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Eigentlich dachten Vigo und Alec, dass die schwierigste Zeit ihrer Beziehung bereits hinter ihnen liegt. Doch nicht die kriminellen Hintergründe von Vigos Familie oder der Konflikt mit Alecs Job als Staatsanwalt sind die wahre Bewährungsprobe für ihre Liebe. Vielmehr machen Vigos anhaltende psychische Probleme Alec die größten Sorgen, und dann stehen den beiden auch noch unerwartete Vaterfreuden in Gestalt des ebenfalls traumatisierten Tony ins Haus. Zwischen gestohlenen Rindern, misshandelten Pferden und queerfeindlichen Klassenkameraden kämpfen Alec und Vigo darum, ihre Ranch nicht zu verlieren und Tony einen Halt im Leben zu geben, auch wenn ihre Liebe dabei auf der Strecke zu bleiben scheint. Gerade als sie Hoffnung schöpfen, dass sich alles zum Guten wendet, kehren böse Geister aus ihrer Vergangenheit zurück, und ehe sich die beiden versehen, stecken sie erneut mitten drin in einem Spiel auf Leben und Tod.
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Seitenzahl: 736
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Tanya Carpenter
Slapshot
Hard Rules V
Gay Romance – Erotic & Crime
Tanya Carpenter
Slapshot
Hard Rules V
Gay Romance – Erotic & Crime
ELYSION-BOOKS
1. Auflage: Dezember 2023
VOLLSTÄNDIGE AUSGABE
ORIGINALAUSGABE
© 2023 BY ELYSION BOOKS, LEIPZIG
ALL RIGHTS RESERVED
UMSCHLAGGESTALTUNG & COVER: Ulrike Kleinert
www.dreamaddiction.de
ISBN (vollständiges Buch): 978-3-96000-283-3
ISBN (ebook): 978-3-96000-284-0
www.Elysion-Books.com
Content Notes
PTBS, Minderwertigkeitsgefühle, Handicap, Betäubungsmittel/Drogen, Queerfeindlichkeit, Mord, Gewalt, Tod, Andeutung von Missbrauch, Tierquälerei, Misshandlung, Freiheitsberaubung, Entführung, Bondage.
Hinweis
Slapshot ist die fünfte Geschichte aus der Hard Rules Reihe und kann dennoch unabhängig von den beiden ersten Bänden Playoff und Endgame sowie den Novellen-Specials Time Out und Rebound gelesen werden. Dennoch vertieft das Hintergrundwissen aus den vier Vorgängergeschichten das Lesevergnügen.
Playoff
Endgame
Time Out
Rebound
Slapshot
Vigo
In den panisch aufgerissenen Augen sieht man fast nur noch das Weiße. Die Nüstern weit gebläht, der ganze Körper gespannt wie eine Bogensaite. Ich kann die Angst bis hierhin riechen. Ein Pferd in Panik schwitzt auf eine spezielle Weise. Ich kenne Blues Geruch. Und ich erkenne, wenn der Schweiß nicht harter Arbeit, sondern Furcht geschuldet ist.
Ihre Muskeln zittern, der Körper scheint zusammenzuschrumpfen, nur um jede Sekunde zu explodieren und die Stricke zu zerreißen, mit denen man versucht, den Willen dieses stolzen Tieres zu brechen. Mir blutet das Herz. Ein plötzlich ausgestoßenes schrilles Wiehern reißt an meinen Nerven, vibriert in mir, als wäre es mein eigener Schrei.
Ich muss etwas tun, muss ihr helfen. Sie vertraut mir. Wenn ich nichts tue, ist das ein Verrat an ihrer Seele, den sie mir niemals verzeihen wird. Wie könnte sie auch?
Doch ich bin wie gelähmt, kann mich nicht rühren. Als ob auch um meinen Leib Fesseln liegen, die ihn dazu zwingen, an Ort und Stelle zu bleiben.
»Du bist ein Krüppel! Ein Niemand. Schwuchtel. Du bist wertlos. Schwach.« Zischelnde Stimmen rund um mich herum. Sie verspotten mich. Die Worte bohren sich in meinen Körper wie Pfeile mit schrecklichen Widerhaken, die an mir reißen, mich innerlich zerfetzen, bis ich weinend in mich zusammensacke.
»Schwächling! Du kannst niemandem helfen. Zu nichts nutze.«
Mit jedem Wort spüre ich, wie mich mehr und mehr die Kraft verlässt. Mein kaputtes Bein will mir nicht gehorchen. Ich kann Blue nicht helfen, weil ich tatsächlich zu schwach bin. Zu schwach, mich zu befreien. Zu schwach, auf meinen Beinen zu stehen. Zu schwach … zu schwach …
Irgendjemand ruft meinen Namen. Es klingt furchtbar weit weg. Ich will zu dieser Stimme laufen, weil sie Sicherheit verspricht. Aber ich kann nicht. Und ich will auch mein Mädchen nicht im Stich lassen. Ich muss wenigstens bei ihr bleiben, wenn ich ihr schon nicht helfen kann. Denn ich kann mich immer noch nicht bewegen, aber mir wird allmählich klar, dass mich keine Seile binden, sondern bloß kräftige Hände meine Arme umklammern. Zu kräftig, um sich ihnen zu entwinden. Sie müssen mich stützen, weil ich sonst zu Boden sinken würde. In den Dreck.
»Da, wo du hingehörst«, zischt es wieder.
Stattdessen schütteln mich diese Hände, packen immer fester zu, wie Schraubstöcke. Es tut weh. Da ruft mich die Stimme erneut. Mit der gleichen Panik darin, die auch in Blues Wiehern liegt.
»Vigo! Vigo! Vice!«
Erst als mein einstiger Spielername fällt, fahre ich aus den verworren-düsteren Träumen hoch, starre in diffuse Dunkelheit, in der ich nur schemenhaft ein Gesicht erkenne.
»Gott sei Dank, du bist wach.« Die Worte klingen rau und voller Sorge. Der Griff um meine Arme hingegen wird weicher, geht in ein beruhigendes Streicheln über.
Der Schlaf weicht langsam, desorientiert lasse ich meinen Blick schweifen. Wo ist Blue? Wo sind die Männer, die sie gefangen halten und sie brechen wollen?
Keiner da. Keiner real. Und auch kein Wiehern. Es ist alles still, bis auf rasselnden Atem. Ich brauche einige Sekunden, um zu realisieren, dass es meiner ist, nicht Alecs. Alec, der mich immer noch festhält und nicht wagt, seinen Griff gänzlich zu lösen. Dessen Augen im schwachen Lichtschein, der von draußen hereinfällt, Schreck und Sorge zeigen. Wieder ein Alptraum. Hört das denn niemals auf? Ich sacke in mich zusammen, lasse mich gegen meinen Mann sinken und er legt sofort seine Arme um mich, zieht mich an seine Brust, schenkt mir Sicherheit, die ich in mir drin dennoch nicht fühlen kann.
»Soll ich Dr. Lingholm anrufen?«, raunt Alec mir zu.
Eloy Lingholm ist mein Therapeut in Calgary. Es war naheliegend, dass ich mir jemanden hier vor Ort suche, denn auf Dauer waren die Online-Therapiesitzungen zwischen Alberta und Dallas ineffektiv. Die meisten Praxen in unserem Umkreis sind überlastet, aber Eloy hat mich sofort in seine Kartei aufgenommen. Unter anderem, weil er auch auf Traumatherapie spezialisiert ist. Für mich war es sozusagen Glück im Unglück, dass ich bei ihm gelandet bin, denn er ist nicht nur Psychotherapeut, sondern auch Psychiater. Das bedeutet, neben den Therapiesitzungen kann er mir auch Medikamente verschreiben, wenn es nötig ist. Zwar versuche ich, so wenig wie möglich davon zu nehmen, aber es ist eine zusätzliche Rückversicherung, dass ich zumindest die Option habe.
Seit diese neuen Flashbacks angefangen haben, darf ich ihn jederzeit anrufen, wenn mich eine Panikattacke überrennt und ich allein nicht mehr rauskomme. Aber so schlimm ist es nicht, deshalb schüttele ich ob Alecs Vorschlag stumm den Kopf.
»Deine Tabletten sind in der Küche. Ich kann sie holen.«
»Nein«, lehne ich auch das ab. »Ich mag nicht.« Es wäre sicher leichter, weiterhin Psychopharmaka zu schlucken. Dauerhaft oder zumindest in Momenten wie diesem hier. Aber ich habe die Nase voll von diesen Chemiekeulen, und für meine Arbeit mit den Pferden brauche ich einen klaren Kopf. »Halt mich einfach nur fest«, bitte ich flüsternd, woraufhin Alecs Umarmung noch ein wenig fester wird.
»Solange du willst, Babe.«
Ich genieße die Wärme seiner nackten Haut. Seine Stärke – weniger die seiner kräftigen Muskeln als vielmehr seine innere. Er ist immer souverän, behält die Kontrolle. Die Selbstverständlichkeit, mit der er solche Momente mit mir durchsteht, ist das, was mir die Kraft gibt, nicht durchzudrehen. Wir hatten es nie leicht – nicht zu Beginn unserer Beziehung, als er der Staatsanwalt war, der meinen Vater zur Strecke bringen wollte, und ich ein angehender Eishockeyprofi, der nicht wusste, welche Geschäfte hinter dem Familienimperium stecken und auch nicht, dass er eigentlich auf Männer steht. Jetzt, wo das hinter uns liegt und wir uns ein gemeinsames Leben aufgebaut haben, kämpfen wir mit den alltäglichen Sorgen, die eine Rinder- und Pferderanch so mit sich bringt – und mit meinen inneren Dämonen. Fuck, ich bin so was von kaputt und ich habe keine Ahnung, ob ich je wieder gänzlich heilen werde.
Alec ist einfach da für mich, bedrängt mich nicht mit guten Ratschlägen oder versucht, mich von irgendetwas zu überzeugen. Ich weiß, dass es ihn schmerzt, mich so zu sehen. Er macht sich Sorgen. Das hat er immer schon.
Die Träume von früher waren eigentlich die schlimmeren – zumindest hatten sie einen ernsteren Hintergrund. Diese hier sollten mir daher gar nicht so zusetzen, aber es macht mich verrückt, dass ich sie einfach nicht loswerde. Dass mein Unterbewusstsein so viel stärker zu sein scheint als mein Verstand.
»Geht es wieder?«
Ich vergrabe mein Gesicht an Alecs Hals, atme seinen vertrauten Duft, der mich beruhigt und erdet. Noch ein Hauch vom Sandelholz-Duschgel, mit dem er sich gestern Abend den Schweiß des Tages abgewaschen hat, aber vor allem ganz viel Alec pur.
»Ja, alles gut. Es war nur ein Traum.«
»Es sind gerade viele Träume, Vice.«
Auch jetzt klingt kein Vorwurf aus seiner Stimme. Nur tiefe Sorge. Ich schmiege mich fester an ihn, versuche, so viel Körperkontakt zu bekommen wie möglich, was in dieser halbsitzenden Haltung nicht einfach ist.
Wie spät es wohl sein mag? Ganz sicher zu früh, um aufzustehen, doch der Gedanke, wieder einzuschlafen und erneut den Träumen ausgeliefert zu sein, lässt mich schaudern.
Ich lasse mich zurücksinken und ziehe Alec mit mir, sodass er auf mir liegt. Genieße es, sein Gewicht zu spüren – und die beginnende Erregung bei uns beiden.
Wir kommunizieren ohne Worte. Sanfte, fragende Küsse. Zartes Streicheln. Sex wird nicht alles wieder gut machen und schon gar nicht den Knacks in mir heilen, aber er vertreibt die Schatten für eine Weile. Das ist es, was ich jetzt brauche. Mich in meiner Liebe zu Alec verlieren und mich von unserer gemeinsamen Lust forttragen lassen. Vielleicht bin ich danach entspannt genug, um noch ein paar Stunden traumlos zu schlafen. Solange er mich nur weiter festhält.
Als könnte er meine Gedanken lesen, beginnt Alec, sein Becken gegen meines zu bewegen. Unsere Schwänze reiben aneinander, was mich wohlig schaudern lässt. Mir entkommt ein kehliges Stöhnen, das Alec mit einem innigen Kuss erstickt. Er verhakt seine Finger mit meinen, zieht meine Arme über meinen Kopf und pinnt sie dort auf der Matratze fest. Langsam und genüsslich rollt er mit den Hüften. Ich spüre die Feuchtigkeit unseres Vorsaftes zwischen uns, biege mich ihm entgegen, um mehr Reibung zu bekommen, mehr Kontakt. Es ist mir zu sanft, geht mir nicht schnell genug. Ich brauche ihn. Jetzt sofort und wie eine Naturgewalt, die mich überrollt und alles andere auslöscht.
Alec lässt meine Handgelenke los, streicht federleicht mit seinen Fingern an meinen Armen entlang bis zu den Achseln und von dort über meine Seiten. Kurz reiben seine Daumen über meine Brustwarzen, ehe er den Weg über meine Rippen fortsetzt. Dabei rutscht er Stück für Stück an mir hinab, bedeckt meine Brust und meinen Bauch mit zarten Küssen, leckt spielerisch über besonders sensible Stellen, bis er an meiner Leiste ankommt.
»Alec! Bitte!«
Er weiß, was ich will, und normalerweise kommt er meiner Bitte auch ohne Zögern nach. Diesmal nicht.
Sein Atem streicht warm über meine Erektion, gefolgt von seiner Zunge. Ich winde mich stöhnend, gebe einen frustrierten Laut von mir. Möchte am liebsten die Finger in seine Haare krallen und lasse meine Hände doch da, wo sie sind, weil er es so will und ich das weiß. Jedes Antippen mit der Zungenspitze an meiner Eichel und dem Piercing sendet kleine Stromstöße durch mich hindurch. Genug, um mich beben zu lassen, zu wenig, um mir das zu geben, wonach ich mich sehne. Als sich seine Lippen um meine Spitze schließen und er zart zu saugen beginnt, ist mein ganzer Körper wie elektrisiert. Ein vertrautes Gefühl, das ich einmal geliebt habe und genießen konnte, aber heute reicht es einfach nicht mehr. Gibt mir nicht das, was nötig ist, um die Schatten zurückzudrängen. Mich selbst zu spüren, ohne die Schatten und Zweifel und Ängste, die überall in mir lauern.
Die Sehnsucht danach, in Alecs Mund einzudringen und mir so rasche Befriedigung zu verschaffen, ist groß. Die Sehnsucht danach, ihn in mir zu spüren, noch größer, denn letztlich wird nur das helfen. Für kurze Zeit.
Hart. Schnell. Das ist es, was ich will, weil es mich vergessen lässt. Aber Alec allein hat die Kontrolle darüber, was passieren wird und was nicht. Er drückt meine Hüfte auf die Matratze, signalisiert mir so deutlich, dass das hier nach seinen Regeln laufen wird, und ich habe keine andere Wahl, als es anzunehmen. Also lasse ich mich fallen, nehme, was er mir gibt, ohne zu fordern und bin dennoch bei ihm – geborgen.
***
Ich bin tatsächlich noch mal eingeschlafen. Befriedigt – entspannt – traumlos. Das überrascht mich tatsächlich, weil Alec sich auf nicht mehr als einen Blowjob eingelassen hat. Dafür war der allerdings verdammt intensiv.
Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht, aber immerhin fühle ich mich ausgeruht, als Alec und ich gemeinsam am Frühstückstisch sitzen. Die Unruhe, die mich in letzter Zeit so oft quält, schweigt an diesem Morgen, und ich stelle es nicht infrage.
»Wir sollten gleich als erstes die Rinder separieren, die Bishop nachher mitnehmen soll«, meint mein Mann. »Wenn nicht alles glatt läuft, steht er sonst schon auf dem Hof, während wir noch sortieren, und du weißt, wie ungeduldig der Kerl werden kann.«
Ich nicke, bin in Gedanken aber nur halb bei der Sache.
»Um elf kommt Dan wegen der Stuten.«
Wieder nicke ich stumm, aber bei diesem Thema rattert es in meinem Kopf. Dan Porter, unser Tierarzt, will heute die Trächtigkeitsuntersuchungen durchführen. Unter anderem auch bei Blue. Bei ihr habe ich ein wenig Sorge, ob sie aufgenommen hat. Stress ist nicht selten Auslöser für einen Abort oder eine Resorption, wovon man manchmal gar nichts bemerkt. Und dass sie seit dem Vorfall mit den Viehdieben dauerhaft gestresst ist, kann ich nicht leugnen. Sie ist nicht mehr dieselbe wie vorher. Ihre Souveränität und Coolness sind weg. Stattdessen reagiert sie häufig über und ist zuweilen unberechenbar.
Genau wie ich. Nur dass bei mir noch sehr viel mehr dahintersteckt.
»Hoffentlich sind wir fertig, bis ich zu meinem Termin mit Eloy aufbrechen muss.«
»Mach dir keinen Kopf. Notfalls kann ich sie festhalten, das bekomme ich schon hin.«
Es ist nicht so, dass ich es Alec nicht zutraue, aber er wird härter durchgreifen müssen, damit Blue auch bei ihm stehenbleibt und die Prozedur über sich ergehen lässt. Wieder ein Stressfaktor mehr – für beide. Das möchte ich lieber vermeiden.
»Wir sollten mit Blue anfangen. Die anderen werden keinen Ärger machen, aber bei ihr bin ich nicht sicher.«
Vielleicht sollte ich sie mit zu Eloy nehmen, allerdings bezweifle ich, dass seine psychologischen Fähigkeiten sich auf Pferde ausweiten lassen. Das ist eher mein Fachgebiet. Ich mag den Begriff Pferdeflüsterer zwar nicht, aber die Arbeit, für die ich mich entschieden habe, ist mehr als bloßes Pferdetraining. Da geht es auch um das Bewältigen von Ängsten, schlechten Erfahrungen und seelischen Traumata. Vielleicht kann ich mir also noch ein paar Tipps bei Eloy holen. Wäre mir lieber, wir plaudern über Pferde statt über meine derzeitige Verfassung.
Mich schaudert, wenn ich daran denke, mit ihm über die Träume der letzten Woche zu sprechen, aber es zu verschweigen, ist keine Option. Zum einen bringt mich das nicht weiter und zum anderen merkt Eloy sofort, wenn ich etwas zurückhalte.
Fuck, Anfang des Jahres hatten wir beide noch geglaubt, dass ich die Therapiesitzungen allmählich ausschleichen kann. Es ging mir gut. Aber seit dem Überfall der Viehdiebe ist alles wieder da. Am Tag danach war ich noch optimistisch, die Folgen der Flashbacks schnell in den Griff zu bekommen. Ich habe mich geirrt. Eloy hat mich darauf vorbereitet, dass wir eine Weile mit dem Rückschlag zu kämpfen haben werden. Ich wollte ihm nicht glauben, inzwischen weiß ich, er hat recht, obwohl auch er nicht damit gerechnet hat, dass es so heftig werden würde.
Und bei Blue ist es nicht weniger schlimm. Nicht mal ich kann sie mehr reiten. Sie ist so panisch wie in meinen Träumen, wenn ich es versuche. Wehrt sich gegen den Sattel und gegen jede Form von Druck. Leider gibt es für Pferde keine klassischen Psychotherapeuten. Bei ihr muss ich hoffen, dass die Zeit, viel Geduld und sanftes Training das Trauma beheben werden. Ich habe schon mit Chandler Williams telefoniert, bei dem ich meine Trainerausbildung absolviert habe, aber auch er hat mir lediglich geraten, geduldig und hartnäckig zu bleiben. So etwas braucht Zeit. Ein wenig hatte ich den Eindruck, dass er dabei nicht nur von Blue gesprochen hat.
Alecs warme Hand schiebt sich auf meinen Handrücken. Erst jetzt wird mir bewusst, dass meine Hände zittern.
»Hey, geht es dir wirklich gut?«
Ich zwinge mich zu einem schiefen Grinsen.
»Geht schon. Manchmal erscheint es mir albern, dass mich die Ereignisse so zurückgeworfen haben.«
Es ist letztlich nichts passiert, als dieser Hank und seine Leute kurzzeitig unsere Rinder und vier unserer Pferde – darunter Blue – gestohlen hatten. Binnen vierundzwanzig Stunden hatten wir die Tiere zurück und die Viehdiebe sitzen seitdem hinter Gittern. Niemand wurde verletzt. Aber es fiel ein Schuss, der mich so sehr getriggert hat, dass die beiden früheren Anschläge auf mein Leben jetzt mit aller Macht in meinen Kopf zurückgekehrt sind. Und Blue … tja, ich weiß nicht, was die mit ihr gemacht haben, aber sie traut niemandem mehr, der sich auf ihren Rücken setzen will. Wir haben beide einen ziemlichen Knacks davongetragen, aber irgendwie bekommen wir das wieder hin. Zumindest rede ich mir das täglich ein in der Hoffnung, dass ich es selbst irgendwann glauben kann.
»Es ist nicht albern, Vigo. Es ist verständlich. Und du wirst das überwinden, da bin ich mir ganz sicher.«
Ich weiß, das ist nicht bloß dahingesagt, um mich oder sich selbst zu beruhigen. Alec ist zuversichtlich – manchmal mehr als ich selbst. Genau das brauche ich.
Nach einem letzten Schluck Kaffee atme ich tief durch und schiebe meinen Stuhl zurück.
»Na dann los. Sehen wir zu, dass wir die Rinder in den Corral bringen, damit das Verladen nachher schnell und unkompliziert funktioniert.«
Alec
Nachdenklich schaut Vigo dem Viehanhänger hinterher. Ich weiß, er hängt an jedem einzelnen Tier, aber gerade heute ist er emotional noch sensibler als sonst. Ich wünschte, wir hätten den Viehhändler auf einen anderen Tag vertrösten können, doch so kurzfristig ist das nicht möglich. Außerdem leben wir davon, das ist die nüchterne Realität. Wenigstens haben sie bei uns ein gutes Leben, bis es so weit ist.
»Irgendwie tut es mir leid, dass sie jetzt weg sind«, sagt Vigo leise.
»Ja, mir auch«, gebe ich zu. »Aber dafür züchten wir die Rinder halt. Und ganz ehrlich, bei dem Bullen bin ich sogar froh, dass er weg ist. So oft, wie er einen von uns beiden in den letzten Wochen immer wieder in den Dreck geschmissen hat.«
»Hey, du redest von BamBam.« Mit einem vorwurfsvollen Blick dreht sich Vice zu mir um. War ja klar, dass es ihm gerade um den kleinen Kerl besonders leidtut. »Er wollte doch nur kuscheln. Er hat es aber nie böse gemeint.«
»Mag sein. Gefährlich wurde es langsam trotzdem. Noch ein paar Monate länger und er hätte uns bei seinen Kuschelversuchen regelmäßig die Rippen gebrochen.«
BamBam ist ein Flaschenkind und seine anhaltende Zutraulichkeit daher nicht ungewöhnlich. Ich muss zugeben, dass der Bulle wirklich nie aggressiv reagiert hat, aber bei gut 700 Kilo Lebendgewicht ist seine Anhänglichkeit eben für einen durchschnittlichen Menschen nicht unbedingt angenehm.
»Ist 'ne komische Vorstellung, dass er demnächst als Steak auf einem Teller landet«, meint Vigo und klingt dabei melancholisch.
»Du liebst Steaks«, erinnere ich ihn.
»Gerade denke ich offen gestanden darüber nach, Vegetarier zu werden.« Er schiebt die Unterlippe vor und seufzt noch einmal hinter dem Transporter her. Ich schüttele darüber nur den Kopf.
»Ernsthaft? Ich glaube, Connor färbt langsam zu sehr auf dich ab. Muss ich mir Sorgen machen, dass ich dich zu oft allein zu ihm nach Washington fliegen lasse?«
Jetzt ist Vigo ehrlich schockiert. »Du unterstellst mir damit hoffentlich nicht, ich würde mit ihm anbandeln.«
Lachend klopfe ich ihm auf die Schulter. »Nein, keine Sorge, ich meinte das wirklich rein essenstechnisch. Sein erotisches Interesse fokussiert sich ja eher auf mich. Wobei du ihm mit deinem heißen Kuss zu Weihnachten sicher Appetit gemacht hast.« Ich zwinkere Vigo zu. Tatsächlich hat Connor seitdem immer mal wieder betont, dass er einem Dreier auch nicht abgeneigt wäre, aber das ist weder Vigos Ding noch meins. Und davon abgesehen scheint unser Hacker ja im neuen Job auch schon interessante Kontakte geknüpft zu haben, was mich sehr für ihn freut. Das erinnert mich daran, dass wir dringend mal wieder mit Connor telefonieren sollten. Dank der vielen Arbeit sind die gegenseitigen Besuche aktuell recht selten geworden und der letzte Videocall über Skype ist auch schon wieder sechs Wochen her. Er kann eine Nervensäge sein mit seiner provozierenden Flirterei und seiner Ich-rette-die-Welt-Überzeugung, aber wenn es drauf ankommt, ist er einer der besten und zuverlässigsten Freunde, die ich mir vorstellen kann.
»Reiß dich zusammen, ja? Ein vegetarischer Rinderzüchter ist ziemlich unglaubwürdig, meinst du nicht?«, necke ich Vigo.
»Ja, da hast du wohl recht. Dennoch tut es mir um BamBam leid.«
Wäre er als Zuchtbulle geeignet gewesen, hätte er vielleicht eine Chance gehabt, aber genetisch war das leider uninteressant. In dem Punkt müssen wir wirtschaftlich denken.
»Ich kauf dir einen Mini-BamBam, okay? Den kannst du dann gefahrlos kuscheln, bis er an Altersschwäche stirbt.«
»Das ist nicht dasselbe«, beschwert sich Vice. »BamBam war einfach BamBam.«
Natürlich entwickelt man zu einem Flaschenkalb ein besonderes Verhältnis, aber Vigo muss sich daran gewöhnen, dass auch diese Tiere irgendwann in die Schlachtung gehen. Das gehört dazu. Ich überlege allerdings gerade wirklich, ob ich ihm einen kleinen Zebu-Bullen schenke. Die sind irgendwie niedlich und ich weiß, er würde sofort sein Herz an ihn verlieren.
Bevor ich den Gedanken weiterspinnen kann oder Vigo auf die Idee kommt, dem Viehtransporter hinterherzufahren, um BamBam zu retten, kommt unser Tierarzt auf die Ranch gefahren. Er parkt vor dem Pferdestall und winkt uns zu. Während Vigo bereits auf ihn zugeht, schließe ich noch das Gatter des Corrals, in dem wir die Rinder zwischengeparkt hatten.
»Guten Morgen, ihr beiden«, ruft Dan. »Dann wollen wir mal sehen, wie viel Nachwuchs es gibt.«
Er räumt die Sachen aus seinem Mini-Truck und drückt Vigo eine Tasche in die Hand. Das Ultraschallgerät trägt er lieber selbst. Ich gehe an den beiden vorbei und stelle schon mal die Kiste neben die Waschbox, damit das Hightech-Equipment vor den Pferden sicher ist, falls doch eine der Stuten nach vorne oder zur Seite springt.
Es dauert fast eine Viertelstunde, bis wir mit den Vorbereitungen fertig sind. Inklusive einer improvisierten Haube für den Bildschirm, damit Dan die Details besser erkennen kann.
Fragend sieht Vigo mich an und ich nicke zustimmend. Also geht er zu Blue und zieht ihr das Halfter auf.
Kaum zu glauben, dass ich das bis vor Kurzem ebenfalls noch problemlos tun konnte. Sie aufhalftern, trensen, satteln. Jetzt sind ihre Nüstern selbst bei Vigo gebläht, zucken ihre Ohren und wandert ihr Blick unstet umher. Die Anspannung ist in jedem Muskel zu sehen, was auch Dan auffällt. Sein Blick ist eine Mischung aus Sorge und Mitgefühl.
»Immer noch ein bisschen hektisch, unsere Süße, hm?«
Vigo seufzt. »Hat sich leider nicht nennenswert gebessert. Wir arbeiten weiter dran.«
Dan nickt. »Schaffen wir schon. Wenn sie das hier überstanden hat, darf sie sich ein paar Monate erholen. Bis das Fohlen kommt, hat sie es sicher verarbeitet. Vielleicht lässt du sie den Herbst über einfach ganz auf der Weide. Würde ihr guttun.«
Den Gedanken hatte ich auch schon, aber Vigo hat sich dagegen entschieden. Er will ihr Vertrauen zurückgewinnen und fürchtet, wenn sie sich erst mal daran gewöhnt, unabhängig von Menschen zu sein, wird es nur umso schwerer, wieder einen Draht zu ihr aufzubauen. Wir beide lassen Dans Vorschlag daher unkommentiert. Routiniert führt Vigo Blue an die Waschbox heran und lässt sie rückwärts hineintreten. Sobald er die beiden Gurte schließt, um sie nach vorne zu begrenzen, steigt ihre Nervosität. Die Waschbox ist nur halb so groß wie die normalen Boxen und Enge ist etwas, das sie nur noch schwer aushält. Ein Wunder, dass sie in Moose Jaw so problemlos auf den Hänger gegangen ist. Momentan würden wir sie nicht mal verladen bekommen, wenn sie wegen eines Notfalls in die Klinik müsste. Das bereitet mir hin und wieder Sorgen.
Ich trete von der einen Seite heran und greife vorsichtig nach ihrem Schweif, um ihn beiseite zu halten. Sofort spannt Blue den Rücken an, aber Vigo redet leise auf sie ein, sodass sie stehen bleibt.
»Wird jetzt ein bisschen kalt, mein Mädchen«, warnt Dan sie vor, legt eine Hand behutsam auf ihre Kruppe und beginnt mit der Untersuchung.
Blue macht es ihm nicht gerade leicht, das war bei der Besamung vor drei Wochen schon genauso. Aber sie reagiert immerhin weder panisch noch aggressiv und Dan ist sehr geduldig. Schließlich hat er den Schallkopf korrekt platziert und betrachtet mit zufriedener Miene den Bildschirm.
»Glückwunsch. Das Mädchen ist guter Hoffnung, würde ich sagen. Sieht alles normal aus. Schöne, große Fruchthülle, keine Auffälligkeiten.«
Vier weitere Untersuchungen stehen heute auf dem Plan. Drei weitere Stuten sind schon beim letzten Mal geschallt worden und alle tragend. Für Blue und Taggen wird es das erste Fohlen sein. Die anderen haben ihren diesjährigen Nachwuchs bei Fuß. Nächstes Jahr werden wir voraussichtlich keine Stute decken lassen, denn die Nachzucht muss erst mal ausgebildet und verkauft werden. Zusätzlich zu den Kundenpferden.
»Bring sie am besten raus, damit sie die Spannung abbauen kann«, schlägt Dan vor.
Vigo nickt und löst die Gurte vor der Box. Mit einem Satz springt Blue heraus und ich halte den Atem an, weil ich schon sehe, wie sie sich losreißt und davonrennt. Aber Vigo reagiert schnell und hat sie sofort wieder unter Kontrolle. Mein Herz rast dennoch – auch, weil so eine Situation nicht ungefährlich ist. Wenn er unter die Hufe kommt … Ich bewundere Vigo, dass er die Ruhe selbst bleibt. Er klopft Blue sacht den Hals und redet ununterbrochen auf sie ein, während er sie nach draußen führt.
»Ich bring sie auf die Mutterkoppel«, lässt er mich wissen. »Da fühlt sie sich momentan am wohlsten.«
Was uns hoffen lässt, dass sie eine gute Mutter sein wird. Als Tante ist sie jedenfalls große Klasse. Ich seufze, denn im Zweifelsfall wird das ihr Leben werden, falls Vigo sie nicht wieder reitbar bekommt.
»Hat ein gutes Händchen für Pferde. Muss ich immer wieder sagen«, meint Dan anerkennend. »Er behält die Ruhe, egal was passiert. Das ist gut.«
»Ja, er macht einen guten Job. Die Kunden sind bisher auch sehr zufrieden.«
»Mhm. Ich weiß ja nicht, wie gut er auf dem Eis war, aber es wäre wirklich eine Schande gewesen, wenn er das hier zugunsten einer Profikarriere hätte sausen lassen.«
Die Frage ist wohl, ob Vigo sich überhaupt jemals Gedanken darüber gemacht hätte, Pferde zu trainieren, wenn er weiterhin der Star auf dem Eis gewesen wäre. Aber es ist müßig, darüber zu sinnieren. Vice Sinetti, den Torjäger der Dallas Stars, gibt es nicht mehr. Jetzt ist da Vigo DiCaprio, der sensible Pferdetrainer, und ich habe keine Zweifel, dass mein Mann trotz aller Umstände sehr glücklich damit ist.
Er mag Pferde, allein schon dank seines Onkels. Wer weiß, welchen Weg sein Leben genommen hätte, wenn er seine Karriere regulär beendet hätte. In zehn oder fünfzehn Jahren. Solange er nur nicht ins Sinetti-Imperium eingestiegen wäre …
»Candice ist auch bald so weit, nicht wahr?« Dan reißt mich aus meinen Gedanken.
»Was? Ach so, ja, nein. Wir rechnen Mitte September mit ihrer Läufigkeit. Plusminus eine Woche.«
»Oh, dann wird es ein Herbst/Winter-Wurf.« Unser Tierarzt grinst verschmitzt. »Weißt du, viele sagen ja, dass die Welpen aus den Winterwürfen nichts taugen, aber ich finde, die sind oft robuster als die im Frühling.«
»Wir überlegen, Candice eine Weile ins Haus zu holen, wenn es so weit ist.«
Dan und ich drehen beide unsere Köpfe Richtung Scheunentor. Wir hatten Vigo gar nicht zurückkommen hören.
»Schaut, wie sie es mag. Manche Hündinnen genießen es, andere wiederum wollen lieber draußen sein.«
So wie ich Candice kenne, wird sie es genießen, die kalten Nächte vor dem Kamin zu verbringen. Und Trooper wird unser weiches Herz ausnutzen und sich dazulegen. Sofern sie ihn lässt. Ich muss unweigerlich schmunzeln.
»Kannst du dir eins der Kundenpferde mal anschauen?«, fragt Vice. »Ich hab das Gefühl, die Sehne am rechten Hinterbein ist etwas schwammig. Der Wallach lahmt zwar nicht, aber ich bin mir etwas unsicher, wie stark ich ihn belasten kann. Wäre schön, wenn wir das schnell vorziehen könnten, denn ich muss demnächst los.«
Dan nickt und schaltet den Ultraschall vorübergehend aus. Vigo holt Cashpool aus seiner Box im zweiten Stalltrakt. Wir haben die Kundenpferde und unsere getrennt voneinander untergebracht, weil uns das sicherer erscheint. Die Untersuchung des angehenden Ropinghorses dauert knapp zwanzig Minuten, dann gibt Dan grünes Licht fürs weitere Training. »Bandagier die Beine vor der Arbeit und kühl sie anschließend. Wie gesagt, ist nichts Wildes, in dem Alter reagieren die Sehnen und Bänder zuweilen empfindlich auf die ungewohnte Belastung. Gut möglich, dass der erste Trainer ihn überfordert hat und er deshalb irgendwann anfing, bockig zu werden.«
»Ja, das vermute ich. Hatte aber bisher angenommen, dass es eine rein mentale Sache ist. Aber wenn noch die physische Überlastung dazukommt, ist es umso verständlicher. Ich werde darauf achten.« Vigo schaut auf seine Uhr und zuckt entschuldigend mit den Schultern. »Sorry, ich muss dann jetzt los.«
Von uns nach Calgary ist es eine einstündige Fahrt, aber verständlicherweise will er sich vorher noch rasch umziehen und frisch machen. Mit Stallgeruch auf die Couch muss nicht sein, auch wenn er natürlich bei Eloy nicht wirklich auf einer Couch liegt.
»Mach dir keinen Kopf, wir kommen auch allein zurecht.« Ich umarme Vigo und drücke ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund. »Viel Erfolg bei Eloy. Ruf mich an, wenn der Termin vorbei ist, okay?«
Ich kann es nicht verhindern, dass ich besorgt klinge, denn das bin ich. Nicht, weil ich irgendwelche Zweifel daran hätte, dass Vigo diesen Rückfall wieder überwindet, sondern weil ich spüre, wie sehr er ihn belastet. Bei der Arbeit mit den Pferden ist er nach wie vor voll konzentriert, aber abseits davon wirkt er zuweilen fahrig und zerstreut.
Auch Dan sieht ihm nachdenklich hinterher. »Hat ihn ziemlich mitgenommen, hm?«
Dan weiß nur wenig über Vigos Vergangenheit. Wie die meisten hier, kennt er die Geschichte über seine kurze Eishockey-Karriere und dass ein queerfeindlicher Angriff sie tragisch beendet hat. Das reicht, um Vigos Psychotherapie zu erklären, und warum ihn manche Dinge triggern. Es zu verheimlichen, hätte schnell zu Problemen führen können. Von Sinetti und dem Syndikat hingegen weiß kaum jemand etwas, und das ist gut so. Dementsprechend sieht unser Tierarzt die Gründe für Vigos neuerliche Panikattacken mehr in der kurzzeitigen Bedrohung unserer Existenz durch den Diebstahl und der unverhohlenen Homofeindlichkeit der Viehdiebe, nicht so sehr in dem Schuss und den daraus folgenden Flashbacks.
»Er schlägt sich tapfer. In ein paar Monaten wird er es sicher überstanden haben. Und Blue hoffentlich auch.«
Dan brummt zustimmend und bereitet den Ultraschall wieder vor, während ich die nächste Stute für die Untersuchung hole.
Vigo
»Wie geht es Ihnen aktuell, Vigo?«
Es ist immer dieselbe Frage, die Dr. Eloy Lingholm mir zu Beginn einer Sitzung stellt. Eigentlich könnte ich mir also auf der gut einstündigen Autofahrt eine wohlformulierte Antwort darauf überlegen, was ich aber nie tue. Ich nehme es mir oft vor, doch dann kreisen meine Gedanken um tausend andere Dinge.
»Die Arbeit mit den Pferden läuft gut. Ich bin zufrieden, dass ich mich darauf konzentrieren kann, wenn es drauf ankommt. Also sollte ich wohl nicht klagen.«
Eloy lächelt nachsichtig, senkt für einen Wimpernschlag den Blick, ehe er mich wieder direkt ansieht. Er ist ein faszinierender Mann. Vielleicht auch deshalb, weil er die tiefsten Geheimnisse aus seinen Patienten herausholt, aber rein gar nichts von sich preisgibt, was über seine fachlichen Qualifikationen hinausgeht. Ich weiß nicht einmal, wie alt er ist, auch wenn ich ihn grob auf Alecs Alter schätze.
Im Gegensatz zu meinem Mann hat Dr. Lingholm jedoch blondes, lockiges Haar, das er meist zu einem Manbun gebunden trägt, und graugrüne Augen hinter einer randlosen Brille mit eckigen Gläsern. Seine Hände sind schmal und gepflegt, wie man es bei seinem Job wohl erwarten darf. Er ist schlanker als ich, eher drahtig, aber ich würde ihn nicht unterschätzen, wenn es drauf ankommt. Muss man als Psychiater ein gewisses Maß an Kraft und Geschicklichkeit besitzen, um notfalls aggressive Patienten bändigen zu können? Die Frage stelle ich mir nicht zum ersten Mal.
»Sie weichen mir aus, Vigo. Und außerdem sind Sie gerade nicht bei der Sache.« Er lächelt noch immer. Trotzdem fühle ich mich ertappt, habe das Gefühl, er konnte meine Gedanken lesen, auch wenn er es sich nicht anmerken lässt. Was für ein Privatleben führt jemand wie er? Fühlt sich nicht jeder in seiner Nähe ständig analysiert und durchschaut? Ich stelle mir so was extrem anstrengend – und beängstigend – vor. Mir reicht es schon, dass Alec mich so oft durchschaut, und der ist kein Profi. »Wie geht es Ihnen wirklich, Vigo?«
Ich hasse es, dass Eloy hartnäckig bleibt, wenn ich ihm nicht antworte. Ihm kann ich nichts vormachen. Noch weniger als Alec. Seufzend gebe ich nach.
»Es hat sich nicht viel geändert seit unserem letzten Termin. Nach dem Überfall auf der Sommerweide lässt mich jeder Knall zusammenzucken. Es ist total albern, aber ich werde es einfach nicht los.«
»Haben Sie mit Alec darüber gesprochen?«
»Nein. Und das werde ich auch nicht.«
»Sie wissen, er wird Sie nicht verurteilen, wenn er den wahren Grund für Ihren Rückfall kennt.«
»Es spielt doch keine Rolle, warum ich diese Probleme habe. Schlimm genug, dass sie da sind. Wenn ich mit ihm darüber rede, belastet ihn das nur. Er macht sich auch so schon genug Sorgen um mich. Ich will einfach, dass das wieder aufhört.«
»Sich seinen Problemen zu stellen, ist in der Regel der beste Anfang dafür.«
Obwohl Eloy ruhig bleibt, machen mich seine Worte wütend.
»Ich stelle mich ihnen doch. Ich komme alle zwei Wochen hierher in die Praxis und rede mit Ihnen darüber. Was soll es bringen, wenn ich auch noch Alec mit da hineinziehe?« Es würde ihn zerreißen, wenn er wüsste, wie es mir wirklich geht. Und warum. Nein, soll er nur weiter denken, es läge allein an der Schussverletzung und dem Flashback bei den Viehdieben. Dabei ist das nur eine der vielen Scherben in meiner Seele.
»Und die Träume?«
Fuck! Ich hatte gehofft, um die käme ich herum, aber Eloy weiß genau, was mich belastet und quält. Somit sicher auch, dass ich gerade deshalb nicht darüber reden will. Aber mir ist natürlich bewusst, dass das der falsche Weg ist, wenn ich es überwinden will. Wie er sagt, wenn ich will, dass es besser wird, muss ich mich dem stellen. So schmerzhaft das auch ist.
Er lacht leise, weil ich die Augen verdrehe, ehe ich antworte.
»Sind immer noch da.«
»Schlimmer?«
»Mal mehr mal weniger.«
»Erzählen Sie mir, wovon Sie aktuell träumen.«
Nervös reibe ich mit den Händen über meine Oberschenkel, suche nach den richtigen Worten und sinke tiefer in den Therapiestuhl. Dieses Ding ist auf eine unangenehme Weise bequem. Unangenehm deshalb, weil man sich darin so sehr entspannt, dass es einem schwerfällt, sich zu sperren und gegen Fragen aufzubegehren.
»Manchmal träume ich, dass ich wieder auf dem Eis stehe. Und dann kommt von irgendwoher ein Schläger und trifft mein Knie oder meine Rippen. Ich bin mir dann meist unterschwellig bewusst, dass es nur ein Traum ist, weil ich keine Schmerzen spüre. Aber ich bilde mir dann ein, doch Schmerzen zu spüren. Letztlich ist es aber vor allem die Panik, die ich in jeder Faser spüre. Ich denke, dass ich mich im Schlaf dann zusammenkrampfe und das eine Art Schmerz suggeriert.«
»Sie brauchen nicht zu analysieren, Vigo. Das ist mein Job. Erzählen Sie einfach nur.« Es ist kein Tadel, der aus Eloys Stimme spricht, dennoch fühle ich mich sofort wie ein kleiner Junge, der eine Aufgabe nicht richtig gelöst hat. So, wie ich meinem Vater … wie ich Royce … nie etwas rechtmachen konnte. Shit, den Part mit dem Selbstwertgefühl hatten wir doch nun wirklich abgeschlossen, oder? Dabei muss ich mir eingestehen, dass ich derartige Zweifel schon vor dem Überfall der Viehdiebe hatte und genau das das Problem ist, dem ich mich nicht stellen will. Ich kann einfach nicht. Es tut zu weh. Ich komme mir gerade vor wie ein vollkommenes psychisches Wrack, und das ist absolut kein schönes Gefühl.
»Vigo?« Ich blicke auf in Eloys ernstes, aber freundliches Gesicht. »Was hatten wir zum Thema Bewertung gesagt?«
»Keine Wertung. Es ist völlig in Ordnung, wenn man nicht wie eine Maschine funktioniert, egal, was passiert.«
»Und selbst Maschinen funktionieren nicht zu hundert Prozent fehlerfrei. Aber wir sind alle Menschen, gesteuert von unserem Verstand, und eben auch von unseren Emotionen, die oft den stärkeren Part dabei einnehmen. Rein gar nichts ist verwerflich daran, Gefühle zu haben und von ihnen geprägt zu sein. Im Gegenteil. Das ist eine Stärke, wir müssen nur lernen, sie zu nutzen. Alles ist richtig, solange wir niemandem schaden – auch uns selbst nicht.«
Das war für Dr. Lingholms Verhältnisse ein verdammt langer Vortrag, der mir klarmacht, dass ich gerade wieder in alte Muster abrutsche. Dabei habe ich inzwischen eine ganze Reihe von Mechanismen gelernt, dies zu erkennen und gegenzusteuern. Aber ich schaffe es eben oft nicht, und jedes Versagen schürt erneut das Problem, das ich eigentlich damit bekämpfen will.
»Aber im Grunde stimmt es doch«, spreche ich laut aus, was sich wie eine giftige Schlange durch meine Nerven gräbt. »Ich bin nichts wert. So wie dieser Kerl gesagt hat. Ich bin ein Krüppel. Ich kann nicht meinen Mann stehen, sondern werde zu einem nervlichen Wrack, sobald ich ein Geräusch höre, das auch nur annähernd so klingt wie der Schläger, der meinen Helm trifft.«
Ich kann mich nicht wehren. Ich konnte es nicht auf dem Eis, als Bruce auf mich losgegangen ist. Ich war wie gelähmt. Damals. Heute. Als Hank gefeuert hat, war alles wieder da. Ich lag auf dem Eis, wehrlos und schwach und er hat auf mich gespuckt, auf mich eingeprügelt, mich beschimpft und verhöhnt. Weil ich ein Schwächling bin. Jetzt erst recht, mit dem kaputten Bein.
»Es ist nicht Ihre Schuld, Vigo. Solange Sie den Fehler immer wieder bei sich selbst suchen, drehen Sie sich im Kreis.«
Ich presse die Lippen aufeinander, schlucke gegen die Enge in meiner Kehle und blinzle die Tränen zurück. Keine Schwäche zeigen. Man darf dem Feind keine Schwäche zeigen. So hat Royce es uns beigebracht. So habe ich gelebt. So habe ich gekämpft – auf dem Eis. Und dann …
»Es ist meine Schuld, Eloy. Wenn ich stärker wäre. Kein Krüppel. Kein Feigling. Dann hätten Alec und ich diese Scheißkerle überwältigen können. Zwei gegen zwei. So einen Kampf hätte ich auf dem Eis nie verloren.« Nur gegen Bruce habe ich Mann gegen Mann verloren. Weil ich zu schwach war. »Hätte ich da meinen Mann gestanden, wäre nichts passiert.« Rede ich von den Viehdieben – oder doch von Bruce? Ich weiß es selbst nicht.
Dr. Lingholm antwortet nicht. Er sieht mich nur eindringlich an. Ich höre seinen Atem – ruhig und gleichmäßig.
Geräuschvoll stoße ich meinen Atem aus. »Tut mir leid.«
»Das muss es nicht. Es geht darum, dass Sie erkennen, wenn Ihre Gedanken in eine schädliche Richtung laufen, damit Sie handeln können. Dass das passiert, ist vollkommen normal und in Ordnung.«
Es klingt so leicht, wenn Eloy das sagt. Sowohl, dass es okay ist, als auch, dass ich dann handeln kann. Es zu tun ist aber so viel schwieriger.
»Ist das der einzige Traum? Der Angriff auf der Eisfläche?«
Widerstrebend schüttele ich den Kopf. Meine Kehle wird trocken und ich greife nach dem Glas Wasser, das bereitsteht. Eloy beobachtet mich weiter aufmerksam und ruhig, ohne mich zu drängen.
»Ich träume auch von dem Schuss. Und jedes Mal vermischt sich dieser auf der Sommerweide mit dem vor Alecs Haus und dann mit dem ersten Schlag gegen meinen Schädel, als ich auf dem Eis lag. Es klingt so ähnlich … jedenfalls in meiner Erinnerung.«
»Inwiefern?«
»Es kommt immer ganz plötzlich. Mitten hinein in einen völlig anderen Traum. Ohne jeden Zusammenhang. Ich höre einen Schuss – einen Knall, wo keiner sein dürfte, und dann beginnt mein Herz zu rasen und ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Draußen auf der Weide, auf der Straße oder auf dem Eis im Comerico Center. Manchmal ist Alec auch da und sieht mir mit schreckgeweiteten Augen zu, wie ich falle. Getroffen von dem Schuss – oder dem Schlag. Aber nicht immer.«
»Wie fühlen Sie sich dabei?«
»Wenn er da ist, hab ich Angst, dass es ihn auch erwischt. Wenn er nicht da ist, gerate ich in Panik, dass ich ihn nie wiedersehe. Ich will flüchten, bin aber wie festgeklebt.« Ich schlucke. Ob Eloy weiter bohren wird? Die Träume von Blue sind neu. Von denen weiß er noch nichts. Wenn ich sie verschweige … doch da sprudelt es bereits wie von selbst aus mir raus. »Meiner Stute geht es ebenfalls schlechter. Sie hat das genauso mitgenommen wie mich. Und seit sie beim Training eher Rückschritte als Fortschritte macht, träume ich auch immer öfter von ihr. Sehe, rieche und fühle ihre Panik und komme mir so hilflos vor, weil ich ihr nicht helfen kann. Als würde ich sie im Stich lassen, zum zweiten Mal, bloß wegen diesem verdammten Bein, das nicht funktionieren will. Oder meiner Angst, die so groß ist, dass sie mich lähmt, statt mich handeln zu lassen.«
»Aber Sie haben gehandelt, Vigo. Sie haben ihre Stute befreit. Das würden Sie immer wieder tun. Und ich denke, Ihre Stute weiß das.«
»Und warum vertraut sie mir dann nicht mehr? Ich denke, sie weiß genau, dass sie sich nicht mehr auf mich verlassen kann. Deshalb geht sie das Risiko erst gar nicht ein.« Meine Kehle ist rau und eng.
»Sie bewerten sich schon wieder selbst. Manche Dinge haben Sie nicht in der Hand. Ich bin sicher, Sie tun Ihr Bestes. Das wird auch Ihre Stute spüren. Geben Sie sich und ihr Zeit. Machen Sie den Anfang, indem Sie sich selbst wieder vertrauen. Dann wird sie es auch tun. Aber ich denke, sie spürt, dass Sie noch nicht bereit sind.«
Das ist er dann wohl, der Psychiater-Tipp für mein Pferdetraining. Darauf hätte ich echt verzichten können.
»Gibt es denn Auslöser, die Sie mit den Träumen verknüpfen können? Bestimmte Dinge, die den einzelnen Träumen vorausgehen. Ein erkennbares Muster.«
Ich zucke vage mit den Schultern. »Die Träume von Blue kommen meist, wenn wir einen besonders schlechten Tag miteinander hatten. Die anderen … nein, da kann ich keine Muster feststellen. Manche Nächte sind traumlos, in anderen überfallen mich die Träume gleich mehrfach.«
»Mhm!« Eloy notiert sich etwas in seinen Unterlagen. Ich bin es gewohnt, dass ich nie erfahre, was genau er aufschreibt, aber mit den Notizen bereitet er wohl jeweils die nächste Therapiesitzung vor.
»Erzählen Sie mir, was besonders positiv war seit unserem letzten Treffen.«
»Sie meinen vermutlich nicht, was zwischen mir und meinem Mann …« Mit der Andeutung bringe ich ihn zum Lachen. »Wenn Sie es für wichtig erachten, dürfen Sie bei mir über alles sprechen. Auch darüber. Sie wissen, dass ich unter anderem auch Sexualtherapeut bin, aber ich habe nicht den Eindruck, als würden Sie Ihre Beziehung betreffend meine Hilfe brauchen.«
Nein, wenn etwas in meinem Leben perfekt ist, dann meine Liebe zu Alec. In all ihren Aspekten.
»Ich habe bisher noch nicht wieder auf die Medis zurückgreifen müssen«, biete ich daher eine Alternative an.
Nachdenklich wiegt Eloy den Kopf von einer Seite zur anderen. »Sie sagen das mit sehr viel Stolz, Vigo. Warum?«
Ich bin im ersten Moment verwirrt. »Das ist doch ein Fortschritt, oder? Dass ich sie nicht zwingend brauche.«
»Ist das so?«
»Was meinen Sie? Ob ich es als Fortschritt sehe oder ob ich sie wirklich nicht brauche?«
»Nun, wenn Sie selbst die Frage so stellen, was ist dann Ihre Antwort, Vigo?«
Ich stoße einen knurrenden Laut aus. »Müssen Sie meine Fragen eigentlich immer mit Gegenfragen beantworten?«
»Tue ich das?«
Ich schnaube. »Ist das nicht offensichtlich? Gerade schon wieder.«
Er schmunzelt. »Es ist nicht meine Aufgabe, Ihnen Antworten zu geben, Vigo. Sondern, Ihnen dabei zu helfen, diese selbst zu finden.«
»Also ich empfinde das als Fortschritt. Und nein, ich brauche sie nicht. Ich komme ganz gut ohne klar. Von den Träumen mal abgesehen.« Und den gelegentlichen Flashbacks, aber die sind wirklich extrem selten. Davon brauche ich gar nicht erst …
»Sagten Sie nicht, alles, was sich nach einem Knall, einem Schuss, anhört, triggert Sie? Das dürfte sich nicht auf die Träume beziehen, oder?«
Fuck!
»Das ist wirklich immer nur kurz. Ich fange mich sofort wieder.«
Eloy sieht mich einfach nur an. Er wartet. Ich weiß nicht, worauf. Oder vielleicht weiß ich es doch und will es nur nicht wahrhaben.
»Sie meinen, ich soll sie doch wieder nehmen«, stelle ich resigniert fest.
»Ich meine gar nichts, Vigo. Ich versuche, Ihnen Möglichkeiten aufzuzeigen. Es ist immer Ihre Entscheidung, welche davon Sie nutzen.«
»Ich habe Angst, nicht wieder davon loszukommen«, gestehe ich.
Verständnisvoll nickt Eloy erneut. »Sie meinen, wegen Ihrer Mutter. Aber bei Ihnen geht es ja nicht um eine Flucht, sondern um eine kontrollierte Hilfe. Die wir jederzeit gemeinsam wieder ausschleichen können. Ich bin dabei an Ihrer Seite. Ich würde nicht zulassen, dass Sie in eine Sucht rutschen. Und davon abgesehen kann ich Ihnen aus meiner langjährigen Praxiserfahrung sagen: Menschen, die eine solche Angst davor haben, süchtig zu werden, werden es nicht.«
Ich weiche seinem Blick aus. »Kann sein. Aber ich möchte dennoch so wenig Tabletten wie möglich schlucken. Ich fühle mich damit einfach nicht wohl.«
Er nickt. »Natürlich. Letzten Endes ist es Ihre Entscheidung. Wäre es für Sie dennoch in Ordnung, wenn ich Ihnen ein Rezept ausstelle? Es gibt ein relativ neues Medikament, bei dem der Gewöhnungseffekt eher gering ist, aber es könnte Ihnen mehr Ruhe verschaffen. Vielleicht überlegen Sie es sich und probieren es damit. Sie würden es sich selbst leichter machen. Wir sehen uns dann nächste Woche, in Ordnung?«
Damit verkürzt er ohne große Worte unser aktuelles Intervall von zehn Tagen auf sieben. Beunruhigt mich das? Ein wenig. Immerhin genug, um tatsächlich darüber nachzudenken, das Rezept nicht nur mitzunehmen, sondern es auch einzulösen und vielleicht diesmal Dr. Lingholms Rat zu befolgen und es mit dem Medikament zu versuchen. Weil eine bösartige kleine Stimme tief in meinem Inneren mir zuraunt, dass ich es in Wahrheit doch brauche – und Eloy das im Gegensatz zu mir eben weiß.
Alec
Dan und ich brauchen fast zwei Stunden, bis wir fertig sind. Länger als geplant, aber bei Tieren etwas erzwingen zu wollen oder mit Hektik zu arbeiten, bringt eben nichts. Ich habe Dan gerade erst verabschiedet und packe ein paar Sachen in meinen Truck, um Löcher in den Zäunen zu flicken, da sehe ich einen Jeep durch unser Ranchtor fahren.
Mit gerunzelter Stirn sehe ich dem fremden Wagen entgegen, bis ich erkenne, wer hinter dem Steuer sitzt.
»Jack?«
Inspektor Jack Bovers, mit dem ich vor drei Jahren gemeinsam im Sinetti-Fall ermittelt habe, hält neben mir, lässt die Scheibe herunter und grinst mich breit an.
»Hallo Alec. Kleiner Überraschungsbesuch. Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
Ich grinse zurück. »Keineswegs. Wir können hier immer ein paar starke Hände gebrauchen.«
Er schnaubt und klopft mit der flachen Hand einmal gegen die Wagentür. »Ich park da drüben, ja?« Er deutet zur Blockhütte direkt neben dem Haus. »Bekomm ich einen Kaffee, ehe du mir eine Mistgabel in die Hand drückst?«
»Wie wäre es mit Hammer und Zange statt der Mistgabel. Ich wollte gerade rausfahren, ein paar Zäune reparieren. Aber den Kaffee kannst du haben.«
»Klingt gut.«
Stirnrunzelnd sehe ich ihm nach, als er zur Hütte fährt, um dort seinen Wagen abzustellen. Irgendetwas ist anders an ihm. Er wirkt angespannt.
Ich gehe schon mal voraus in die Küche, um meinem unerwarteten Gast den gewünschten Kaffee zu machen. Dabei werfe ich einen Blick auf mein Smartphone, aber Vigo hat sich noch nicht gemeldet. Natürlich nicht, sein Termin ist noch nicht vorbei.
Ich mache mir selbst ebenfalls einen Kaffee, nachdem ich Jack versorgt habe, und setze mich zu ihm an den Esstisch.
»Ah, das tut gut. War 'ne anstrengende Anreise.«
Ich mustere ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. »Es ist ja auch nicht gerade um die Ecke. Was treibt dich aus Dalls hierher? Und vor allem, so spontan, dass du nicht mal vorher anrufen konntest. Ich meine, nicht, dass wir dich nicht hier haben wollen, aber vier Stunden Flug und eine Stunde Autofahrt hier raus. Das wird Gründe haben, oder etwa nicht?«
Der verstohlene Blick, den er mir zuwirft, befeuert mein Misstrauen. Irgendwas ist hier faul. Dieses unbestimmte Rumoren verspüre ich schon seit Weihnachten in mir, als Agent Lucinda Shaw diesen Spontanbesuch mit Jude initiiert hat. Der ebenfalls keine schönen Hintergründe hatte, sondern vielmehr eine Ahnung hinterlassen hat, dass da noch etwas auf uns zurollt. Ist Jack aus denselben Gründen hier?
»Wir vermissen dich wirklich, Alec«, gesteht Jack unvermittelt und überrascht mich damit zunächst. Beschwichtigend hebt er die Hände. »Ich habe mich mit Granger arrangiert, und inzwischen mag ich den Kerl auch ganz gern, aber er ist einfach nicht du. Denkst du nicht, es hätte trotz aller Umstände Möglichkeiten gegeben, dass du weiterhin Staatsanwalt bleibst?«
Ich schüttele den Kopf. So sehr es mir schmeichelt, dieses Kapitel meines Lebens ist Geschichte. Ich bereue meine Entscheidung, mit Vigo neu angefangen zu haben, nicht im Geringsten. Mein Antrieb, weshalb ich unbedingt Staatsanwalt werden und die Taten meines Vaters wiedergutmachen wollte, hat sich mit Sinettis Tod verloren. Warum auch immer. Vielleicht, weil Dad eben nicht mit ihm paktiert hat, wie ich all die Jahre vermutet hatte, sondern die Verbrecher bestohlen hat. Ändert das etwas? Nicht wirklich. Er war korrupt, er hat sich strafbar gemacht und er war ein Arschloch. Dennoch ist da nichts mehr übrig von dieser Unruhe, die mich all die Jahre getrieben hat. Das mag auch an Vice liegen. Bei ihm bin ich angekommen. Aber was es auch ist, es ist gut so, wie es gekommen ist. Dafür ist nun eben diese neue Unruhe da, und mit jedem Wort von Jack wächst sie eher, als dass sie schwindet. Dennoch dränge ich sie zurück, will keine Gespenster sehen oder gar heraufbeschwören.
»Ach Jack, du weißt selbst, dass es vom Job abgesehen auch sonst schwierig für uns geworden wäre, weiter in Texas zu bleiben. Beide out und ich weiterhin im Fokus eines Milieus, das wenig Skrupel kennt. Noch dazu hätte man Vigo dort doch ständig auf seine Familie angesprochen. Der Name Sinetti war schließlich auch außerhalb von Dallas eine bekannte Größe.«
Er nickt, auch wenn er weiterhin nicht glücklich damit aussieht. Dennoch widerspricht er mir nicht. Es ist und bleibt eben eine Tatsache, dass man in Texas als schwuler Mann immer noch geächtet ist. Erst recht, wenn man so einen Posten bekleidet wie den des Oberstaatsanwaltes. Und für Vigo hätte es in Dallas kaum eine Zukunft gegeben. Nicht auf dem Eis und auch sonst nicht. Alles, was der Familie Sinetti je gehört hat, wurde beschlagnahmt. Klar, auch in Texas hätte man Rinder züchten können, aber die Riege der Rancher dort ist durch und durch homofeindlich eingestellt, was uns die Geschäfte unnötig schwer gemacht hätte. Dann noch Vigos Background mit dem Sinetti-Clan. Nein, es war die absolut richtige Entscheidung, hier in Kanada neu anzufangen.
»Ja, vermutlich hast du recht. Aber du fehlst uns. Mit deinem Nachfolger werde ich einfach nicht warm. Und jetzt, wo Betty auch noch in den Ruhestand gegangen ist …«
Vor zwei Monaten hat meine einstige Sekretärin ihren Job an den Nagel gehängt und kümmert sich nun ausschließlich um ihre Familie, zu der wir uns erfreulicherweise ebenfalls zählen dürfen. Ich hoffe, dass sie uns bald mal wieder besucht, aber momentan ist sie bei Paul und Aiden in Massachusetts. Mit einem Lächeln denke ich an die Hochzeit der beiden zurück, zu der Betty mich und Vigo damals eingeladen hatte und auf der wir das erste Mal unbesorgt unsere Gefühle füreinander zeigen konnten. Rückwirkend betrachtet war dieses Wochenende vor allem für Vigo ein großer Schritt zu sich selbst, weil man ihn dort nicht als Sinettis Sohn wahrgenommen hat, sondern einfach als den Mann, der er war und ist. Die uneingeschränkte Akzeptanz dieser fremden Leute hat ihm damals Mut gemacht. Dafür bin ich Betty noch immer unendlich dankbar.
»Ihre Nachfolgerin hat sich doch gut eingearbeitet. Jedenfalls soweit Betty mir erzählt hat.«
»Hm«, brummt Jack. »Aber sie ist jung und … eben einfach nicht Betty.«
Er seufzt theatralisch. Dabei hatte ich nie den Eindruck, dass er und Betty so ein inniges Verhältnis gepflegt hätten. Nicht während meiner Zeit in Dallas und auch nicht danach. Sie sind über mich und Vigo inzwischen befreundet und haben natürlich durch ihr Jobs häufig miteinander zu tun gehabt, mehr aber auch nicht.
Mein Kaffee ist leer, auch Jack starrt einen Moment unschlüssig in seine Tasse. Ich spüre, wie sich die Luft zwischen uns auflädt – nicht auf eine gute Weise. Ich war noch nie der Mensch, der lange um den heißen Brei herumschleichen konnte. Scheiß auf die Zäune, die kann ich auch später noch reparieren, mit oder ohne Jack. Aber ich will jetzt wissen, was los ist und wieso mein Instinkt mit jeder Minute, die verstreicht, lauter schreit.
»Warum bist du wirklich hier, Jack? Sicher nicht, um über alte Zeiten zu sprechen oder über meinen Nachfolger zu klagen. Ersteres haben wir oft genug getan und letzteres ist eigentlich nicht deine Art. Also, was treibt dich den langen Weg hierher?«
Noch einmal sieht er mich nachdenklich an, seine Mundwinkel zucken und in seine Augen tritt ein dunkler Schatten.
»Jude Ashley ist tot.«
Die Worte gleichen einem Faustschlag in den Magen. Schlagartig scheint die Temperatur im Raum zu sinken und mir schießen tausend Dinge durch den Kopf. Vor allem, wie Vigo darauf reagieren mag. Ob es ihn noch mehr zurückwirft.
Vice vergöttert Jude und hängt an ihm, auch wenn es nicht von der Hand zu weisen ist, dass er in üble kriminelle Geschäfte verstrickt war und für Royce Sinetti eine menge schmutziger Jobs erledigt hat. Aber er hat Vigo auf davor beschützt, in dieses Milieu abzurutschen und uns beiden letztlich das Leben gerettet.
»Wie ist das passiert? Und woher weißt du davon?«
Ich hatte gleich den Eindruck, dass bei dem Besuch zu Weihnachten etwas nicht stimmte, und die Information, Jude müsse noch einen letzten Job erledigen, nur die halbe Wahrheit war. Und jetzt soll er tot sein?
»Lucinda Shaw hat mich gestern angerufen und darüber informiert. Da sie momentan nicht aus Washington fortkommt, hat sich mich gebeten, zu euch zu fahren und es euch zu sagen. Sie hätte Connor damit beauftragt, aber der Junge ist seit fast einem Monat verschwunden.«
Alarmiert horche ich auf. Allmählich dreht sich alles in meinem Kopf. Jude tot, Connor verschwunden – gibt es da einen Zusammenhang? Ich muss die Frage nicht stellen, damit Jack sie beantwortet.
»Der Junge ist an einem Fall dran. Mehr konnte sie mir darüber natürlich nicht sagen. Du weißt ja, alles, was das FBI tut, ist topsecret. Aber deshalb muss ich euch nun die traurige Nachricht überbringen. Viele Details habe ich nicht. Eigentlich geht es nur darum, euch das hier zu geben.«
Ich nehme das Kuvert entgegen, das er mir reicht. Darin befindet sich eine einfache Karte, auf der ein Datum und die Adresse eines Friedhofs in New Orleans aufgedruckt sind.
»New Orleans?« Was hat Jude mit New Orleans zu tun?
Jack hebt die Schultern. »Frag mich nicht. Ich denke, er wird da im Gefängnis gewesen sein.«
»Gefängnis? Es hieß doch, die restliche Haft sei erlassen worden? Was stimmt den nun?«
Beschwichtigend hebt Jack die Hände. »Frag mich nicht, ich kann dir auch nichts Genaues sagen. Es gehen Gerüchte um über einen Fluchtversuch und dass man ihm die Bewährung deshalb gestrichen hat, aber das ist alles unbestätigt. Vielleicht stammt auch seine Familie aus New Orleans. Lucinda wird es wissen. Zur Beerdigung wird sie ebenfalls anreisen.« Mit besorgter Miene sieht Jack mich von der Seite an. »Wie, denkst du, wird Vigo das aufnehmen? Jude hat ihm viel bedeutet. Wenn ich daran denke, wie sehr ihn das an Weihnachten aufgewühlt hat …«
Ich schlucke, mag mir das gar nicht ausmalen. Es wird ihm den Boden unter den Füßen wegreißen. Aber mir bleibt keine Wahl. Er muss es erfahren. Und zwar so bald wie möglich, denn die Beerdigung ist schon in drei Tagen.
Vigo
»Ich hasse Beerdigungen.«
Wortlos legt Alec seine Hand auf meine Schulter und drückt leicht zu. Eine Geste, die mir Trost und Halt gibt, den Schmerz in meinem Inneren aber nicht mildert.
Den Flug von Calgary nach New Orleans habe ich wie durch Watte erlebt. Alles erscheint mir unwirklich seit dem Moment, in dem ich auf der Ranch ankam und Jack und Alec in die Gesichter gesehen hab. Die Endgültigkeit dessen begreifend, was sie noch nicht ausgesprochen hatten.
Es ist mir nicht peinlich, dass ich in Jacks Gegenwart zusammengebrochen bin, als Alec mir gesagt hat, Jude sei tot.
Tot.
Wie kann er tot sein?
Er war immer für mich da. Ein fester Bestandteil meines Lebens. Mein einziger Halt, ehe Alec in mein Leben getreten ist. Und nun werde ich ihn nie mehr wiedersehen.
Tausendmal habe ich in Gedanken seitdem seinen Besuch an Weihnachten durchgespielt. Was ich ihm noch alles hätte sagen sollen. Vorbei. Zu spät.
Ich war in meinem Leben noch nicht auf vielen Beerdigungen. Es gab keinerlei Grund für mich, zu Royce Sinettis Beisetzung zu gehen, und sonst ist aus der Familie, die ich kannte, niemand gestorben. Die Menschen, die Royce auf dem Gewissen hatte, bekamen keine Blumen ans Grab von der Familie Sinetti.
Dass ich einmal an Judes Grab stehen würde, war zu erwarten gewesen. Aber nicht so. Und vor allem nicht schon jetzt. Es ist zu früh, es ist auf die falsche Weise geschehen, obwohl wir an und für sich nicht viel über das Wie wissen. Nur, dass ein Mithäftling ihn mit einer selbstgebastelten Waffe erstochen hat. Direkt in den Hals. Mich schaudert, wenn ich darüber nachdenke, ob Jude gelitten hat. Was für Gedanken ihm wohl in den letzten Sekunden seines Lebens durch den Kopf gegangen sind.
Himmel, es ist gerade acht Monate her, dass wir uns gesehen haben. Ich habe ihn gebeten, dass er wiederkommt, und das hat er doch auch versprochen, oder nicht? Ich kann mich nicht mehr an seine Worte erinnern. Da waren so viele verwirrende und bedrückende Emotionen an diesem Abend.
Überhaupt, dieser Abend. Haben wir uns nicht alle gewundert, dass er vorzeitig aus der Haft entlassen wurde? Agent Shaw hat uns nie gesagt, wo sie ihn hingebracht hat, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass es ein anderes Gefängnis sein sollte. Stimmt die Geschichte dann überhaupt? Oder ist die Wahrheit noch viel schlimmer?
Mir wird schwindlig und Alec merkt es sofort, stützt mich mit einer Hand im Rücken, die andere packt fester um meinen Oberarm. So gehen wir Seite an Seite auf den Sarg zu. Vollkommen unangebracht frage ich mich, wie ein Kerl so groß wie ein Bär in diese schmale Kiste passt. Aber das ist vermutlich bloß die Form des Sarges, die zu einer optischen Täuschung führt.
Meine Hand zittert, als ich sie ausstrecke und auf das Holz lege. Es ist warm von der Sonne. Der Körper, der darin liegt, hingegen kalt. Oder wärmt die Sonne ihn ebenfalls? So wie bei einem Auto, auf das sie stundenlang scheint. Ich weiß es nicht.
Mein Blick schweift über die kleine Trauergemeinde. Viele sind es nicht, die Jude das letzte Geleit geben. Er hatte keine Familie. Zumindest keine, von der einer von uns wüsste. Vielleicht auch besser so.
Neben mir und Alec sind noch Jake, Agent Shaw, Alecs Mom Alexis und meine Mutter da. Sonst niemand. Der Pastor nickt Lucinda zu und will gerade zur Grabrede ansetzen, da hält ein Wagen auf dem Kiesweg oberhalb der Gräberreihe, in der Judes letzte Ruhestätte sein wird. Ich sehe, wie der Pastor stutzt, die FBI-Agentin hingegen wird stocksteif. Alecs Hand gleitet an meinem Rücken herunter und um meine Taille, also spürt er auch, dass sich gerade eine Spannung aufbaut, die nicht da sein sollte. Ich suche Jacks Blick, der lediglich die Stirn runzelt und offenbar auch nicht versteht, was hier vorgeht. Als sich die Türen des Wagens öffnen, halte ich für einige Herzschläge den Atem an, doch es steigen keine Männer mit Sonnenbrillen und Waffen aus, die uns alle über den Haufen schießen wollen, sondern eine mir unbekannte Familie.
Ein Mann Anfang vierzig mit hellbraunen, leicht gelockten Haaren und eine Frau, nur unwesentlich jünger, die ihre blonden Haare zu einem Knoten im Nacken geschlungen hat. Sie legt einen Arm und die Schultern eines Jungen, den ich auf dreizehn oder vierzehn schätze. Seine Haare sind dunkler als die seines Vaters, die Augen von einer Sonnenbrille verdeckt. Dennoch habe ich selbst auf die Entfernung hin das Gefühl, sie bohren sich in mich hinein und sind … auf unangenehme Weise vertraut. Eine Mischung aus Wut und Trauer liegt in der Miene des Jungen, während er trotzig das Kinn vorreckt.
Lucinda geht den Dreien entgegen, woraufhin der Vater seiner Frau etwas zuraunt und dann der Agentin allein gegenübertritt. Sie sind etwa fünfzehn Meter von uns entfernt, doch es ist so still auf dem Friedhof, dass der Wind ihre Worte dennoch zu uns trägt.
»Sie hätten nicht hierherkommen dürfen, Daniel«, zischt Lucinda.
»Wir waren vorsichtig«, antwortet der Mann, während seine Frau und der Junge noch kurz zögern, ehe sie auf sein Nicken hin zum Sarg gehen und dort stehen bleiben. Direkt uns gegenüber, nur auf der anderen Seite der Holzkiste.