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Die freiheitliche demokratische Grundordnung und die Innere Sicherheit sind gegenwärtig durch alle Phänomenbereiche von Politisch motivierter Kriminalität (PMK) besonders bedroht. Diese 2. Auflage untersucht aktuelle Trends, Akteure und ihre Strategien in den verschiedenen Ausprägungen von PMK. Zahlreiche rechtsterroristische und islamistisch-terroristische Anschläge, die nach der Veröffentlichung der 1. Auflage dieses Buches verübt wurden, belegen die große Bedrohung, die von PMK/Extremismus in Deutschland ausgeht. Dieses Buch ist eine analytische Einführung in die PMK-Bereiche Islamismus und islamistischer Terrorismus, Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus, "Reichsbürger" und "Selbstverwalter" sowie Linksextremismus. Die Analyseebene der Radikalisierung ("Wer wird warum Extremist und/oder Terrorist?") ist ein besonderer Schwerpunkt.
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Politisch motivierte Kriminalität
Radikalisierung und Extremismus
Von
Prof. Dr. Stefan Goertz
und
Martina Goertz-Neumann
2., neu bearbeitete Auflage
www.kriminalistik.de
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-7832-1351-5
E-Mail: [email protected]
Telefon: +49 6221 1859 559Telefax: +49 6221 1859 558
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Geleitwort
Islamismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürger“ sowie Linksextremismus gehören zu den wichtigsten sicherheitspolitischen Bedrohungen unserer Zeit. Allein die islamistischen Anschläge der Jahre 2017 und 2016 in Deutschland, der NSU-Prozess und die verhinderten Anschläge der rechtsextremistischen „Old School Society“, die Übergriffe von „Reichsbürgern“ auf Polizisten und andere Beamte sowie die linksextremistischen Gewaltexzesse im Rahmen des G20-Gipfels im Sommer 2017 in Hamburg verdeutlichen die Gefahr, die von den verschiedenen Phänomenbereichen politisch motivierter Kriminalität (PMK) für die freiheitlich demokratische Grundordnung Deutschlands ausgeht.
Dieses Buch zeigt auf, dass es für Demokratien wie die Bundesrepublik Deutschland von größter Wichtigkeit ist, die verschiedenen Phänomene von Extremismus richtig zu analysieren, um strategisch und taktisch angemessen auf sie zu reagieren. Dazu gehört eine umfassende, analytische Untersuchung der verschiedenen Phänomenbereiche von politisch motivierter Kriminalität:
Wer sind die Akteure?
Was motiviert und radikalisiert diese Akteure?
Was sind potenzielle Anschlagsziele und welche Gegenmaßnahmen können daraus abgeleitet werden?
Wie sind „die“ Akteure der verschiedenen Phänomenbereiche von politisch motivierter Kriminalität in der Vergangenheit vorgegangen?
Welche taktischen Muster lassen sich aus ihrem Vorgehen in der Vergangenheit für die Zukunft ableiten?
Politisch motivierte Kriminalität war und ist als Thema in den letzten Jahren und Monaten omnipräsent in den Medien und wird dies wohl auch in nächster Zeit sein. Zahlreiche Bücher wurden über Rechtsextremismus sowie Islamismus geschrieben, signifikant weniger Studien existieren zu den Phänomenbereichen Linksextremismus sowie „Reichsbürger“. Die meisten der Bücher über politisch motivierte Kriminalität gehen sehr spezialisiert vor und konzentrieren sich auf einen Teilaspekt, zum Beispiel auf ihre historische Entwicklung, oder sie gehen detailliert auf eine extremistische Organisation ein oder sie beschreiben den biographischen Hintergrund von Extremisten.
Aus der Sicht der deutschen und europäischen Sicherheitsbehörden werden in diesem Handbuch zwei Schwerpunkte herausgearbeitet:
Zum einen die Analyse der Akteure von politisch motivierter Kriminalität: Wer wird warum Extremist oder Terrorist, wie verlaufen die Radikalisierungsprozesse? Zur Analyse und Beantwortung dieser Frage nutzen die Autoren sowohl die aktuelle englischsprachige und deutsche wissenschaftliche Literatur als auch die Analysen und Berichte der deutschen Sicherheitsbehörden, wie beispielsweise des Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Verfassungsschutz.
In vier Hauptkapiteln werden die verschiedenen Phänomenbereiche von politisch motivierter Kriminalität mit dem Schwerpunkt auf die Analyse der Radikalisierung der Täter erläutert. Was motiviert und radikalisiert die unterschiedlichen Akteure politisch motivierter Kriminalität?
Einführende und abschließende theoretische und analytische Feststellungen mit zahlreichen Fallbeispielen aus den jeweiligen Phänomenbereichen der PMK werden kombiniert, um aktuelle und zukünftige „Praktiker“ im staatlichen und zivilgesellschaftlichen Aufgabenbereich der Prävention und Repression von politisch motivierter Kriminalität zu unterstützen.
Dieses Handbuch stellt aufgrund seiner Analyse und seiner Schwerpunkte einen wichtigen Beitrag zur Radikalisierungsforschung im Bereich politisch motivierte Kriminalität dar und richtet sich sowohl an Praktiker und Studierende des Bereiches Innere Sicherheit als auch an Studierende und Wissenschaftler der Sozialwissenschaften.
Lübeck, im Oktober 2017 Alfons Aigner Präsident der Bundespolizeiakademie
Vorwort
Diese zweite, neu bearbeitete und aktualisierte Auflage wurde im Herbst und Winter 2020 erstellt. Zu einem Zeitpunkt, als der rechtsextremistische Anschlag auf Walter Lübcke durch den rechtsextremistischen Terroristen Stephan Ernst 2019, der rechtsextremistische Anschlag von Stephan Balliet auf eine Synagoge in Halle 2019 sowie der rechtsextremistische Anschlag von Tobias Rathjen in Hanau 2020 noch nicht lange her waren.
Zeitlich noch aktueller sind die vier islamistischen Anschläge im Herbst 2020, der mutmaßlich homophob motivierte Anschlag in Dresden, der Anschlag auf den Geschichtslehrer Samuel Paty (Enthauptung wegen gezeigter Mohammed-Karikaturen), der Anschlag in und vor einer Kirche in Nizza sowie der islamistische Anschlag in Wien Anfang November 2020.
Diese terroristischen Anschläge stellen auf der Ebene eines Radikalisierungsprozesses im Bereich Politisch motivierter Kriminalität/Extremismus, bildlich gesprochen, das letzte Stockwerk eines Stufenprozesses von extremistischer Radikalisierung dar. Neben diesen terroristischen Anschlägen darf aber auch nicht vergessen werden, dass die Zahlen des Personenpotenzials in den PMK-Phänomenbereichen Islamismus/Salafismus, Rechtsextremismus und Linksextremismus seit Jahren steigen und auch die Straftaten in diesen PMK-Bereichen seit Jahren zunehmen.
Die freiheitliche demokratische Grundordnung und die Innere Sicherheit sind aktuell – wie selten zuvor – durch alle Phänomenbereiche von Politisch motivierter Kriminalität besonders bedroht. Dieses Buch in seiner zweiten Auflage analysiert die Akteure von Politisch motivierter Kriminalität, ihre Radikalisierungsprozesse und untersucht die aktuellen Zahlen und Fakten zur Politisch motivierten Kriminalität. Zahlreiche neue Fälle in allen Phänomenbereichen von PMK/Extremismus wurden in dieser zweiten Auflage ergänzt.
Im Rahmen der Veröffentlichung der zweiten Auflage dieses Buches möchten wir unseren Kollegen für ihre Anregungen und Fragen zur Politisch motivierten Kriminalität danken.
Wir widmen dieses Buch den Toten und Verletzten terroristischer Anschläge sowie ihren Angehörigen!
Lübeck, im Januar 2021 Prof. Dr. Stefan Goertz Martina Goertz-Neumann
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort
Vorwort
IEinleitung
1.Die Phänomenbereiche
2.Aktuelle Entwicklungen
3.Die Zielgruppe dieses Buches
4.Der Aufbau dieses Buches
IIBegriffsbestimmungen
1.Politisch motivierte Kriminalität (PMK)
2.Freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO)
3.Extremismus
4.Radikalisierung
IIIIslamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus
1.Der Phänomenbereich Islamismus
1.1Definition und Kurzzusammenfassung
1.2Der Phänomenbereich Salafismus
1.2.1Kategorisierung des salafistischen Spektrums in puristischen, politischen und jihadistischen Salafismus
a)Puristischer Salafismus
b)Politischer Salafismus
c)Jihadistischer Salafismus
1.2.2Definition und Kurzzusammenfassung
1.3Der Phänomenbereich Islamistischer Terrorismus (Jihadismus)
1.3.1Definition und Kurzzusammenfassung
2.Islamistische Radikalisierung: Wege in den Islamismus, Salafismus und islamistischen Terrorismus
2.1Islamistischer Radikalisierungsfaktor: Die Ideologie
2.1.1Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus (Jihadismus) als religiös-politische Ideologie
2.1.2Die Religion Islam sowie die Ideologie Islamismus und der Jihad
2.1.3Zwischenfazit: Die islamistische Ideologie als Radikalisierungsfaktor
2.2Radikalisierungsfaktor islamistische, salafistische, jihadistische Peer Groups und Milieus
2.2.1Charismatische Prediger als Radikalisierungsfaktor
2.3Radikalisierungsfaktor islamistisch-jihadistische Angebote des Internets
2.3.1Islamistische Internetangebote: Propaganda, Social Networking, Kommunikation und taktisch-operative Steuerung von jihadistischen Anschlägen
2.3.2Charismatische Prediger im Internet
3.Islamistisch motivierte Straftaten und von Sicherheitsbehörden verhinderte Anschläge
4.Das aktuelle islamistische, salafistische und jihadistische Personenpotenzial
5.Aktuelle Daten zu islamistischen und jihadistischen Organisationsformen
5.1Großanschläge und multiple Szenarien von internationalen islamistisch-terroristischen Organisationen: Hit-Teams
5.2Islamistische Einzeltäter
5.3Mögliche Anschlagsziele und Modi Operandi
5.4Verweis auf Analysen von islamistisch-terroristischen Anschlägen in Deutschland
IVRechtsextremismus
1.Der Phänomenbereich Rechtsextremismus
1.1Definition und Kurzzusammenfassung
2.Rechtsextremistische Radikalisierung: Wege in den Rechtsextremismus
2.1Soziologische und sozialpsychologische Ansätze
2.2Psychologische Hypothesen zur Theorie der „autoritären Persönlichkeit“
2.3Ökonomische Ansätze
2.4Politische Theorien
2.5Nachfrage und Angebots-Konzeptionen
a)Nachfrage-Konzeptionen
b)Angebots-Konzeptionen
3.Rechtsextremistisch motivierte Straftaten
4.Das rechtsextremistische Personenpotenzial: Die Radikalisierten
5.Aktuelle Daten zu rechtsextremistischen Organisationsformen
5.1„Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD)
5.2„Die Rechte“
5.3„Der III. Weg“
5.4„Bürgerbewegung Pro NRW“ („Pro NRW“)
5.5Rechtsextremistische Prüffälle innerhalb der Partei Alternative für Deutschland (AfD)
6.Analyse von rechtsextremistischen Aktivitäten: Mittel und Wege der Radikalisierung
6.1Rechtsextremistischer Terrorismus und seine Ziele
6.2Rechtsextremistische Aktivitäten in Bezug auf die aktuelle Flüchtlingssituation in Deutschland
6.2.1Die Neonazi-Szene als Teil des rechtsextremistischen Milieus und ihre sog. „Volkstod-Ideologie“
6.2.2Islamfeindliche Agitation, Rhetorik und Agenda
6.2.3Rechtsextremistische „Aktionen“: Straf- und Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Flüchtlingseinrichtungen sowie „politische Gegner“
6.2.4Reaktionen von Rechtsextremisten auf islamistisch-terroristische Anschläge und auf den Anschlag in München
6.2.5Aktuelle Beobachtungen der Sicherheitsbehörden: Asylthematik verliert an Bedeutung für das rechtsextremistische Versammlungsgeschehen
6.2.6Zwischenfazit
6.3Rechtsextremistische Radikalisierung und die Rolle des Internets
6.4Rechtsextremistische Demonstrationen
6.5Rechtsextremistische Musikveranstaltungen: Mehrjährig steigende Tendenz
6.6Übergriffe auf Flüchtlingseinrichtungen
7.Akteure des rechtsextremistischen Terrorismus
7.1Der Nationalsozialistische Untergrund (NSU)
7.2Die Oldschool Society (OSS)
7.3Combat 18 (C18)
7.4Frank S.
7.5David Sonboly
7.6Die Gruppe „Nordadler“
7.7Die „Gruppe Freital“
7.8Die „Gruppe Nordkreuz“
7.9Die „Gruppe S“
7.10Stephan Ernst
7.11Roland K.
7.12Stephan Balliet
7.13Tobias Rathjen
V„Reichsbürger und Selbstverwalter“
1.Der Phänomenbereich „Reichsbürger und Selbstverwalter“
1.1Grundlagen des „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“-Denkens
1.2Erscheinungsformen und Aktivitäten von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“
1.3Politisch motivierte Gewalt sowie Gefährdungspotenzial
1.4Personenpotenzial „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“
2.Analyse und Ausblick
2.1Radikalisierungshintergründe
2.2Das Verbot des „Reichsbürger“-Vereins „Geeinte deutsche Völker und Stämme“
VILinksextremismus
1.Der Phänomenbereich Linksextremismus
1.1Definition und Kurzzusammenfassung
2.Linksextremistische Radikalisierung: Wege in den Linksextremismus
2.1Radikalisierungsfaktor linksextremistische Ideologieelemente
2.1.1Kommunismus und Anarchismus als ideologische Fundamente
2.1.2„Antifaschismus“
2.1.3„Antirassismus“
2.1.4„Antigentrifizierung“
2.2Radikalisierungsfaktor linksextremistische Peer Groups, Milieus und autonome Zentren
2.2.1Die Kampagne „Social Center 4 All“: Eine Spirale der Gewalt im Kampf um „autonome Freiräume“
2.3Radikalisierungsfaktor linksextremistische Angebote des Internets
2.3.1„linksunten.indymedia“ als Prototyp linksextremistischer Angebote des Internets
2.4Radikalisierungsfaktor gesellschaftliche Akzeptanz linksextremistischer Einstellungen
2.5Ökonomisch-soziale Hintergründe als Radikalisierungsfaktor?
2.6Radikalisierungsfaktor Gewaltaffinität, Aggression: „Massenmilitanz“ und klandestine Gewalt
3.Linksextremistisch motivierte Straftaten
4.Das linksextremistische Personenpotenzial
5.Aktuelle Daten zu linksextremistischen Organisationsformen
5.1Die Autonomen
5.1.1Ideologieelemente der Autonomen
5.1.2Die Funktion von Gewalt
5.1.3„Anti-Repression“, Anti-Rechtsstaat, Anti-Gewaltmonopol
6.Analyse von linksextremistischen und linksterroristischen Aktivitäten: Wege und Mittel der Radikalisierung
6.1Linksextremistische Gewalt im Rahmen des G20-Gipfels im Juli 2017 in Hamburg
6.1.1Analyse der linksextremistischen Gewalt im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg 2017
6.2Gezielte Eskalationsstrategie der „Rigaer 94“ in Berlin
6.2.1Linksextremistische Eskalation: Aufruf zur Tötung politischer „Gegner“
6.3Die Corona-Krise: Infrastruktur und Demonstrationsteilnehmer als linksextremistische Anschlagsziele
VIIZusammenfassung und Fazit
1.Aktuelle Entwicklungen
2.Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus (Jihadismus)
3.Rechtsextremismus
4.„Reichsbürger und Selbstverwalter“
5.Linksextremismus
6.Prävention und Forschungsbedarf
Literatur- und Quellenverzeichnis
Sachverzeichnis
I Einleitung
1.Die Phänomenbereiche
2.Aktuelle Entwicklungen
3.Die Zielgruppe dieses Buches
4.Der Aufbau dieses Buches
I Einleitung › 1. Die Phänomenbereiche
Zahlreiche Straftaten und Fälle in den verschiedenen Phänomenbereichen politisch motivierter Kriminalität (PMK) in den letzten Monaten und Jahren haben sowohl den Sicherheitsbehörden und den politischen Entscheidungsträgern als auch den Medien und der Öffentlichkeit gezeigt, dass die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) durch alle unterschiedlichen Phänomenbereiche der PMK bedroht wird.
Die zahlreichen geplanten und durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge innerhalb der letzten vier Jahre in Europa und Deutschland, darunter der homophob motivierte Anschlag auf zwei Touristen in Dresden am 4.10.2020, haben den Grad der Bedrohung verdeutlicht, die aktuell und zukünftig von Islamisten, Salafisten und islamistischen Terroristen für demokratische, westliche Staaten wie Deutschland ausgeht.
Die drei rechtsextremistisch-terroristischen Anschläge innerhalb von acht Monaten – das Attentat auf Walter Lübcke im Juni 2019, der Anschlag in Halle im Oktober 2019 und der Anschlag in Hanau im Februar 2020 – sowie die zahlreichen Morde und Mordversuche des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) verdeutlichen das Bedrohungsmaß, das aktuell und zukünftig von rechtsextremistischem Terrorismus für die Innere Sicherheit Deutschlands ausgeht.
Die „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind in den Jahren als weiterer Akteur PMK in den Fokus der deutschen Sicherheitsbehörden geraten, u.a. durch den Todesfall eines Polizisten bei einem Zugriff auf „Reichsbürger“.
Die linksextremistischen Gewaltexzesse im Rahmen des G20-Gipfels Anfang Juli 2017 haben sowohl politische Entscheidungsträger als auch Sicherheitsbehörden und die Medien vor Erklärungsschwierigkeiten gestellt in Bezug auf die Qualität und Quantität dieser Gewaltexzesse, die von zahlreichen politischen und medialen Akteuren als „unerwartet“[1] und als „neue Dimension linksterroristischer und autonomer Gewalt“[2] bewertet wurden.
So unterschiedlich die Ideen und Ideologien der Akteure der politisch motivierten Kriminalität in Deutschland sind, wurde in den letzten Monaten den politischen Verantwortungsträgern, den Sicherheitsbehörden, den Medien und der Öffentlichkeit bewusst, dass ein eklatantes Analysevakuum in verschiedenen Bereichen der PMK in Deutschland besteht. So führte der Berliner Extremismusforscher Schroeder öffentlich-medial aus, dass der Linksextremismus in Deutschland „von Teilen der Gesellschaft seit langem verharmlost wurde“[3]. Ein weiterer Extremismusforscher, Pfahl-Traughber, erklärt vor dem Hintergrund der Gewaltexzesse im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg, dass, während über rechtsextremistische Einstellungen in der Gesamtgesellschaft seit vielen Jahren kontinuierliche Meinungsfragen durchgeführt werden, die nicht nur Auskunft über das quantitative Ausmaß, sondern auch über die sozialen Hintergründe geben, es „komplett an Studien mit der Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Akzeptanz linksextremistischer Einstellungen und linksextremistischer Militanz“[4] mangele.
Diese Thesen muss man auch auf die Phänomenbereiche „Reichsbürger“, Rechtsextremismus sowie Islamismus und insbesondere auf die Radikalisierungsforschung dieser Phänomenbereiche übertragen. Auch nach über 19 Jahren nach den historischen Anschlägen des 11.9.2001 ist immer noch ein eklatantes Analysevakuum im Phänomenbereich Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus, sowohl innerhalb der Wissenschaft als auch innerhalb der Sicherheitsbehörden, festzustellen. Spätestens die zahlreichen seit dem Jahr 2016 verübten und versuchten islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate in Deutschland und anderen Staaten der Europäischen Union sollten bzw. müssen eine Zeitenwende der Betrachtung und Analyse des Phänomenbereiches islamistischer Terrorismus auslösen.
Was haben linksextremistische, rechtsextremistische, islamistische Straftäter und Straftäter der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ gemeinsam?
Was wiederum unterscheidet sie voneinander?
Eine effektive Analyse der unterschiedlichen Phänomenbereiche PMK muss von der Grundannahme ausgehen, dass dieser Phänomenbereich hoch komplex ist und notwendigerweise analysiert werden muss.
Folgende Analysebereiche stehen daher im Mittelpunkt der Untersuchung dieses Buches:
•
Radikalisierung: Warum und wie entfernen sich Menschen von demokratischen Prinzipien wie der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) und wenden Gewalt an, um religiös-politische (Islamismus) bzw. politische Ziele (Linksextremismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürger“) zu erreichen?
•
Akteursanalyse: Wer wird warum Extremist und/oder islamistischer, rechtsextremistischer, linksextremistischer Terrorist?
•
Taktik und Mittel: Wie gehen Extremisten vor? Können (wiederkehrende) Muster identifiziert werden, aus denen dann Gegenmaßnahmen entwickelt werden können?
Nicht erst die islamistischen Anschläge und Attentate der Jahre 2015 bis 2020 in europäischen Staaten wie Frankreich und Deutschland mit insgesamt 800 Toten und über 3.750 Verletzten, die drei rechtsextremistisch-terroristischen Anschläge in den Jahren 2019 und 2020 sowie der Fall NSU und die Gewaltexzesse im Rahmen des G20-Gipfels in Hamburg 2017 verdeutlichen die Bedeutung von Radikalisierungsforschung in den unterschiedlichen Phänomenbereichen politisch motivierter Gewalt. Die dominierende analytische Leitfrage dieses Buches lautet daher:
Warum und wie radikalisieren sich Menschen, die in demokratischen, freiheitlichen, sozialstaatlichen Gesellschaften aufgewachsen und/oder geboren sind, zu Extremisten und/oder Terroristen, die grundlegende Verfassungsprinzipien wie Demokratie, Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität und Minderheitenschutz ablehnen und ihre politische bzw. religiös-politische Ideologie zur Grundlage des Lebens aller Menschen machen wollen?
http://www.zeit.de/politik/2017-07/g20-gipfel-hamburg-live; 2.1.2021.
http://www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/polizeibilanz-nach-gzwanzig-gipfel-100.html; 2.1.2021.
https://www.abendblatt.de/hamburg/article211207427/Linksextremismus-von-Gesellschaft-teilweise-verharmlost.html; 2.1.2021.
Pfahl-Traughber 2014, S. 232.
I Einleitung › 2. Aktuelle Entwicklungen
Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, erklärte in seinem Statement im Bundestag am 29.6.2020, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz aktuell „Rechtsextremismus und -terrorismus als größte Bedrohung für die Sicherheit in Deutschland bewertet“.[1] Als Indiz dafür sah der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz im deutschen Rechtsextremismus „eine hohe Gewaltbereitschaft, regelmäßige Waffenfunde und die Tötungsdelikte“ der drei rechtsextremistisch-terroristischen Anschläge 2019 und 2020. Dazu führte Präsident Haldenwang aus: „Nach den Anschlägen 2019 erschoss im Februar ein Rechtsextremist in Hanau weitere 10 unschuldige Menschen. Deshalb behalten unsere Prognosen ihre Gültigkeit: Die Lageverschärfung im Rechtsextremismus führt zu schwersten Gewalttaten, mit denen auch weiterhin zu rechnen ist. Es entwickeln sich mehrheitlich rechtsterroristische Ansätze am Rand oder außerhalb der Szene. Und die Virtualisierung, Radikalisierung und Entgrenzung bleiben die prägenden Merkmale rechtsextremistischer Aktivitätsmuster“.[2] Daneben führte Haldenwang aus, dass das rechtsextremistische Personenpotenzial gegenüber dem vergangenen Jahr um 33% auf rund 32.000 Personen gestiegen sei. Neben dem Anstieg der gewaltorientierten Personen auf 13.000 beobachteten die deutschen Verfassungsschutzbehörden auch einen auffälligen Anstieg antisemitisch motivierter Straf- und Gewalttaten von Rechtsextremisten um jeweils etwa 17 Prozent.[3]
Linksextremistisch motivierte Straftaten nahmen im Jahr 2019, dem Berichtsjahr des aktuellen Verfassungsschutzberichts von 2020, um fast 40 Prozent zu, darunter waren auch 921 Gewaltdelikte und zwei versuchte Tötungsdelikte. Die Zahl der Sachbeschädigungen durch Linksextremisten stieg um über 58 Prozent, die der Brandstiftungen erhöhte sich um fast 52 Prozent.[4]
Außerdem wurden seit 2004 in Europa über 89 islamistische Anschläge verübt bzw. durch Sicherheitsbehörden verhindert. Durch die verübten islamistischen Anschläge starben 800 Menschen und wurden über 3745 Menschen verletzt. Nach Angaben des Bundeskriminalamtes wurden allein in Deutschland seit 2016 neun islamistische Anschläge verhindert, zwei davon im Winter 2019.
BfV 2020b.
Ebd.
Ebd.
Ebd.
I Einleitung › 3. Die Zielgruppe dieses Buches
Politisch motivierte Kriminalität, Extremismus, sind äußerst komplexe Phänomenbereiche, welche die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) unserer Bundesrepublik bedrohen und für jeden Bereich menschlichen Zusammenlebens relevant sind.
Auf der Ebene von Studium und Wissenschaft sind politisch motivierte Kriminalität, also Extremismus, von besonderer Bedeutung für folgende Fächer und Fakultäten:
•
Rechtswissenschaft,
•
Psychologie,
•
Sozialwissenschaften,
•
Politikwissenschaft,
•
Islamwissenschaft,
•
Internationale Beziehungen,
•
International and European Governance,
•
Soziologie,
•
Sozialpädagogik,
•
Soziale Arbeit,
•
Sozialpolitik,
•
Regionalstudien Naher und Mittlerer Osten: Sozialwissenschaften,
•
Regionalstudien Afrika: Sozialwissenschaften,
•
Regionalstudien Naher und Mittlerer Osten: Volkswirtschaft,
•
Regionalstudien Afrika: Volkswirtschaft,
•
Religionspädagogik,
•
Kulturanthropologie,
•
Ethnologie,
•
Sprachen und Kulturen der islamischen Welt,
•
Sprachen und Kulturen Afrikas,
•
Arabisch-Islamische Kultur,
•
Geschichtswissenschaft,
•
Friedens- und Konfliktforschung
•
u.a.
Auf der Ebene von Behörden und öffentlichen Einrichtungen in Europa und Deutschland sind PMK, Extremismus, von besonderer Bedeutung für folgende Bereiche:
•
Polizei (Bundespolizei, Landespolizeien, Bundeskriminalamt, Landeskriminalämter, Staatsschutzabteilungen, Spezialeinsatzkommando, Mobiles Einsatzkommando),
•
Nachrichtendienste (Verfassungsschutz auf der Ebene Bund und Länder, Bundesnachrichtendienst, Militärischer Abschirmdienst),
•
Justiz,
•
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge,
•
Ausländerbehörden,
•
Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe,
•
Zoll,
•
Politische Bildung, Bundeszentrale und Landeszentralen,
•
Bildung und Kultus (auf den Ebenen Bund und Länder, vor allem die Kultusministerien der Bundesländer),
•
Schulen,
•
Justizvollzugsanstalten,
•
Regierungspräsidien,
•
Bezirksregierungen,
•
Akteure im Bereich von Prävention,
•
u.a.
Dieses Buch versteht sich dabei als analytische Einführung in die verschiedenen Phänomenbereiche Islamismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürger und Selbstverwalter“ sowie Linksextremismus und untersucht diese Phänomenbereiche auf den Ebenen Definitionen, Analyse, Radikalisierungsforschung sowie Fallbeispiele. Diese Ebenen sind wiederum so miteinander verbunden, dass das Buch – abhängig vom beruflichen Hintergrund und dem bereits mitgebrachten Vorwissen – nicht chronologisch gelesen werden muss, weil die drei Ebenen einen jeweils individuellen Einstieg in die Untersuchung des jeweiligen Phänomenbereiches ermöglichen. Dieses Handbuch ist kein „theorielastiges“ Buch, allerdings verdeutlichen die komplexen und heterogenen Fallbeispiele von Islamismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürger und Selbstverwalter“ sowie Linksextremismus, dass wissenschaftstheoretische Abgrenzungen, Definitionen und Analysekriterien essenziell wichtig sind, um diese Phänomenbereiche effektiv zu analysieren.
Konzipiert ist dieses Buch sowohl für Bachelor- als auch Masterstudenten der oben erwähnten Fächer und Fakultäten. Das Literaturverzeichnis – das sowohl internationale, englischsprachige Quellen (vor allem im Bereich Islamismus) als auch deutschsprachige Studien (sowohl von Universitäten und ihren Instituten als auch von Sicherheitsbehörden) nutzt – könnte zu eigener wissenschaftlicher Arbeit anregen.
Praktiker aus den Bereichen Polizei, Nachrichtendienst (Verfassungsschutz, BND, BAMAD), Justiz und aus anderen Behörden der Bereiche Innere Sicherheit, Psychologie, Migration, Pädagogik und Bildung werden durch ihren jeweils individuellen Hintergrund unterschiedlich an dieses Buch herangehen.
Als Ergebnis einer Adressatenanalyse der Zielgruppe des Buches ist dieses Buch so aufgebaut, dass einführende und abschließende „theoretische“ und analytische Feststellungen mit zahlreichen Fallbeispielen aus den verschiedenen Phänomenbereichen der PMK verbunden werden, um aktuellen und zukünftigen „Praktikern“ im staatlichen und zivilgesellschaftlichen Aufgabenbereich der Prävention und Repression von PMK zu helfen.
I Einleitung › 4. Der Aufbau dieses Buches
Die Hauptkapitel II bis VI sind so aufgebaut, dass die Begriffsbestimmungen des Kapitels II ebenso wie die Analyse (exemplarische Fallbeispiele) ausgewählter extremistischer Akteure und ihrer Straftaten einen Einstieg in das Buch auf zwei verschiedenen Ebenen ermöglichen: Entweder theoretisch-begrifflich durch die jeweils ersten Unterkapitel oder empirisch-praktisch durch die Analyse exemplarisch ausgewählter Fallbeispiele von Islamismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürgern und Selbstverwaltern“ sowie Linksextremismus.
Die Begriffsbestimmungen der jeweils ersten Unterkapitel arbeiten einerseits auf der Ebene der universitären Forschung und andererseits auf der Ebene deutscher Sicherheitsbehörden, was dem Anspruch, „den Praktikern zu helfen“, entspricht. Dabei sind die definitorischen, begrifflichen Anteile, die jeweils ersten Unterkapitel, nicht „Theorie der Theorie willen“, sondern dienen als Grundlage einer praktischen Analyse der erheblichen Herausforderungen, welche die verschiedenen Phänomenbereiche PMK an zahlreiche staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure unserer Bundesrepublik stellen.
Die einleitenden Unterkapitel der Hauptkapitel enthalten sowohl kurze Definitionen als auch abschließende Kurzzusammenfassungen zur stark komprimierten Rekapitulation des Analyseinhalts und dienen dadurch der Verknüpfung der Unterkapitel und Hauptkapitel.
In den einleitenden Unterkapiteln der Hauptkapitel werden aktuelle, internationale Forschungsergebnisse der Psychologie und Sozialwissenschaften ebenso wie Studien und Analysen der deutschen Sicherheitsbehörden genutzt.
Die Fallanalysen der Hauptkapitel untersuchen spezifische Formen und Ausprägungen der unterschiedlichen Phänomenbereiche politisch motivierter Kriminalität.
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern auf eine Differenzierung verzichtet und die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat nur redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.
II Begriffsbestimmungen
1.Politisch motivierte Kriminalität (PMK)
2.Freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO)
3.Extremismus
4.Radikalisierung
II Begriffsbestimmungen › 1. Politisch motivierte Kriminalität (PMK)
Als Politisch motivierte Kriminalität (PMK) werden alle Straftaten bezeichnet und erfasst, die einen oder mehrere Straftatbestände der sog. klassischen Staatsschutzdelikte erfüllen, selbst wenn im Einzelfall eine politische Motivation nicht festgestellt werden kann.[1]
Als solche klassischen Staatsschutzdelikte gelten die folgenden Straftatbestände: §§ 80 bis 83, 84 bis 91, 94 bis 100a, 102 bis 104a, 105 bis 108e, 109 bis 109h, 129a, 129b, 130, 234a oder 241a des Strafgesetzbuches (StGB).
Auch Straftaten, die in der Allgemeinkriminalität begangen werden können (wie z.B. Tötungs- und Körperverletzungsdelikte, Brandstiftungen, Widerstandsdelikte, Sachbeschädigungen), fallen unter PMK, wenn in Würdigung der gesamten Umstände der Tat und/oder der Einstellung des Täters Anhaltspunkte für eine politische Motivation gegeben sind.[2]
Anhaltspunkte für eine politische Motivation einer Tat sind gegeben:
•
wenn sie den demokratischen Willensbildungsprozess beeinflussen soll,
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wenn sie der Erreichung oder Verhinderung politischer Ziele dient,
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wenn sie sich gegen die Realisierung politischer Entscheidungen richtet,
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wenn sie sich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) beziehungsweise eines ihrer Wesensmerkmale, den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes richtet,
•
wenn sie eine ungesetzliche Beeinträchtigung der Amtsführung von Mitgliedern der Verfassungsorgane des Bundes oder eines Landes zum Ziel hat,
•
wenn sie durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet,
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wenn sie sich gegen eine Person wegen ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft oder aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes, ihrer Behinderung, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres gesellschaftlichen Status richtet (sog. hate crime, Hasskriminalität),
•
dazu zählen auch Taten, die nicht unmittelbar gegen eine Person, sondern im oben genannten Zusammenhang gegen eine Institution oder Sache verübt werden.[3]
BfV 2017a, S. 21.
Ebd.
BfV 2017a, S. 22.
II Begriffsbestimmungen › 2. Freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO)
Im Grundgesetz wird der Begriff freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) zwei Mal verwendet, in Art. 18 GG und in Art. 21 II GG. Mit dem Begriff freiheitliche demokratische Grundordnung (fdGO) ist die demokratische Ordnung in Deutschland gemeint, in der demokratische Prinzipien – ausgeführt in Art. 20 GG – und demokratische Grundwerte gelten, die unantastbar sind.[1] Von höchster Bedeutung ist dabei die Würde jedes einzelnen Menschen, Art. 1 GG. In der deutschen Demokratie herrschen Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, ist Diktatur ausgeschlossen, in regelmäßigen allgemeinen Wahlen bestimmt das Volk selbst, wer regieren soll.[2] Dabei hat die wahlberechtigte Bevölkerung die Auswahl zwischen konkurrierenden Parteien und Parteiprogrammen. Wer die Mehrheit der Wählerstimmen erhält, regiert, aber immer nur für einen bestimmten Zeitraum, weil Demokratie immer nur Herrschaft auf Zeit ist.
Als grundlegende Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) hat das Bundesverfassungsgericht genannt:
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die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung,
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die Volkssouveränität,
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die Gewaltenteilung,
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die Verantwortlichkeit der Regierung,
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die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung,
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die Unabhängigkeit der Gerichte,
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das Mehrparteienprinzip und
•
die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Ausübung einer Opposition.[3]
Nach Art. 79 III GG sind wesentliche Grundsätze unabänderlich, insbesondere der Schutz der Menschenwürde, Art. 1 I GG, und die in Art. 20 GG enthaltenen Prinzipien der staatlichen Ordnung (Demokratie, Föderalismus, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit).
https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/16414/freiheitliche-demokratische-grundordnung; 2.1.2021.
Ebd.
Ebd.
II Begriffsbestimmungen › 3. Extremismus
Alle Varianten des Extremismus sind dadurch gekennzeichnet, dass sie den demokratischen Verfassungsstaat, die fdGO, ablehnen, ihn bzw. sie beseitigen oder einschränken wollen, einerseits seine konstitutionelle Komponente (Gewaltenteilung, Grundrechtsschutz), andererseits seine demokratische (Volkssouveränität, menschliche Fundamentalgleichheit).[1] Daher negieren alle Varianten des Extremismus im Kern die Pluralität der Interessen, das damit verbundene Mehrparteiensystem und das Recht auf Opposition.[2] Durch die Identitätstheorie, durch Freund-Feind-Stereotype, durch ein hohes Maß an ideologischem Dogmatismus und oftmals durch ein Missionsbewusstsein geprägt, ist Extremismus vom Glauben an ein objektiv erkennbares und vorgegebenes Gemeinwohl beseelt und kann die Legitimität pluraler Meinungen kaum akzeptieren.[3]
In Anwendung der vom Bundesverfassungsgericht definierten grundlegenden Prinzipien der fdGO kann Extremismus als außerhalb eines oder mehrerer dieser Prinzipien stehend beschrieben werden bzw. als eine Gegenposition dazu einnehmend.[4]
Extremismus mit seinen höchst unterschiedlichen Varianten stellt eine zentrale Herausforderung des demokratischen Verfassungsstaates dar.
Jesse 2017, S. 17; Backes/Jesse 2006.
Jesse 2017, S. 17.
Jesse 2017.
Vgl. https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/pocket-politik/16414/freiheitliche-demokratische-grundordnung; 2.1.2021.
II Begriffsbestimmungen › 4. Radikalisierung
Die hier zu untersuchenden Phänomenbereiche von PMK, 1. Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus, 2. Rechtsextremismus, 3. „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie 4. Linksextremismus, werden alle in den einzelnen Hauptkapiteln sowohl theoretisch-hypothetisch als auch empirisch anhand ähnlicher Radikalisierungsfaktoren untersucht.
Folgende Radikalisierungsfaktoren werden in allen Phänomenbereichen dieser Untersuchung kategorisch analysiert:
•
Ideologie bzw. Ideologieelemente als Radikalisierungsfaktor,
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Der soziale Nahbereich, das Milieu, die Szene, die peer group als Radikalisierungsfaktor,
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Angebote des Internets als Radikalisierungsfaktor.
Um jedem Phänomenbereich der PMK gerecht zu werden und seine spezifischen Radikalisierungsfaktoren zu analysieren, setzt jedes Hauptkapitel in seiner Bearbeitung zusätzlich zu den Radikalisierungsfaktoren, 1. Ideologie, 2. der soziale Nahbereich und 3. Angebote des Internets, noch weitere spezifische, individuelle Schwerpunkte.
Folgende Analysebereiche stehen daher im Mittelpunkt der Untersuchung dieses Buches:
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Warum und wie entfernen sich Menschen von demokratischen Prinzipien wie der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) und wenden Gewalt an, um religiös-politische (Islamismus) bzw. politische Ziele (Linksextremismus, Rechtsextremismus, „Reichsbürger“) zu erreichen?
•
Akteursanalyse: Wer wird warum Extremist und/oder islamistischer, rechtsextremistischer, linksextremistischer Terrorist?
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Taktik und Mittel: Wie gehen Extremisten strategisch und taktisch vor? Können (wiederkehrende) Muster identifiziert werden, aus denen dann Gegenmaßnahmen entwickelt werden können?
Besondere Schwerpunkte, spezifische Radikalisierungsfaktoren sind z.B.
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Rechtsextremistische Aktivitäten in Bezug auf die aktuelle Flüchtlingssituation in Deutschland,
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Radikalisierungsfaktor linksextremistische Peer Groups, Milieus und autonome Zentren,
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Radikalisierungsfaktor gesellschaftliche Akzeptanz linksextremistischer Einstellungen.
III Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus
1.Der Phänomenbereich Islamismus
2.Islamistische Radikalisierung: Wege in den Islamismus, Salafismus und islamistischen Terrorismus
3.Islamistisch motivierte Straftaten und von Sicherheitsbehörden verhinderte Anschläge
4.Das aktuelle islamistische, salafistische und jihadistische Personenpotenzial
5.Aktuelle Daten zu islamistischen und jihadistischen Organisationsformen
III Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus › 1. Der Phänomenbereich Islamismus
Der islamistische Terrorismus, Islamismus und Salafismus sind wesentliche, existenzielle politisch motivierte Bedrohungen unserer Zeit und der nächsten Jahrzehnte. Nicht erst die zahlreichen geplanten und durchgeführten islamistisch-terroristischen Anschläge und Attentate innerhalb der letzten fünf Jahre in Europa und Deutschland verdeutlichen den Grad der Bedrohung, die aktuell und zukünftig von islamistischen Terroristen, Islamisten und Salafisten für demokratische, westlich-freiheitliche Staaten wie Deutschland ausgeht.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz definiert Islamismus wie folgt:
Der Begriff Islamismus bezeichnet eine Form des politischen Extremismus. Unter Berufung auf den Islam zielt der Islamismus auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ab. Der Islamismus basiert auf der Überzeugung, dass Religion, hier: der Islam, nicht nur eine persönliche, private ‚Angelegenheit‘ ist, sondern auch das gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung zumindest teilweise regelt. Der Islamismus postuliert die Existenz einer gottgewollten und daher ‚wahren‘ und absoluten Ordnung, die über von Menschen gemachten Ordnungen steht.[1]
Die deutschen Verfassungsschutzbehörden verstehen unter Islamismus eine vom Islam zu unterscheidende, sich auf die Religion Islam berufende Form von politischem Extremismus.[2] Daher betonen die Verfassungsschutzberichte verschiedener Landesämter für Verfassungsschutz sowie des Bundesamtes für Verfassungsschutz in jedem jährlichen Verfassungsschutzbericht und an anderen Orten, dass „der Islam als Religion und seine Ausübung nicht vom Verfassungsschutz beobachtet werden.“[3]
Kurz gesagt beschreiben die deutschen Verfassungsschutzbehörden Islamismus als eine religiös-politische Ideologie, deren Anhänger sich auf religiöse Normen des Islams berufen und diese politisch interpretieren.[4] Diese Definition von Islamismus durch die deutschen Verfassungsschutzbehörden ist quasi identisch mit den gängigen Definitionen von Islamwissenschaftlern:
Beim Islamismus handelt es sich um Bestrebungen zur Umgestaltung von Gesellschaft, Kultur, Staat oder Politik anhand von Werten und Normen, die als islamisch gesehen angesehen werden. […] Eine Verabsolutierung des Islams für die Gestaltung des individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens, kombiniert mit dem Ziel der weitgehenden Durchdringung der Gesellschaft. […] Die Forderung, statt der westlichen Volkssouveränität die ‚Souveränität Gottes‘ ins Werk zu setzen. Das führt zu starker Ablehnung von ‚menschengemachten Gesetzen‘, als die alle von Parlamenten beschlossenen Gesetze angesehen werden.[5]
Die politisch-religiösen Ziele der Islamisten bestehen nach Angaben der deutschen Verfassungsschutzbehörden darin, „mittelfristig die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland – in Teilen auch mit Gewalt – im Sinne ihrer Ideologie zu ändern“.[6] Besonders wichtig ist es hierbei, diese religiös-politische Ideologie des Islamismus von der durch das Grundgesetz geschützten Religion des Islam zu unterscheiden, weil Islamisten die Religion Islam nicht ausschließlich als Religion, sondern als rechtliches Rahmenprogramm für die Gestaltung aller Lebensbereiche interpretieren: Von der Staatsorganisation über die Beziehungen zwischen den Menschen bis ins Privatleben des Einzelnen.[7]
Aus dem islamisch-theologischen Verständnis von „Glaube an die Einheit und Einzigartigkeit Gottes“ (tauhid) ergibt sich für Islamisten, dass nur Allah der legitime Herrscher, Souverän und Gesetzgeber sein darf, was sich wiederum in der islamistisch angestrebten Einheit von Religion und Staat (din wa daula) ausdrückt.[8]
Zusammenfassend muss die islamistische religiös-politische Ideologie und ihre als für alle verbindlich angestrebte Religionspraxis als im eindeutigen Widerspruch zu demokratischen Verfassungsordnungen stehend beurteilt werden.[9] Entsprechend widerspricht das von Islamisten angestrebte Konzept eines Gottesstaates, in dem jegliche staatliche Legitimation unmittelbar von Gott hergeleitet werden soll, demokratischen Prinzipien von Volkssouveränität und Gewaltenteilung. Des Weiteren lehnt das Weltbild des Islamismus Pluralität, Säkularismus, Individualität und Gleichberechtigung von Mann und Frau als unzulässige Neuerungen und daher als unislamisch ab und schließt die universelle Geltung der Menschenrechte, wie zum Beispiel der Menschenwürde, aus. Die islamistische Forderung nach einer Durchsetzung der sog. „Hadd“-Strafen (Körperstrafen) wie das Abtrennen von Gliedmaßen für Diebstahl, die Todesstrafe für Ehebruch oder den Abfall vom Glauben sprechen in diesem Zusammenhang für sich.[10]
BfV 2016a, S. 150.
BfV 2012, S. 5.
Ebd.; LfV Hessen 2014.
BfV 2016a, S. 150; BfV 2012, S. 5; LfV Hessen 2014.
Seidensticker 2015, S. 9; Halm 2014, S. 85-89; Goertz 2017d, S. 11-15.
LfV Bayern 2016a, S. 5.
Goertz 2017d, S. 13.
Brachman 2009, S. 44; Goertz 2017d, S. 14.
„Demokratie ist in den Augen der Islamisten eine falsche ‚Religion‘“; MIK NRW 2014, S. 137.
Goertz 2017d, S. 13.
III Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus › 1. Der Phänomenbereich Islamismus › 1.1 Definition und Kurzzusammenfassung
ist eine religiös-politische Ideologie mit dem konkreten Anspruch darauf, das politische System und das gesellschaftliche und kulturelle Leben auf der Grundlage einer extremistischen Interpretation des Islam zu ändern und nur diese eigene Koraninterpretation anzuerkennen.[1]
Islamismus
•
ist eine Form des politischen Extremismus;
•
ist religiös-politische Ideologie, deren Anhänger sich auf religiöse Normen des Islam berufen und diese politisch interpretieren;
•
zielt auf die teilweise oder vollständige Abschaffung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung (fdGO) der Bundesrepublik Deutschland ab;
•
geht von der Existenz einer gottgewollten und daher „wahren und absoluten“ Ordnung aus, die über von Menschen gemachten Ordnungen (Verfassung, Gesetze) steht;
•
für den Islamismus ist Religion, hier: der Islam, nicht nur eine persönliche, private „Angelegenheit“, sondern soll das gesamte gesellschaftliche Leben und die politische Ordnung regeln;
•
hat als politisches Ziel die Einheit von Religion und Staat (din wa daula), was gegen das demokratische Prinzip des Säkularismus verstößt;
•
will die westliche, demokratische Volkssouveränität durch die „Souveränität Gottes“ ersetzen;
•
strebt mittelfristig eine Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland – teilweise auch mit Gewalt – an;
•
will die gesellschaftliche Ordnung durch die islamische Rechtsordnung der Sharia – eine von Gott verordnete Rechtsordnung für Staat und Gesellschaft – organisieren;
•
verstößt unter anderem gegen die verfassungsmäßigen Grundsätze der Trennung von Staat und Religion, der Volkssouveränität, der religiösen und sexuellen Selbstbestimmung, der Gleichstellung der Geschlechter und verletzt das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit;
•
schließt die universelle Geltung der Menschenrechte, wie zum Beispiel die Menschenwürde, aus (siehe die Forderung nach einer Durchsetzung der „Hadd“-Strafen, Körperstrafen).[2]
Ebd. S. 14.
Goertz 2017d, S. 15.
III Islamismus, Salafismus und islamistischer Terrorismus › 1. Der Phänomenbereich Islamismus › 1.2 Der Phänomenbereich Salafismus
Das Bundesamt für Verfassungsschutz definiert Salafismus wie folgt:
Salafismus ist eine fundamentalistische islamistische Ideologie und zugleich eine extremistische moderne Gegenkultur mit markanten Alleinstellungsmerkmalen (Kleidung und Sprache)[1].
Einleitend muss festgestellt werden, dass der Salafismus keine strukturierte Organisation oder Denkschule, sondern viel mehr „ein Trend, eine Geisteshaltung, eine dogmatische Verbindung zu den Grundlagen der Religion“ ist.[2] Während sich manche Anhänger und Mitglieder des islamistischen Spektrums des Salafismus selbst als „Salafi“ bezeichnen, nutzen die meisten europäischen und deutschen salafistischen Organisationen, Netzwerke, Gruppen und Einzelpersonen nicht offen den Begriff „Salafi“, sondern sprechen vom „wahren Islam“ bzw. der „wahren Religion“ und von sich selbst als den „wahren Muslimen“, womit sie sich von angeblich „unwahren“ islamischen Ausprägungen und von jeder anderen Religion abgrenzen.[3] Aus dem Arabischen werden die „Salaf“ in der Regel als die „frommen Altvorderen“ übersetzt und als „die Gefährten Mohammeds“ verstanden.[4] Historisch berufen sich die zeitgenössischen Salafisten auf „die frommen Altvorderen der ersten drei Generationen der Muslime nach Mohammed“[5], wobei es allerdings keinen Konsens über die genaue Zeitspanne gibt.[6]
Grundsätzlich muss die gegenwärtige salafistische Szene in Europa und Deutschland als organisatorisch äußerst heterogen und eher regional vernetzt beschrieben werden. Religiös-theologisch allerdings orientieren sich quasi alle Salafisten an den Lehren des Wahhabismus[7] und der Salafiya.[8] Entsprechend bezeichnet der salafistische Phänomenbereich Allah als einzig legitimen Gesetzgeber, mit dem Koran, der Sunna und der Sharia als allein rechtmäßigem Ordnungs- und Regelsystem. Sowohl die Salafiya als auch der Wahhabismus orientieren sich am „Ideal“ der muslimischen Ur-Gemeinde in Medina und kritisieren beide die Aufspaltung der sunnitischen Muslime in verschiedene Rechtsschulen. Sowohl die Salafiya als auch der Wahhabismus ziehen die „reine Glaubenslehre“ (aqida) der Rechtswissenschaft (fiqh) vor. Der Monotheismus (tauhid) steht im Mittelpunkt der Salafiya. Ebenso wird die Unterscheidung zwischen den historisch unterschiedlich gewachsenen islamischen Rechtsschulen kritisiert und so folgt sie keiner dieser Rechtsschulen, sondern exklusiv einer eigenständigen Rechtsfindung unter Beachtung des Koran, der Sunna und der geschichtlichen Überlieferungen der „rechtschaffenen Altvorderen“.[9]
Die augenblicklich in Europa agierenden Salafisten glorifizieren einen stilisierten, idealisierten Ur-Islam des siebten und achten Jahrhunderts und streben diesen als Blaupause für eine Umgestaltung von Staat und Gesellschaft auf der Grundlage ihrer Interpretation islamischer Werte und Normen an.[10] Die salafistischen Interpretationen des Islam streben eine „Reinigung“ des Islam und die Wiederherstellung eines Islam in seiner als „ursprünglich“ und Mohammed gerecht werdenden Form an. Daher orientieren sich die salafistischen Islaminterpretationen an der religiösen Praxis und Lebensführung des Propheten Mohammed sowie der sog. rechtschaffenen Altvorderen (al-salaf al-salih), da diese drei Generationen auf Grund ihrer zeitlichen Nähe zum Leben Mohammeds im 8. und 9. Jahrhundert n. Chr. noch einen „reinen Islam“ praktiziert hätten. Dieser Rückbezug auf Mohammed und seine Gefährten – die Altvorderen – bedeutet, dass lediglich der Koran und die Sunna als islamische religiöse Quellen anerkannt werden.
Zusammenfassend: Salafisten erschaffen eine simplifizierende Dichotomie von „gut“ oder „böse“. Dadurch erkennen sie nur noch ein „richtig oder falsch“, was ein ausgeprägtes Freund-Feind-Denken entstehen lässt. Aus diesem dichotomen Weltbild von „gut“ und „böse“ heraus entwickeln sie ein (elitäres) Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Muslimen und vor allem gegenüber Nichtmuslimen. Diese Dichotomie ist zugleich auch ein taktisches Mittel innerhalb des salafistischen Milieus, um komplexe Fragestellungen unzulässig zu simplifzieren und propagandistisch, radikalisierend im Sinne der salafistischen Ideologie beantworten. Die salafistischen Simplifizierungen und Dichotomien fördern dabei auch sehr stark eine Rekrutierung und Radikalisierung von neuen, gewaltbereiten Salafisten und potenziellen Terroristen.[11]
BfV 2016a, S. 170.
Roy 2006, S. 231; Farschid 2014, S. 160-192; Goertz 2017d, S. 16.
Ebd.
Ebd.
„Die besten in meiner Ummah sind diejenigen in meiner Epoche, dann diejenigen, die nach ihnen folgen, dann diejenigen, die nach ihnen folgen.“ Sahih Al-Bukhari Hadith Nr. 3728.
Der Tod von Ahmad Ibn Hanbal, dem Begründer der hanbalitischen Rechtsschule – verstorben 855 n. Chr. – wird nach dem gängigen Verständnis der Salafiya als das Ende der letzten Generation der Altvorderen betrachtet. Goertz 2017d, S. 16.
Wagemakers 2012, S. 6.
Roy 2006, S. 231. Zu den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Salafiya und der Wahhabiya als religiös-ideologischem Hintergrund des politischen Salafismus siehe u.a. Wagemakers 2012, S. 55-79; Goertz 2017d, S. 16.
Ebd.
Ebd.
Ebd. S. 18.
Bei der islamistischen Ausprägung des Salafismus handelt es sich um ein heterogenes Spektrum, das unterschiedliche (salafistische) Strömungen beinhaltet: Den puristischen, den politischen und den jihadistischen Salafismus. Allerdings muss festgestellt werden, dass bei allen drei Strömungen fließende Übergänge zueinander zu verzeichnen sind. Allerdings nutzt lediglich der Verfassungsschutz des Bundeslandes Berlin die Kategorie des puristischen Salafismus. Alle anderen Landesämter für Verfassungsschutz und das Bundesamt für Verfassungsschutz operieren lediglich mit zwei dieser drei Kategorien: Mit dem politischen – teilweise auch „missionarisch“ genannten Salafismus – und mit dem jihadistischen Salafismus.[1]
Jedoch darf bei aller Wichtigkeit einer analytischen Kategorisierung auf keinen Fall verdrängt werden, dass die religiös-theologisch-ideologische Grundlage aller drei salafistischer Strömungen im Wesentlichen gleich ist und dass die drei salafistischen Kategorien vornehmlich nach ihren Strategien, Taktiken und der Funktion von Gewalt unterschieden werden. Eine Kategorisierung von Salafismus in unterschiedliche Bereiche suggeriert die Chance einer Grenzziehung und dadurch ein besseres analytisches Verständnis. Daher werden kategorische Systematisierungen verwendet, die wie die Kategorie des puristischen Salafismus eher wissenschaftstheoretischen Wert besitzen, als einen entscheidenden Einfluss auf eine korrekte rechtliche und polizeiliche Behandlung haben.[2]