projekte investiert, die uns Tieren zugute kommen, haltet ihr damit die chemische Industrie und die Rüstungsindustrie in Gang. Hören Sie mal, Mann, glauben Sie wirklich, wir fallen auf Ihr Geschwätz von der Marktorientierung herein? Wir sind vielleicht Tiere – aber wir sind doch nicht blöd!«

Die Tiere brüllten Beifall und waren selbst überrascht, wie einig sie sich waren.

Die Bäume erbebten.

Der Himmel füllte sich mit Sauerstoff und Licht.

»Sagt nicht, wir hätten euch nicht gewarnt«, beschloß der Zoodirektor in seiner schicken Kluft die Rede. »Denn es gibt andere in meiner Dienststelle, die nehmen einen Volksaufruhr nicht so einfach hin wie ich. Wenn ihr es euch anders überlegt, fragt nach mir, Direktor Heathcliff – jederzeit. Und ich möchte euch Glück wünschen. Ihr werdet es brauchen.«

4 Freie Arbeit, freier Grund

Von da an war es nur noch eine Frage der Zeit. Die Vorräte der Imbißbuden und die Schokoladenriegel hatten die Tiere schon verschlungen. Sie hatten im Büro des Hausmeisters und in den Besuchertoiletten Graffiti an die Wand gesprüht. FREIHEIT ODER TOD! GLEICHBERECHTIGUNG FÜR TIERE – JETZT! FREIHEIT FÜR DIE SERENGETI – SIEBEN! FRESST DIE REICHEN, SONST FRESSEN SIE EUCH! Die Tiere wußten, daß sie alles getan hatten, was in ihrer Macht stand. Sie hatten die Wahrheit so deutlich gesagt, wie sie es mit ihren ungelenken Zungen eben konnten.

»Könnte jedes Tier einmal mit einem Satelliten um die Erde fliegen, dann würden es alle verstehen.« Charlie schlürfte warmes Bier aus einer Halbliterdose, und ihm war träge und sentimental zumute. »Sie würden alle in dasselbe Dunkel blicken. Sie sähen alle dasselbe reflektierte Sonnenlicht, in dem der ganze Planet der Tiere erstrahlt. Die blaugrüne Erde, ein Kürbis, der sich langsam dreht. Ein flüchtiges, zerbrechliches Gut. Kranke, geschändete Wälder. Städte, halb gelähmt von ihren eigenen giftigen Ausdünstungen. Das Blau des Wassers, das an manchen Stellen grau und trostlos wird. Jedes Tier würde spüren, wie es aufgeht in diesem alles umfassenden Bewußtsein unseres Planeten. Verantwortungsgefühl kann man es eigentlich nicht nennen. Nur ein Gefühl der Zugehörigkeit. Eine Verankerung in Raum und Zeit. Jedes Tier würde mit einem Plumps wieder auf die Erde zurückkehren wie ein Geist, der in einen Körper schlüpft. Und jedes wüßte dann, daß wir alle zur selben Firma gehören und daß diese Firma nicht Dow Jones oder American Express heißt. Ein kleiner Planet randvoll mit unglücklichen, ungeschickten Tieren, die sich gegenseitig helfen wollen, so gut sie können. Das, Freunde, ist mein Traum. Wenn ich ohne einen solchen Traum fliegen wollte, na, da könnte ich mich niemals oben halten.«

 

Sie kamen am späten Nachmittag, zur Zeit der zweiten Fütterung. Mit einem satten Plumpsen gingen die Tränengaskartuschen nieder und zogen ihre Rauchschwaden über das Blau des Himmels, und Scharfschützen schossen von Kränen und Dächern mit Betäubungspatronen. Die großen Tiere gingen als erste zu Boden, als die Barbiturate in ihren Flanken und Keulen zu wirken begannen. Die anderen ergriffen panisch, vom Gas geblendet, die Flucht, rissen Zäune und Springbrunnen um, traten sich gegenseitig in den aufgewühlten grauen Staub.

 

Scaramangus sah, wie die Schranke zwischen sich und den anderen Tieren mit einem Male verschwand und drohte, ihn mit fortzureißen. Das Gedränge der Leiber, die ziellose Brutalität, die Angst, der hektische Zusammenprall von Tieren und Menschen. Scaramangus sah einen glitzernden Schlagstock auf sich zukommen und wandte sich verblüfft um.

»Halt!« wollte er rufen. »Sie haben ja keine Ahnung, wen Sie vor sich haben!«

Doch der Polizist hob zum zweiten Mal seinen Stock. Mit seiner häßlichen graugrünen Gasmaske sah er aus wie eine Kreuzung zwischen Elefant und Erdferkel.

»Sie wissen nicht einmal, wie ich heiße; Sie wissen nicht, auf wessen Seite ich stehe«, rief Scaramangus. »Für Sie könnte ich ebensogut ein Ozelot oder eine Ratte oder ein Papagei sein.« Scaramangus traute seinen eigenen Ohren nicht.

Ein vollgefressener Alligator, dachte Scaramangus, als er den Stock von neuem auf sich niederkommen sah. Ein Gepard, ein Rentier, Tausendfüßler, Fink.

Wieder und wieder kam der Stock. Was für Zeiten, dachte Scaramangus. Was für entsetzliche Zeiten.

Der Himmel war längst nicht mehr blau.

Und wieder kam der Stock.

 

Die nächsten acht oder zehn Tage wurden die Tiere unter Beruhigungsmitteln in ihren Gehegen und Käfigen gehalten. Keiner bekam Auslauf, keiner durfte zu den Kindern in den Streichelzoo. Es wurde mehr Getreide gefüttert und weniger Fleisch. Täglich blies der Wind Bögen der Morgenzeitungen in ihre Käfige, und die Tiere suchten eifrig nach Berichten über ihren kurzen Augenblick des Ruhms. Doch in der Zeitung war nur von Änderungen der Diskontsätze die Rede, von den Todesschwadronen der Dritten Welt, vom Export amerikanischen Tabaks nach Thailand. Berichte über Tiere gab es so gut wie gar keine.

Direktor Heathcliff hatte nun auch das Amt des Treuhänders übernommen und sollte die Schließung des Zoos abwickeln.

»Tja, Jungs«, sagte der neue Treuhänder eines Tages, wie stets mit grundvernünftiger, fester Stimme. »Ich habe euch ja gewarnt, nicht wahr? Ich habe euch gesagt, daß es wirtschaftlich in dem Laden hier ziemlich düster aussieht – und die Öffentlichkeit kann ja nicht unbegrenzt für euch die Rechnungen zahlen, oder? Die Wahrheit ist – im September wird der Zoo hier geschlossen, und die meisten von euch werden schon bald anderswohin kommen. Ich denke mir, ein bißchen Luftveränderung wird euch allen guttun.«

Charlie hatte sich auf Scaramangus’ Tor niedergelassen, doch Scaramangus, der in den letzten Tagen noch mehr Tranquilizer bekommen hatte als sonst, schien es nicht zu merken.

»Der springende Punkt«, fuhr Charlie fort, »ist der: Man kann keine ganze Nation einsperren. Nur einzelne Tiere kommen in den Käfig, immer nur ein oder zwei. Folglich entsteht eine Wettbewerbsgesellschaft. Tier gegen Tier, Mann gegen Frau, Habenichtse gegen die, die wenigstens etwas haben. Laß dir von denen mit ihrem Gerede von notwendigen Einschränkungen nichts vormachen, Mangus. Was hier eingeschränkt werden soll, das sind wir. Weil wir zusammen stärker sind als jeder für sich – vergiß das nicht.«

Scaramangus nahm düster wahr, daß Charlie auf dem Drahtzaun saß und vor sich hinschnatterte. Doch alles schien kleiner, schwächer und zerbrechlicher als vor der Revolution.

»Wer weiß, vielleicht haben die Japse doch recht«, plapperte Charlie und spazierte auf dem Draht hin und her. »Vielleicht hat tatsächlich eine Zeit begonnen, die einen Begriff wie Geschichte überhaupt nicht mehr kennt. Für die es unvorstellbar ist, daß wir gemeinschaftlich unsere Zukunft schaffen und daß wir nicht nur einer Firma verantwortlich sind, weil sie uns dafür bezahlt, sondern Mächten, die auf den ganzen Planeten Einfluß haben und von denen unser Körper, das Kleid, in dem wir stecken, nur geborgt ist. Es sind schwere Zeiten, in denen wir leben, Mangus. Da können uns die Zeitungen erzählen, was sie wollen – ich denke mir, es sind schon wirklich schwere Zeiten.«

Scaramangus erhob sich mühsam, stand auf unsicheren Beinen da und schüttelte sich den Staub vom Fell. Dann schüttelte er den Kopf, damit er ein wenig Blut ins Hirn bekam und die Kiefer sich lösten.

Vom Amphitheater, wo die Lokalpolitiker und Geschäftsleute der Stadt sich versammelt hatten, um bei der Versteigerung der Tiere, deren Privatisierung anstand, zu bieten, drang die Stimme des Treuhänders aus den Lautsprechern herüber.

»Als ersten Posten des heutigen Tages«, sagte der Treuhänder munter, »möchte ich Ihnen eine ganz besondere junge Dame vorstellen. Raus mit ihr, Jungs, damit die Gentlemen hier sehen können, was ich meine.«

Wanda, nun nur noch mit einer einzigen, halbzerdrückten Banane bewehrt, hatte die Stirn an die Stäbe ihres tragbaren Käfigs gelehnt und schnaufte leise vor sich hin.

»Freunde, was Sie hier sehen, ist eine grundsolide Investition«, sagte der Treuhänder. »Fast so intelligent wie ein Mensch – unser haariger Vetter aus dem Tierreich, der mächtige schwarze Gorilla. Kräftiger, freundlicher, die Bewegungen besser koordiniert als bei jedem Kind. Ein wunderbares Ausstellungsstück – auf dem Treppenabsatz in Ihrem Bürogebäude zum Beispiel. Oder nehmen Sie die junge Dame nächstes Frühjahr mit auf die Bahamas zur Aktionärsversammlung. Aber wir kommen zur Sache. Höre ich da jemanden tausend Pfund bieten?«

»Wer weiß, wer weiß, wer weiß«, stöhnte Charlie immer und immer wieder, damit er die Lautsprecherstimme nicht hören mußte.

Plötzlich spürte Scaramangus, wie alle Wut, die er je in seinem Leben verspürt hatte, aus ihm herauskam und sich auf das Tor neben Charlie setzte.

»Fünfzehnhundert also«, tönte der Auktionator. »Höre ich da siebzehn fünfzig?«

Überall im Zoo spürten die geknechteten Tiere, wie die Stimmung umschlug. Sie richteten sich in ihren Käfigen auf, um zu sehen, was im Amphitheater vorging, und sahen den Auktionator auf der Bühne, umgeben von bewaffneten Wachen.

Es war ja nur ein Wort, aber es war ein Wort, das Scaramangus kannte. Mit einem mächtigen Brüllen stürmte Scaramangus vor und warf sich mit der ganzen Macht seines Körpers gegen das Tor. Der Aufprall schleuderte Charlie hoch in die Luft, er schlug einen Salto, hatte im wahrsten Sinne des Wortes den Boden unter den Füßen verloren. Scaramangus stemmte sich mit den Hörnern gegen das Tor.

Es war das Wort.

Das Wort oder das Tor. Einer von beiden mußte nachgeben.

»Wir!« brüllte Scaramangus und stemmte sich mit Rücken, Schultern, Schenkeln und mit seinem Geist gegen das Tor. »Wir! Wir! Wiii-her! Wir!«

Er nahm neuen Anlauf. Er sah das Tor. Er sah die Welt hinter dem Tor. Er sah die fetten Männer in der Arena stehen, wie sie sich Staub von ihren dunklen Anzügen wischten und ihre bleichen Gesichter hinüber zu dem Wort drehten, das Scaramangus ihnen zurufen wollte.

»Wir!« brüllte Scaramangus. Und stürmte von neuem das Tor.

Überall im Zoo brachte das Wort die Tiere auf die Beine. Die Zeit war gekommen. Nun würden sie selbst mitrufen.

Und die Stimmen der Tiere erhoben sich.

Zweiter Teil Im ewigen Eis

1 Die grosse Kälte

Das erste Mal, daß Buster vom Aufstand im Londoner Zoo hörte, befand er sich eben in einem eisigen Schlagabtausch mit seiner Ehefrau Sandy.

»Dann erkläre es mir doch, Buster.« Sandy streckte ihm einen hölzernen Kochlöffel entgegen, als wolle sie ihm zu verstehen geben, daß das sein nächstes Mittagessen sein würde. »Wenn dein großer Kumpel Whistling Pete wirklich so ein toller Kerl ist, dann erklär mir doch sein Benehmen.«

Wenn es in einem Streit erst einmal so weit kam, dann wußte Buster, daß er ihn nur für sich entscheiden konnte, wenn Sandy es zuließ – aber Sandy ließ es natürlich nie zu. Also ging er gleich hinüber zu dem großen Radio und schaltete es ein, drehte den geriffelten Knopf auf der Suche nach dem BBC World Service. »Jetzt gib doch endlich Ruhe, Sandy. Jede Geschichte hat zwei Seiten.«

Er fand Popsender in allen möglichen Sprachen, ein Hörspiel bei den Australiern, statisches Rauschen und Testsendungen auf den Notruffrequenzen. Am Ende stieß er aber dann doch auf etwas, was eher nach seinem Geschmack war – Armed Forces Radio, wo Paul Harvey eben seine Zusammenfassung der Tagesnachrichten brachte.

»Guten Tag«, sagte Paul Harvey.

»Willst du mal hören, welche zwei Seiten es bei dieser Geschichte gibt?« Sandy schwang den Löffel nur um so energischer. »Ich kann dir sagen, welche zwei Seiten das sind, Buster. Die eine ist Whistling Petes Frau Estelle, die er betrügt, wo er nur kann, und die andere ist sein vernachlässigter Junge, Pete junior. Da hast du deine zwei Seiten.«

Buster ließ sich in seinem Polstersessel am Feuer nieder und betrachtete das polierte Holz des Radios. Es war das Hochzeitsgeschenk von Sandys Eltern und war der wertvollste Besitz geblieben, der die Maisonettewohnung in einem Igluwohnblock der antarktischen Halbinsel zierte.

»Laß gut sein, Schatz. Hier kommen die Nachrichten.«

Und wie auf Kommando sagte Paul Harvey: »London, England. … Während die Westküste Amerikas … sich auf weitere Unwetter vorbereitet …, schlägt die königlich britische Polizei einen … blutigen Aufstand im eigenen Lande nieder … Und zwar im Londoner Zoo, Ladies und Gentlemen. Hier geht es um Löwen. Tiger. Elefanten. Alles, was Sie sich nur denken können. Sie haben zu den Waffen gegriffen. Gegen die Menschen. Gegen ihre Wärter. Doch nun zu weiteren Nachrichten des Tages.«

Auch Sandy lauschte der Radiostimme. Schon nach wenigen Worten ließ sie den Holzlöffel sinken, und ihre schwarzen Augen blickten in weite Ferne.

»Was sind Löwen, Buster? Und Tiger? Und vor allem – was sind Menschen?«

Sandy kam und ließ sich auf dem Schemel neben ihm nieder.

Gedankenverloren nahm Buster ihren Stummelflügel und streichelte ihn zärtlich. Buster hörte mit Begeisterung von fernen Ländern voller fremdartiger Tiere, von denen er nicht das geringste wußte, denn er war überzeugt, daß sie, wenn er nur lang und angestrengt genug an sie dachte, all seine unbestimmten Sehnsüchte erfüllen würden. So daß er nie sein gemütliches Heim in der antarktischen Vorstadt verlassen müßte.

»Wer weiß, Sandy? Aber jetzt leise, laß uns zuhören. Vielleicht erfahren wir es noch.«

2 Pinguine zum Mittagessen

Buster träumte gern von exotischen Orten, doch sonst war er immer am glücklichsten, wenn er sich aus allem heraushalten konnte. Wahrscheinlich verstand er sich deswegen so gut mit Whistling Pete, einem Pinguin in mittleren Jahren, der in allem sein genaues Gegenstück war: Whistling Pete träumte nicht, er tat. Und folglich bandelte er mit jeder hübschen Pinguinette an, die ihm in die Flossen kam.

Jeden Morgen ging Whistling Pete zur Arbeit, schob die Karte in die Stechuhr und saß dann in seinem Büro, wo er Auftragsformulare abstempelte und sich nicht anders benahm als jeder andere Büropinguin auf der Pinguininsel. Doch kurz bevor die Sirene zur Mittagspause blies, begab er sich auf die Herrentoilette, besprengte sich Wangen und Bürzel großzügig mit Rasierwasser und ging dann zu einer seiner zahllosen verruchten Verabredungen mit den reizenden Pinguinetten des Geschäftsviertels. Sekretärinnen, Registraturassistentinnen, Rezeptionistinnen, Bürogehilfinnen, Mädchen für alles. Mit der Präzision eines Uhrwerks kam es für Whistling Pete zur mittäglichen ehelichen Untreue, und im Grunde war es längst eine schöne Routine geworden.

Er traf sich mit den Pinguinetten in aller Offenheit in der Eisschollenbar zu einem Drink und einem kleinen Imbiß und verteilte großzügig Blumen, Komplimente, Strümpfe und Pralinen. Dann watschelte er mit ihnen, so schnell ihre kurzen Beine sie trugen, zum Crystal Palace Motel nebenan, wo er Stammkunde war. Sie ließen sich vom Zimmerservice Champagner und Kaviar bringen und tobten sich auf der Bettdecke aus, soviel sie in einer Stunde nur konnten – manchmal waren es auch anderthalb. »So soll es sein«, brummte Whistling Pete dann oft. »So hat der Allmächtige Pinguin sich das gedacht, als er die süßen kleinen Pinguinetten schuf.«

Später duschten sie, schlüpften in ihre Fräcke und verließen getrennt das Motel, so als seien sie die diskretesten Pinguine der Welt. Gegen drei oder halb vier langte Whistling Pete wieder in seinem Büro auf der anderen Straßenseite an, und eine gar nicht so unangenehme postkoitale Melancholie hatte sich seiner bereits bemächtigt. Er fühlte sich träge, erschöpft, durch und durch friedfertig. Gerade die richtige Stimmung für ein langes verträumtes Nachmittagsschläfchen am Schreibtisch.

»Na, wie geht’s, Bruder?« sagte Buster, wenn er gegen halb sechs zur Bürotür hereinlugte. »Gehen wir noch einen trinken?«

Whistling Pete sprang dann in seinem gefederten Bürostuhl auf. Er sah die Kladden und Aktenmappen, die internen Mitteilungen und die Bestellformulare für Büromaterial.

(In Wirklichkeit war er ganz woanders: bei Melody, Martha, Trudy, Dallas, Pippa, Dolores und Joyce.)

»Buster, alter Junge«, sagte Pete dann nach einer Weile, »steht etwa die Sonne nicht mehr am Himmel, oder dreht die Erde sich nicht mehr? Natürlich gehen wir noch einen trinken. Und wenn mich nicht alles täuscht, bist du mit dem Bezahlen dran.«

 

»Immer nur zu Hause hocken, das ist doch nichts«, erklärte Pete später, als er mit Buster durch die sternklare Nacht ging. »Sicher hört sich das gut an. Schöne große Häuser, Gaszentralheizung, sanitäre Einrichtungen und so weiter. Handel und Wandel, umweltfreundliche Industrien, staatliche Schulen, Wahlen zum Gemeinderat, einer für alle, alle für einen und so weiter. Aber letzten Endes sind das doch alles Sachen, die sich die kleinen Mädchen ausgedacht haben. Die Frauen, alter Junge. Die Weibchen, die Sicherheit für ihre Brut wollen. Die Mädels bauen sich ein Nest, Buster, aber wir doch nicht. Wir Männer, wir sind Nestflüchter. Und ist das unsere Schuld, Buster? Das ist einfach unsere Natur.«

Die lange weiße Straße wand sich hinab ins Dorf, über dem der Duft von frischgebackenem Brot lag.

Whistling Pete legte die Flosse um Buster und drückte seinen Kameraden, dann wies er hinunter. »Sieh es dir an, Mann. Unser kleines Dorf im Schnee. In den alten Zeiten sind unsere Vorfahren hier über blanke Felsen gewatschelt, Mann. Sie haben Hunger gelitten, haben gejagt, sich gepaart und sind ohne ein anständiges Begräbnis und ohne gesicherte Hypotheken gestorben. Und was meinst du, wer auf die Idee gekommen ist, da Häuser zu bauen, Mann? Na die Damen