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Alec DiCaprio bekommt die Chance seines Lebens, als ihm eine Stelle des Oberstaatsanwaltes in Dallas angeboten wird. Dafür lässt er sogar seinen langjährigen Lebensgefährten Richard zurück, nachdem ihre Beziehung ohnehin einen Tiefpunkt erreicht hat. Um sich in Dallas zu beweisen, soll Alec den reichen Industriekriminellen Royce Sinetti zu Fall bringen. Bester Ansatzpunkt dafür scheint dessen jüngster Sohn Vigo zu sein, der gerade vom College zurück ist und offenbar einen Teil der Geschäfte übernehmen wird. Womit Alec nicht rechnen konnte, ist die unglaubliche Anziehungskraft, die der junge Eishockeyspieler und Frauenheld auf ihn ausübt. Aber Vigo ist hetero und steht auf der anderen Seite des Gesetzes. Oder täuscht sich Alec in beiden Punkten?
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Seitenzahl: 645
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Tanya Carpenter
PLAYOFF
Hard Rules 1
Gay Romance – Erotic & Crime
Tanya Carpenter
PLAYOFF
Hard Rules 1
Gay Romance – Erotic & Crime
ELYSION-BOOKS
VOLLSTÄNDIGE AUSGABE
ORIGINALAUSGABE
© 2022 BY ELYSION BOOKS, LEIPZIG
ALL RIGHTS RESERVED
UMSCHLAGGESTALTUNG & COVER: Ulrike Kleinert
www.dreamaddiction.de
ISBN (vollständiges Buch) 978-3-96000-210-9
www.Elysion-Books.com
Über Hard Rules:
Die Geschichte von Vigo und Alec hat mich vor etwa sieben Jahren wie aus dem Nichts überfallen. Relativ schnell hatte ich etwa ein Drittel geschrieben, danach lag die Geschichte allerdings auf Eis. Es gab einfach zu viele Projekte, die vertraglich gebunden waren und geschrieben werden mussten, sodass ich für die beiden schlicht keine Zeit mehr hatte. Als ich die Arbeit nun im letzten Jahr wieder aufgenommen habe, hatten sich meine Figuren derart verändert und weiterentwickelt, dass einiges aus der Urfassung bei der Überarbeitung entfallen ist. Die Hauptthemen sind dabei aber konstant geblieben. Zum einen geht es um das Coming-out in einem teils homophoben Umfeld. Zum anderen um den Konflikt einer Liebe, bei der die beiden Protagonisten auf verschiedenen Seiten des Gesetzes stehen. Darüber hinaus entspricht die Konstellation von Vigo und Alec aufgrund des Altersunterschiedes einem Age Gap.
Hard Rules war ursprünglich als Einzelband gedacht, aufgrund der Dynamik der Geschichte während des Schreibens hat es sich jedoch zu einem Zweiteiler entwickelt und ich bin froh, dass der Verlag diese Entwicklung mitgegangen ist.
Content Notes:
Der Roman beinhaltet einige Themen, die triggern könnten. Bedingt durch das Umfeld der Figuren spielen Gewalt, Kriminalität, Homophobie, Alkoholismus, Drogen, Gerichtsmedizin, Mord und Folter eine Rolle.
Ende September
Alec
»Du opferst uns für diesen gottverdammten Job und deine Karriere.« Die Worte meines Lebensgefährten oder vielmehr Ex-Lebensgefährten sollten an mir abprallen, tun sie aber nicht. Sieben Jahre Beziehung wirft man eben nicht einfach mal so weg, ohne etwas dabei zu empfinden. An meinem Entschluss können sie nichts mehr ändern, dennoch schmerzt mich die Anklage, die darin mitschwingt. Resigniert lasse ich die Schultern hängen, denn ich will das alles nicht noch einmal durchkauen. Schon gar nicht heute. Am Tag meiner Abreise.
»Die Entscheidung habe nicht ich getroffen, Richard.«
Er schnaubt, verschränkt die Arme vor der Brust und schaltet auf Diva. Dass unsere Beziehung im Grunde seit Monaten vorbei ist, will er nicht sehen. Noch weniger, dass er es letztlich so entschieden hat, indem er mehrfach fremdgegangen ist. Etwas, das für mich ein absolutes No-Go in einer Beziehung ist. Ich habe lange darüber nachgedacht und bin mir bewusst, dass es für ihn eine Flucht war, weil er von mir nicht das bekommen hat, was er brauchte. Ich zu wenig Zeit für ihn hatte, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass Rich zusehends die weibliche Seite in sich entdeckt hat, die mir nun mal leider gar nicht gefällt. Aber vor allem habe ich meiner Arbeit immer häufiger den Vorrang gegeben, weil sie mich erfüllt und ich für das brenne, was ich tue.
Also ja, natürlich ist die Chance, die ich mit der Stelle als Oberstaatsanwalt in Dallas bekomme, ein Karrieresprung. Aber das allein war nicht ausschlaggebend für die Trennung. Wir hätten zusammen nach Dallas gehen können. Oder vielleicht hätte ich das Angebot sogar abgelehnt, wenn ich noch einen Sinn in uns gesehen hätte. Doch wir machen uns etwas vor. Viel zu lange schon.
Das mit uns ist spätestens an dem Abend zerbrochen, als ich Richard mit Arth im Bett erwischt habe. Das ist jetzt gut einen Monat her. Ein paar Wochen davor hatte ich ihn bereits mit Robert überrascht, allerdings in einer Situation, in der er sich noch herausreden konnte. Inzwischen weiß ich, dass auch bei den beiden mehr lief als Flirten und Knutschen. Ob es noch weitere Männer gegeben hat, weiß nur Rich. Ich habe nicht gefragt, denn tief in mir drin ist mir wie gesagt bewusst, es gab Gründe, warum er sich in andere Arme geflüchtet hat.
Das mit uns war bloß noch Bequemlichkeit. Ein praktisches Arrangement, obwohl wir kaum noch etwas gemeinsam haben.
Richard braucht Aufmerksamkeit wie die Luft zum Atmen, und als er sie von mir nicht mehr bekam, eben weil ich mich in die Arbeit reingekniet habe, war er umso empfänglicher für die Zuneigung von jemand anderem. Er hat ein Recht darauf, wenn es ihn glücklich macht. Aber ich habe eben auch ein Recht darauf, die Konsequenzen zu ziehen und diese Chance in Dallas für mich zu nutzen. Ohne ihn.
»Du wusstest immer, wie wichtig es mir ist, Staatsanwalt zu sein.«
»Ja, dein Eifer grenzt immerhin schon an Besessenheit«, fährt er mir dazwischen.
Kurz kocht Zorn in mir hoch, doch ich schlucke ihn. Das bringt einfach nichts.
»Dieser Job in Dallas ist eine Chance, die ich mir nicht entgehen lassen kann«, fahre ich stattdessen fort. Rich war stets eifersüchtig auf meinen Job. Darauf, wie viel Zeit ich dafür investiere. Meine Leidenschaft dabei hat er nie verstanden. Warum es mir so wichtig ist, ein guter Staatsanwalt zu sein. Weshalb ich mich sogar selbst in Gefahr bringe, um unsere Gesellschaft vor Schwerverbrechern zu schützen, die unsere Sicherheit und unser Leben bedrohen. All die Überstunden haben immer wieder zum Streit geführt, dennoch sah ich nie die Notwendigkeit, etwas zu ändern. Ich lebe für diese Arbeit. Sie erfüllt mich. Gibt mir das Gefühl, wieder etwas gutzumachen von dem, was mein alter Herr verbockt hat. Ich weiß, dass ich auf der richtigen Seite stehe und es nicht ausnutze oder missbrauche. Das ist ein gutes Gefühl. Ich tue etwas Sinnvolles, leiste einen wertvollen Beitrag für die Menschen in diesem Land, die sich dank meiner Arbeit ein Stück sicherer fühlen können. Mit jedem Kriminellen, den ich hinter Gitter bringe, ein bisschen mehr.
»Aber ausgerechnet Dallas«, spuckt Richard mir vor die Füße. Als ob es wirklich darum ginge. Dabei kann ich nicht abstreiten, dass es schon eine gewisse Ironie in sich birgt. Das nehme ich bewusst in Kauf. Habe es vielleicht immer schon. Denn irgendwie musste es wohl so kommen.
»Es sind schon zu viele Menschen gestorben«, versuche ich Rich meine Beweggründe zu erklären. »Wegen den Geschäften von diesem Kriminellen und seinem Syndikat, das er um sich aufgebaut hat.« Wie immer verschweige ich bewusst Namen. Mit Außenstehenden darüber zu reden, gefährdet die Ermittlungen. Rich hat das nie verstanden und sich ausgeschlossen gefühlt, egal wie oft ich versucht habe, es ihm zu erklären.
»Das hier könnte die Chance sein, diesem Verbrecher endlich das Handwerk zu legen. Daran arbeiten gerade eine Menge Leute in mehreren Distrikten. Die letzte Verhaftung, die ich hier für mich verbuchen kann, steht direkt damit in Verbindung und hat mir diese Tür geöffnet. Ich kann sie nicht einfach wieder schließen, dafür habe ich zu lange daraufhin gearbeitet.«
Verne Govermint, dem wir kürzlich Handschellen angelegt haben, ist im Grunde nichts weiter als ein kleiner Fisch im großen Teich, der uns ins Netz gegangen ist. Aber er hat – nicht nur für mich – eine entscheidende Wende gebracht. Bei den Ermittlungen sind wir auf seine Verbindungen zu Royce Sinetti gestoßen. Dem großen Gangsterboss aus Dallas, der einem Al Capone alle Ehre machen würde, auch wenn er die moderne Form darstellt. Sein Familienimperium hat er vier Jahrzehnte lang aufgebaut und ist dabei verdammt lange unter dem Radar geblieben, obwohl er riesige Gewinne eingefahren hat. Wie genau er das geschafft hat, ist schwer zu sagen, aber dass er gut darin ist, lässt sich nicht leugnen. Es gab immer wieder Gerüchte, nur nie greifbar genug, um ihnen nachzugehen. Erst seit knapp sechs Jahren ermittelt das Police Department in Dallas offiziell gegen den Sinetti-Clan, um ihm das Handwerk zu legen, doch es ist Sinetti nach wie vor immer wieder gelungen, seine Hände in Unschuld zu waschen. Auch bei Govermint konnten wir ihm keine direkte Beteiligung am kriminellen Teil der Geschäfte nachweisen, und Govermint schweigt wie ein Grab. Das hat seine Gefängnisstrafe empfindlich in die Höhe getrieben, mir aber gleichzeitig diese Tür nach Dallas geöffnet, und ich kann und will deswegen kein schlechtes Gewissen haben.
Marc Addelton, der Leiter der Strafverfolgungsbehörde, hat mich angerufen und mir den Job als Oberstaatsanwalt angeboten, nachdem mein Vorgänger das Handtuch geworfen hat. Seine Erwartungen an mich sind hoch. Durch Govermint wissen wir nun, dass Sinetti seine Geschäfte nicht ausschließlich von Dallas aus tätigt. Dass er in mehreren Bundesstaaten agiert, könnte dafür sorgen, dass sich das FBI in die Ermittlungen einschaltet, was es Sinetti deutlich schwerer machen dürfte. Dazu muss ich es allerdings schaffen, genug Indizien für seine illegalen Machenschaften zusammenzutragen. Dass das auch ein persönliches Anliegen für mich ist, spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.
»Ich hänge praktisch schon in dem Fall mit drin, Rich«, rede ich weiter, weil er mir mit keiner Silbe antwortet, sondern lediglich eine Schnute zieht und demonstrativ zu Boden blickt, als würden ihn meine Gründe überhaupt nicht interessieren. Vermutlich ist das auch so. Dennoch ist es mir wichtig, wenigstens einen Hauch von Verständnis in ihm zu wecken. »Das Angebot in Dallas hat sich überhaupt nur deshalb ergeben, weil ich mir bereits einen Namen damit gemacht habe. Das kann ich unmöglich ablehnen.«
»Ach«, giftet er. »Und dazu musst du unbedingt Hunderte von Kilometern weit wegziehen? Dorthin! Wenn mehrere Distrikte daran arbeiten, was spielt es dann für eine Rolle, von wo aus du dich beteiligst?«
Ich verdrehe die Augen. »Unsere Zielperson lebt nun mal in Dallas, daher werden sich auch die Hauptermittlungen dort konzentrieren. Als führender Staatsanwalt in diesem Fall muss ich vor Ort sein. Rich, das ist wie eine Auszeichnung, dass sie ausgerechnet mich für diesen Posten ausgewählt haben, nachdem er kürzlich freigeworden ist. Verstehst du?«
Tut er nicht. Weil er es nicht will. Ich bereue die Entscheidung dennoch nicht. Auch Richard gibt diese Trennung eine neue Chance. Ich bin nicht das, was er braucht, wonach er sich sehnt, war es vielleicht nie.
»Wir wissen doch beide, dass du dich längst nicht mehr wohlfühlst bei mir«, höre ich mich sagen. »Damit meine ich nicht bloß diese Ausrutscher mit Robert und Arth. Wir haben uns auseinandergelebt, haben unterschiedliche Lebensziele. Das ist nicht mehr zu ändern.«
Er wird glücklicher werden mit einem anderen Mann. Jemandem wie Arth, der seine Bedürfnisse besser versteht, als ich es tue. Ich mag den Kerl, das muss ich zugeben. Er ist bodenständig und passt gut zu Richard.
»Und du denkst wirklich, dass es dich glücklich machen wird, dorthin zu gehen? Dass du damit klarkommst?«
Ich presse die Lippen aufeinander, erspare uns beiden die Antwort, auch wenn seine Bedenken nicht gänzlich unbegründet sind. Er kennt meine Geschichte. Den Teil jedenfalls, über den ich auch mit anderen außer meiner Mutter spreche. Doch da ist so viel mehr, was er nicht weiß.
Es gibt nichts mehr zu sagen. Jedes weitere Wort würde unweigerlich zu einer Szene führen. Also greife ich nur Richs Hände, drücke sie kurz und lasse ihn und mein altes Leben dann los. Drehe mich zu meinen gepackten Koffern um. Ehe ich sie ergreife, lege ich noch den Wohnungsschlüssel auf den Wohnzimmertisch. Er kann hier wohnen bleiben, so haben wir es besprochen. Für die nächsten drei Monate ist die Miete sowieso bezahlt. Danach liegt die Entscheidung ganz bei ihm. Leisten kann er es sich, aber ich habe so ein Gefühl, dass er den Erinnerungen an uns auch lieber den Rücken kehren wird.
Ich blicke mich nicht mehr um. Die Möbel und die restliche Einrichtung interessieren mich nicht. Materielles hat mich nie sonderlich gekümmert. Dallas wird ein Neuanfang in jeder Hinsicht.
»Ich wünsch dir, dass du glücklich wirst«, sage ich, als ich auf dem Weg zur Tür noch einmal neben ihm stehenbleibe. Er würdigt mich keines Blickes, aber ich kann in seiner Miene lesen wie in einem offenen Buch. Wut, Enttäuschung und auch Stolz. Er wird klarkommen. Da mach ich mir keine Sorgen.
»Wenn etwas ist … meine Nummer in Dallas hab ich im Telefon eingespeichert. Ruf einfach an, okay? Ich bin trotzdem noch für dich da.«
Es sind leere Worte, das wissen wir beide. Er wird nicht anrufen, und ich werde ihn auch nicht mehr auffangen können. Mit dem Schritt nach draußen vor die Tür lasse ich unser Leben und die letzten sieben Jahre hinter mir und wundere mich eigentlich nur, dass wir es so lange miteinander ausgehalten haben.
Vigo
Home, sweet home. Dass ich nicht lache. Schon beim Durchschreiten des Checkout-Bereiches auf dem Flughafen Dallas sinkt meine Laune gegen Null. Vier Jahre war ich weg. Bin nicht mal in den Semesterferien vom College nach Hause gekommen. Außer ein paar Telefonaten und E-Mails hat der Kontakt zu meiner Familie praktisch nicht stattgefunden. Okay, das war meine Entscheidung und ich habe diese Auszeit gebraucht und gewollt, aber dennoch ist es enttäuschend, dass nach so langer Trennung nicht einer von ihnen am Flughafen auftaucht, um mich abzuholen. Weder meine Mom, noch mein Dad und mein Bruder schon gar nicht.
Es ist nicht so, dass ich alleine nicht zurechtkäme. Tatsächlich habe ich sogar schon mit Scott, meinem Studienfreund, der genau wie ich von den Dallas Stars eingekauft wurde, darüber gesprochen, dass wir uns ein Taxi teilen könnten. Trotzdem tut es weh, für meine Familie so offensichtlich keine große Rolle zu spielen.
Scott ist nur wenige Schritte hinter mir. Da auf ihn sowieso niemand wartet, wandert sein Blick nicht umher, sondern ist auf sein Handy gerichtet. Vermutlich tippt er schon wieder irgendwelche Nachrichten an seine Schwester oder seine Mom.
Er ist Afro-Amerikaner und seine Familie lebt ihn Boston. Für ihn war es ein ziemlich großer Schritt, mit mir hierherzukommen, aber da auch er eine Profikarriere im Eishockey anstrebt, wäre es idiotisch gewesen, die Chance nicht zu ergreifen. Wehmütig denke ich daran, wie tränenreich sein Abschied war. Seine Eltern und Geschwister, sogar seine Großmutter, waren mit am Flughafen und sind bis zur letzten Sekunde geblieben. Sowas könnte mir nie passieren.
Jude steht im Wartebereich der Ankunftshalle und sieht mir lächelnd entgegen. Einer unserer Angestellten. Für mich ist er Kindermädchen, Vertrauter, Bodyguard und bester Freund, solange ich denken kann. Vermutlich auch der Einzige, der mich ehrlich vermisst hat. So wie ich ihn. Der Rest … na ja. Ich hatte seinerzeit ja nicht umsonst beschlossen, fernab von Zuhause zu studieren und mich abzunabeln. Wenn ich damit nun mein Recht verspielt habe, im Kreis der Familie willkommen zu sein, bitte schön. Dann ist das eben so und ich werde mich damit arrangieren, auch wenn ich es nicht so recht glauben kann und die Enttäuschung mit scharfen Zähnen beißt.
»Sieht so aus, als werde ich abgeholt«, raune ich Scott zu. »Willst du mitfahren?«
Er winkt ab. »Lass mal. Ihr braucht für mich keinen Umweg zu fahren.«
»Es wäre kein großer Umweg. Komm schon, spar dir das Geld für’s Taxi.«
Ich sehe ihm an, dass er immer noch zögert und fast schon misstrauisch zu Jude hinüberschaut. Vielleicht flößt der ihm gehörig Respekt ein, so dass er sich lieber schnell verdrückt, dabei ist Jude echt harmlos und Scott nun auch weiß Gott kein Hänfling. Ganz im Gegenteil, ich weiß, wie viele Kilos er auf der Hantelbank stemmt, und das sieht man ihm auch an.
»Hey, das ist mein Kindermädchen, wenn du so willst. Jude sieht zwar aus wie eine Mischung aus Terminator und Al Capone, aber er hat großes Herz.«
Ich gehe entschlossen auf Jude zu und warte Scotts Antwort erst gar nicht ab. Zögernd folgt er mir, obwohl ihm das Unbehagen immer noch anzusehen ist.
Mein ehemaliger Bodyguard hat sich jedenfalls überhaupt nicht verändert, sieht noch genau so aus, wie an dem Tag, als ich abgeflogen bin. Groß, breit, bullig. Ein Kleiderschrank von Kerl. Die schwarzen Haare altmodisch im Stil der 60er-Jahre-Filmhelden frisiert, also eine Art Mischung von Cary Grant und Robert Mitchum. Er steht auf diese Klassiker. Das macht seine restliche Erscheinung aber nicht weniger einschüchternd. Vor allem seine grünen Augen wirken stechend, weil sie ungewöhnlich hell sind.
Auch damals, vor vier Jahren, hat er mich zum Flughafen gebracht, während mein Vater einen wichtigen Geschäftstermin hatte und meine Mutter nicht in der Lage war, überhaupt aufzustehen.
»Hey, Vigo. Schön, dass du wieder Zuhause bist«, begrüßt er mich, nimmt mich in seine muskelbepackten Arme und drückt mich an seine breite Brust. Er könnte einem Mann dabei die Rippen brechen, aber er hat seine Kräfte schon immer sehr gut unter Kontrolle und gerade ist es einfach tröstlich, sich willkommen zu fühlen. Für einen Moment spüre ich Wärme in mir, weil da zumindest jemand ist, dem ich etwas bedeute und der sich über meine Rückkehr freut. Aber Jude ist eben nur einer unserer Angestellten, kein Familienmitglied, auch wenn er mir in den Jahren meiner Kindheit und Jugend manchmal mehr Familie war als meine Blutsverwandten.
»Hey, Jude! Das ist Scott. Er wird künftig auch bei den Dallas Stars spielen. Meinst du, wir können ihn zu seiner Wohnung fahren? Ist kein großer Umweg, aber erspart ihm die Suche nach einem Taxi.«
Judes Miene bleibt neutral, während er Scott von Kopf bis Fuß mustert, der darunter immer kleiner zu werden scheint.
»Ich würde dir den Gefallen gerne tun, aber wir sind knapp mit der Zeit. Du weißt, dein Vater wartet nicht gern.«
»Ach komm schon. Es dauert höchstens eine halbe Stunde.«
Ich kann nicht fassen, dass das jetzt ein Problem sein soll.
»Tut mir leid, Vigo. Der Abend ist wie immer durchgeplant.«
Zornig presse ich die Lippen aufeinander und blicke Jude düster an, den das natürlich nicht beeindruckt. Wenn ich darauf bestehe, würde er Scott vielleicht doch mitnehmen, müsste die Verspätung aber dann später ausbaden. Ich ringe mit mir, ob ich ihm das antun will, schließlich ist es nicht Judes Schuld, dass mein Dad so ist, wie er ist.
»Schon okay«, mischt sich Scott von der Seite ein und ich kann hören, wie unwohl er sich fühlt, was zum Teil meine Schuld ist. Schließlich hab ich ihm das Angebot gemacht. Das ist einfach nur Scheiße.
»Warte, dann nimm wenigstens meinen Anteil vom Taxi. Hatten wir schließlich so ausgemacht.«
Auch das will er eigentlich nicht, aber noch weniger will er länger hier neben Jude stehen und mit mir diskutieren. Also nimmt er das Geld mit einem gemurmelten Danke von mir entgegen und sieht dann eilig zu, dass er wegkommt.
»Wir sehen uns auf dem Eis, Kumpel.«
»Ja klar. Pass auf dich auf. Ich ruf ich morgen an«, gebe ich ihm noch mit auf den Weg. Dann ist er auch schon in der Menge verschwunden, und ich hab eine Riesenwut im Bauch.
»Ein Freund von dir?«, fragt Jude.
»Wenn ich Glück habe, noch«, antworte ich patzig. »Wir haben zusammen studiert und er war bei den Boston Eagles mein Wingman. Es hat sich so ergeben, dass er mit mir im Team der Dallas Stars aufgenommen wird.«
»Cool.«
»Ja, sehr cool. Vor allem, wie ich jetzt vor ihm dastehe.« Meine Stimme trieft vor Sarkasmus. Jude quittiert es lediglich mit einem Aufseufzen, ehe er sich meinen Koffer schnappt und vor mir her Richtung Ausgang geht. Er kennt mich und weiß, dass jedes Wort jetzt zu viel wäre. Vermutlich versteht er meinen Ärger sogar, aber ändern kann er rein gar nichts daran.
Jude ist doppelt so alt wie ich, also mittlerweile Mitte Vierzig, und ich sehe in ihm schon immer eine Art Ratgeber, vielleicht sowas wie einen entfernten Onkel. Ähnlich wie Onkel Heath, Moms Bruder, der inzwischen nichts mehr von unserer Familie wissen will. Ich weiß, ich wäre immer noch jederzeit willkommen, aber das gäbe nur böses Blut, also habe ich nur während des Studiums ein paarmal mit ihm telefoniert, wovon weder Mom noch Dad oder Lloyd etwas wissen. Ich vermisse die Ferien bei ihm. Auf seiner Ranch habe ich mich immer frei gefühlt. Aber Dads Geschäfte waren stets ein Streitpunkt und nach einer dieser Auseinandersetzungen hat Heath den Kontakt gänzlich abgebrochen.
Jude und er waren die Fixpunkte in meinem Leben. Auch wenn Judes Aufgabe eher darin bestand auf mich aufzupassen, was in Zukunft wohl wieder so sein wird, und mich von allzu großen Dummheiten abzuhalten, was ihm heute so wenig gelingen wird wie damals. Ich bin einfach zu impulsiv und stur; oder er zu nachgiebig. Vermutlich eine Mischung aus beidem. Im Grunde ist er Mädchen für alles gewesen, während ich in unserem Familienanwesen groß geworden bin. Ihm verdanke ich, dass ich nicht ganz so gefühlskalt geworden bin, wie der Rest meiner Familie.
Draußen wartet die Limousine auf uns, ein riesiges schwarzes Ungetüm mit getönten Scheiben. Total unauffällig.
»Ich hasse das Teil«, sage ich, während Jude mein Gepäck einlädt. Er wirft mir einen bedauernden Blick über die Schulter zu und deutet auf die Sitzreihe aus cremefarbenem Leder. »Die Bar ist aufgefüllt, falls du was trinken willst.«
»Nein danke. Den Vorrat lass ich lieber meiner Mutter für ihre nächste Shoppingtour.« Genervt und erschöpft lasse ich mich auf die Sitze fallen. Sie sind bequem, ich hatte fast vergessen, welch ein Luxus es ist, ein Sinetti zu sein. Vermisst hab ich es allerdings nicht. Ich kenne den Preis dafür.
»Du musst deinen Vater verstehen«, versucht Jude einzulenken, nachdem er neben mir Platz genommen hat und mit einem kurzen Klopfen gegen die Scheibe dem Fahrer signalisiert hat, dass er losfahren kann. »Du warst sehr lange weg. Er freut sich darauf, dass du nach Hause kommst.«
»Wenn er solche Sehnsucht nach mir hat, hätte er zur Abwechslung ja mal selbst zum Flughafen kommen können, um mich abzuholen«, erwidere ich bissig.
»Er hatte noch einen Termin. Aber er wird zu Hause sein, wenn wir ankommen.«
Natürlich wird er das. Weil es seinen Plänen entspricht, in die ich mich zu fügen habe. Es hat sich wirklich gar nichts geändert in den Jahren, in denen ich weg war. Aber das Spiel werde ich nicht mehr mitspielen. Gleich morgen, nehme ich mir vor, mach ich mich auf die Suche nach einem fahrbaren Untersatz und einer Wohnung. Ich habe in den vier Jahren eine nette Summe angespart, weil ich mein monatliches Taschengeld nicht angerührt, sondern lieber – wie alle anderen auch – gejobbt habe. Meine Eltern würden durchdrehen, wenn sie davon wüssten, dass ich Teller gespült und gekellnert habe. Mir war es einfach wichtig, so zu sein wie meine Mitstudenten. Zu ihnen zu gehören. Und nicht der reiche Schnösel zu sein, den man entweder verachtet oder dessen Freundschaft man in der Hoffnung auf irgendwelche Vorteile sucht.
Mein Plan ist aufgegangen und hat sich außerdem auch noch buchstäblich bezahlt gemacht. Es sollte reichen, um mir ein kleines Appartement zu mieten. Idealerweise vielleicht in der Nähe von Scotts Bleibe. Und um mir einen kleinen Flitzer zu kaufen. Passend zu meinem Ego. Ich werde mich auf keinen Fall mit diesem Schiff hier zum Training fahren lassen und darauf warten, dass meine Teamkollegen sich das Maul über mich zerreißen oder mir unterstellen, einen Sonderstatus zu genießen. Außerdem wäre es der blanke Hohn, sich vier Jahre Unabhängigkeit erkämpft zu haben, nur um dann gleich wieder in den goldenen Käfig zu schlittern. Nicht mit mir. Da kann Dad sich schon mal warm anziehen. In mir brodelt der Rebell. Ich bin entschlossen, nicht mehr klein beizugeben, wenn er mich mit kaltem, abschätzigem Blick mustert, als müsse er über meinen Nutzen entscheiden. Ich bin sein Sohn, verdammt, nicht irgendeiner seiner Angestellten.
Fuck, warum überrollen mich die alten Ängste und das Gefühl von Unzulänglichkeit sofort wieder, kaum dass ich einen Fuß auf Heimatboden setze? Und das, wo ich ihm noch nicht mal gegenüberstehe. War etwa alles umsonst? Mein Studium, meine Selbständigkeit, mein verbissenes Training, um beim Eishockey in die Profi-Liga wechseln zu können. Ich habe nicht einen Cent von seinem Geld angerührt, während ich weg war. Auch deshalb hat sich in Boston niemand für meine familiären Hintergründe interessiert. Ich war einfach nur ein College-Student und verdammt guter Eishockey-Spieler. Beliebt bei meinen Mitschülern und begehrt von den Mädels. Sogar meine Lehrer mochten mich, weil ich mich neben dem Sport auch diszipliniert durch mein Studium gekämpft habe, um einen guten und vor allem vorzeitigen Abschluss zu erreichen. Drei Monate vor dem offiziellen Studiumsende, damit ich direkt beim Saisonstart jetzt im Oktober in die Mannschaft der Dallas Stars eintreten kann. Alle hatten Respekt vor mir. Um meinetwillen, wegen meiner Leistung und weil ich ein loyaler Freund war – mit dem man allerdings auch immer gut feiern konnte.
Nicht, weil meine Eltern einen Haufen Kohle haben und halb Dallas meinem Vater gehorcht wie gut dressierte Schoßhündchen.
Ich schwanke zwischen Trotz und Zweifeln, kämpfe darum, dass Ersterer die Oberhand behält, bis wir zu Hause ankommen. Meine Lippen sind fest aufeinandergepresst und mein Blick niedergeschlagen auf den Boden gerichtet. Weder ich noch Jude sagen etwas. Das Schweigen im Inneren der Limo ist drückend. Schließlich seufzt Jude und räuspert sich. Ich weiß, er kann zumindest meine Gefühle aus meinem Gesicht lesen wie in einem Buch. Hoffentlich nicht auch meine Gedanken.
»Du wirst übrigens noch mal Onkel«, meint er schließlich, um ein Gespräch in Gang zu bringen.
Schockiert ruckt mein Kopf nach oben. »Claire ist schwanger?«, entfährt es mir. »Aber sie ist bei Trishas Geburt doch schon fast gestorben.«
Jude zuckt hilflos mit den Schultern. »Es fehlt halt immer noch der Erbe.«
Ich kann nur schnauben. Das ist so typisch für meinen Bruder Lloyd. Dass er damit das Leben seiner Frau riskiert, ist völlig zweitrangig. Wenn sie draufgeht, bevor sie ihm den gewünschten Stammhalter schenkt, wird er sie zweifellos, ohne mit der Wimper zu zucken, einfach ersetzen. Neues Spiel, neues Glück. Ich weiß, wie enttäuscht er über die Geburt der Mädchen war, dabei sind die beiden zuckersüß. Aber sie haben eben das falsche Geschlecht. Bitterkeit steigt in mir auf. Zumindest das hat meine Mom gut hinbekommen. Zwei Söhne und keine Tochter.
Während der restlichen Fahrt plaudert Jude weiter über aktuelle Fakten, die bisher an mir vorbeigegangen sind. Wegen Claires Schwangerschaft ist die Familie meines Bruders nun in eine Stadtvilla umgezogen. Das bedeutet, Claire wohnt dort, Lloyd verbringt immer noch die meiste Zeit zu Hause. Daddys rechte Hand eben. Da hält man sich schon mal für schwer entbehrlich. Mir egal. Ich werde mein Möglichstes tun, ihm aus dem Weg zu gehen. Sollte mir leichtfallen, weil ich vorhabe, mich voll und ganz auf meine Sportkarriere zu konzentrieren. In spätestens einem Jahr will ich weg aus Dallas. Idealerweise nach Kanada, falls ich es schaffe, eins der großen Eishockey-Teams dort auf mich aufmerksam zu machen. Die Dallas Stars sind zumindest eine gute Basis dafür. Gehofft hatte ich auf die Boston Bruins, weil ich dann gar nicht erst wieder nach Hause hätte kommen müssen, aber die haben nur einen Spieler gesucht und sich für jemanden entschieden, der bereits mehr Erfahrung hatte. Man kann nicht immer Glück haben im Leben.
Erst als Jude verstummt, merke ich, dass ich ihm kaum zugehört habe, was mir peinlich ist, aber er übergeht es schlicht. Wir sind angekommen und ich bleibe sekundenlang wie erstarrt im Wagen sitzen, während ich auf das große Haus blicke, aus dem ich geflüchtet bin und in das ich nun – freiwillig – zurückkehre. Habe ich mir das wirklich gut überlegt? Doch wie hätte ich das Angebot der Dallas Stars ausschlagen können? Es ist nur ein kleines Opfer, rede ich mir ein. Ich brauche dieses Sprungbrett nach oben, darum werde ich es irgendwie schaffen, die kommenden zwölf Monate zu überstehen. Ich darf mich nur nicht von Dad breitschlagen lassen, doch noch in die Firma einzusteigen. Egal, ob er mir Honig um die Lippen schmiert oder versucht, mich unter Druck zu setzen.
Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass er unsere Gesetze gelegentlich sehr eigenwillig interpretiert. Damit will ich nichts zu tun haben. Ich würde nicht sagen, dass er ein Schwerverbrecher ist, aber in unserer Familie lernt man schnell, dass das Geschäftsleben seine eigenen Regeln hat und man auch mal Grenzen übertreten muss, um so erfolgreich zu sein wie mein Dad.
Es kostet mich unmenschlich viel Kraft, schließlich doch auszusteigen. In mir breitet sich das Gefühl aus, wahlweise zu ersticken oder zu erfrieren. Letzteres gewinnt, nachdem ich Jude die Eingangstreppe hinauf gefolgt bin und mein Elternhaus betrete. Noch etwas, das sich nicht geändert hat. Es herrscht wie immer Eiszeit zwischen meinen Eltern und das spürt man im gesamten Haus. Die Stille ist bedrückend. Sogar die Hausangestellten bemühen sich, nicht aufzufallen und kein unnötiges Geräusch zu verursachen, während sie ihrem Job nachgehen, was wohl vor allem daran liegt, dass meine Mom sonst einen Tobsuchtsanfall bekommt, weil ihre Migräne sie umbringt. Es wäre einfach nicht stilecht, zuzugeben, dass es sich dabei schlicht um einen Kater vom Vortag handelt. Fast bin ich neugierig, um wie viel Prozent sich ihr Alkoholkonsum gesteigert hat. Ihre Art, mit der Distanz und Ignoranz umzugehen, die zwischen ihr und Dad herrschen. Hat es jemals sowas wie Zuneigung zwischen ihnen gegeben? Manchmal frage ich mich, wie sie es überhaupt geschafft haben, Lloyd und mich zu zeugen.
Liebe existiert nicht, das habe ich früh begriffen. Es ist nur eine Phrase, die gerne genutzt wird, um etwas von jemandem zu bekommen oder ihn zu manipulieren. Ich glaube selbst nicht an Romantik, ewige Treue und so einen Scheiß. Aber Respekt und Achtung sollte man meiner Meinung nach schon voreinander haben, ehe man zusammen in die Kiste springt. Und wenn man sich das Ja-Wort gibt erst recht, oder nicht? Auch Lloyds Ehe hat geschäftliche Hintergründe, trotzdem hatte ich immer den Eindruck, dass er und Claire sich zumindest mögen. Bei Mom und Dad bin ich mir hingegen schon lange nicht mehr sicher.
»Vigo!« Die strenge Stimme meines Vaters lässt mich zusammenzucken. Automatisch straffe ich mich und drehe mich langsam um. Er steht in der Tür zu seinem Büro, abwartend, mit unleserlicher Miene, die meine Entschlossenheit, ihm die Stirn zu bieten, empfindlich ins Wanken bringt. Jude klopft mir ermutigend auf die Schulter und raunt mir ins Ohr, dass er meine Sachen nach oben in mein altes Zimmer bringt. Mechanisch setze ich mich in Bewegung, gehe auf Dad zu und dann an ihm vorbei durch die Tür, ohne seinen Blick offen zu erwidern. Bin ich eingeschüchtert? Verdammt, ja, das bin ich. Kaum im selben Raum mit ihm und schon fühle ich mich wieder wie ein kleiner Junge.
»Setz dich doch«, fordert er mich auf. Es soll wohl freundlich klingen und für seine Verhältnisse tut es das auch, aber mir ist trotzdem kalt, seit ich meinen Fuß über die Schwelle gesetzt habe. In meinem Magen liegt ein bleischwerer Klumpen.
Er hat sich nicht verändert in den vier Jahren, wirkt fit und agil wie immer. Nur in seinen dunklen Haaren leuchtet ein bisschen mehr Grau, aber sie sind nach wie vor dicht und voll. Ob ich das in dem Alter auch sagen kann? Lloyd hat die Gene unseres Vaters, ich eher die von Mom, wenn man nach den blonden Haaren und den hellen Augen gehen will.
»Deine Mutter hat dich vermisst.«
Klar hat sie das. Darum schläft sie auch in ihrem Zimmer den nächsten Rausch aus, statt mich zu begrüßen.
Ich spreche die Gedanken nicht aus. Wozu auch?
»Du hättest wirklich zu Weihnachten nach Hause kommen können.«
Das hat er jedes Jahr gesagt. An Silvester. Wenn das Fest der Liebe bereits vorbei war. Als ob wir es je gefeiert hätten. Geschenke unter einem Tannenbaum sind kein Weihnachten mehr für mich. Das hat bei dem Dreikäsehoch funktioniert, aber schon bei dem Teenager nicht mehr, und heute wäre es für mich die reinste Farce. Darauf verzichte ich lieber.
»Ich wollte die Abschlussprüfungen ins Sommersemester vorziehen, das weißt du. Sonst hätte ich nicht in dieser Saison bei den Dallas Stars starten können. Also war es besser, in Boston zu bleiben, zu büffeln und zusätzliche Kurse zu besuchen.«
»Hm.« Mein Vater schürzt die Lippen. »Wäre es so schlimm gewesen, zu warten? Du hättest die Prüfungen regulär absolvieren und dir danach ein paar Monate Auszeit nehmen können. Oder in der Firma jobben. Sie kennenlernen.«
Innerlich verdrehe ich die Augen. Äußerlich versuche ich, weiterhin ruhig zu wirken.
»Du hast mir beigebracht, mich auf meine Ziele zu fokussieren. So ein Angebot erhält man kein zweites Mal im Leben.«
»Ach, Vigo.« Tadelnd schüttelt er den Kopf. »Du weißt, dass wir das für dich geregelt hätten.«
Als ich nicht antworte, lässt er es auf sich beruhen. Weitgehend zumindest.
»Wirst du zu den Abschlussfeiern noch mal nach Boston fliegen? Die offizielle Diplomvergabe wirst du doch nicht verpassen wollen.«
»Sie schicken mir die Unterlagen. Vielleicht fahr ich trotzdem hin. Wenn es sich mit den Spielen vereinbaren lässt. Aber die Diplomübergabe fällt in die Zeit der Endspiele und meine Prioritäten sind klar.«
Mein Vater nickt bedächtig.
»Ich bin stolz auf deinen Abschluss, mein Sohn. Du hast uns keine Schande bereitet.« Was bei jedem anderen wie ein Lob klingen würde, hört sich bei meinem Dad eher nach Drohung an. Wehe, wenn du uns enttäuscht hättest. Dein Glück, dass du es nicht hast. »Und den Platz bei den Dallas Stars hast du ebenfalls aus eigener Kraft errungen, weil du der Beste warst.« Erneut nickt er anerkennend. »Ich hielt es trotzdem für sicherer, ein paar Worte mit dem Vereinsmanagement zu sprechen. Sie können einen guten Sponsor immer gebrauchen. Du musst dir also keine Sorgen um deine Stellung dort machen.«
Sofort ist die Wut wieder da. Ich verkrampfe meine Finger um die Lehne des Bürostuhls, auf dem ich sitze. Warum tut er das? Sich schon wieder einmischen. Er hat doch gesehen, dass ich es alleine schaffe. Weshalb dann diese Intervention?
»Der Vertrag läuft mindestens ein Jahr, ich wüsste daher nicht, worüber ich mir Sorgen machen sollte.«
Mein Vater schnaubt abfällig. »Vigo! Du bist ein Sinetti! Muss ich dich nach vier Jahren erst wieder daran erinnern, was das heißt? Selbstverständlich kannst du nicht irgendeine Position im Team bekleiden. Du wirst erster Team-Captain. Je schneller desto besser. Und eine Zusage für ein Jahr ist lächerlich. Was soll das für eine Basis sein, wenn du dir hier deine Zukunft aufbaust?«
Ich presse meine Lippen aufeinander, statt Widerworte zu geben. Was bin ich doch für ein erbärmlicher Feigling im Angesicht meines Erzeugers. Sag ihm, dass du sowieso nicht länger bleiben willst. Dass du dir nicht hier etwas aufbaust, sondern deine Träume in Kanada liegen. Ist es das Engelchen oder das Teufelchen auf meiner Schulter, das mir zuflüstert. Egal, ich schweige. Es ist auch nicht direkt die potenziell längere Bindung, die mich ärgert. Aber wenn man mich zum Team-Captain macht, dann wäre es mir lieber, ich hätte das mit meiner Leistung verdient. Nicht mit Dads Geld erkauft. Allein schon, weil es bei meinen neuen Teamkameraden nicht gerade auf Begeisterung stoßen wird.
»Lloyd ist übrigens ausgezogen. Claire ist wieder schwanger und da brauchen sie einfach mehr Platz.«
Ich nicke knapp. »Jude hat es mir auf der Fahrt erzählt. Hoffentlich geht das gut.«
Mein Dad winkt ab. »Claire ist stark und in guter körperlicher Verfassung. Wenn sie sich diesmal ausreichend schont, wird das fast ein Spaziergang.«
Sich schonen heißt dann wohl, dass sie erneut ihren Job aufgeben muss. Dabei hat sie vor einem halben Jahr erst wieder angefangen, als Restaurantleiterin zu arbeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sonderlich begeistert ist. Wie hat Lloyd sie bloß überredet? Oder hat er ihre Antibabypille sabotiert?
»Jedenfalls hat mich das auf eine Idee gebracht. Komm mit, Junge. Es gibt da etwas, das ich dir zeigen möchte.«
Verwirrt erhebe ich mich und folge meinem Vater nach draußen. Er nickt unserem Chauffeur zu, der daraufhin los eilt und einen Wagen holt. Diesmal ist es die helle, etwas kleinere Limousine. Nicht ganz so auffällig, aber immer noch ein klares Statement für unseren Reichtum. Dad würde nie Understatement akzeptieren.
Ich sitze ihm im Heck gegenüber, wir schweigen uns an, obwohl sein Blick unentwegt auf mir ruht. Sein Lächeln jagt mir Schauder über den Rücken. Ist es berechnend oder bloß abwartend? Was hat er vor, wohin will er mich bringen? In mir knotet sich alles zusammen. Ich versuche zu schlucken, aber kann den Speichel kaum durch meine Kehle zwingen. Kommt jetzt schon der Moment, wo er mir mein Büro und meine künftigen Aufgaben vorführt? Es fühlt sich an wie eine Schlinge um meinen Hals. Wie stellt er sich das vor? Ich kann nicht in der Firma arbeiten, während ich in einer Profi-Liga spiele. Hat er mir deshalb die Position gleich vorweg gesichert? Damit es keine Rolle spielt, dass ich so gut wie nie aufs Eis kann? Aber als Team-Captain sollte ich dabei sein. Bei jedem Spiel. Zumindest in der Theorie.
Mein Puls rast und meine Handflächen sind schweißnass. Ich komme mir vor, wie ein in die Enge getriebenes Tier, das keinen Ausweg sieht.
Als der Wagen hält, stehen wir vor einem modernen Hochhaus in einem der noblen Stadtteile.
»Bitte, Vigo, nach dir.« Mein Vater deutet freundlich nach draußen. Mit weichen Knien steige ich aus. Das hier fühlt sich unwirklich an, und ich habe nach wie vor keinen blassen Schimmer, was mich erwartet. Zumindest sieht das nicht nach Bürokomplex aus, was eine leise Hoffnung in mir aufkeimen lässt.
Wir betreten die Lobby im Parterre. Ein Portier sitzt hier hinter einer Art Rezeption. Er grüßt meinen Dad freundlich und reicht uns eine Chipkarte. Noch immer erklärt mir mein Vater nicht, wofür wir hier sind, sondern aktiviert mit der Karte den Aufzug und, nachdem wir diesen betreten haben, den Zugang zu den obersten Stockwerken.
Auf der 22. Etage steigen wir aus. Vor uns erstreckt sich ein breiter Flur mit Marmorboden und einem rotgoldenen Kurzflorteppich. Es gibt hier nur zwei Türen. Auf einer steht in deutlichen Lettern das Wort Stairs. Mein Vater geht zu der anderen Tür.
Auch hier entriegelt die Chipkarte den Schließmechanismus. Diesmal tritt Dad vor mir ein, dreht sich, kaum dass er die Tür passiert hat, zu mir um und umschreibt mit einer großzügigen Geste die Räume, die sich vor uns ausbreiten. Mir stockt der Atem. Das hier ist ein Palast. Überfordert drehe ich mich einmal um die eigene Achse, während ich die Penthousewohnung betrete.
»Nun, was sagst du?« Diesmal liegt tatsächlich ein warmes Lächeln auf dem Gesicht meines Vaters.
»Ich … bin ein bisschen sprachlos. Was ist das hier?« Erneut lasse ich meinen Blick schweifen, sehe auch hier helle Marmorfliesen auf dem Boden, bedeckt von teuren Teppichen, im Kontrast dazu dunkle Designermöbel – die Schränke aus hochwertigem Holz, die Sitzgelegenheiten aus feinstem Leder. An den Wohn- und Essbereich, der drei Stufen tiefer liegt als der Eingang selbst, grenzt eine offene Küche, die einem Sternekoch genügen würde. An der Wand gegenüber der Sofalandschaft hängt ein riesiges Flatscreen-TV. Darunter auf einem breiten Sideboard stehen weitere Multimediageräte. Im Hintergrund führt eine Front aus bodentiefen Fenstern auf eine Art Dachterrasse, deren eine Hälfte überdacht ist wie ein Wintergarten. Auf der anderen Seite befinden sich Liegestühle und ein Jacuzzi. Als ich meinen Blick nach rechts richte, kann ich nur erahnen, dass dort Schlaf- und Badezimmer sein müssen.
Mein Vater lacht über meine offensichtliche Verblüffung. »Nun, ich hatte gedacht, es könnte deine künftige Wohnung sein.«
Ruckartig wende ich mich ihm zu, kann nicht glauben, was ich da höre. Er zuckt mit den Schultern und wirkt mit einem Mal so entspannt und zufrieden, wie ich ihn noch nie gesehen habe. »Na ja, du warst jetzt vier Jahre weg, Vigo. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dich damit wohlfühlen würdest, wieder wie ein kleiner Junge bei deinen Eltern zu leben. Also hielt ich es für klug, dir etwas zu suchen, wo du deine Eigenständigkeit auch weiterhin leben kannst. Du sollst dich wohlfühlen, jetzt, wo du zurückgekehrt bist. Sieh es als Geschenk zu deinem Abschluss.«
Seine Stimme klingt mit einem Mal belegt, er räuspert sich. Fuck, so viel Gefühl bin ich von ihm einfach nicht gewohnt und es überfordert mich. In mir regt sich das schlechte Gewissen, weil ich ihn offenbar falsch eingeschätzt habe und meine Sorgen überzogen waren. Sollte es tatsächlich möglich sein, dass sich etwas geändert hat? Respektiert er mich endlich? Bin ich undankbar, weil es mir so sauer aufgestoßen ist, dass er meinen neuen Verein sponsert, um mir den von mir gewählten Weg zu erleichtern?
»Nun sag schon was, Vigo«, drängt er und wirkt tatsächlich nervös. Sein rechter Fuß scharrt über den glatten, hellen Marmorboden. »Gefällt sie dir nicht? Wir können uns auch nach etwas anderem umsehen, wenn du dich nicht wohl…«
»Sie ist perfekt«, falle ich ihm ins Wort. Das meine ich wirklich so. Die Wohnung ist ein Traum und verschafft mir die Freiheit, die ich brauche. Dass er daran gedacht hat und sich diese Mühe gegeben hat, hinterlässt Wärme in meiner Mitte. Zum ersten Mal habe ich wirklich das Gefühl, sein Sohn und geliebt zu sein. Nicht wegen der teuren Wohnung an sich, denn Geschenke und Geld waren ja immer im Überfluss vorhanden. Nein, es ist dieses feine Gespür für meine Bedürfnisse, das er hiermit bewiesen hat. Zum ersten Mal in meinem Leben. Und genau das ist der Grund, warum ich dieses Geschenk akzeptiere, auch wenn ich mir eigentlich vorgenommen hatte, keinen Penny mehr von ihm anzunehmen.
Er atmet erleichtert auf und in diesem Moment fühle ich mich ihm so nah, wie sich ein Sohn seinem Vater fühlen sollte. Spontan trete ich zu ihm und umarme ihn. »Danke Dad.«
»Schon gut, mein Junge. Ich veranlasse dann alles nötige, damit du noch vor dem Wochenende einziehen kannst.«
»Das wäre super«, stimme ich begeistert zu. Am Samstag ist nämlich die große Begrüßungsfeier für die neuen Spieler und zum Einstieg der Saison. Keine Frage, dass dort auch jede Menge heiße Girls rumlaufen werden, und ich freue mich jetzt schon darauf, eine von ihnen in dieses kleine Paradies hier zu entführen, um meinen in Boston erworbenen Ruf als Womanizer auch in Dallas schnellstmöglich zu festigen.
Dads Handy klingelt in diesem Moment. Ich nutze die Gelegenheit, mich im Bad und im Schlafzimmer umzusehen. Die beiden Räume liegen direkt nebeneinander und sind genauso großzügig und traumhaft wie der Rest der Wohnung. Das Bad gleicht eher einer kleinen Wellness-Oase mit Whirlpool und einer Regendusche, zwei Waschbecken, Toilette und Bidet.
»Nein, das hab ich doch gesagt«, höre ich die ärgerliche Stimme meines Vaters herüberschallen. »Er ist noch nicht so weit. Das muss ich behutsam vorbereiten, sonst wird das nichts und das können wir uns nicht leisten. Gerade jetzt nicht, wenn dieser DiCaprio in die Stadt kommt.«
Ich schüttele den Kopf. Geschäfte. Je weniger ich davon weiß, umso besser. Natürlich ist mir klar, dass mein halbes Leben davon finanziert wird, aber ich hatte schon immer andere Träume als Dad und Lloyd.
Im Schlafzimmer dominiert ein großes, französisches Bett, das aktuell mit auberginefarbener Bettwäsche bezogen ist. An der linken Seite zieht sich auch hier die Front von bodentiefen Fenstern entlang, die auf einen kleinen Balkon führen. Rechts befindet sich ein begehbarer Kleiderschrank.
Ich höre meinen Vater zu mir treten, der einen leisen Fluch auf den Lippen hat.
»Gibt es Ärger?«, erkundige ich mich, um ernsthaftes Interesse bemüht. Dazu fühle ich mich irgendwie verpflichtet, nachdem er mir dieses Traumdomizil schenken will. Gleichzeitig erwacht jedoch eine leise Stimme in mir, die schon wieder fragt, ob diese Großzügigkeit nicht doch noch einen Haken haben wird. Ich stelle mich taub und konzentriere mich auf meinen Dad und seine besorgte Miene. Er seufzt.
»Die üblichen Probleme. Und außerdem wird in ein paar Tagen ein neuer Oberstaatsanwalt hier in Dallas übernehmen. Leider gibt die Justiz einfach nicht auf und setzt, kaum dass Donovan das Handtuch geworfen hat, den nächsten Bluthund auf mich an. Einen gewissen Alec DiCaprio.« Die Art, wie er den Namen ausspricht, zeigt, dass der Kerl kein Unbekannter für ihn ist, und tatsächlich schnaubt er unwillig. »Von allen möglichen Kandidaten muss es ausgerechnet dieser junge Pittbull sein. Er kommt aus New York und hat dort bereits einen unserer langjährigen Geschäftspartner fertiggemacht. Ich hasse solche Typen, die solange suchen, bis sie selbst dort etwas finden, wo es nichts zu finden gibt.«
Die Heftigkeit, mit der er die Worte vorbringt und die Anspannung in seiner Miene, alarmieren mich. Zögernd lege ich meine Hand auf seinen Arm.
»Dad? Aber bei uns wird er doch nichts finden, oder? Dieser DiCaprio.«
Für einen Moment überrollt mich Furcht. Das Gefühl, doch zu wenig über unser Familiengeschäft zu wissen, um vorbereitet zu sein. Immerhin betrifft es mich zwangsläufig, egal, wie viel ich damit zu tun habe.
Ein gequältes Lächeln erscheint auf den Lippen meines Vaters. »Ach, Junge, du bist noch recht naiv. Typen wie dieser DiCaprio … Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt haben, geben sie nicht auf. Das ist das Schlimme an denen. Wie schon gesagt, Verne hat er klein bekommen und der war ein alter Hase im Geschäft. Aber mach dir keine Sorgen, wir Sinettis sind aus anderem Holz. Wir haben schon immer dafür gesorgt, dass es nichts zu finden gibt, egal wie tief diese Bastarde graben. Und so wird es auch bleiben.«
Irgendwie beruhigt mich diese Aussage nicht wirklich. Ich hab mich nie um die Geschäfte geschert, aber ich wäre zumindest nicht auf die Idee gekommen, dass die Staatsanwaltschaft Interesse daran haben könnte, womit meine Familie ihr Geld verdient. Gerade klingt es so, als wäre Dad jedoch schon länger im Fokus polizeilicher Ermittlungen, was nach mehr als einer Ausdehnungvon gesetzlichen Grenzen klingt. Und wenn sogar Geschäftspartner von ihm bereits Ärger mit der Justiz haben … Mich überläuft ein unangenehmer Schauder, und meine Zweifel, jemals Teil von Dads Firma zu werden, haben soeben neues Futter bekommen. Einen Skandal kann ich mir nicht leisten, wenn ich als Profi in der Eishockeyliga durchstarten will. Natürlich kenne ich die Gerüchte und weiß, dass die Sinettis den Ruf haben, knallhart und eiskalt zu sein, wenn es ums Geschäft geht. Aber kriminell? Illegal? In einem Maß, dass die Staatsanwaltschaft uns im Fokus hat? Offenbar hat sich in vier Jahren doch mehr verändert, als ich bisher dachte.
Ich schüttele den Kopf und vertreibe die Gedanken schnell. Je weniger ich darüber weiß, umso besser. Trotzdem wirkt das Lächeln meines Vaters mit einem Mal viel weniger liebevoll, sondern eher berechnend. Ist auch diese Wohnung für ihn letztlich nur ein Geschäft? Ein Geschäft mit mir? Zu welchem Preis?
»Lass uns nach Hause fahren, mein Junge. Du willst dich sicher ausruhen. Und morgen sollten wir anfangen, uns über deine Zukunft zu unterhalten.«
Warum nur klingt das so wenig väterlich, und so sehr nach einer Drohung?
Alec
Die Fahrt von New York nach Dallas war anstrengend. Im Nachhinein ärgere ich mich, nicht doch geflogen zu sein. Oder wenigstens mehr, als nur den einen Zwischenstopp eingeplant zu haben. Das Bett in dem Motel war nicht sehr bequem. Außerdem haben mich zu viele Gedanken umgetrieben, als dass ich hätte schlafen können. Vielleicht wäre es klüger gewesen, mich erst einmal auszuschlafen und richtig anzukommen, aber ich will mir so schnell wie möglich einen Überblick verschaffen, also bin ich direkt ins DPD gefahren. Dort erwartet mich schon Inspektor Jack Bovers, mit dem ich in den letzten Wochen ein paar Mal telefoniert habe, seit klar war, dass ich den Job hier übernehme.
»Ich bin sehr gespannt, was Sie erreichen werden, DiCaprio«, sagt Bovers, während er mit mir die Unterlagen des Sinetti-Falls durchgeht und mich auf den neuesten Stand der Ermittlungen bringt. Ich bin erst vor einer Stunde in Dallas angekommen, hatte gerade mal einen Kaffee und einen Bagel in einem Coffee-Shop, ehe ich hergekommen bin. Mein Gepäck liegt noch im Kofferraum meines Wagens und ich habe noch keinen Fuß in meine neue Wohnung gesetzt. Auch das sagt wohl etwas über die Prioritäten aus, die ich hier setze. Der Job ist mein Fixpunkt. Ich brenne darauf, diesen Gangster fertigzumachen, der sich so lange schon erfolgreich der Justiz entzieht und aller Welt den seriösen Geschäftsmann vorspielt.
Ein wenig ärgert es mich daher, Skepsis in Bovers Stimme zu hören. Ich nehme mir vor, das nicht direkt auf mich zu beziehen, um nicht gleich zu Anfang Spannungen zwischen mir und meinen neuen Partnern entstehen zu lassen. Ich vermute, dass der Inspektor eher von Steward Donovan spricht. Immerhin hat mein Vorgänger die letzten fünf Jahre erfolglos versucht, gegen Sinetti vorzugehen. Aber sein Leumund ist nach außen hin einfach tadellos, das weiß ich sehr gut. Unzählige Spenden und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Saubere Bücher für jede seiner offiziellen Firmen. Und bei allen Geschäften, die im Zusammenhang mit seinem Syndikat erfolgen, tritt er nie persönlich auf, sondern hat seine Handlanger oder eben Geschäftspartner, die er notfalls auch über die Klinge springen lässt. So wie Govermint. Das macht es so schwer, ihn zu greifen, obwohl wir alle wissen, dass es kaum ein illegales Business gibt, in dem er nicht seine Finger hat. Außer Drogen! Dagegen scheint Royce Sinetti regelrecht allergisch zu sein. Niemand, der mit ihm zusammenarbeiten will, darf etwas mit Drogen zu tun haben. Aber das Spektrum ist auch so recht breit gefächert. Er muss nie Einbrüche in einzelnen Wirtschaftszweigen befürchten, weil er genügend Alternativen besitzt. Legal wie illegal. Bei Verne Govermint war es Waffenschmuggel, getarnt unter Kunst und Antiquitäten. Letzteres in Zusammenarbeit mit Sinetti, aber dass der über die Waffen im Bilde war, konnte ihm niemand beweisen und Verne schweigt seit seiner Verhaftung wie ein Grab. Was für ein Druckmittel hat Sinetti gegen Govermint in der Hand, dass er lieber freiwillig für Jahre in den Knast geht, als einen Deal mit uns auszuhandeln, der uns Sinetti bringt? Wenn ich das herausfinden könnte, wäre ich einen großen Schritt weiter.
»Ich plane, mein Bestes zu geben«, versichere ich Bovers und sehe meinem neuen Verbündeten direkt in die eiskalten grauen Augen. Er ist als harter Hund verschrien, was ich nicht eine Sekunde bezweifle. Dabei hoffe ich, dass er nicht über die Stränge schlägt. Er wäre nicht der erste Cop, der Gesetze auch mal verbiegt. In die eine oder andere Richtung. Ich sehe beides kritisch – aus gutem Grund.
»Das hat Donovan auch gesagt, als er hier anfing«, spuckt er mir vor die Füße und scannt mich erneut von Kopf bis Fuß. Nein, er hat sicher kein Interesse an mir. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Bovers schwul ist. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Zwei Mädchen, einen Jungen. Aber er traut mir erst mal nichts zu, hält mich für einen ebensolchen Wichtigtuer und Schreibtischhengst wie mein Vorgänger. Jemand, der andere die Arbeit machen lässt und darauf hofft, irgendwann die Lorbeeren zu kassieren. Da täuscht er sich gewaltig, was er bald merken wird. Ich habe immer schon meine eigenen Ermittlungen betrieben und mich neben die Cops an vorderste Front gestellt. Sonst hätte ich Govermint nicht an den Eiern gepackt.
»Ich weiß nicht, ob Addelton schon mit Ihnen darüber gesprochen hat, aber sobald wir genug Indizien haben, werden wir das FBI hinzuziehen.«
Der Inspektor nickt. »Kann uns nur nützlich sein. Die haben immerhin ganz andere Möglichkeiten als wir. Von mir aus können Sie die Airforce, Navy, CIA oder auch den verdammten Mossad hinzuziehen. Alles ist mir recht, solange wir Sinetti das Handwerk legen.«
Nun ja, den Mossad werden wir wohl nicht bemühen, denke ich insgeheim schmunzelnd, aber es ist gut zu wissen, dass der Inspektor kein Problem damit hat, mit den Special Agents der Bundesbehörde zusammenzuarbeiten. Nicht jeder Cop ist davon begeistert.
Bovers Blick durchbohrt mich, seine Miene ist trotz seiner harschen Worte unergründlich. Er ist ein bulliger Typ mit kurz braunen Haaren, die schon reichlich Grau aufweisen, und einem breiten Kreuz. Jemand, der auf den ersten Blick behäbig wirkt, bis man erkennt, dass seine Masse pure Muskelkraft ist. Ich werde ihn nicht unterschätzen, aber er mich hoffentlich auch nicht, obwohl er noch keine Ahnung hat, warum mir gerade dieser Fall so wichtig ist.
Ich nehme mir vor, ihm sehr bald klarzumachen, worin der Unterschied zwischen Steward und mir besteht. Immerhin beruhigt es mich, dass ich den Nagel auf den Kopf getroffen habe, was den Grund für die angespannte Haltung des Departments mir gegenüber angeht. Stewards Misserfolge haben die ermittelnden Kollegen mürbe gemacht, das ist mir bekannt. Es gibt eine Menge Gerüchte, die mich schon vor meinem Umzug hierher erreicht haben. Keine gute Ausgangsposition, aber wir werden sehen. Es hat mich nicht davon abgehalten, meinen Vertrag zu unterzeichnen, es wird mich auch nicht davon abhalten, es besser zu machen und diesen Mistkerl endlich hinter Gitter zu bringen. Ein Vorteil für mich könnte sein, dass ich schon jetzt einen Informanten hier in der Stadt habe, den ich noch von den Govermint-Ermittlungen kenne, aber schon länger bei Sinetti platziert habe. Das werde ich Bovers nur nicht gleich auf die Nase binden. Erstens will ich ihm nicht das Gefühl geben, dass ich mich wichtigmache, und zweitens habe ich den Verdacht, dass es einen Maulwurf im Department gibt, weshalb ich sehr genau überlegen werde, wem ich welche Informationen preisgebe. Mit der Zeit, so hoffe ich, werde ich ein kleines Team um mich scharen können, das mein uneingeschränktes Vertrauen genießt. Aber dazu muss ich mir die Leute erst mal genauer anschauen. Ich bin misstrauisch. Genau wie Bovers. Ich weiß sehr gut, wie schnell auch ein Cop auf eine schiefe Bahn gerät.
»Hab übrigens gehört, dass Sie Jeremys Sohn sind.« Was für ein Zufall, dass Bovers ausgerechnet jetzt auf meinen alten Herrn zu sprechen kommt.
»Ja, das kann ich wohl nicht abstreiten«, antworte ich gepresst.
»War ein guter Mann. Ich kannte ihn zwar nicht persönlich, aber hier reden immer noch viele über ihn. Tut mir leid, was da passiert ist.«
Ich atme tief durch. Ein mir nicht liegt mir auf der Zunge. Ich schlucke es hinunter.
»Was haben wir denn bis jetzt?«, will ich von Bovers wissen, erkläre das Thema Jeremy DiCaprio damit für erledigt. Mein Fokus liegt auf Sinetti. Soll der Inspektor mal den ersten Zug machen und mir zeigen, was sie vorzuweisen haben. Dann sehen wir weiter.
Der Inspektor bläst die Backen auf. »Sinettis Akte ist so dick, dass ich mir bequem ein Etagenbett daraus bauen könnte. Aber festnageln konnten wir ihn trotzdem bisher nie. Einfach zum Kotzen. So viel Arbeit – und er führt uns immer wieder an der Nase rum.«
»Mir würde es schon genügen, wenn wir über die aktuellen Fakten reden«, schränke ich das Etagenbett ein, was Bovers mit einem Achselzucken hinnimmt.
Knapp zwei Stunden bringen wir mit den Akten zu, die letztlich aber nichts Neues verraten. Das Einzige, was auffällt, ist, dass Sinetti seit kurzem verstärkt in der IT-Branche agiert. Ein Hoffnungsschimmer, denn Cyberkriminalität interessiert die Kollegen von der Bundesbehörde in der Regel sehr.
Sinetti hat zuletzt zwei Software-Firmen geschluckt, die eine Vielzahl neuer Programme im Bereich Datenkommunikation und Sicherheit entwickeln und ihre Zentrale jeweils in Südostasien haben. Außerdem investiert er in Aktien anderer Netzwerkfirmen. Das ist aus meiner Sicht durchaus verdächtig, darum hake ich hier nach und schaffe es zum ersten Mal an diesem Tag, Bovers zu beeindrucken.
»Ich sehe das wie Sie, DiCaprio. Er scheint sich gezielt einen neuen Markt zu erobern, und ich denke, dass er das im Hintergrund schon viel länger tut.«
Neugierig hebe ich die Augenbrauen. »Inwiefern?«
»Wir haben auch da nichts Handfestes, aber die beiden Firmen, die er aufgekauft hat, standen kurz vor der Insolvenz. Und zwar sehr plötzlich und überraschend.«
»Verstehe«, murmele ich halb zu mir selbst und reibe mir nachdenklich übers Kinn. Dieses Vorgehen würde zu Sinetti passen, und wenn Bovers recht hat und er tatsächlich schon länger im Software-Bereich unterwegs ist, kann es durchaus sein, dass er Hacker für sich arbeiten lässt. Das System ist nicht neu. Ich infiltriere das Netzwerk eines Unternehmens, sorge für ein wenig Chaos, spioniere es aus und treibe es systematisch an den Abgrund heran, um dann – im richtigen Moment – als strahlender Retter auftreten zu können. Billige Übernahmen. Diese Methode hat er schon oft angewandt. Entweder kauft er marode Firmen direkt auf oder er fusioniert mit ihnen. Je mehr über Server und Datenkommunikation läuft, umso leichter wird es, Konkurrenten auszuspionieren und zu manipulieren. Man muss nur ein wenig Geduld haben und die richtigen Leute kennen. Das Problem ist nur auch hier: Wir müssen es ihm erst mal nachweisen.
»Haben wir im Department Leute, die auf sowas spezialisiert sind?«, will ich wissen. Bovers hebt etwas hilflos die Schultern. »Wir haben eine Abteilung für Cyberkriminalität. Da sind ein paar ziemlich gewitzte Burschen dabei. Aber bisher konnten die nicht viel finden.«
Na wunderbar. Ich setze es auf meine To-Do-Liste für die ersten Wochen, einen brauchbaren Hacker hier in Dallas aufzutreiben, der ein wenig tiefer in die Firmennetzwerke eintaucht. Das sollte machbar sein. Computerfreaks und Nerds gibt es zuhauf und die meisten davon haben deutlich mehr auf dem Kasten, als man auf den ersten Blick meint. Sie sind selten leicht für die Polizeiarbeit zu begeistern, aber mit den richtigen Argumenten werden sie oft zu sehr zuverlässigen Verbündeten. Natürlich ist das alles hart an der Grenze zwischen Legalität und Kriminalität, aber es lohnt sich, dem Feind mit den eigenen Waffen ein Schnippchen zu schlagen. Es ist nicht so, dass ich unseren eigenen Leuten nichts zutraue, sie bewegen sich eben nur innerhalb eines gewissen Rahmens. Einem freien Hacker sind diese Grenzen egal. Man muss den Drahtseilakt beherrschen, damit man nicht zur falschen Seite kippt. Nur ein bisschen Unruhe reinbringen. Sinetti aufschrecken. Vielleicht in einen Fehler treiben.
Womöglich decken wir auf diese Weise sogar seine Informationsquellen auf. Denn eins ist leider Fakt, wann immer das Department von einem Deal erfährt und versucht, diesen zu vereiteln, scheint Sinetti rechtzeitig Wind von den geplanten Aktionen zu bekommen, und Zeit oder Ort ändern sich kurzfristig. Die wenigen Male, wo das nicht passiert ist, hat man nur kleine Fische geschnappt. Sinetti ist nicht mal ansatzweise damit in Verbindung zu bringen, außer, dass er entweder selbst geschäftliche Kontakte mit den Betreffenden pflegt oder man zumindest gemeinsame Partner hat. Das ist zu wenig für eine Anklage.
»Okay, wir sollten das im Auge behalten und die Leute von der CC sollen dranbleiben. Vielleicht stolpern sie ja doch noch über was.« Oder zufällig durch ein Hintertürchen in der Firewall.
»Manchmal denke ich, ich sollte meinen David dransetzen. Gott weiß, der Junge treibt mich irgendwann noch in den Wahnsinn mit diesem ganzen Computerkram. Völlig aus der Art geschlagen. Aber ich staune immer wieder, was der Bengel draufhat.«
Mit hochgezogener Braue mustere ich Bovers und grinse in mich hinein. Ich werde mir seinen Einwurf merken. Sollte ich keinen Hacker finden, komme ich vielleicht auf seinen Sohn zurück.
»Gibt es sonst irgendeinen konkreten Angriffspunkt? Eine Schwachstelle, wo wir ansetzen können?«
Jetzt wirkt Bovers ein bisschen zuversichtlicher. »Ich denke schon. Sein Junior, Vigo Sinetti. Er ist seit zwei Tagen wieder in der Stadt. Hat gerade das College beendet, wo er die letzten vier Jahre war, und startet eine Eishockey-Karriere bei den Dallas Stars.«
Der Inspektor wühlt in ein paar Aktendeckeln und legt mir schließlich ein Foto von einem hübschen jungen Burschen hin. Ich schätzte ihn auf siebzehn, vielleicht achtzehn. Hat er das College gleich im ersten Jahr zugunsten des Sports abgebrochen, oder wie darf ich das verstehen?
Es gibt noch zwei weitere Bilder, die ihn auf dem Spielfeld zeigen, allerdings in voller Montur. Er scheint mir muskulöser als auf dem Collegefoto, aber das könnte durch die Ausrüstung täuschen.
»Wie alt ist Vigo?«, frage ich, um mir eine Strategie überlegen zu können. Mit einem Teenager kann ich nicht viel anfangen, ohne relativ schnell Probleme zu bekommen, wenn ich ihm auf den Zahn fühlen will. Ich hoffe, dass er wenigstens volljährig, also über einundzwanzig, ist, damit Daddy Sinetti nicht gleich mit seiner ganzen Armada von Anwälten droht, wenn ich seinen Sprössling zum Verhör bitte. Obwohl er das vermutlich trotzdem tun wird. Also hängt einiges davon ab, wie selbständig Vigo auf dem College geworden ist, und ob er sich gerne unter den Schutz der Familie stellt oder die Dinge eher selbst regeln will. Außerdem, ob er bereits in die illegalen Geschäfte verstrickt ist oder gerade erst damit anfängt.
»Der Junge ist zweiundzwanzig und ein ziemlicher Draufgänger«, erklärt Bovers mit einem hässlichen Lachen. »Hat nichts anbrennen lassen. Marke Bad Boy und Rebell. Letzteres vor allem gegenüber seiner eigenen Familie. Soweit wir wissen, ist er seinem Ruf auch auf dem College gerecht geworden. Wilde Partys, viele Weibergeschichten, ein paar Schlägereien und er fährt einen ziemlich heißen Reifen. Außerdem hat er wohl ordentlich gegen die Familienregeln aufbegehrt in den letzten Jahren. Jedenfalls hat er während der vier Jahre Studium in Boston alles darangesetzt, nicht als Sinetti, sondern als Vigo wahrgenommen zu werden, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Das tue ich durchaus, was ich mit einem Nicken bestätige. Manchmal kann die Familie echt eine Last sein. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, auch wenn die Gründe bei mir todsicher anderer Natur sind. Klingt zumindest hoffnungsvoll, wenn er nicht Daddys größter Fan ist. Dann kann man ihn vielleicht für uns gewinnen. Schwierig. Riskant. Aber lohnenswert, wenn es klappt. Jemanden direkt an der Quelle zu haben, ist ein großer Vorteil. Kann allerdings auch schnell zum Bumerang werden, sollte das große Geld aus schmutzigen Geschäften doch mehr locken als gedacht. Und bei dem Lebensstil, den er an den Tag legt …