Plötzlich Undercover 2 - Johanna Danninger - E-Book

Plötzlich Undercover 2 E-Book

Johanna Danninger

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Beschreibung

Tina Müller ist frustriert. Ihre neue Chefin macht ihr das Leben zur Hölle und die Beziehung zu einem Geheimagenten gestaltet sich weit schwieriger als gedacht. Jayden Scott kommt und geht wie er will. Mit seiner Verschwiegenheit treibt er sie nahezu in den Wahnsinn. Als Tina schließlich ihre Arbeit verliert, steckt sie vollends in einer tiefen Krise. Da kommt es ihr gerade recht, dass der BND ihr einen Undercover-Job in Frankreich anbietet. Diesmal hochoffiziell, gut bezahlt und mit ihrem Bruder Joe an der Seite. Was sollte denn da schon schiefgehen? *** "Ein Agent zum Durchdrehen" ist der zweite Band der Plötzlich Undercover-Dilogie. Überarbeitete Fassung der Erstauflage von 2021.

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Seitenzahl: 455

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog

Impressum neobooks

Johanna Danninger

PLÖTZLICH

UNDERCOVER

Ein Agent zum Durchdrehen

Kapitel 1

Montag, 09. März 2021, 13:05 Uhr

München, SysCom Firmenzentrale, Chefetage

Das Klackern unzähliger Computertastaturen erfüllte das Großraumbüro. Ab und an gesellte sich das Schrillen eines Telefons dazu, doch ansonsten bot die Geräuschkulisse nicht viel Abwechslung. Das moderne Gebäude der Münchner Softwarefirma SysCom bestand zu weiten Teilen aus Glas, und da ich im obersten Stockwerk mein Dasein fristete, gewährte mir das Dach freien Blick auf den Himmel.

Zumindest, wenn ich mich zurücklehnte, leicht nach links beugte und zwischen den silbernen Lüftungskanälen hindurch spähte. Dann war der Ausblick auf die fluffigen Wölkchen vor dem hellblauen Frühlingshimmel wirklich ganz fantastisch. Und er versicherte mir immer wieder, dass das Leben dort draußen tatsächlich weiterging, während ich hier drin eher den Eindruck hatte, die Zeit würde sich rückwärts bewegen.

Ich seufzte kurz zum Himmel hinauf, bevor ich mich wieder ergeben zu meinem Computer neigte. Sicherheitshalber warf ich einen schnellen Blick in den Glaskasten neben mir. Der darin ansässige Drache hatte meine kleine Unachtsamkeit Gott sei Dank nicht bemerkt, weil er darauf konzentriert war, seine Mittagsbeute in Form eines Sandwichs aus dem Papier zu wickeln.

Der Drache war meine neue Chefin. Sie hieß eigentlich Gertrud Blum, doch dieser Name wurde ihrem Wesen absolut nicht gerecht. Daher die inoffizielle Bezeichnung, die sich genau drei Tage nach ihrer Ankunft in der gesamten Firma etabliert hatte.

Wohlverdient, das stand außer Frage, denn innerhalb kürzester Zeit hatte sie jeden einzelnen Mitarbeiter das Fürchten gelehrt, und zwar auf eine Art und Weise, die nichts mit Respekt zu tun hatte. Die Leute hatten einfach nur mordsmäßigen Schiss vor ihr, weil ihre erste Tat darin bestanden hatte, radikal Stellen zu kürzen. Wer nicht ihrer Meinung war, konnte gleich seinen Schreibtisch räumen. So ungefähr lautete ihr Führungskonzept.

Ich bezweifelte, dass der Drache damit die Arbeitsweise der Mitarbeiter effizient gesteigert hatte. Im Grunde war jegliche Motivation im Nichts verpufft. Sämtliche Aufgaben wurden mit stoischer Gleichgültigkeit erledigt und eine kollektive Depression hatte die Firma ergriffen.

Diese wollte langsam aber sicher auch auf mich übergehen, doch noch wehrte ich mich entschieden dagegen. Obwohl ich als persönliche Assistentin dem Drachen am nächsten war, schien ich die Einzige zu sein, die obgleich des feuerspeienden Antlitzes nicht vor Furcht erzitterte. Ganz im Gegenteil, denn mit jedem ihrer Versuche, mich mit dröhnendem Gebrüll zu unterwerfen, schürte sie nur die kämpferische Wut in mir.

Nein, ich ließ mich ganz sicher nicht von ihr in die Knie zwingen. Immerhin hatte ich mich mit meinem letzten Chef kämpfend über den Rasen gerollt, um zu verhindern, dass er den dritten Weltkrieg anzettelte. Das wusste der Drache zwar nicht, aber es reichte ja, dass ich es wusste.

Mit bösartigen Bossen wusste ich also umzugehen. Zumindest theoretisch, denn noch mimte ich weitestgehend die artige Angestellte. Ich war durch sehr aufreibende Umstände zur Chefassistentin aufgestiegen und sah überhaupt nicht ein, meinen Posten jetzt schon wieder zu räumen. Das war der einzige Grund, der mich aktuell davon abhielt, dem Drachen den Kopf abzuschlagen.

Natürlich nur metaphorisch gesprochen. Ganz so brutal veranlagt war ich dann nämlich doch nicht.

»MÜLLER!«

Na, toll ...

Das Gebrüll des Drachens brachte die Scheiben ihres Büros zum Vibrieren. Und das war nicht metaphorisch gesprochen.

Ich presste die Zähne fest aufeinander und erhob mich würdevoll von meinem Stuhl. Auf dem kurzen Weg in die Drachenhöhle ging ich im Geiste durch, was ich eventuell falsch gemacht haben könnte. Mir fiel auf die Schnelle nichts ein, aber das würde ich ja gleich erfahren.

Furchtlos betrat ich den Glaskasten. Der Drache hatte den Raum neu ausstatten lassen und thronte nun hinter einem rabenschwarzen Schreibtisch aus Klavierlack, in dem sich ihr Gesicht spiegelte. Auch der Rest der Einrichtung war schwarz. Wunderbar passend zu ihrer Seele.

Meine Chefin sah sogar ein wenig aus wie ein Drache. Angeblich war sie fünfzig Jahre alt, doch ausgiebige Solariumexzesse hatten ihre Spuren hinterlassen. Bei der runzligen, ledrigen Gesichtshaut änderte auch das Botox in ihren Lippen nichts mehr daran, dass sie ausschaute wie ein ausgemergelter Medizinball. Ihre Haare waren in einem seltsamen Orangeton gefärbt, was ihre an sich stets adretten Frisuren erheblich herabsetzte. Unter hauchdünnen tätowierten Brauen präsentierten sich schmale Augen, die einen tatsächlich das Fürchten lehren konnten. Sie hatten eine außergewöhnlich hellgrüne Farbe. Definitiv das Werk von Kontaktlinsen, was dem Effekt ihrer giftigen Blicke aber sehr zugutekam.

Mit neutraler Miene trat ich vor ihren Schreibtisch. »Ja, bitte?«

»Was zur Hölle ist das?«, fragte sie scharf und deutete ruppig auf ihr Mittagessen.

»Ein Schinkensandwich«, antwortete ich.

Sie spießte mit ihren klauenartigen Fingernägeln ein Stück Gurke auf und hielt es hoch. »Und das?«

Gott, was wollte die alte Schrulle bitte von mir?

»Das ist eine Gurkenscheibe«, sagte ich in gezwungener Ruhe.

»Genau!« Sie warf die Gurke zurück auf das Sandwich. »Herrgott, Müller! Wie oft muss ich Ihnen denn noch sagen, dass ich Gurken nicht ausstehen kann?«

Ich zog leicht die Brauen zusammen. Diese Information war mir definitiv neu. Außerdem war ich mir sicher, dass sie erst letzte Woche besagtes Gemüse gierig verschlungen hatte.

»Einmal hätte genügt«, erwiderte ich daher spontan.

Kaum hatten die Worte meinen Mund verlassen, wusste ich, dass ich mich bereits gefährlich nahe an die kündigungswürdige Aufmüpfigkeit gewagt hatte. Schon verengte der Drache die künstlichen Augen zu Schlitzen und bedachte mich mit ihrem berühmt-berüchtigten »Knie nieder oder du wirst sogleich im Feuer meines Atems verglühen«-Blick.

Mist.

Ich hüstelte und zwang mir ein demütiges Lächeln ins Gesicht. »Aber jetzt weiß ich es. Ich werde dafür sorgen, dass Gurken ab sofort nicht mehr in Ihre Nähe kommen.«

Der Drache blähte die Nüstern. Schließlich lehnte er sich aber zurück, ohne Flammen in meine Richtung geniest zu haben.

»Enttäuschen Sie mich nicht«, sagte meine Chefin ernst.

Natürlich nicht. Wie könnte ich es wagen, ihr Leben schwerstens zu beeinträchtigen, indem ich sie abermals mit Gürkchen konfrontierte?

Mein Gott, diese Frau war doch einfach nur bescheuert ...

»Brauchen Sie sonst noch etwas?«, fragte ich höflich.

»Nein, Tina, das wäre für den Moment alles.«

Wir waren also wieder beim Vornamen. Gut, denn das bedeutete, dass mein Arbeitsverhältnis vorerst in Sicherheit war.

Ich nickte brav und zog mich aus der Drachenhöhle zurück.

Innerlich kochte ich vor Wut. Dabei war ich in erster Linie sauer auf mich selbst, weil ich mir so einen Schwachsinn überhaupt anhörte. Ich wusste ganz genau, dass ich meine Arbeit hervorragend machte, und das sogar, obwohl wir das gleiche Pensum vor nicht allzu langer Zeit noch zu zweit bewerkstelligt hatten.

Der Drache gewährte mir jedoch keine Assistentin. Laut ihren Worten käme das nur in Frage, wenn ich diese von meinem eigenen Gehalt bezahlen würde, weil es - ich zitiere: In Herrgotts Namen mein verfluchter Job war, den ganzen Scheiß alleine auf die Reihe zu kriegen.

Tja ... also kriegte ich den ganzen Scheiß halt irgendwie alleine auf die Reihe. Mit entsprechenden Überstunden.

Spaß machte das freilich nicht, aber wer hatte schon Freude an seinem Job?

18:05 Uhr

München, SysCom Firmenzentrale, Haupteingang

Nach Feierabend reihte ich mich in den Strom der Flüchtenden ein, quetschte mich in den völlig überfüllten Aufzug und ließ mich im Erdgeschoss von der Flut durch die Eingangshalle schwemmen.

Mit jedem Meter, den die Mitarbeiter dem erlösenden Vordereingang näherkamen, kehrten auch ihre Lebensgeister hörbar zurück. Gespräche kamen ins Rollen. Manche erinnerten sich sogar wieder daran, wie man lachte ... Die Atmosphäre war regelrecht befreiend.

Ich reihte mich vor meiner Kollegin Jule in die lange Schlange vor der Sicherheitsschleuse, an der sich jeder elektronisch ausloggen musste. Zwei Wachmänner standen am Rande und beobachteten gelangweilt das Geschehen. Wie so oft musste ich daran denken, dass ihr Job eigentlich völliger Blödsinn war, denn jeder Idiot konnte alles Mögliche an ihnen vorbeischmuggeln, solange er im Besitz eines Mitarbeiterausweises war.

Okay, die Entwicklungsabteilung war schon gesondert gegen Industriespionage gesichert, aber schließlich hatte ich selbst vor einem halben Jahr brisante Daten vom PC meines damaligen Chefs gestohlen und einfach in meiner Handtasche nach draußen getragen. Dieser Umstand war jedoch nie bis zum Firmenvorstand vorgedrungen. Dafür hatte der Bundesnachrichtendienst gesorgt. Aber dass sie meine Weste reinwuschen, war ja wohl auch das Mindeste, nachdem ich zum Wohle der Nation mein Leben riskiert hatte.

Da ich einen ganzen Berg Aktenmappen auf den Armen trug, kam ich trotz aller Verrenkungen nicht an den Ausweis ran, der an meiner Brust baumelte. Hinter mir staute sich schon alles, weil mir während meiner Bemühungen auch noch die Handtasche bis zum Ellbogen rutschte und da ich den Reißverschluss nicht geschlossen hatte, drohte sich nun der gesamte Inhalt auf den Fliesenboden zu ergießen.

Mich trennte nur noch ein Zentimeter von der Katastrophe, beziehungsweise von der Stampede fliehender Mitarbeiter, die mich zweifellos unter sich begraben würde, sobald ich mich nach dem Handtascheninhalt bückte.

Jule bewahrte mich letztlich vor diesem grauenvollen Schicksal, indem sie mir beherzt an den Busen fasste, meinen Ausweis am Zipper lang zog und ihn an den Scanner hielt, damit sich die halbhohen Schleusentüren für mich öffneten.

»Danke«, schnaufte ich erleichtert und balancierte meine Fracht aus dem Gefahrenbereich zu dem deutlich sichereren Gebiet vor der breiten Glastür.

»Kein Problem.« Jule holte mich schnell wieder ein. Freundlicherweise schob sie mir auch ungefragt den Riemen meiner Handtasche zurück auf die Schulter und deutete mit dem Kinn auf den Aktenberg. »Was ist das alles?«

»Die Spesenaufstellungen des letzten Quartals. Ich soll die Belege auf Vollständigkeit prüfen.«

»Sollte sowas nicht die Buchhaltung machen?«

Ich seufzte schwer. »Ja. Und das hat sie auch längst getan, aber der Drache bildet sich ein, ich müsste quasi die Überprüfung überprüfen. Lächerlich, ich weiß. Jedenfalls bin ich nicht fertig geworden, darum mach ich später noch ein wenig Homeoffice.«

Die Drehtür entließ Jule und mich surrend ins Freie. Die Sonne war bereits hinter den Hochhäusern Münchens verschwunden und schickte nur noch ein rötliches Licht über den Horizont. Es war kühl, so wie es sich für einen anständigen März gehörte. Ein frostiger Windhauch blies mir umgehend meinen kinnlangen Pony aus dem Gesicht und drapierte ihn spürbar chaotisch über meiner Stirn. In Ermangelung einer freien Hand ließ ich ihn gewähren.

»Schon wieder Homeoffice, ja?«, sagte Jule, während wir nebeneinander über den beleuchteten Vorplatz gingen. »Dein geheimnisvoller Freund ist also immer noch auf Reisen?«

Ihr lauernder Blick bohrte sich in meine Wange. Zum tausendsten Mal fragte ich mich, warum ich ihr überhaupt von meinem Freund erzählt hatte.

Eigentlich war es mir mehr oder weniger rausgerutscht, als sie mich und ein paar andere Kollegen zu einem Afterwork-Drink einladen wollte. Da hatte ich dummerweise unbedacht gesagt, dass ich heute keine Zeit hätte, weil mein Freund auf mich wartete. Und seitdem versuchte Jule unablässig, mehr über diesen ominösen Liebhaber herauszufinden.

Nun, ominös war Jayden Scott zweifellos. Ob die Bezeichnung Freund überhaupt zutraf, wusste ich nicht so genau. Der Begriff war jedenfalls erheblich einfacher gesagt, als ihn als den Mann zu bezeichnen, der in intermittierenden Abständen bei mir auftauchte, mein Herz zum Schmelzen und meine Lenden zum Jubeln brachte, um dann wieder spurlos zu verschwinden.

Ja, unsere Beziehung war ... kompliziert. Erheblich komplizierter als ich es mir vorgestellt hatte. Aber so war das wohl, wenn man sich in einen britischen Geheimagenten verliebte. Da wurde selbst ein Gespräch zwischen zwei Kolleginnen zu einem komplizierten Drahtseilakt aus Höflichkeit und Verschwiegenheit. Doch darin war ich inzwischen recht geübt.

»So geheimnisvoll ist er gar nicht«, tat ich also gekonnt ab. »Durch seinen Job in der Logistikbranche ist er eben viel auf Reisen.«

»Wann kommt er denn wieder?«, fragte Jule neugierig.

»Normalerweise am Donnerstag.«

»Normalerweise?«, hakte sie sogleich nach.

Wenn es um Untertöne ging, hatte Jule echt Ohren wie ein Luchs.

»Na ja ...« Ich zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Das kann sich oft kurzfristig ändern, wenn es irgendwo Probleme gibt. Darum verlasse ich mich lieber nicht allzu sehr darauf.«

Das war ausnahmsweise mal die ganze Wahrheit.

»Das klingt anstrengend«, meinte Jule und sprach damit erst recht die Wahrheit aus.

Bevor ich noch etwas dazusagen konnte, hielt sie plötzlich inne und krallte sich aufgeregt an meinen Unterarm. »O mein Gott! Ist er das?«

Da sie mit ihrer Geste meinen Aktenturm bedenklich ins Wanken gebracht hatte, musste ich erst die Balance wiederherstellen, bevor ich den Parkplatz vor uns absuchen konnte. Mein Herzschlag hatte sich hoffnungsvoll beschleunigt. Meine Augen trafen auf einen hochgewachsenen und äußerst attraktiven Mann, der im Schein einer Parkplatzlaterne an einem blauen Mercedes lehnte und mir zuwinkte. Mein Puls verlangsamte sich enttäuscht.

»Nein«, sagte ich zu Jule, die sich immer noch an mir festklammerte. »Das ist nur mein Bruder.«

»O mein Gott!«, wiederholte sie. »Das ist dein Bruder?«

»Meine Mutter behauptet es zumindest«, murmelte ich pikiert.

Es geschah nicht zum ersten Mal, dass man unsere Blutsverwandtschaft anzweifelte, weil ich neben dem strahlenden Antlitz meines Bruders sang- und klanglos unterging. Er hatte mich schon ab dem Tag seiner Geburt überragt, nicht nur, weil er mit zwei Zentimetern mehr auf die Welt gekommen war. Joe war das, was man gemeinhin als Überflieger bezeichnete. Nur dass er mit seinen Talenten kein erfolgreiches Business gestartet hatte, sondern lieber im Verborgenen die Welt rettete.

Tja, so war er eben, mein kleiner Bruder, Agent beim BND. Der zweite Mann in meinem Leben, der regelmäßig für unbekannte Missionen verschwand und dessen wahrer Beruf ein Geheimnis bleiben sollte.

Vorsichtig versuchte ich Jule von mir abzuschütteln, ohne dabei die Akten zu gefährden. Sie ließ mich zwar los, stellte sich mir aber in den Weg und tat so, als wären wir in ein wichtiges Gespräch verwickelt, während Joe im Hintergrund auf mich wartete.

»Mensch, Tina«, wisperte Jule. »Du hast nie erwähnt, dass dein Bruder so ein Brett ist!«

»Ein Brett? Also, aus meiner Sicht ist er hie und da mal ein Holzkopf, aber ...«

»Mann, du weißt genau, was ich meine! Was sagtest du, arbeitet er noch gleich? An der Börse?«

»Hedgefonds Manager.«

»Wow«, stieß Jule verblüfft hervor, obwohl sie vermutlich genauso wenig wie ich wusste, was ein Hedgefonds Manager eigentlich tat. »Kannst du mich ihm vorstellen?«

Ich betrachtete Jule kritisch. Vielleicht sollte ich erwähnen, dass sie bereits Mitte vierzig war. Gut in Schuss zwar, seit ihrer Scheidung sogar noch mehr, aber das änderte nichts an der Tatsache, dass mein Bruder ihr Sohn hätte sein können. Theoretisch. Also, als Teenie-Mama. Wie auch immer ... Jedenfalls entschieden zu alt für ihn.

»Er ist in einer glücklichen Beziehung«, sagte ich ernst.

Das war nicht mal gelogen. Obwohl ich mir auch in diesem Fall nicht sicher war, ob Beziehung das richtige Wort für das war, was er mit Anna führte. Ich blickte da nicht ganz durch, aber er schien tatsächlich sehr glücklich damit zu sein.

Jule zog eine enttäuschte Schnute. »Sehr schade. Ich wüsste nämlich einige Dinge, die ich ansonsten gerne mit ihm angestellt hätte.«

»Jule!«

»Was? Ich sag dir eins: Wenn du in mein Alter kommst, wirst du dich anschauen. Da geht´s mit der Libido erst so richtig los. Ich lerne meine Sexualität gerade vollkommen neu kennen.«

Okay. Das waren definitiv zu viele intime Informationen über meine Arbeitskollegin auf dem Firmenparkplatz. Ich mochte Jule wirklich, aber so nahe standen wir uns dann doch wieder nicht. Außerdem wartete Joe immer noch auf mich.

»Das freut mich für dich«, meinte ich unverbindlich. »Ich muss jetzt los. Bis morgen!«

Jule ließ mich endlich meines Weges ziehen. Der führte mich nur wenige Meter weiter zu dem blauen Mercedes, wo mich mein Bruder mich mit folgenden Worten begrüßte: »Ich bin also ein Brett, ja?«

Geheimagentenohren. Da konnte man nichts machen.

»Als wüsstest du das nicht«, entgegnete ich und hob den Aktenberg mit einem Ruck höher. »Was machst du denn hier?«

»Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen«, erwiderte Joe spöttisch. »Ich war gerade in der Gegend und wollte dich zum Abendessen einladen.«

Skeptisch musterte ich ihn. »Du wohnst bei mir um die Ecke. Im Grunde bist du praktisch immer bei mir in der Gegend. Also warum fängst du mich bei der Arbeit ab?«

»Wow, dieses Misstrauen ... du scheinst allmählich wie eine Agentin zu denken.«

Ich legte genervt den Kopf schief.

Joe seufzte ergeben. »Ja, okay. Ich wollte dich hier abfangen, weil ich nicht wusste, ob er momentan bei dir ist.«

»Ist er nicht und er hat übrigens einen Namen.«

»Schon klar. Jedenfalls wollte ich nicht zufällig auf Jayden treffen.«

Er betonte den Namen, als wäre es ein lächerliches Synonym für ein allgemeines Ärgernis. Ich fand eher lächerlich, dass mein Bruder Jayden wie seinen größten Feind behandelte, seit er wieder in mein Leben getreten war. Und das, obwohl Joe und Jayden sich während unserer gemeinsamen Mission ganz hervorragend verstanden hatten.

Das hatte sich schlagartig geändert, als Jayden und ich uns an unseren Beziehungsversuch heranwagten. Joe war regelrecht ausgeflippt, sobald er davon erfuhr. Ganz verübeln konnte ich es ihm nicht. Er war schließlich live dabei gewesen, als Jayden mir das Herz brach. Daher konnte Joe es absolut nicht nachvollziehen, dass ich ihm trotzdem eine zweite Chance gegeben hatte, und wurde nicht müde, zu betonen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Jayden mir erneut das Herz aus der Brust riss.

Ich hob den Aktenstapel nochmals höher. Meine Arme wurden immer länger und langsam wollte ich dann doch mal vom Firmenparkplatz weg. Außerdem wollte ich nicht zum tausendsten Mal mit Joe über mein Liebesleben diskutieren.

»Abendessen klingt gut«, sagte ich daher. »Woran hast du gedacht?«

»Mexikanisch, vielleicht?« Joe nahm mir den Aktenstapel ab. »Steig ein. Ich fahre.«

Ich schüttelte meine Arme aus und blickte unschlüssig die Parkreihen entlang. Zwischen unzähligen glänzenden Neuwagen lugte der zerschlissene Lack meines Opel Kadetts hervor. »Aber was ist mit meinem Auto?«

»Ich bringe dich danach einfach wieder her.« Joe packte den Aktenstapel auf den Rücksitz seines schicken Wagens, warf die Tür zu und grinste verschmitzt. »Die Karre wird dir in der Zwischenzeit schon keiner klauen.«

»Das mit Sicherheit nicht.«

»Wie hast du den überhaupt nochmal durch den TÜV gekriegt?«

»Welcher TÜV?«, fragte ich unschuldig.

Joe ging zur Fahrerseite und schüttelte lachend den Kopf. »Du musst dir echt bald mal einen neuen Wagen zulegen.«

Wir stiegen ein. Der erlesene Duft von Leder und exklusiver Vollausstattung umhüllte mich. Ich betrachtete das schick designte Armaturenbrett und seufzte innerlich, weil ich mir so ein teures Auto wohl in meinem ganzen Leben nicht würde leisten können. Nicht mal mit günstigem Leasingangebot.

»Ich arbeite daran«, sagte ich zu Joe und deutete auf den Aktenstapel. »Mit den ganzen Überstunden sollte mein Sparschwein nächsten Monat schlachtreif sein.«

»Sag mir Bescheid, wenn´s so weit ist. Dann helfe ich dir beim Aussuchen.«

Er drückte auf einen Knopf und der Mercedes schnurrte wie eine Raubkatze.

Ich nickte artig, beschloss jedoch im Stillen, dass ich meinen Autokauf lieber alleine regeln würde, denn ich konnte mir jetzt schon vorstellen, wie mitleidig Joe dreinschauen würde, wenn er von meinem Budget erfuhr. Dann würde er mir wieder Geld schenken wollen und das hasste ich. Hatte ich schon, als ich noch dachte, er würde seinen Lebensunterhalt tatsächlich mit Hedgefonds verdienen.

Mir war klar, dass Joe es nur gut mit mir meinte, doch ich wollte keine Almosen. Ich wollte mein Leben selbst auf die Reihe kriegen. Und irgendwie würde ich das schon hinbekommen.

Kapitel 2

Dienstag, 10. März 2021, irgendwann nach Mitternacht

München, Wohnblock, Apartment 6c

Ich rollte mich in meinem Bett auf die Seite und kuschelte meinen Kopf in meine Ellenbeuge. Sie war herrlich weich, weil ich meinen liebsten Fransenwollpulli anhatte. Für diesen Pullover, auf den vorne zwei Kätzchen gestickt waren, die um ein Wollknäuel rauften, verzichtete ich sogar auf meinen Einhorn-Overall.

Aus der Ferne wehte ein Klackern zu mir. Im Halbschlaf erinnerte es mich an das Geräusch der Computertastaturen im Büro.

Aber ich war doch gar nicht im Büro?

Benommen horchte ich auf. Durch meine Schlaftrunkenheit zeichnete sich langsam die Gewissheit ab, dass ich mich in meiner Wohnung befand.

Und dass noch jemand anwesend war ...

Mit einem Ruck setzte ich mich auf. Die Schlafzimmertür war nur angelehnt und ein mäßiger Lichtschein fiel von irgendwoher in den Flur. Erneut hörte ich leise Geräusche. Es klang, als würde jemand meine Schubladen durchsuchen.

Die Angst schickte einen Adrenalinschub durch mich hindurch. Mein Herz pochte wild. Hektisch schaute ich mich in dem dunklen Schlafzimmer um und stellte fest, dass ich mein Telefon in der Küche liegen gelassen hatte. Außerdem befand sich hier absolut nichts, was sich vernünftig als Verteidigungswaffe nutzen lassen könnte. Mein Wecker war winzig und als Nachtlicht diente mir eine kitschige Lichterkette über dem Bett. Ansonsten gab es keine Deko. Nicht mal einen Kerzenständer hatte ich hier drin. Warum eigentlich nicht?

Scheißegal! Ich musste mich nur in die Küche schleichen, damit ich die Polizei rufen konnte. Genau. Ich war schon mit weit schlimmeren Verbrechern als einem kleinen Einbrecher fertiggeworden. Der hatte sich definitiv die falsche Wohnung ausgesucht.

Ich war nämlich eine Kämpferin!

Entschlossen rutschte ich so geräuschlos wie möglich zum Bettrand, griff mir die geblümte Nackenrolle und stand auf. Die Nackenrolle war zwar relativ fest, aber freilich kaum als Waffe zu gebrauchen. Es fühlte sich trotzdem einfach besser an, irgendetwas in den Händen zu halten, das ich drohend erheben und im Fall der Fälle werfen konnte.

Meine Knie schlotterten, doch ich hielt erbittert an meinem Wagemut fest und schlich zur Schlafzimmertür, als wäre ich hier der Einbrecher. Der Kätzchenpulli reichte mir bis zu den Oberschenkeln, darum hatte ich auf eine Schlafanzughose verzichtet und trug zu meinen Pantys nur ein Paar pinkfarbener Wuschelsocken.

Vorsichtig zog ich die Schlafzimmertür weiter auf. Der Lichtschein im Flur kam aus dem Badezimmer. Von dort stammten auch die Geräusche. Gerade wurde zweifellos der Wasserhahn aufgedreht.

Bitte was? Ein Einbrecher drang in meine Wohnung ein, um sich die Hände zu waschen?

Das verwirrte mich so sehr, dass ich meinen Handyplan verwarf und über den Gang zum Badezimmer huschte. Mit erhobener Nackenrolle hielt ich neben dem Türrahmen inne und lauschte.

Ja, da drin wusch sich definitiv jemand die Hände am Waschbecken.

»Hey, Babe.«

Was zum Teufel?

Ich lehnte mich vor und spähte ins Badezimmer. Vor dem Waschbecken stand niemand Geringeres als Jayden Scott. Der schönste Mann auf Erden. Dunkelblondes Haar, himmelblaue Augen und eine Statur, als hätte sich Leonardo da Vinci persönlich seiner Erschaffung gewidmet.

Für einen Moment wusste ich nicht, was mich mehr schockierte. Dass er mich gerade Babe genannt hatte oder dass sein traumhafter Oberkörper nackt war.

Apropos traumhaft ... träumte ich vielleicht?

Jayden sah zu mir. Er legte schmunzelnd den Kopf schief. »Wolltest du mich gerade mit einem Kissen erschlagen?«

Ich blickte zu der erhobenen Nackenrolle. Mein Herz klopfte immer noch wie verrückt, doch der Adrenalinschub fiel wie eine Wolke von mir ab. Die Angst machte Platz für eine Mischung aus Erleichterung und Verärgerung. Wobei der Anteil der Verärgerung vorerst deutlich überwog.

»Verdammt noch mal!«, blaffte ich und überlegte, das Kissen trotzdem als Wurfgeschoss einzusetzen. »Bist du wahnsinnig? Du kannst doch nicht einfach in meine Wohnung einbrechen!«

»Entschuldige, ich wollte dich nicht aufwecken.«

»Du wolltest mich nicht ...? Verflucht! Was machst du überhaupt hier? Du wolltest doch erst am Donnerstag kommen.«

»Es gab eine kleine Änderung«, sagte er schlicht.

Jayden stellte den Wasserhahn ab. Erst da bemerkte ich die hellroten Schlieren auf dem weißen Porzellan. Auf einem zusammengeknüllten Handtuch prangten Blutflecken und Verbandszeug lag auf dem Waschtisch.

Auf einen Schlag war sämtlicher Ärger in mir verflogen. Ich ließ die Nackenrolle fallen, trat zu Jayden und drehte ihn an der Schulter leicht herum, damit ich seine andere Körperseite sehen konnte.

»Großer Gott«, murmelte ich.

Sein linker Oberarm war mit einer großflächigen Schürfwunde bedeckt, die sich bis über seine Schulter zog. Ein ähnliches Bild präsentierte sich an seinem Rippenbogen, nur dass sich dort unter den Kratzern bereits ein besorgniserregender Bluterguss zeigte.

»Was ist passiert?«, fragte ich erschrocken.

Er lächelte vielsagend.

Ich brummte unwirsch. »Geheimsache. Schon klar.« Besorgt betrachtete ich die Verletzungen. »Soll ich dich nicht besser zu einem Arzt bringen?«

»Nein. Es sieht tragischer aus, als es ist.«

»Aber ...«

»Bitte glaub mir, Babe. Das sind nur ein paar Kratzer.«

Babe ... schon wieder. Das war neu. Und ich wusste nicht recht, was ich von diesem Kosewort halten sollte. Aus den meisten Männermündern hätte es vermutlich bescheuert geklungen, aber bei Jayden hörte es sich schon irgendwie sexy an. Wahrscheinlich lag es daran, dass er Engländer war. Die wussten halt, wie man sowas aussprach, ohne dabei lächerlich zu klingen.

Unschlüssig sah ich Jayden an. Schließlich presste ich die Lippen aufeinander und griff wortlos nach einer Packung Kompressen, um seine Wunden zu versorgen.

In Filmen wurden solche Szenen immer überaus romantisch dargestellt. Die Geliebte versorgte behutsam die Verletzungen des Helden.

Tja. Kaum jemand thematisierte dabei, dass die Geliebte eventuell überhaupt keine Ahnung von Wundversorgung hatte. Und dass sie es noch aus anderen Gründen hasste, so etwas überhaupt tun zu müssen.

Dass Jayden mit ganz frischen Verletzungen hier auftauchte, geschah zwar zum ersten Mal, doch ich hatte ihn schon mit diversen Blessuren in unterschiedlichsten Heilstadien angetroffen. Schürfwunden wie diese hier, Kratzer, Platzwunden, Schnittwunden ... blaue Flecken zählte ich da gar nicht mit. Im Grunde hatte ich Jayden nämlich selten nackt gesehen, ohne mindestens einen abklingenden Bluterguss bei ihm zu entdecken.

Und jede einzelne noch so kleine Verletzung führte mir jedes Mal erneut vor Augen, wie gefährlich seine Arbeit war. Ich versuchte zwar, nicht darüber nachzudenken, wenn er wieder einmal unterwegs war, doch ganz konnte ich diese Stimme nie ausschalten, die sich fragte, ob er überhaupt je zurückkehren würde. Diese ständige Angst um Jayden war eines der Dinge, die ich unterschätzt hatte.

Während ich stoisch einen Pflasterstreifen nach dem anderen abriss, um die Kompressen über seinen Wunden zu fixieren, tobten bittere Emotionen in mir. Ich hasste es, dass ich nie wusste, wann er gehen würde, um sein Leben aufs Spiel zu setzen. Genauso wie ich es hasste, dass ich nie genau wusste, wann er wieder vor meiner Tür stehen würde. Die »kleinen Änderungen«, wie Jayden sie gern nannte, waren nämlich die Regel. Seine Tätigkeit hielt sich nicht an feste Arbeitszeiten oder andere Pläne. Sie war völlig unvorhersehbar und unkalkulierbar.

Gott, ich hasste seinen Job einfach.

Das Problem war nur, dass diese Arbeit ein Teil von ihm war. Der Teil, der Jayden zunächst davon abgehalten hatte, das Projekt Beziehung mit mir überhaupt zu starten. Eine feste Beziehung widersprach eigentlich seinen Prinzipien, die er für mich über Bord geworfen hatte. Mit der Betonung, dass er mir einen normalen Alltag schlicht nicht bieten konnte. Es würde nicht leicht werden, hatte er gesagt, und es wäre allein meine Entscheidung, ob ich es trotzdem versuchen wollte.

»Ein Penny für deine Gedanken«, sagte er plötzlich.

Ich zuckte ertappt zusammen und wich seinem Blick aus. »Den Penny darfst du behalten«, scherzte ich. »Ich bin praktisch im Halbschlaf und entsprechend wertlos sind meine Gedanken.«

»Hm.«

Als ich einen weiteren Pflasterstreifen abriss, sah ich doch zu ihm auf. Unwillkürlich hielt ich inne, weil seine himmelblauen Augen einen Tick dunkler wirkten als sonst, und ich wusste ganz genau, was das zu bedeuten hatte.

Wie gebannt hielt ich still, während Jayden sich langsam zu mir neigte und seine Lippen auf die meinen trafen. Sein Kuss löste prickelnde Schauer in mir aus. Ein knisternder Wirbelsturm fegte durch mich hindurch, und schon waren all diese unangenehmen, schmerzhaften Gefühle in mir verschwunden.

Jayden war hier. Bei mir. Und alles andere war plötzlich unwichtig.

Zumindest solange, bis ich merkte, dass sich das Pflaster um meine Finger gewickelt hatte. Ich löste mich von Jayden, damit ich den klebrigen Knoten entwirren konnte. Er wollte mich wieder küssen, doch ich duckte mich kichernd weg, woraufhin er kurzerhand mit meinem Hals vorliebnahm und neckische Küsschen unter mein Ohrläppchen tupfte.

»Hör auf, mich abzulenken«, schimpfte ich halbherzig. »Ich bin noch nicht fertig mit dir.«

»Na, das will ich doch sehr hoffen. Ich fange nämlich gerade erst an.«

Puh!

Seine raue Stimme machte es mir unfassbar schwer, mich nochmal auf den Verband zu konzentrieren. Meine bebenden Finger halfen mir auch nicht unbedingt.

»Gott«, seufzte Jayden. »Dieser Pulli macht mich immer ganz ...«

Er vervollständigte den Satz mit einem frivolen Knurren. Es schien direkt bis in meine unteren Bauchregionen zu vibrieren, doch ich behielt meine Aufmerksamkeit stur bei den letzten Pflasterstreifen.

»Es sind die Kätzchen, stimmt´s?«, witzelte ich.

»Nein.« Er lachte leise. »Es ist eher die Erinnerung daran, wie ich ihn dir das erste Mal ausgezogen habe.«

Tosende Hitze stieg in mir auf. Ich führte seinen linken Arm nach oben, damit ich die Kratzer an seinen Rippen überkleben konnte. Die direkte Konfrontation mit seinem Six-Pack war natürlich alles andere als konzentrationsfördernd.

»Es war auf hoher See«, sprach er mit betörend sanfter Stimme weiter. »Mitten auf dem Schwarzen Meer. Weißt du noch?«

Mit letzter Kraft brachte ich den letzten Pflasterstreifen auf seiner makellosen Haut an. Ich beließ meine Hand dort, strich mit den Fingerspitzen zur Mitte seiner Brust und betrachtete entzückt die Gänsehaut, die meine Berührung verursachte.

»Wie könnte ich das jemals vergessen?«, fragte ich.

Ich blickte zu ihm auf und legte gleichzeitig die Pflasterrolle auf den Waschtisch. Das leise Klacken, mit dem die Plastikspule auf das Holz traf, kam einem wahren Startschuss gleich.

Schon in der nächsten Sekunde nahmen seine Lippen mich gefangen. Ich schlang die Arme um ihn, vorsichtig, damit ich nicht aus Versehen seine Verletzungen traf. Doch Jayden zeigte mir schnell, dass meine Rücksicht überflüssig war.

Er presste mich an sich, küsste mich mit wachsender Gier und dem deutlichen Verlangen nach mehr. Ohne unseren wilden Kuss zu unterbrechen, drängte er mich rückwärts aus dem Bad. Dabei stolperte ich über die Nackenrolle am Boden, aber Jayden hielt mich so fest, dass ich nur ganz kurz aus dem Gleichgewicht geriet, bevor ich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand im Flur stieß.

Jayden drückte mich sanft dagegen und hielt mich einen Moment dort fest, während er erneut meinen empfindlichen Hals mit Küssen bedeckte. Er verursachte ein Prickeln auf meiner Haut. So intensiv, dass es kaum auszuhalten war. Ich seufzte auf.

Ich liebte es, wenn er das tat. Wenn er mich gefangen hielt. Zärtlich, aber dennoch bestimmt. Auf erregende Weise seine Stärke demonstrierend, der ich hoffnungslos unterlegen war, würde er es darauf anlegen.

Als ich glaubte, unter seinen Küssen verglühen zu müssen, schob er mich weiter den Flur entlang. Ich ging rückwärts vor ihm her in Richtung Schlafzimmer, die Augen fest auf ihn gerichtet, und zog mir den Pullover über den Kopf. Mein nackter Oberkörper entlockte ihm ein lüsternes Schmunzeln, das ich kess erwiderte, sobald er anfing, seine Jeans aufzuknöpfen.

Ich stieß mit den Kniekehlen gegen den Bettrand und ließ mich nach hinten fallen. Während ich ein Stück weiter die Matratze hochrutschte, nahm ich kein einziges Mal meinen Blick von Jayden.

Sein Gesicht lag im Schatten und durch den Lichtschein in seinem Rücken wirkte seine Gestalt noch größer als ohnehin schon. Beeindruckend, und auch ein bisschen gefährlich, sah er aus.

Jayden nahm sich kurz Zeit, mich ausgiebig zu betrachten, während ich erwartungsvoll und atemlos zu ihm aufsah. Wahrscheinlich bildete ich es mir nur ein, aber ich glaubte tatsächlich, seine Augen kurz aufleuchten zu sehen, bevor er endlich zu mir kam.

Ja, Jayden Scott war ein überaus gefährlicher Mann. Mein Herz hatte er mir längst gestohlen und nun raubte er mir, wie schon so oft, auch noch meinen Verstand.

Aber wer brauchte den schon ...

07:15 Uhr

München, Wohnblock, Apartment 6c

Mein Wecker gab einen einzigen Pieps von sich, bevor er gleich wieder verstummte. Erst glaubte ich, ich hätte mir den Ton nur eingebildet, doch dann streichelte mir jemand sanft über den nackten Rücken.

»Guten Morgen, Sonnenschein«, sagte Jayden.

Ich lag auf dem Bauch und brummte in mein Kissen. Jayden lachte leise. Müde blinzelte ich gegen mäßiges Tageslicht an und erkannte, dass Jayden am Bettrand saß. Er musste schon vor dem ersten Piepton meines Weckers da gesessen haben. Außerdem war er bereits angezogen.

Seine Fingerspitzen tanzten über mein Rückgrat und eine wohlige Gänsehaut kribbelte bis hoch zu meinem Nacken.

»Bist du wach?«, fragte er.

»Nein«, nuschelte ich in das Kissen.

»Gut.«

Er stand auf. Ich zog eine Schnute, war aber müdigkeitsbedingt nicht fähig, ihn aufzuhalten.

Bis ich nach dem Aufwachen die Kontrolle über meinen Körper erlangte, dauerte es üblicherweise ein paar Minuten. Vor allem, wenn eine dermaßen anstrengende Nacht hinter mir lag.

Ich wälzte mich auf den Rücken und suhlte mich genüsslich in der Erinnerung an die himmlischen Sphären, in die Jayden mich getragen hatte.

Dreimal, wohlgemerkt.

Jepp, der Mann hatte es einfach drauf ...

In diesem Sinne musste ich Jule ein wenig widersprechen, denn ich brauchte gar nicht erst in ihr Alter zu kommen, um meine Sexualität neu zu entdecken. Dafür hatte ich nämlich Jayden, und der hatte mir schnell gezeigt, dass das, was ich früher für guten Sex gehalten hatte, im Grunde nur ein lächerliches Vorspiel war.

Mit Jayden war es einfach ... anders. Ich war anders. Er entlockte mir eine Seite, von der ich vorher gar nicht gewusst hatte, dass sie existierte.

Wenn wir miteinander schliefen, gab es keinen Raum mehr für Zweifel oder Ängste. Dann befanden wir uns irgendwo anders. In unserer eigenen kleinen Welt, könnte man sagen. Auf einer Ebene, in der wir von Beginn an derart perfekt harmoniert hatten, als wären wir füreinander geschaffen.

Ich gähnte herzhaft und streckte mich. Normalerweise brachte mich am Morgen wirklich nichts sehr schnell aus dem Bett. Es war zumeist eher ein Kampf zwischen meinen müden Gliedern und dem Wissen, dass ich zu spät zur Arbeit kam, wenn ich jetzt nicht aufstand.

An diesem Morgen war der Kampf schnell ausgetragen, denn jede Minute mit Jayden war kostbar und durfte nicht verschwendet werden.

Sagte zumindest mein Verstand. Mein Körper hinkte meinem wachen Geist noch deutlich hinterher, darum schlurfte ich trotzdem wie ein Zombie über den Flur ins Badezimmer.

Jayden hatte sämtliche Spuren seines nächtlichen Auftritts beseitigt. Keine Ahnung, seit wann er schon wieder wach war. Manchmal fragte ich mich ernsthaft, ob er überhaupt Schlaf brauchte oder ob er nur aus Höflichkeit ab und zu mal die Augen schloss, um mir keine Angst einzujagen.

Während ich meine Lebensgeister mit einer erfrischenden Dusche weckte, betrachtete ich immer wieder das Herrenduschgel, dass zwischen der wahren Armada meiner Shampoos, Conditionern, Peelings und was weiß ich noch für Zeugs, hervorlugte. Die dunkle Plastikflasche war vor einiger Zeit wie durch Zauberhand dort erschienen und wachte seither über meine Sammlung überwiegend bunt bedruckter Pflegeprodukte.

Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, öffnete ich den Spiegelschrank über dem Waschbecken und ließ den Blick über weitere Utensilien schweifen, die sich nach und nach dort hinein geschlichen hatten. Herrenrasierer und Rasierschaum, Herrendeodorant, Aftershave, eine Zahnbürste ... Zusammen mit den Männerklamotten, die sich zunehmend in meinem Kleiderschrank häuften, blieb im Grunde nur eine einzige Schlussfolgerung übrig: Jayden war still und heimlich bei mir eingezogen.

Ich lächelte in mich hinein, bevor ich mir meine eigene Zahnbürste in den Mund steckte. Während ich schrubbte, fasste ich einen Entschluss, der eigentlich längst überfällig war: Ich wollte Jayden den Zweitschlüssel meiner Wohnung geben.

Klar, im Grunde hatte er erst gestern bewiesen, dass er ihn gar nicht brauchte. Es war also mehr eine symbolische Geste und die machte mich plötzlich unheimlich nervös.

Unsere Kommunikation in der Kiste war phänomenal. Doch außerhalb gab es definitiv Verbesserungsbedarf. Zum Beispiel, was das Thema Beziehung anbelangte, das wir beide stets mit grandioser Eleganz umschifften. Inklusive dem berühmten L-Wort, das in letzter Zeit sehr oft im Raum stand, aber keiner von uns auszusprechen wagte.

Obwohl also längst alles auf eine ernstzunehmende Partnerschaft hindeutete, bekamen wir es nicht auf die Reihe, uns mal darüber zu unterhalten, wo wir jetzt eigentlich standen. Oder war es gar nicht nötig, dem sprichwörtlichen Kind einen Namen zu geben?

Keine Ahnung. Einerseits würde ich schon gerne von ihm hören, dass wir das Versuchsstadium nun hinter uns lassen und uns einer ernsten gemeinsamen Zukunft widmen konnten. Andererseits wusste ich gar nicht so recht, wie diese gemeinsame Zukunft überhaupt aussehen könnte. Auch ein entsprechendes Gespräch würde schließlich nichts daran ändern, dass er kurzfristig kam und wieder verschwand, sobald die Dienste der Majestät nach ihm verlangten. Sein Arbeitsplatz war nun mal in London und sein Einsatzgebiet umfasste die ganze Welt. Insgesamt nicht die besten Voraussetzungen für strukturierte Zukunftspläne.

Ich seufzte leise und beendete meine Morgenroutine. Nachdem ich mich angezogen hatte, trat ich zum Schlüsselbrett neben der Garderobe und nahm den Zweitschlüssel vom Häkchen. An dem Ring baumelte ein Minion. Den Anhänger hatte ich mal bei einer Losbude gewonnen. In Ermangelung einer Alternative ließ ich ihn einfach dran, verbarg das gute Stück in meiner Faust und ging mit gemischten Gefühlen hinüber zur Küche, in der Jayden geschäftig herumwerkelte.

Am Türrahmen hielt ich inne und beobachtete, wie er entspannt Rührei in einer Pfanne zubereitete. Aus dem Radio dudelte leise Popmusik. Es war eigenartig, den toughen Geheimagenten Jayden Scott bei so etwas Alltäglichem in meiner unspektakulären Wohnung zu sehen. Regelrecht konträr, und doch fügte sich alles zu einem wundervoll harmonischen Bild zusammen.

In diesem Moment wusste ich, dass dieser Anblick Teil meiner Zukunft sein sollte. Ich wollte jeden einzelnen Morgen von seiner sanften Stimme geweckt werden und meinen Tag gemeinsam mit ihm beginnen.

Jayden bemerkte mich und warf mir ein Lächeln zu. »Perfektes Timing. Setz dich doch.«

Den winzigen Esstisch hatte er bereits gedeckt. In einem Körbchen lag gerösteter Toast. Daneben glänzte in tiefem Schwarz mein persönliches Lebenselixier in der bauchigen Kaffeekanne.

Ich setzte mich hin und ließ Jayden weiterhin nicht aus den Augen, während er sich durch meine Küche bewegte, als würde er hierhergehören. Er verteilte das Rührei auf unsere Teller und ging zurück zum Herd, um eine weitere Pfanne zu holen, in der er kleine Würstchen und Tomatenscheiben angebraten hatte. Jayden Scott verwöhnte mich also mit einem originalen englischen Frühstück.

Eine so alltägliche und normale Szene, die mir allerdings wie ein wahrgewordener Traum vorkam.

Dementsprechend schaute ich vermutlich drein, was Jayden aber erst registrierte, nachdem er sich mir gegenüber an den Tisch gesetzt hatte.

»Was ist los?«, fragte er stutzig. »Möchtest du lieber etwas anderes essen?«

»Niemals«, hauchte ich verträumt.

Er musterte mich belustigt. »Du willst dich fortan nur noch von Rührei und Würstchen ernähren?«

Ich riss mich zusammen und rückte meinen Stuhl näher an den Tisch. Den Schlüssel hielt ich dabei immer noch umklammert. Der Minion pochte in meiner Hand, weil mein Puls schon wieder Amok lief. Ich hatte Angst und gleichzeitig nicht den blassesten Schimmer, wovor überhaupt.

Gib ihm doch einfach den Schlüssel, Herrgott!, schalt ich mich in Gedanken.

Mit einem Ruck hob ich den Arm. Eigentlich, um den Schlüssel neben seinem Teller auf den Tisch zu legen. Aus mir unerfindlichen Gründen öffnete sich meine Hand aber eine Sekunde zu früh und der Minion landete nicht neben, sondern auf Jaydens Teller. Mitten im Rührei.

Erschrocken starrte ich auf das quietschgelbe Plastikspielzeug, unfähig auch nur irgendetwas zu sagen.

»Also«, begann Jayden schließlich. »Wenn du mich vergiften willst, solltest du zu effektiveren Mitteln greifen als chinesischem Plastik.«

Verlegen räusperte ich mich. »Bitte entschuldige. Das war eigentlich anders gedacht.«

Ich wollte nach dem unkooperativen Minion greifen, doch Jayden kam mir zuvor. Er zupfte ihn aus dem Rührei und hob ihn aus meiner Reichweite. Als ich es wagte, zu ihm aufzublicken, lächelte er weich.

»Das war nur ein Scherz«, sagte er. »Mir ist natürlich klar, was das ist. Und ich danke dir dafür.«

Peinlich berührt strich ich mir eine Strähne hinters Ohr. »Na ja, dann kannst du dein Schlossknackerbesteck, oder wie auch immer man das nennt, in Zukunft stecken lassen.«

»Eigentlich schade. Das war eine recht gute Übung.«

»Du musst den Schlüssel ja nicht benutzen«, erwiderte ich schnell.

Jayden lachte leise. »Tina, das war schon wieder ein Scherz.«

»Ach so.«

Schmetterlinge tollten in meinem Bauch, während ich dabei zusah, wie Jayden den Minion mit einer Serviette abtupfte und sich den Schlüssel anschließend in die Hosentasche schob. Jetzt war es also amtlich. Das Versuchsstadium war abgeschlossen. Wir führten nun eine ernsthafte Beziehung. Zumindest schlussfolgerte ich das aus der symbolischen Schlüsselübergabe.

Was Jayden daraus schlussfolgerte, war mir ein Rätsel. Im Grunde reagierte er gar nicht wirklich auf diesen aus meiner Sicht durchaus wichtigen Schritt. Nachdem er den Schlüssel in der Hosentasche verstaut hatte, wandte er sich nämlich umgehend seinem Frühstück zu, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren.

Ich goss mir erst mal Kaffee ein. Mich wurmte es, dass Jayden so tat, als wäre gerade gar nichts Nennenswertes geschehen. Eigentlich sollte doch jedem klar sein, dass so eine Schlüsselübergabe ein Meilenstein in einer Beziehung war.

Andererseits war Jayden nicht jeder. Das sollte ich inzwischen eigentlich kapiert haben. Bei ihm lief so ziemlich alles außerhalb des Standards ab.

Ich musterte ihn verstohlen über den Rand meiner Tasse hinweg. Jayden hatte sich verändert. Zum Positiven, keine Frage. Als ich ihn kennengelernt hatte, wollte ich ihm wegen seiner Verschlossenheit nicht nur einmal an die Gurgel gehen. Nun hatte er seine Maske mir gegenüber abgelegt und das war wundervoll. Das Merkwürdige war nur, dass ich trotzdem nicht viel über ihn wusste.

Jayden war nämlich äußerst geschickt darin, persönliche Fragen ganz unbemerkt zu unverfänglichen Themen zu lenken. Oder auf mich. Über meine Vergangenheit war der Gute sehr umfangreich informiert, während er mir hingegen weiterhin wie ein ziemliches Mysterium erschien.

Und diesem Typen hatte ich gerade meinen Wohnungsschlüssel gegeben?

Tja. Leben am Limit.

»Hast du keinen Hunger?«, fragte Jayden.

»Oh.« Ich blinzelte und tauschte die Tasse gegen eine Gabel. »Normalerweise frühstücke ich zwar nicht, aber bei dem köstlichen Duft würde wohl jeder Hunger kriegen.«

Ich probierte von dem Rührei und war ehrlich überrascht, wie gut es schmeckte. »Wow, das ist ja köstlich! Wer hat dir denn beigebracht, so zu kochen?«

»Das ist doch nur Rührei«, tat er schmunzelnd ab. »Das kann doch jeder.«

»Also, ich nicht. Es hat durchaus einen Grund, warum ich noch nie für dich gekocht habe. Ich bin eine grauenhafte Köchin und wage mich nicht mal an Spiegelei heran.«

»Dafür hast du aber einen ziemlich großen Ei-Vorrat.«

Ich zuckte grinsend mit den Schultern. »Die kaufe ich hauptsächlich für Tobbs.«

Mein Nachbar fragte mich zweimal pro Woche, ob ich ein paar Eier für ihn übrig hatte und die gab ich ihm natürlich gern, damit er sich nicht nur von Nachos und Kartoffelchips ernährte.

»Sehr fürsorglich von dir«, lobte Jayden amüsiert. »Ich hoffe nur, er klopft nicht gerade heute an die Tür. Er ist wirklich äußerst hartnäckig mit all seinen Fragen.«

»Tja, und eins kannst du mir glauben: Er wird nicht eher damit aufhören, bis er zumindest weiß, für welche Behörde du arbeitest. Wahrscheinlich würdest du dir selbst den größten Gefallen tun, wenn du es ihm einfach sagst.«

Jayden schaute mich belustigt an. »Ich habe schon bei heikleren Verhörtechniken die Klappe gehalten. Da wird dein verschrobener Hacker-Freund sich auf kurz oder lang die Zähne ausbeißen.«

»Hm.« Ich spießte scheinbar unbekümmert ein Würstchen auf. »Was sind das denn für heikle Verhörtechniken?«

Er antwortete nicht gleich. Vorsichtig schielte ich zu ihm und merkte, dass er angespannt mit dem Kiefer mahlte, bevor er sagte: »Definitiv keine, über die man am Frühstückstisch spricht.«

Okay, mit dieser Abfuhr hätte ich rechnen müssen. Es war schließlich ein ungeschriebenes Gesetz, dass jegliche Themen rund um Geheimdienstaktivitäten totgeschwiegen werden mussten. Und das hielt Jayden noch strikter ein als unsere stille Übereinkunft zur Zensur von Beziehungsthemen.

Normalerweise konnte ich das weitgehend akzeptieren. Leider rief das Stichwort »Verhör« aber äußerst aufwühlende Erinnerungen in mir hervor. Grundsätzlich hatte ich meine Erlebnisse während meiner unfreiwilligen Mission in Osteuropa erstaunlich gut verarbeitet. Das war zum Großteil meinem Bruder zu verdanken, der mir mit vielen und langen Gesprächen gezeigt hatte, wie man am besten mit solch traumatischen Erlebnissen umging. Schließlich hatte er selbst Erfahrung damit und war entsprechend geschult.

Das war Jayden vermutlich auch. Aber er wollte ja nicht über solche Dinge mit mir reden.

Es war schon eine Weile her, seit die Szenen zuletzt in mir hochgekommen waren. Nun fühlte ich sie deutlich unter der Oberfläche lauern. Allerdings war jetzt nicht die richtige Zeit, um ihnen Raum zu geben. Das würde ich nachholen, wenn Jayden wieder unterwegs war.

Verbissen rang ich also die beunruhigenden Bilder der Vergangenheit nieder und gab mir selbst das Versprechen, mich demnächst in Ruhe damit auseinanderzusetzen. Es war wichtig, dass ich mein eigenes Versprechen auch einhielt. Das hatte Joe mir immer wieder eingebläut. Nur so behielt ich nämlich die Kontrolle darüber.

Eine Weile erfüllte nur Radiomusik und Geschirrgeklapper die Küche. Plötzlich fragte Jayden: »Wie läuft es eigentlich mit dem Drachen?«

Ich schnitt eine Grimasse. »Der Drache tobt wie eh und je.«

»Du solltest dir eine Lanze zulegen. Nur für den Fall.«

»Klar! Und durch die Abteilung reiten wie der Ritter Kunibert?«

»Wer ist Ritter Kunibert?«

In gespieltem Entsetzen legte ich mir die Hand aufs Herz. »Waaas? Du kennst den Ritter Kunibert nicht?«

Und schon waren wir wieder mitten in einem unserer belanglosen Gespräche, während unausgesprochene Worte kurz wie Nebelschwaden durch die Luft zogen und sich schließlich auflösten.

19:16 Uhr

München, Wohnblock, Tiefgarage

Der Kadett rollte mit ohrenbetäubendem Gebrüll durch die Tiefgarage meines Wohnhauses. Das Dröhnen hallte beeindruckend von den Wänden wider und brachte die Betonsäule neben meiner Parklücke bedenklich zum Vibrieren. Als der Motor mit einem heiseren Husten ausging, hatte ich noch kurz ein dumpfes Geräusch im Ohr, bevor meine Trommelfelle sich erholt hatten.

Japp. Ich brauchte ganz dringend ein neues Auto.

Die Scharniere der Fahrertür kreischten unheilvoll, als ich sie aufstieß und vollbepackt mit Papiertüten aus dem Wagen kletterte. Verheißungsvoller Duft asiatischer Köstlichkeiten stieg mir in die Nase. Er übertünchte sogar den typischen Geruch nach Zwiebeln, der aus unerfindlichen Gründen stets dem Aufzug meines Wohnhauses anhaftete.

Während ich mich noch langsam in die Höhe tragen ließ, waren meine Gedanken schon längst oben bei Jayden angekommen, der in meiner Wohnung auf mich wartete. Das war schön. Daran könnte ich mich wirklich gewöhnen.

Die Tüten raschelten laut, als ich im sechsten Stock den Fahrstuhl verließ. Auf meinem Weg über den Flur musste ich einen kleinen Zwischenstopp einlegen, um die ganzen Henkel umzusortieren.

Jayden hatte am Morgen nur gesagt, er ließe sich gerne mit dem Abendessen überraschen. Damit ich auch ja etwas mitbrachte, was ihm schmeckte, hatte ich kurzerhand den halben Imbiss aufgekauft. Na ja, ganz so schlimm war es dann doch nicht. Aber sechs erwachsene Personen könnten von meiner Auswahl vermutlich schon satt werden.

Knisternd erreichte ich meine Wohnungstür und mit einer rekordverdächtigen Verrenkung schaffte ich es, sie aufzusperren, ohne die Tüten abstellen zu müssen. Interessant, dass man sich faulheitsbedingt oftmals mehr abmühte, als einfach aus einem Schritt zwei zu machen. Aber egal ...

»Essen ist da!«, trällerte ich im Türrahmen.

Stille antwortete mir aus tiefer Dunkelheit heraus.

Stirnrunzelnd knipste ich mit dem Ellbogen das Flurlicht an und kickte die Wohnungstür mit der Hüfte zu.

»Jayden?«, rief ich.

Keine Antwort.

Mit einem äußerst unguten Gefühl balancierte ich meine duftenden Errungenschaften in die unbeleuchtete Küche und stellte sie schnaufend auf dem leeren Tisch ab. Dabei hätte ich beinahe den kleinen Notizzettel übersehen, den ich unter den ganzen Tüten begraben hatte.

Angespannt zupfte ich ihn unter der Ladung hervor und schaltete das Licht an.

Sorry, Babe. Musste kurzfristig weg. Bis bald!

J.

Der Notizzettel erzitterte zwischen meinen Fingerspitzen. Ich starrte auf die geschwungene Handschrift und konnte nicht fassen, dass er sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte, seinen Namen auszuschreiben.

War ich ihm denn keine weiteren fünf Buchstaben wert? Und warum hatte er nicht einfach angerufen und mir Bescheid gegeben, bevor ich mein sauer verdientes Geld für Chop Suey und co herauswarf?

Sorry, Babe ...

Babe am Arsch!

Mit einem Grollen zermalmte ich den Zettel in meiner Faust und warf das Knäuel gegen den Kühlschrank. In meiner Wut hätte ich beinahe die Tüten mit dem Essen vom Tisch gefegt, doch ich erinnerte mich gerade noch rechtzeitig daran, dass ich die Sauerei dann nur selbst wieder wegmachen müsste. Irgendwo musste meine Aggression aber hin, darum widmete ich mich erneut dem Zettel, indem ich wie ein zorniger Troll ein paar Mal wild mit dem Fuß darauf stampfte.

»Scheiße!«, fluchte ich.

Wutschnaubend kramte ich mein Handy aus der Handtasche und wählte Jaydens Nummer.

»The person you have ...«

»AAAH!«, brüllte ich die freundliche Automatenstimme an.

Dann legte ich auf.

Ich raufte mir die Haare und atmete mehrmals tief durch.

Der Tag hatte so nett angefangen. Ich hatte sogar die Macken der Drachenlady mit einem Lächeln ertragen. Seit Stunden freute ich mich darauf, einen gemütlichen Abend mit Jayden verbringen zu können und jetzt das. Fuck!

Tränen brannten in meinen Augen. Ich blinzelte sie hektisch weg.

Ich brauchte gar nicht rumzuheulen, denn im Endeffekt war es meine eigene Schuld, dass ich enttäuscht war. Immerhin sollte ich langsam mal kapieren, mich auf keine Dates verlassen zu können. Die Spontanität war ja praktisch Hauptbestandteil der Beziehungsrahmenvereinbarungen mit Jayden. Genau das, worauf er mich von Beginn an ganz klar hingewiesen hatte.

Mit einem Ruck straffte ich die Gestalt. Aus den Tüten stieg verlockender Duft auf und mein Appetit war keinesfalls gehemmt. Ganz im Gegenteil, denn jetzt war erst recht der richtige Zeitpunkt für ein großes Fressen gekommen.

O ja, mich gelüstete es nach einem wahren Frühlingsrollen-Intermezzo mit anschließender Übelkeit und Kreislaufzusammenbruch, weil sämtliche Energie meines Körpers auf Verdauung konzentriert war.

Nur allein sein wollte ich nicht. Ich brauchte einen Kameraden, der mit mir in die Schlacht zog, und mir fiel nur einer ein, der für das bevorstehende Gemetzel geeignet war.

Entschlossen raffte ich also die Tüten zusammen und schleppte sie aus meiner Wohnung zu dem Apartment gegenüber. Mittels erneuter logistischer Meisterleistung gelang es mir, mich mit einem geheimen Klopfzeichen anzumelden.

Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde ich erhört und Tobbs öffnete die Tür. Sein Haar stand ihm wie immer zu Berge, sein Shirt war zerknittert, aber ausnahmsweise mal ohne Flecken, und auf seiner rechten Wange zeigte sich ein beeindruckendes Muster, das nur von Kissenfalten stammen konnte.

»Mann«, murrte Tobbs zur Begrüßung. »Weißt du überhaupt, wie spät es ist?«

»Es ist halb acht. Am Abend.«

»Oh.« Er kratzte sich am Bauch und dachte kurz nach. »Verstehe. Komm rein.«

Tobbs war auf allen Ebenen das wandelnde Klischee eines verschrobenen Hackers. In seinem Leben existierten keine unbedeutenden Dinge, wie etwa Uhrzeiten. Sein Schlaf-Wachrhythmus war so geformt, dass er jeglicher Definition von Rhythmus widersprach. Sein Geld verdiente er als freiberuflicher Programmierer, weshalb seine Wohnung auch gleichzeitig sein Arbeitsplatz war. Eine beeindruckende Computerzentrale mit mehreren Monitoren beanspruchte den halben Wohnbereich mit offener Küche. Das Apartment hätte trotzdem noch gemütlich sein können, würde Tobbs nicht im Anfangsstadium eines Messies hausen.

Ich quetschte mich mit den Essenstüten an ihm vorbei und rümpfte die Nase. »Grundgütiger, Tobbs! Wann hattest du zuletzt mal ein Fenster auf?«

»Weiß nicht genau.« Er zuckte unbekümmert mit den Schultern. »Was hast du da überhaupt dabei?«

»Dein Frühstück.«

Die Frage, ob er Hunger hatte, sparte ich mir. Tobbs nutzte prinzipiell jede Gelegenheit der Nahrungsaufnahme, die sich ihm zufällig bot. Sein Stoffwechsel hatte sich seiner unstrukturierten Lebensweise längst angepasst und er aß sozusagen stets auf Vorrat, damit er sich dann wieder tagelang nur von Snacks ernähren konnte. Dass er trotzdem kerngesund war, widerlegte so ziemlich jede ernährungstechnische Studie, die ich kannte.

Damit ich die Tüten überhaupt auf dem Couchtisch abstellen konnte, musste ich erst einmal mit dem Fuß einen ganzen Berg leerer Chipstüten und Energydrink-Dosen beiseiteschieben. Anschließend riss ich die Wohnzimmerfenster auf und ließ die frische Abendluft ihr Werk tun, während Tobbs einen Berg Wäsche von der Couch pflückte und daneben auf den Boden fallen ließ.

Ich kommentierte diese Vorgehensweise nicht weiter, denn ich hatte es längst aufgegeben, Tobbs solche Dinge wie Ordnung und Sauberkeit beibringen zu wollen. Da war Hopfen und Malz verloren.

Wir setzten uns aufs Sofa und machten uns ans Werk. Ich konnte buchstäblich zusehen, wie Tobbs´ Kissenfalten mit jeder Pappschachtel schwanden, die er aus den Papiertüten holte. Spätestens als wir den Couchtisch in ein duftendes Buffet umgewandelt hatten, war Tobbs hellwach.

Er klackerte voller Vorfreude mit den mitgelieferten Essstäbchen und ließ genüsslich den Blick über das Angebot schweifen. »Wow ... Aber sag mal, Tina. erwarten wir noch zehn weitere Gäste oder für wen hast du das alles geholt?«

»Na, für uns«, erwiderte ich salopp und schnappte mir den Becher mit der Wan-Tan-Suppe. »Okay, eigentlich für mich und Jayden. Aber der musste weg, darum darfst du jetzt mit mir schlemmen.«

»Jayden war da? Verdammt! Der bewegt sich echt wie ein Ninja über den Flur! Das gibt´s doch nicht, dass ich ihn immer verpasse.«

»Er würde dir ja eh nichts sagen.«

»Oh, irgendwann wird er das«, sagte Tobbs mit perfidem Lächeln. »Glaub mir, auf kurz oder lang wird er einknicken.«

Ich verdrehte die Augen. »Wie du meinst ... Aber ich schwöre dir, wenn du noch mal eine Stolperfalle vor meiner Tür anbringst, versohle ich dir persönlich mit dem Glöckchendraht den Hintern!«

Tobbs stocherte in einer Schachtel mit gebratenen Nudeln herum und mimte zumindest ein zerknirschtes Gesicht. »Ich hab mich doch schon tausend Mal dafür entschuldigt. Aber du musst zugeben, dass die Idee nicht schlecht war.«

Als Antwort schlürfte ich nur mit erhobener Braue meine Suppe. Dass seine Idee völliger Blödsinn gewesen war, hatte ich ihm nämlich schon mehrfach gesagt. An dieser Meinung hatte sich auch nichts geändert, nachdem meine blauen Flecken an den Knien wieder verschwunden waren.

Meine Gedanken wanderten zu Jayden und seiner spärlichen Nachricht auf dem Notizzettel. Hatte ich mir meine Enttäuschung wirklich komplett selbst zuzuschreiben? Oder durfte ich nicht doch zumindest erwarten, dass er mich in solchen Fällen anrief oder mir wenigstens eine SMS schickte? Schließlich wusste ich nicht einmal, seit wann er schon wieder weg war. Mir schwante aber, dass wir uns nicht unbedingt knapp verpasst hatten.

Ich fischte mit den Stäbchen eine Teigtasche aus der Suppe und betrachtete das wackelnde Gebilde. »Tobbs? Darf ich dich mal was fragen?«

»Klar.«

»Wenn du eine Verabredung hast und kurzfristig absagen musst, dann machst du das doch, sobald du es weißt und nicht erst, wenn die Verabredung schon anfängt.«

Tobbs schnitt eine Grimasse. »Oh, du meintest diese Art von Frage ... Tina, du weißt doch, dass ich für derlei Gespräche vollkommen ungeeignet bin.«

»Irgendeine Meinung wirst du ja wohl trotzdem dazu haben«, erwiderte ich und schob mir die Teigtasche in den Mund.

»Ernsthaft, Tina. Du brauchst dringend eine Freundin, mit der du Frauengespräche führen kannst. Letzte Woche hast du mich gefragt, was ich von High-Waste-Jeans halte. Ich musste erstmal googeln, was das überhaupt ist.«

»Ja, und dann wusstest du es, und hast mir deine Meinung dazu gesagt.«

Er seufzte übertrieben. »Was ist denn mit Anna? Kannst du nicht mit ihr über deine Beziehung reden?«

»Nein, die ist momentan im Einsatz und nicht erreichbar. Mit meinem Bruder will ich nicht über Jayden reden, weil er ihn sowieso hasst, und sonst habe ich niemandem, der mir nahesteht.« Ich grinste breit. »Du bist mein bester Freund, Tobbs.«

Er schaute mich ernst an. »Du musst dringend mehr unter Menschen, Tina.«

Waaas?

Ich blinzelte. »Äh, wann hast du noch gleich zuletzt deine Wohnung verlassen?«