Pollenflug - Rain Warmer - E-Book

Pollenflug E-Book

Rain Warmer

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Beschreibung

Hanks Alltag ist der reinste Horror. In seiner Fantasie schlägt sich der Romanheft-Autor Woche für Woche mit Monstern aller Art herum. Als Ausgleich schreibt er nebenbei Liebesschnulzen. Vom wahren Leben weiß der liebenswerte Muskelprotz nicht viel. Das ändert sich schlagartig, als einem Spaziergänger im Nachbarort der Kopf von einer Riesenpflanze abgebissen wird. Während die Polizei den Fall herunter spielt, wittert Hank Stoff für einen neuen Roman. Er wagt sich aus seinem Luxusappartement und findet sich kurz darauf zwischen explodierenden Trucks und tödlichen Pollen wieder. Mutanten mit Energiewaffen machen Jagd auf ihn, doch gefangen wird er von den langen Beinen einer wunderschönen Frau. Fast zu spät merkt Hank, dass eine finstere Macht hinter den Ereignissen steckt und sein persönliches Schicksal die Zukunft der Welt bestimmen soll...

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

KAPITEL 1

Hätte Arndt Mailor gewusst, dass er heute Abend sterben würde, er hätte sicherlich die Gay-Pornos von der Festplatte gelöscht. So aber würde seine Frau Kathleen in den nächsten Tagen eine große Überraschung erleben. Als würde das mit dem vorzeitigen Ableben nicht schon reichen.

Aber das passte zu ihm. Die meiste Zeit tuckerte sein Leben gemächlich vor sich hin. Dann plötzlich drückte er aufs Gaspedal, beschleunigte auf 200 Meilen/h und überraschte seine Frau mit irgendeinem außergewöhnlichen Ereignis. Im letzten Jahr war es eine Mountainrafting-Tour gewesen. Die Aufregung und die Gefahr dieser Tour schweißten ihn und seine Frau wieder zusammen und brachten ein längst vergessen geglaubtes Gefühl von Nähe und Zusammengehörigkeit zurück. Aber der Alltag danach, mit seinem monotonen Job in der Bank, verwandelte Arndt wieder zurück in das lustlose Wesen, das er die meiste Zeit war. Und wenn dann der Zeitpunkt erreicht war, und seine Frau die Ehe mit ihm in Frage stellte, überraschte er sie mit einem weiteren Highlight. Seinem alljährlichen Emotionsausbruch.

Die meiste Zeit versteckte er sich und seine Gefühle hinter der schusssicheren Panzerglasscheibe des Geldausgabeschalters der kleinen Sparkassenfiliale in Brookeville. Einmal im Jahr entlud sich die ganze aufgestaute Emotionsenergie dann in einer völlig absurden, aggressiven Handlung. Im letzten Jahr verdrosch er auf der Herrentoilette mit seinem Regenschirm einen Mann, weil dieser nach dem Urinieren seine Hände nicht gewaschen hatte. In diesem Jahr standen die große Überraschung und der Emotionsausbruch noch aus. Beides sollte heute Abend auf einen Termin fallen.

Es war Anfang Juni. Ein warmer, sternenklarer Spätabend begleitete Arndt, als er die übliche Runde mit seinem Hund ging. Außer dem monotonen Zirpen der Grillen war die Nacht nahezu geräuschlos. Die Ruhe tat ihm gut, denn innerlich kochte er. Sein Chef hatte ihn während der Arbeit heimlich beobachtet und ihn kurz vor Feierabend in sein Büro gebeten. Er warf ihm vor, seiner Kundschaft mit offensivem Desinteresse zu begegnen und legte ihm nahe, die Kundschaft ab jetzt mit einem freundlichen, offenen Gesichtsausdruck zu empfangen. Was für ein Arsch, dachte Arndt. Soll er doch mal den ganzen Tag hinter der Panzerglasscheibe stehen. Für einen freundlichen Gesichtsausdruck müsste man ihm schon operativ beikommen. Er bog von der Mainstreet in die Thirdstreet ab. Nach zwei typischen, amerikanischen Einfamilienhäusern mit gepflegten Vorgärten, erstreckten sich zur rechten Seite die Weideflächen von Farmer Briddle. Die Kühe schienen bereits im Stall zu sein, aber ein paar Meter vom Holzzaun entfernt machte sich jemand am Güllewagen zu schaffen. Das musste der neue Gehilfe, Denny Murphy, sein. Angeblich sollte er ein wenig schlicht im Kopf sein. Ein Gerücht.

Arndts Hund Flaffi machte Anstalten, sein großes Geschäft zu verrichten. Er hatte die Angewohnheit dieses immer an einem Baum oder einer hohen Pflanze zu tun. In der mannshohen Pflanze am Zaun hatte er anscheinend einen ansprechenden Geschäftspartner gefunden. Arndt fiel gerade auf, dass die Pflanze recht ungewöhnlich aussah, als der Gehilfe von seiner Arbeit abließ und auf den Zaun zukam.

Er war recht groß und von kräftiger Statur. Ein paar blonde Haarsträhnen klebten auf seiner Stirn. Offenbar hatte er mehrere Stunden harte, körperliche Arbeit hinter sich. Auch ohne das Schlichtheits-Gerücht verriet sein Gesichtsausdruck eine gewisse Unbekümmertheit. Die blaue Jeans-Latzhose in den Gummistiefeln vervollständigte diesen Eindruck.

Arndt überlegte nervös, was er sagen sollte. Mit einem Fremden nachts ein Gespräch anzufangen zählte nicht gerade zu seinen Stärken.

»Das ist aber eine interessante Pflanze. Können Sie mir sagen um welche Gattung es sich hierbei handelt?«, versuchte er es etwas unbeholfen.

Denny starrte ihn aus halbgeschlossenen Augen an.

»Um was für eine Pflanze es sich hier handelt?«, fragte Arndt noch einmal ein wenig irritiert.

Grillenzirpen.

»Häh?«

Ah, dachte Arndt. Wo ein Häh ist, da ist auch Leben.

»Meine Frage war: Was ist das denn hier für eine interessante Pflanze?«

»Weiineh«, nuschelte Denny.

»Wie bitte?«

»Weiineh«, kam es jetzt schon ein wenig lauter zur Antwort.

»Meinen Sie Weiß-Klee? Der soll hier ja vorkommen, ist aber…«

»Weiihneh, weiineh, weiineh!!«, rief Denny plötzlich laut.

Verblüfft wich Arndt einen Schritt zurück. Das plötzliche Aufbegehren des Gehilfen verunsicherte ihn. Er hatte das Gefühl, dass die kühle Abendluft langsam von einer leicht aggressiven Brise durchdrungen wurde, die er tief einatmend in sich aufnahm. Er spürte, wie in ihm die Wut hochstieg. Der Zeitpunkt für den diesjährigen Emotions-Ausbruch schien gekommen.

»Du verdammter Vollidiot!« schrie Arndt. »Wenn du mich weiter anbrüllst, dann reiß ich dir deinen verdammten Kopf ab!«

Offensichtlich verstand die seltsame Pflanze, an der Flaffi sein Geschäft verrichtete, dies als Aufforderung. Blitzschnell wirbelte die Blüte zu Arndt herum, umschlang seinen Kopf mit einem schmatzenden Geräusch und riss ihn mit einem kräftigen Ruck ab. Dies alles ging so schnell, dass Arndts Torso gar nicht mitbekam was eigentlich passiert war. Er ging weiterhin den Weg, den er gehen wollte, nämlich auf den Gehilfen zu, und fiel über den dazwischen liegenden Holzzaun auf Briddles Wiese vor Dennys Füße. Das Blut quoll mit einem blubbernden Geräusch aus dem offenen Hals und bildete rasch eine Pfütze im Gras.

Bei Denny schien das Geschehene noch nicht den Weg vom Auge zum Gehirn zurückgelegt zu haben. Er starrte nach wie vor auf den Stelle, wo einst Arndt Mailor gestanden hatte. Nach einem kurzen Augenblick fing er an in hohen Tönen zu kreischen, warf die Hände über den Kopf und rannte Richtung Scheune. Dass die »interessante« Pflanze Flaffi offensichtlich als Nachtisch ansah, bekam er nicht mehr mit.

KAPITEL 2

Anne lief die Treppe zum Keller hinunter. Hier würde der Werwolf ihr nicht folgen, so hoffte sie. Ein tödlicher Trugschluss. Sie lief im Halbdunkel durch den Kellerflur in einen Raum hinein, der offenbar als Handwerksraum genutzt wurde. Hier gab es allerdings keine weitere Tür. Eine Sackgasse.

Vom Flur her vernahm sie das geifernde Keuchen des Werwolfs. Aus die Maus, dachte sie…

Geiferndes Keuchen?, dachte Hank. Was für ein Blödsinn. Er ließ sich in die bequeme Lehne seines Bürosessels fallen. Heute wollte der Text einfach nicht fließen. Die Verbindung zwischen seinem Kopf und den Händen an der Tastatur war offenbar mit zähem Schleim durchsetzt. Vielleicht lag es auch an dem drückend schwülen Wetter. Hank erhob sich von seinem großen, massiven Schreibtisch, und ging in die offene Küche. Der dürftige Inhalt seines Kühlschranks erinnerte ihn daran, dass er dem Supermarkt um die Ecke dringend einen Besuch abstatten musste. Er schüttete sich die restliche Milch in ein Glas, ging zurück zum Schreibtisch und schaltete das Radio ein. Der Lokalsender Radio Potsdam gab gerade Freddie Mercury, Gott hab’ ihn selig, zum Besten. Er ließ sich wieder in den Sessel fallen und schaute durch das mannshohe, halbrunde Fenster auf die Mainstreet.

Hank lebte in einer großzügig geschnittenen Studiowohnung in der Kleinstadt Potsdam im schönen Bundesstaat New York. Das historische Gebäude bestand aus drei Einheiten. Im Erdgeschoss befanden sich eine Textilreinigung und ein Buchantiquariat. Hanks Wohnung nahm das komplette Obergeschoss ein. Er hatte sich gleich bei der ersten Besichtigung in diese Wohnung verliebt. Der Hauptwohnraum nahm den größten Teil der Wohnung ein und schloss zur Mainstreet mit zwei riesengroßen halbrunden Fenstern ab. Was ihm aber besonders gefiel, war die Tatsache, dass das Gebäude vor 60 Jahren eine Buchdruckerei beherbergt hatte. Bücher schreiben war schließlich sein Job. Gut, es waren Romanhefte, aber das machte für ihn keinen Unterschied. Das Erscheinungsbild sagt noch nichts über seinen Inhalt aus, pflegte er zu sagen.

Die Gruselserie ,Höllenfeuer‘ unter dem Pseudonym ,John Devil‘ war sein größter Erfolg und erschien wöchentlich. Einmal pro Woche einen kompletten Roman abzuliefern erforderte Disziplin, und vor allem enorm viel Kreativität. Beim Besichtigen der Wohnung hatte er ganz deutlich gespürt, dass die Aura einer ehemaligen Buchdruckerei Benzin für seinen Kreativ-Motor sein würde. Tatsächlich hatte er hier einige seiner größten Verkaufshits geschrieben, wie »Geister in Manhattan«, »Frühstück bei Graf Dracula« und »Als mich die Killerkrake jagte«, um nur ein paar zu nennen.

Wie so oft hatte Hank dafür eine wissenschaftliche Erklärung parat. Die chemischen Dämpfe der damaligen Druckfarben, die noch keine Grenzwertverordnung kannten, waren in die Mauern des Gebäudes eingedrungen und wurden nun vom Gebäude ausgeatmet. Direkt in Hanks Gehirn.

Hank sah nicht gerade so aus, wie man sich einen Schriftsteller vorstellt. Mit 23 Jahren entdeckte er seine Leidenschaft für das Bodybuilding. Durch 7 Jahre hartes Training entstand ein muskelbepackter Hüne, von dem viele Leute dachten, dass er sein Geld wohl als Türsteher verdiene, was seine Körpergröße von 1,94 m noch unterstrich. Nur die freundlichen blauen Augen und das blonde mittellange Haar passten nicht so recht zu diesem Bild.

Möglicherweise war den Mauern die Luft ausgegangen, und sie gaben keine kreativen Gase mehr ab. Der Gedanke daran beunruhigte ihn für einen Augenblick. Aber Hank wusste aus Erfahrung, dass es immer mal wieder so einen Tag gab, an dem der Text einfach nicht fließen wollte. Eine gute Gelegenheit, sich um seinen verarmten Kühlschrank zu kümmern. Vielleicht würde ja der Einkauf sein Gehirn freipusten, und er konnte später doch noch ein paar brauchbare Sätze zu Papier bringen. Kurzentschlossen schnappte er sich zwei Einkaufsbeutel und bestieg den Fahrstuhl, der ihn direkt vom Wohnzimmer ins Erdgeschoss brachte. Ein Flur führte ihn zwischen dem Antiquariat und der Textilreinigung zum breiten Bürgersteig an der Mainstreet. Da der Supermarkt direkt um die Ecke lag, konnte er das kurze Stück zu Fuß gehen.

10 Minuten später schob Hank seinen Einkaufswagen durch die Gänge des Whole Foods Market. Er war froh, dass in seiner Nähe ein Markt war, dessen Schwerpunkt auf frischer und natürlicher Nahrung lag. Eine ausgewogene und gesunde Ernährung war ein wichtiger Baustein in seinen sportlichen Aktivitäten. Während er darüber nachdachte, ob es eigentlich eine gute Idee war, dass ,Anne‘ in seinem aktuellen Manuskript vor dem Werwolf in den Keller flüchtete, wurde sein Einkaufswagen voller und voller. Es ist grundsätzlich fatal, gedankenabwesend mit einem Einkaufswagen durch den Supermarkt zu fahren. Erst zu Hause bemerkt man dann, wie viele unnötige Sachen über den Scanner der Kasse gelaufen waren. Als Hank ein paar Paprika abwog, wurde seine Gedankenfluss von der alten Mrs. Ellmore beendet.

»Mr. Finnegan. Sie haben es vielleicht gut«, krächzte sie hinter ihrem Rollator hervor.

Hank schaute sie einen Augenblick geistesabwesend an, bevor er bemerkte, dass die alte Frau ihn angesprochen hatte. »Äh, wie bitte? Was meinten Sie, Mrs. Ellmore?«

»Ich sagte, dass Sie es wirklich gut haben. Jeden Tag ein bisschen schreiben, und den Rest des Tages dann frei.«

»Sie sagen es, Mrs. Ellmore.« Hank wusste, dass er auf diese Argumentation nicht eingehen durfte. Mrs. Ellmore benutzte das lediglich als Einleitung, um ihren jammervollen Zustand, sprich ihre Krankheiten, detailliert zu Protokoll zu geben. Darauf hatte er absolut keine Lust. »Wie geht es Ihnen, Mrs. Ellmore?« Augenblicklich wurde ihm klar, dass diese Frage ein fataler Fehler war. Aber, zu spät.

»Ach, wissen Sie. Es geht mir gar nicht gut. Seitdem sie mir den Uterus herausgenommen haben, habe ich immer starke Schmerzen beim Wasser lassen. Der Doktor meint, dass es wahrscheinlich Nierensteine sind, wegen der starken Medikamente gegen meine….«

»Sehr schön, Mrs. Ellmore. Es freut mich, dass es Ihnen so gut geht. Aber nun muss ich weiter. Das bisschen Schreiben, wie Sie meinten, habe ich noch nicht erledigt. Sonst kann ich ja nicht frühzeitig frei machen. Schönen Tag noch.« Schnell verließ Hank die Gemüseabteilung und verschwand in den nächstliegenden Warengang, während die betagte Dame weiterhin ihre Krankheitsgeschichte zum Besten gab. Wie vermutet, hatte Sie Hanks Worte, geschweige denn seinen Abflug, gar nicht wahrgenommen.

Dennoch war Eile geboten. Wenn Mrs. Ellmore erst einmal eine Zielperson für ihre Leidensgeschichten ausgemacht hatte, dann konnte sie äußerst hartnäckig sein. Hank wusste genau, wie schnell sie mit ihrem Rollator sein konnte. Spätestens dann wurde ersichtlich, dass ihr Gejammer nur Show war. Ein kurzer Blick in den vollen Einkaufswagen machte Hank deutlich, dass er den direkten Weg zur Kasse nehmen konnte. Die Leere seines Kühlschranks war mit dem Inhalt des Einkaufswagens auf jeden Fall überfordert. Soviel war schon mal klar.

Am Marmeladen-Regal stand ein schlanker Mann und begutachtete eingehend die Inhaltsstoffe des Glases in seiner Hand. Als er Hank heranbrausen hörte, blickte er unwillkürlich hoch. Und erschrak heftig. Gleichzeitig machte er einen Satz nach hinten. Hank blieb stehen und schaute den Mann verdutzt an. Selbst die runde Brille, mit den dicken Gläsern, konnte die vor Schreck geweiteten Augen nicht verbergen.

»Entschuldigen Sie, Mr.«, begann Hank, »ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Der Mann bewegte seinen Mund, aber zunächst kam kein Laut hervor. Die Aufregung, die von ihm ausging, war deutlich zu spüren. »N..N…Nein, Sie haben mich nicht…«, stotterte er. »Ich meine…S….S….Sie sehen nur aus wie jemand.«

Hank nickte mit dem Kopf und versuchte, dem Mann mit einem wohlwollenden Blick seine freundlichen Absichten zu vermitteln. »Sie meinen, ich sehe wie jemand anderes aus?«

»J….J..Ja, genau. Sie sehen wie jemand aus, der so aussieht, wie Sie aussehen.«

»Wie bitte?«

Der Mann sagte nichts mehr und starrte ihn weiterhin an. Hank wurde der Blick allmählich unangenehm. »Vielleicht kennen Sie mich von einer Buchmesse?«

Der Kopf des Mannes bewegte sich langsam von links nach rechts, ohne den Blick von ihm zu lassen. Obwohl Hank ein berühmter Schriftsteller war, wussten die wenigsten wie er aussah, was zum einen an seinem Pseudonym lag, und zum anderen daran, dass es so gut wie keine Pressefotos von ihm gab. Nur die eingefleischten Fans, die zu den Signierstunden auf die Buchmessen kamen, wussten wie er aussah. »Nun denn«, sagte Hank. »Dann handelt es sich einfach nur um eine Verwechslung. Einen schönen Tag noch.« Schnell schob er seinen Wagen weiter, in Richtung des Lichts, das ihm durch die großen Fenster hinter den Kassen entgegenschien. Wo Licht ist, da ist nichts Verrücktes, dachte Hank kurz und beeilte sich, den Supermarkt hinter sich zu lassen.

Als er mit drei vollen Einkaufsbeuteln den Whole Foods Market verließ, stand plötzlich wieder der Mann vom Marmeladenregal neben dem Eingang. Offenbar hatte er seinen Einkauf abgebrochen. Nirgendwo waren Taschen oder ähnliches zu sehen. Dafür hielt er ein Handy an sein Ohr. »Ja, er ist es. Ich bin mir ganz sicher«, hörte Hank ihn ins Telefon sagen. Als er Hank neben sich bemerkte, riss er das Handy erschrocken nach unten und versuchte ein verkrampftes Grinsen. Hank spürte, dass hier irgendwas nicht stimmte, kniff die Augen zusammen und warf dem kleineren Mann einen strengen Blick zu. Schluss mit freundliche Absichten vermitteln, dachte er. Dann machte er kehrt und ging zurück zu seiner Wohnung.

Dass der Mann ihm bis zur Wohnung folgte und sich dort Hanks Name und Adresse notierte, bekam er nicht mehr mit.

Während Hank seinen Einkauf in der Küche verstaute, spürte er, dass seine schriftstellerischen Kräfte zurückkehrten. Der Besuch des Supermarktes hatte die erwünschte Wirkung erbracht und seinen Kreativ-Motor mit neuem Sprit versorgt. Wahrscheinlich trugen auch die Begegnungen mit Mrs. Ellmore und dem Verrückten mit dem Marmeladenglas dazu bei.

Er nahm sich einen frisch gemahlenen Kaffee aus dem Kaffeevollautomaten, ging zum Schreibtisch und machte sich ans Werk. Gegen 17 Uhr klappte er zufrieden den Laptop zu und lehnte sich zurück. Den Rest würde er morgen früh schaffen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah er, wie Alex mit einer Tasse Kaffee aus dem Kiosk kam und sich an den kleinen, runden Tisch vor dem Schaufenster setzte. Hank sprang auf, ging rasch Richtung Fahrstuhl, warf noch schnell einen Blick in den Spiegel, rückte die Haare ein wenig zurecht und fuhr nach unten. Was ist bloß los mit mir, dachte er. Alex war nicht gerade das, was man sich im Allgemeinen unter einer attraktiven Frau vorstellte. Sie war mittelgroß, schlank und durchtrainiert. Da sie oft ärmellose Shirts trug, konnte er sehen, dass sie feste, muskulöse Arme hatte. Die Beine steckten fast immer in einer Strumpfhose und verschwanden unter einem kurzen Jeans-Rock. Über der Strumpfhose trug sie meistens knielange, quergestreifte Strümpfe. Ihr Busen war…. Hank überlegte, bisher war ihm diesbezüglich noch nichts aufgefallen. Er beschloss, dies gleich einmal näher zu überprüfen. Vielleicht war er ihm noch nicht aufgefallen, weil er immer in ihre strahlend blauen Augen hinter der schwarz eingefassten Brille schaute und dann in ein ihm unbekanntes Universum entführt wurde. Auf ihren hervorstehenden Wangen machten sich zahlreiche Sommersprossen breit. Ihre roten Haare hatte sie stets zu einem Pferdeschwanz nach hinten gebunden. Auf der High-School hatte sie zeitweise sogar zwei Zöpfe, die sie links und rechts trug. Damals bekam sie den Spitznamen ,Freaky Alex‘, was ihr aber gar nicht passte. Besonders die drei Dawson-Brüder, die insgeheim die Herrscher des Pausenhofs waren, hänselten sie gerne damit. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie die drei nach Strich und Faden verprügelte. Niemand wusste, dass sie vier Mal die Woche Krav Maga trainierte, eine effektive Kampfsportart, die unter anderem auch beim israelischen Geheimdienst unterrichtet wurde. Inzwischen war sie eine Meisterin in dieser Disziplin.

Hank stand mittlerweile auf dem Bürgersteig zur Mainstreet. Alex sah ihn und winkte ihm zu. Er winkte zurück und konnte ein breites Grinsen nicht mehr zurückhalten. Beim Überqueren der Straße wurden alle Gedanken von seinem immer lauter werdenden Herz übertönt, bis alles nur noch ein einziges großes Herz war, in dessen Mitte Alex auf einem grünen Plastikstuhl saß und ihm zulächelte.

»Na, Hank, hattest du Sehnsucht nach mir?«, begann sie.

»Ich äh…, nein, also ich wollte mal sehen, was die Konkurrenz so macht«, sagte Hank.

»Hast du nicht erst Montag einen ganzen Batzen Romanhefte gekauft?«

»Ja, sicherlich, aber donnerstags kommen ja ganz andere Serien heraus.« Hank hatte sich wieder einigermaßen gefasst.

»Donnerstags kommen doch nur die ganzen Liebesschnulzen heraus.«

»Ja, als Romanheftautor hat man es nicht immer leicht.«

Alex zog die linke Augenbraue hoch. »Hol Dir doch einen Kaffee und setz dich zu mir.«

»Sehr gerne. Bin gleich wieder da.« Er ging in den Kiosk, direkt zur Sitzecke mit der Kaffeekanne. Viel Platz gab es hier nicht. Mr. Cravenwood hatte ein riesiges Angebot von Zeitschriften im Sortiment. Alle denkbaren, aber auch undenkbaren Magazine waren hier zu finden. An der kurzen Seite zwischen Fenster und Tür gab es zwei Drehständer mit diversen Romanheft-Serien. Auf der anderen Seite der Tür gab es nochmal zwei Drehständer mit Taschenbüchern. Hinter der Kasse lagerten Tabakwaren aus aller Welt bis unter die Decke. Auf dem Verkaufstresen standen zahlreiche Andenken und Geschenkartikel. Da Mr. Cravenwood auch Kaffee und belegte Brötchen anbot, machte Hank hier gerne eine kurze Mittagspause und schmökerte dabei ein wenig in neuen Romanheften. Natürlich auch um Alex nah zu sein, wobei sie nicht täglich da war. Drei Tage die Woche verdingte sie sich als Krav-Maga-Trainerin. Hank nahm sich einen Kaffee aus der großen Thermoskanne, ging wieder hinaus und setzte sich auf den zweiten, grünen Plastikstuhl.

»Was macht deine Krav-Maga-Schule?«, wollte Hank wissen und nahm einen Schluck Kaffee.

»Läuft immer besser. Insgesamt habe ich jetzt 80 Schüler, die ich in 5 Gruppen trainiere. Wenn das so weiter geht, habe ich keine Zeit mehr, um im Kiosk zu arbeiten.«

Ein kurzer Stich fuhr durch Hanks Herz. Wenn Alex nicht mehr im Kiosk arbeitete, dann wären die freudigen Augenblicke, an denen er sie von seinem Schreibtisch aus sehen konnte, vorbei. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr diese Momente seinem Arbeitstag ein paar schöne Glanzlichter aufsetzten. Der Anblick, wie Alex vor dem Kiosk einen Kaffee zu sich nahm, beflügelte ihn geradezu in seinem Schaffen. War Alex so etwas wie seine geheime Muse? Eine durchtrainierte Kampfsportlerin als Muse? Gab’s so etwas überhaupt? Hank schüttelte den Kopf und schaute Alex ein wenig gedankenverloren in ihr hübsches Gesicht. Ihre Lippen bewegten sich, aber er hörte nicht was sie sagte. Er genoss ihren Anblick und spürte, wie ihm warm ums Herz wurde. Sein Blick wanderte von ihrem Gesicht weiter abwärts. Unter ihrem Shirt zeichneten sich kleine Rundungen ab. Sie hat Brüste, dachte er. Kleine, feste Brüste. Wie gerne würde ich sie in meinen Händen halten.

»Starrst du mir auf meine Titten, Hank?«

»Wie bitte? Was meinst du?«

»Ich fragte, ob du mir auf meine Titten starrst?«

Hank lief rot an. »Nein, natürlich nicht. Ich war nur ein wenig gedankenverloren. Ich bin irgendwie noch nicht ganz da. Mein aktueller Roman ist noch nicht fertig, und da bin ich noch«, versuchte sich Hank aus der peinlichen Situation rauszureden.

Alex grinste breit. Ein angenehmer Schauer durchlief ihren Körper. In Wahrheit war sie über Hanks Blick auf ihre Weiblichkeit hoch erfreut. Sie hegte schon längst intensive Gefühle für den großen Jungen, hielt sich aber noch zurück, denn sie war sich nicht sicher, ober er genauso empfand. Sie nahm einen großen Schluck Kaffee und bemerkte wie Hank versuchte, tiefer in den kleinen Plastikstuhl zu rutschen, und sich gleichzeitig hinter seinem Kaffeebecher zu verstecken. Ein belustigender Anblick. Genauso gut hätte ein Elefant versuchen können, in einen Smart einzusteigen. Sie musste noch mehr grinsen, ärgerte sich aber, dass sie das Wort ,Titten‘ verwendet hatte. Warum hatte sie sich im Laufe der Zeit nur so eine derbe Sprache angewöhnt? Wenn sie mit Hank zusammen sein wollte, dann musste sie daran arbeiten. Obwohl ihr auffiel, dass es in seinen Romanen auch oft derbe zur Sache ging.

»Weißt du was mir gerade auffällt?«, fragte sie.

Hank drehte seinen Kopf und schaute sie fragend an.

»Ich meine, der Held in deinen Romanen hat teilweise eine ziemlich derbe Sprache. Auch im Umgang mit Frauen. Und wenn ich mich mit dir unterhalte, dann kommen solche Wörter nie aus deinem Mund. Das finde ich seltsam, oder zumindest bemerkenswert.«

»Nun ja, Stephen King schreibt auch ständig über irre Killer, und dennoch ist er selbst kein Mörder.«

Alex überlegte einen Augenblick. Dann nickte sie. »Ich verstehe, was du meinst.« Sie fühlte dem Gedanken noch eine Weile nach, dann wechselte sie abrupt das Thema. »Sag mal, Hank. Du machst ja eine Menge Krafttraining. Macht dich das nicht auf Dauer ziemlich steif und ein wenig ungelenkig?«

»Also, so kann man das jetzt nicht unbedingt sa…«

»Was hältst du davon, mal was Neues auszuprobieren? Ich gebe dir eine kostenlose Stunde Krav-Maga-Unterricht. Quasi eine Schnupperstunde.«

Hank überlegte einen Augenblick und wollte gerade zur Antwort ansetzen, als Alex weiter sprach. »Ich finde, du solltest mal deinen Radius ein wenig vergrößern«, sagte sie, bereute es aber sofort.

»Wie meinst du das?«

Alex fand, dass Hank in einem sehr überschaubaren Umfeld lebte. Sein Leben spielte sich eigentlich nur zwischen seinem Schreibtisch und dem Fitness-Studio ab. So direkt wollte sie ihm das aber nicht sagen, sie spürte ganz deutlich, dass der große Junge noch mehr Potenzial in sich hatte, und dass er dringend ein Abenteuer brauchte. Mal keins, das er sich ausgedacht hatte, sondern ein echtes. »Ich meine nur«, sagte sie, »dass dein Körper einen Bewegungsausgleich zu deinem Krafttraining bräuchte. Das würde ihm sicherlich gut tun.«

»Einverstanden«, sagte Hank.

Sie schaute ihn verblüfft an. »Wie jetzt?«

»Das, was du da sagst, klingt einleuchtend. Und wenn etwas Hand und Fuß hat, und vielleicht sogar noch eine wissenschaftliche Grundlage, dann bin ich dabei.«

Sie lächelte. »Sehr gut, Hank. Das gefällt mir. Die wissenschaftliche Grundlage reiche ich später nach, wenn du nichts dagegen hast. Zunächst einmal konfrontieren wir uns einfach mit der Praxis.« Sie wusste, dass es keine wissenschaftliche Grundlage gab.

»Okay, ich habe jetzt Feierabend. Wann soll’s losgehen?«

»In einer halben Stunde bei mir«, sagte sie und stand auf. Hank tat es ihr gleich und stand ein wenig hilflos vor ihr. Wie gerne würde er sie jetzt küssen. Ehe er sich versah, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen schnellen Kuss auf die Wange. Gleich darauf ertönte ein Klopfen an der Scheibe. Es war Mr. Cravenwood, Alex Vater. »Ich hab’s Dir schon oft gesagt, Kind. Bändel nicht mit dem Türsteher an«, rief er durch die Scheibe. Hank ging in den Kiosk. »Mr. Cravenwood«, begann er und holte dabei den aktuellen ,John Devil‘-Roman aus dem Drehständer neben der Tür, »sehen Sie diesen Namen hier? John Devil, das bin ich. Wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?« Mr. Cravenwood war ein kleiner, mittelschlanker Mann mit schwarzem Haar, das er regelmäßig zu einem perfekten Seitenscheitel kämmte. Ein schmaler, schwarzer Schnurrbart zierte seine Oberlippe. An wen erinnert er mich nur, dachte Hank.

»Ja genau«, antwortete Cravenwood, »und meine Oma pennt mit Elvis.«

»Ihre Oma ist schon seit langem verstorben.«

»Eben. Deswegen ist es genauso wahrscheinlich, dass sie mit Elvis pennt, wie Sie der Schriftsteller ,John Devil‘ sind.«

»Ich geb‘s auf.«

»Aber eins muss ich Ihnen lassen, Mr. Finnegan. Wie Sie neulich mit dem Kerl umgesprungen sind, der hier eine Stunde lang Zeitschriften durchblätterte und nichts kaufen wollte, das hat mir sehr gut gefallen. Was aber auch nur ein weiterer Beweis dafür ist, dass Sie KEIN Schriftsteller sind.«

Hank winkte ab und ging wieder nach draußen. Alex grinste ihm entgegen. »Irgendwann wird er die Wahrheit schon akzeptieren. Aber deine äußere Erscheinung passt einfach nicht in sein Bild, dass er von Schriftstellern hat. Und mein Vater hat von fast allem ein festes Bild.« Sie ging einen Schritt auf ihn zu und gab ihm nochmals einen Kuss auf die Wange.

»Dann bis gleich«, sagte sie lächelnd.

Da Alex nicht weit entfernt wohnte, entschied sich Hank, mit dem Fahrrad zu fahren. Insgeheim wollte er ihr aber auch zeigen, dass er seinem Körper durchaus auch andere Bewegungen zumutete, als nur das Stemmen von Gewichten.

Eine halbe Stunde später stieg er vor ihrem kleinen einstöckigen Haus vom Fahrrad und schob es den schmalen, gepflasterten Weg bis zur Haustür. Hank war noch nie bei ihr zu Hause gewesen. Er hatte sie lediglich nach einem Kinobesuch mal nach Hause gebracht. Von außen wirkte das Haus sehr gemütlich und einladend. Zwei Bäume auf der Vorderseite und der kleine Garten, rund um das Haus, vervollständigten diesen Eindruck. Nur die anschließende Doppelgarage wollte nicht dazu passen, hatte Alex noch nicht mal ein Auto.

Bevor Hank klingeln konnte, öffnete sich das breite Garagentor und Alex kam hervor. Sie hatte, genau wie Hank, einen Sportanzug an. Bei Hank machte das kaum einen Unterschied, hatte er doch immer einen Sportanzug an.

»Mein Trainingsraum ist in der Garage«, begrüßte sie ihn.

»Ach so ist das. Ich hatte mich schon gewundert.«

»Die Doppelgarage war der Hauptgrund, warum ich dieses Haus gemietet habe.«

Hank folgte ihr in den Raum und Alex schloss per Knopfdruck wieder das Tor. Tatsächlich sah es hier nicht wie in einer Garage aus. Der gesamte Boden war mit einer großen Matte belegt. Bei genauem Hinsehen konnte man sehen, dass sie sich aus vielen kleinen Matten zusammensetzte. An den Seiten hingen zwei Sandsäcke von der Decke und an den Wänden hingen allerhand Utensilien, die Hank so schnell nicht einordnen konnte. Aber er meinte so etwas Ähnliches wie Boxhandschuhe und verschiedene Schutzbekleidungen entdeckt zu haben.

Hank zog seine Jacke und Schuhe aus. Trainiert werde grundsätzlich barfuß, hatte Alex ihm gesagt. Sie gingen in die Mitte der Fläche und stellten sich voreinander hin. Alex begutachtete Hanks Oberarme und lächelte ihn an. »Ich schätze mal, dass da ganz schön Dampf hinter ist, oder?«

»Das werden wir bald herausfinden«, sagte Hank.

Zunächst zeigte Alex ihm ein paar grundsätzliche Techniken. Dann folgten die ersten Schlagabtausche, bei denen Hank zweimal zu Boden ging. Bei allen Übungen kam ihm Alex sehr nah, was natürlich kein Wunder war, schließlich war dies ein Vollkontakt-Sport. Ihr Körpergeruch war angenehm süßlich. Hank empfand ihn wie ein Aphrodisiakum. Je mehr sie ins Schwitzen geriet, umso betörender wurde dieser Geruch.

»So, Hank. Jetzt wird’s ernst.«

»Wie meinst du das?«

»Wir ziehen uns jetzt die Schutzkleidung über, und dann greifst du mich an.«

»Wie bitte? Ich kann gerade mal zwei Griffe? Und außerdem könnte ich dir niemals etwas zu Leide tun.«

»Dazu wirst du auch nicht kommen«, lachte Alex.

10 Minuten später standen sie in voller Schutzmontur voreinander. Durch den Kopfschutz konnte man nur Augen und Mund des Anderen erkennen. Alex forderte Hank auf, sie anzugreifen. Hank begann zaghaft in ihre Richtung zu schlagen, aber seine Fäuste gingen ins Leere.

»Was ist los mit dir, Hank? Hat das viele Krafttraining dich schon derart träge gemacht?«, provozierte ihn Alex. »Ich hab’s ja gesagt. Du wirst davon immer ungelenkiger.«

»Ich bin nicht ungelenkig!«, sagte Hank laut. Diesmal kam sein Schlag schnell, aber Alex wich ihm mühelos aus.

»Ungelenkig und langsam!«, rief Alex.

Allmählich wurde Hank wütend. Er war stolz auf seine physische Präsenz. Wenn er irgendwo empfindlich war, dann bei Beleidigungen, die sich gegen diesen mühevoll geformten Körper wendeten. Er fing an schneller zu werden. Alex konnte ihm aber weiterhin ausweichen, allerdings wurde ihr Atem jetzt deutlich hörbar.

»Wozu stemmst du Tonnen von Gewichten, wenn das alles überhaupt nichts bringt!«, stichelte Alex weiter.

Ein Bild, das er bei einem Boxkampf im Fernsehen gesehen hatte, schoss Hank durch den Kopf. Links antäuschen und rechts zuschlagen. Gedanke und Tat wurden sofort eins. Alex wich Hanks linkem Haken mit Leichtigkeit aus und sah den rechten Fausthandschuh zu spät, der in rasender Geschwindigkeit größer wurde. Sie hatte das Gefühl quer durch die Garage zu fliegen. Wie in Zeitlupe sah sie Hank, der immer kleiner wurde. Dann machte irgendjemand die Deckenbeleuchtung aus.

Entsetzt lief Hank zu Alex, die auf den Matten zu liegen kam und sich nicht mehr regte. Schnell ging er neben ihr in die Hocke, riss sich die Handschuhe von den Händen und zog vorsichtig Alex’ Kopfschutz ab. »Alex! Alex!« rief er verzweifelt. Sanft klopfte er ihr an die Wange, aber sie regte sich nicht. Warum habe ich mich auch provozieren lassen?, dachte Hank. Seine Augen füllten sich mit Flüssigkeit. Dann beugte er sich über sie und hielt seine Wange dicht über ihren Mund. Gottseidank, sie atmet. Trotzdem fühlte er sich furchtbar. Ausgerechnet die Frau, für die er etwas empfand, hatte er bewusstlos geschlagen.

Da! Ihr Kopf bewegte sich. Ihre Lippen schienen etwas sagen zu wollen, aber es kam kein Laut. Dann machte sie die Augen auf. Hank fiel ein Stein vom Herzen.

»Hank, mein lieber Hank«, sagte sie leise. »Vergiss diese ganzen Techniken. Du musst einfach nur einmal richtig treffen, dann war’s das.«

Glücklich lächelnd schaute er ihr in die Augen und half ihr aufzustehen. Die Freude, sie wohlauf zu sehen, war so groß, dass er ihre Worte gar nicht wahrgenommen hatte.

KAPITEL 3

Als Hank am nächsten Morgen eine kleine Kaffeepause einlegte, erweckte eine Nachricht im Radio seine Aufmerksamkeit.

»…neben dem Torso lag der komplett blanke Schädelknochen. Auch vom Hund blieben nur blanke Knochen zurück. Hauptverdächtiger ist Denny Murphy, der Gehilfe von Farmer Briddle. »Hihlanffehaaat n Koofff agnisssen« wiederholte dieser immer nur. Bisher sind sich alle Beteiligten im Unklaren darüber, was der Gehilfe eigentlich sagen möchte….«

»Das ist doch ganz klar«, rief Hank dem Radio entgegen. »Die Pflanze hat ihm den Kopf abgerissen.« Wenn ich’s nicht besser wüsste, dann ist diese Untat einer meiner Geschichten entsprungen. Verrückt, aber auch richtig gut. Hank machte sich rasch ein paar Notizen. Das ließ sich auf jeden Fall verwenden. Aber wo war die ganze Sache geschehen? Da die Nachrichten alle halbe Stunde kamen, brauchte er nur abzuwarten.

Eine halbe Stunde später wusste Hank, dass er nach Brookeville musste. Einem kleinen Nest, nur 20 Autominuten von Potsdam entfernt. Übers Netz fand er schnell die Adresse von Briddles Gelände. Mit dem Fahrstuhl ging es ins Erdgeschoss. Rechts an dem großen Halbrundfenster der Textilreinigung vorbei, gelangte er zu seiner Doppelgarage im Anbau. Hank drückte auf die Fernbedienung an seinem Schlüsselbund. Das schwere Garagentor schwang langsam nach oben und ließ den Blick auf zwei schwarze Autos frei. Einen 60er Ford Mustang Fastback und einen VW Touareg. Da er möglicherweise auf Feldwegen unterwegs sein würde, entschied er sich für den Geländewagen. Mit seinen 333 PS und dem permanenten Allradantrieb war er der Wagen für alle Fälle.

10 Minuten später befand sich Hank auf der Landstraße nach Brookeville. Die Straße schlang sich durch eine sanfte, grüne Hügellandschaft. Wiesen und Felder wurden von einzelnen Baumreihen und Wäldern umsäumt. Diese Art der Inspiration gefiel Hank am besten. Unterwegs sein in seinem Auto und Orte aufsuchen, deren Geschichte er direkt auf seine Festplatte downloaden konnte. Nach weiteren 10 Minuten ließ er das Ortseingangsschild von Brookeville hinter sich. Links und rechts der Hauptstraße verteilten sich historische Landhäuser sowie typische Einfamilienhäuser mit hellen Holzfassaden. Hank bog nach links in die Thirdstreet ein und hielt einen Augenblick später seinen Touareg am Holzzaun der Briddle-Weiden an. Als er den Wagen verließ, schlug ihm heiße Luft entgegen und vermischte sich mit einem penetranten Güllegeruch.

Er ließ den Blick über das Gelände schweifen. Am hinteren Ende der Weide schloss sich ein Tannenwald an. Gegenüber der Weide folgten weitere Weiden, getrennt von einzelnen Birken und Zäunen.

Er ging den Holzzaun in der Hoffnung entlang, auf eine übergroße, außergewöhnliche Pflanze zu stoßen. Aber da war nichts. An einem Zaunpfahl sah er den abgerissenen Rest eines Polizeiabsperrbandes. Hier musste es also passiert sein. Auf den ersten Blick war auch hier nichts Auffälliges zu erkennen. Ihm fiel allerdings ein kleiner Bereich mit aufgelockerter Muttererde inmitten des Grases auf. Er ging in die Knie. Es sah so aus, als hätte hier jemand eine Pflanze samt Wurzeln herausgerissen. Interessant. Der eigentliche Täter war entfernt worden. Nur von wem? Hatte Denny Murphy vielleicht etwas gesehen?

Ein Schatten legte sich über Hank und den Erdfleck. Ein räusperndes Geräusch und der aufklatschende, bräunliche Klumpen Speichel verrieten ihm, dass keine Wolke die Ursache der plötzlichen Verdunkelung war. Hank schrak hoch und schaute auf die stämmige, untersetzte Gestalt eines Mannes mit krausem, rotem Haar. Er schien um die 50 zu sein und kaute auf irgendwas herum. In der einen Hand hielt er eine Forke, die andere Hand steckte in seiner Latzhose.

»Das ist aber eine eklige Angewohnheit, die Sie da haben«, fasste sich Hank wieder schnell.

»Dssjawol mne Anleheit«, nuschelte der Unbekannte.

»Ah, Sie müssen Denny Murphy sein, der Gehilfe von Farmer Briddle. Aber ich dachte, Sie sitzen in Untersuchungs….«

»Ich bin Farmer Briddle«, antwortete der Angesprochene mürrisch.

»Oh, entschuldigen Sie, ich dachte nur wegen Ihres Dialekts. Dieses seltsame Nuscheln.«

»Das ist kein Dialekt. Ich rede immer so, wenn ich den Mund voll Kautabak habe.« Wie um das zu unterstreichen, spie er den restlichen Kautabak aus. Die leichte Zornesröte in seinem Gesicht verriet Hank, dass er sensibel vorgehen sollte.

»Haben Sie dem armen Mann den Kopf abgerissen?«, fragte Hank.

Die leichte Zornesröte wich einem kräftigen Zinnoberrot. Mit Farben kannte sich Hank aus. Und dies war definitiv Zinnoberrot.

»Mach, dass du von meinem Grund und Boden kommst, verblödeter Stadt-Yuppie!«, krächzte der Farmer und stampfte dabei mit seiner Forke mehrmals auf den Boden.

Hank erkannte, dass Briddle anscheinend kein Interesse mehr an dem Gespräch hatte. Rasch ging er zurück zu seinem Wagen, konnte sich dabei aber ein »Sie sollten mal zum Arzt gehen. Das hört sich für mich ganz schön asthmatisch an«, nicht verkneifen. Briddle hustete irgendwas Unverständliches. Quod erat demonstrandum, dachte Hank.

Als er die Tür seines Wagens öffnete, fiel ihm ein großes Blatt auf, das am Boden lag. Er hob es auf und nahm es in Augenschein. Irgendwie sah das Blatt aus, wie die Dinosaurier-Version einer ihm bekannten Pflanze. Er kam nur nicht auf den Namen. Über’s Netz werde ich es schon herausfinden, dachte er, stieg ins Auto und legte das Blatt auf den Beifahrersitz.

Auf dem Weg nach Hause überlegte er die ganze Zeit, zu welcher Pflanze dieses Blatt passen könnte. Links und rechts säumten hohe Pappeln die Landstraße. Diesen Abschnitt liebte Hank ganz besonders. Hoch über ihm küssten sich die Äste der Pappeln, und Hank hatte das Gefühl, durch eine Kathedrale der Natur zu fahren, an deren Ende das verheißungsvolle Licht wartete.

Tatsächlich waren es allerdings die Scheinwerfer eines monströsen Dartz Black Dragon. Ein vollgepanzerter Geländewagen gegen den Hank’s Touareg wie ein Smart aussah. Der Dartz setzte sich in Bewegung und fuhr direkt auf Hank zu. Wenn der mich frontal rammt, dachte Hank, dann werde ich wahrscheinlich ziemlich tot sein, während der Dartz nur eine kleine Schramme davon trägt. Hank wechselte auf die linke Straßenseite. Der Dartz tat es ihm gleich und beschleunigte simultan zu Hanks Puls. Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn. Was läuft hier nur für ein schlechter Film, dachte er. Seine Hände krallten sich ins Lenkrad und brachten den Wagen wieder auf die rechte Spur. Der Black Dragon konterte sofort. Der Aufprall stand kurz bevor. Die Lücke zwischen den nächsten beiden Pappeln schien Hank groß genug. Er schlug das Lenkrad nach links ein. Das Monsterauto streifte ihn an der hinteren Seite, wodurch das Heck kurz nach links ausschlug. Hank hatte den Wagen schnell wieder im Griff und bretterte auf dem Feld links der Pappelreihe entlang. Gott sei Dank habe ich mich für den Geländewagen entschieden, dachte er. Am Ende der Pappelreihe angekommen, lenkte er wieder auf die Straße und beschleunigte den Touareg auf 120 Meilen pro Stunde. Die kurvige Landstraße ließ es allerdings nicht zu, auf Dauer mit hoher Geschwindigkeit zu fahren. Hank musste immer wieder runter vom Gas. Der Black Dragon hatte inzwischen gewendet. Wie schnell mag so ein Ungetüm fahren können, dachte Hank. Die Frage wurde ihm schneller beantwortet, als ihm lieb war. Nach wenigen Augenblicken war der Dartz hinter ihm. Wieso ist es nur erlaubt, solche Autos zu bauen.

Der Dartz schwenkte nach links rüber und fuhr nun auf gleicher Höhe. Hank blickte hinüber und der Schreck fuhr ihm durch alle Glieder: In dem Halbdunkel der Fahrerkabine schälte sich eine völlig deformierte Kopfkontur hervor, aus deren Mitte ihn zwei riesengroße, schwarze Löcher anstarrten. Kalter Schweiß schoss Hank aus allen Poren. Seine Brust schnürte sich zusammen. Wenn das nicht der richtige Zeitpunkt für eine Panikattacke ist, wann dann?!, fragte sich Hank.

»Verdammte Scheiße, verdammte Scheiße!«, schrie Hank in seine Fahrerkabine hinein. Ein Monster in einem Monsterauto versucht mich umzubringen. Schlimmer kann’s nicht mehr kommen. Die dröhnende Hupe eines entgegenkommenden Gas-Tanklasters riss ihn aus seinen Gedanken.

Als Telly Tucker mit seinem Chauffeur in der Tiefgarage stand, staunten sie nicht schlecht. Der Dartz war weg.

»Wie kann das sein?«, rief Tucker. »Hier kann doch niemand herein.«

»Offensichtlich doch«, sagte der Chauffeur.

Tucker schüttelte den Kopf. »Wir haben auf meinem Grundstück das beste und modernste Sicherheitssystem installiert. Nur ein Insider hätte hier eindringen können. Sprich, einer von uns.« Tuckers Blick wanderte über seinen Fuhrpark. Vielleicht fehlte ja noch ein Auto. Aber im Grunde genommen wusste er gar nicht mehr, wie viele Autos er eigentlich hatte. Es waren unzählige. Die Tiefgarage unter seinem Anwesen war so groß, wie ein gesamtes Parkhausdeck. Wo man auch hinblickte, überall standen teuerste Autos. Viele Raritäten und Einzelstücke, die extra für ihn angefertigt worden waren. Genauso der Dartz Black Dragon. Insgesamt waren nur 12 Stück von diesen vollgepanzerten, monströsen Geländewagen produziert worden. Speziell für reiche und mächtige Leute, die sich in der Öffentlichkeit nicht sicher fühlten. Leute, wie Telly Tucker, der mächtigste Medienmogul auf der Welt. Ihm gehörten so ziemlich alle Fernsehsender und Zeitungen in ganz Amerika. So etwas brachte nicht nur Freunde ein.

Er hatte zwar noch andere vollgepanzerte Fahrzeuge, aber der Dartz Black Dragon hatte etwas sehr martialisches und unterstrich perfekt seinen Status.

»Wenn das so ist, wie Sie sagen«, bemerkte der Chauffeur, »dann schränkt das den Personenkreis sehr ein. Was für die Ermittlung natürlich ein enormer Vorteil ist. An erster Stelle der Verdächtigen stehen natürlich Sie selbst.«

Tucker schaute seinen Chauffeur mit zusammengekniffenen Augen an. Er schätzte die logische und sehr rationale Denkweise seines Chauffeurs. Aber bisweilen übertrieb er es auch.

Der Chauffeur bemerkte den zornigen Blick und fuhr schnell fort. »An zweiter Stelle stehe ich, und dann kommen nur noch zwei Leute aus unserer Gemeinde in Frage. Und natürlich Ihre Frau.«

Tuckers Gesichtszüge entspannten sich wieder. »Richtig.« Er nickte langsam mit dem Kopf, als hätte er bereits eine Ahnung, wer den Dartz gestohlen haben könnte. Dann wandte er sich wieder seinem Chauffeur zu. »Okay, dann nehmen wir die S-Klasse.«

»Eine gute Wahl, Sir. Die S-Klasse ist mit einem extra verstärkten Rahmen ausgestattet und außerdem absolut Kugelsicher. Falls Ihnen irgendjemand das Licht ausblasen will, und dazu gäbe es schließlich eine Menge gute Gründe, dann wird er sich an dem Mercedes die Zähne ausbeißen.«

Tuckers Blick verfinsterte sich wieder. »Sind Sie mit Ihrem Gehalt unzufrieden, Lewis?«

Der Chauffeur zuckte zusammen. »Verzeihen Sie, Sir, wenn ich ein wenig zu forsch war. Die lange Zeit mit Ihnen, lässt meine Zunge bisweilen vergessen, in welchem Verhältnis ich diesem Hause unterstehe.«

Tucker winkte ab. »Okay, Lewis. Bevor wir in dieser Sache die Polizei einschalten, werden wir zunächst einmal unseren zwei Verdächtigen aus der Gemeinde auf den Zahn fühlen. Danach sehen wir weiter.«

Hanks Fuß rammte das Gaspedal in den Boden seines Touaregs. So schnell wie möglich an dem Gas-Tanklaster vorbei, bevor hier noch irgendwas explodiert, dachte er.

Für Dartz und Gas-Tanklaster kam jedes Manöver zu spät. Die gewaltige Detonation des Gastanks war noch bis nach Brookeville zu hören. Hank drückte auf die Bremse und brachte seinen Wagen auf der Wiese rechts der Landstraße zum Stehen. Hastig stieg er aus und ging ein paar Schritte auf das Flammeninferno zu. Aber er kam nicht weit. Die Hitze war unerträglich. Die beiden Fahrzeuge erkannte er nur schemenhaft als zwei schwarze Skelette in der Feuerwand. Sechs Pappeln und das Weizenfeld neben der Unfallstelle brannten lichterloh. Hilflos starrte Hank auf das Unglück. Seine Beine zitterten. Er gab ihnen nach und sank auf das Gras.

Dort hockte er auch noch als Polizei, Rettungskräfte und Feuerwehr eintrafen. Irgendjemand legte ihm eine Decke um die Schultern und führte ihn zu einem Rettungswagen. Der Sanitäter drückte ihm ein zuckerhaltiges Getränk in die Hand und sagte irgendwas. Hank konnte ihn nicht hören. Der Knall der Explosion hatte sein Gehör beeinträchtigt. Alles klang dumpf und weit entfernt. Als der Sheriff eintraf, ließ die Schwerhörigkeit allmählich nach.

»Hallo, Mr. Finnegan«, begrüßte ihn der Sheriff. »Mein Name ist Milo Baxter. Ich bin der Sheriff von Potsdam.« Hank schaute auf einen großen, schlanken Mann mit grauem, vollem Haar. Er musste knapp 60 Jahre alt sein. Seine hellblauen Augen verrieten aber einen wachsamen, energischen Geist. Hank spürte sofort, dass man diesen Mann nicht zu seinem Feind haben sollte.

»Fühlen Sie sich bereits im Stande, Angaben zum Unglückshergang zu machen?«, fragte Baxter.

»Ja, das kann ich«, murmelte Hank. »Ich wurde von einem schwarzen Dartz Black Dragon verfolgt, als dieser…«

»Augenblick«, unterbrach ihn der Sheriff, »sagten Sie verfolgt?«

»Sagte ich verfolgt? Nun ja, ich meinte natürlich, dass der Wagen ziemlich schnell hinter mir war und dann auch sofort überholte. Verfolgt ist wohl ein wenig unglücklich formuliert.«

Sheriff Baxter machte sich Notizen. »Ein Dartz Black Dragon? Davon habe ich noch nie gehört. Was ist das für ein Wagen?«

»Ein seltener, vollgepanzerter Geländewagen. Es wurden insgesamt nur 12 Stück gebaut. Ist was für sehr Reiche, die sich bedroht fühlen.«

»Ach was. Dann müsste der Eigentümer ja schnell zu ermitteln sein. Okay, und was passierte dann?«

»Der Dartz überholte mich und dann passierte es. Der Tanklaster kam um die Kurve und – Bumm.« Die Geschichte mit der monströsen Erscheinung in der Fahrerkabine behielt Hank vorläufig für sich. Das klang doch recht unglaubwürdig. Vielleicht hatte er sich das auch nur eingebildet. Die Erinnerung an den deformierten Kopf ließ ihn erneut erschaudern. Nein, dachte er, der Schreck beim Anblick dieses »Dings« war zu echt gewesen. Das konnte er sich nicht eingebildet haben.

»Na gut«, sagte Baxter, »dann handelt es sich hierbei also nur um ein leichtsinniges Überholmanöver mit weitreichenden Folgen.« Baxter schaute ihn dabei durchdringend an.

»Woher wissen Sie eigentlich meinen Namen?«, wollte Hank wissen.

»In Ihrem Handschuhfach fanden wir den Fahrzeugschein.«

Handschuhfach?, dachte Hank. Dann haben sie möglicherweise auch das Blatt gefunden. Hanks Lebensgeister erwachten augenblicklich. »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen Sheriff, dann würde ich jetzt gerne nach Hause. Ich brauche dringend ein wenig Ruhe.«

Milo Baxter schaute sich kurz um. »Nein, fürs erste war’s das. Bitte geben Sie mir Ihre Telefonnummer, falls ich noch Fragen habe.«

Ein Feuerwehrmann kam heran. »Mr. Baxter. Wir haben das Feuer bei den Fahrzeugen gelöscht. Da gibt es aber etwas recht Merkwürdiges. Von den Fahrzeughaltern haben wir die üblichen, verkohlten Überreste. Die beiden Insassen des Geländewagens weisen aber schrecklich deformierte Köpfe auf. Möglicherweise ist dies durch die enorme Hitze passiert, aber ich habe in meiner Laufbahn schon viele verkohlte Leichen gesehen. So was ist mir noch nie untergekommen.«

»Das ist doch aber sehr ungewöhnlich, nicht wahr?«, sagte Hank.

»Sie sagen es, Mr. Finnegan«, antwortete Baxter, »Sie sagen es«, und schaute ihn dabei wieder eindringlich an. »Was machen Sie eigentlich beruflich, Mr. Finnegan?«

»Ich bin Schriftsteller.« Baxter schaute ihn fragend an. »Ich schreibe unter dem Pseudonym ,John Devil‘ Gruselromane.«

»Ah, Sie meinen diese Groschenhefte.«

»Die genaue Bezeichnung lautet Romanheft, Ignorant.« Das letzte Wort murmelte Hank leise in seinen Becher hinein.

»Was meinten Sie? Das letzte Wort habe ich nicht verstanden.«

»Ich sagte Lorbeerkranz. Mein bisheriges Werk wurde mit dem Lorbeerkranz ausgezeichnet.« Um eine schnelle Ausrede war Hank nie verlegen. Das brachte sein Job so mit sich.

»Was Sie nicht sagen«, erwiderte der Sheriff.

»Was lesen Sie denn eigentlich?« fragte Hank.

»Ich lese gar nicht.«

»Sie machen mir Angst.«

»Das bringt mein Job so mit sich.«

Hank empfand das Gespräch angesichts der im Hintergrund brennenden Pappeln als ein wenig merkwürdig. Außerdem brannte es ihm unter den Fingernägeln, herauszufinden, was aus seinem Blatt geworden war. »Nun denn Sheriff«, Hank erhob sich und stieg aus dem Rettungswagen, »dann machen Sie mal Ihren Job. Ich muss mich allmählich um den meinen kümmern. Auf Wiedersehen.«

»Ganz bestimmt«, erwiderte der Sheriff.

Hank ging zu seinem Wagen, verlangsamte aber seine Schritte, als er merkte, dass er einen Tick zu schnell ging. Jetzt bloß keine Aufmerksamkeit erregen, dachte er. Als er angekommen war, stieg er ein und starrte als erstes auf die Sitzfläche des Beifahrersitzes. Sie war leer.

Okay, erst mal nach Hause, dachte er. Von hier aus waren es ja nur noch 5 Minuten. Das Ortseingangsschild von Potsdam konnte er bereits erkennen. Einen Augenblick später fuhr er an den historischen Gebäuden der Mainstreet vorbei. Zahlreiche Geschäfte hatten sich in den Gebäuden, die maximal drei Stockwerke hoch waren, niedergelassen. Jeder Geschäftstreibende war dazu angehalten, eine Klausel zu unterschreiben, in der festgelegt wurde, dass an dem Gebäude nichts verändert werden durfte. Das Einzige, was die Stadt den Ladeninhabern zugestand, war ein Leuchtreklameschild an der Außenwand. Die meisten Gebäude waren mit rotem Backstein gebaut. Vereinzelt sah man auch mal weißen Putz.

Hanks Wohnung war in Sichtweite. Er betätigte die Fernbedienung seiner Garage und wartete, bis Miss Ellmore mit ihrem Rollator an dem Garagentor vorbei war. Sie ließ sich dabei sehr viel Zeit. Das macht die doch mit Absicht, dachte Hank. Der Wagen hinter ihm hupte. Falscher Zeitpunkt, um mich anzuhupen. Hank stieg aus. Der Mann in dem Auto hinter ihm verkroch sich hinter dem Lenkrad, als er Hank auf sich zukommen sah. »Entschuldigen Sie«, rief Hank in das leicht geöffnete Seitenfenster, »möchten Sie vielleicht die arme alte Frau überfahren?«, und zeigte dabei auf Miss Ellmore. »Ich jedenfalls bringe das nicht fertig!«

»Tut mir leid«, begann der Mann, »ich konnte ja nicht ahnen…«, seine Frau unterbrach ihn. »Schnell Schatz, mach das Fenster zu und verriegele das Auto, der sieht gefährlich aus.«

Hank ging wieder zurück zu seinem Wagen, stieg ein und fuhr in die Garage. Nachdem das Garagentor geschlossen war, schaltete er die Deckenbeleuchtung ein. Die angenehm kühle Luft in der Garage tat gut. Er öffnete die Beifahrertür und suchte nach dem Blatt. Entweder hatte es jemand von den Beamten eingesteckt, oder es war durch die wahnsinnige Autofahrt einfach irgendwo hingeschleudert worden. Letzteres traf zu. Zwischen dem Sitz und der Mittelkonsole sah Hank die grüne Spitze des Blattes auf Bodenhöhe. Mit seinen großen Händen kam er nicht dazwischen. Er holte aus dem Werkzeugschrank am Ende der Garage eine Zange. Einen Augenblick später hielt er das Blatt, das vermutlich für den Tod eines Lastkraftwagenfahrers und zwei Monstern verantwortlich war, in seiner Hand.

Hank schob das Gitter vom Fahrstuhl zur Seite und betrat seine Wohnung. Erst einmal eine kalte Dusche, dachte er und befreite sich von den verschwitzten Klamotten. Das kalte Wasser tat ihm gut. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, betrat er den Wandschrank und blickte zur rechten Seite auf seine unzähligen Trainingshosen. Er liebte Trainingshosen, besonders die mit den drei berühmten Streifen. Er entschied sich für eine schwarze Polyester-Hose mit roten Streifen, dazu ein rotes T-Shirt derselben Marke. Er wollte erst einmal ein Proteinshake trinken. Im rechten Hängeschrank seiner Küche standen 10 verschiedene Geschmacksrichtungen. Was für die meisten Menschen das Feierabendbier war, das war für Hank ein Proteinshake. Immer wenn er das Gefühl hatte, seine Energiespeicher aufladen zu müssen, genehmigte er sich eins.

Hank entschied sich für das Eiweißpulver mit Erdbeergeschmack und vermischte es im Mixer mit einem halben Liter fettarmer Milch. Nachdem er einen kräftigen Schluck genommen hatte, schlenderte er, mit dem Shake in der Hand, durch seine Wohnung. In der Mitte seines riesigen Wohnzimmers befand sich ein Stützpfeiler aus rotem Backstein. Auf einer antiken Kommode stand der Anrufbeantworter. Die rote Anzeige signalisierte, dass ein Anruf aufgezeichnet worden war. Er drückte auf den Wiedergabeknopf. » Hey Hank, hier ist Larry. Ich hatte gerade in der Redaktion eine prima Idee. Was hältst du davon, eine neue Romanserie zu schreiben? Eine Erotik-Serie. Nicht der übliche, romantisch verklärte Scheiß. Sondern richtig schmutzig. Hä, hä, hä, hä. Okay, ich melde mich nochmal. Ansonsten sehen wir uns ja Freitag im Verlag. Tschüss, halt die Ohren steif. Und nicht nur die Ohren, hä, hä, hä, hä…« –Piep- Larrys flache Sprüche waren kaum zu unterbieten. Das schaffte nicht einmal Hank. Larrys Idee, eine erotische Romanserie zu schreiben fand er aber gar nicht schlecht. Schriftstellerisch mal richtig die Sau raus lassen, warum nicht. Er würde sich später mit der Sache gedanklich befassen, entschied er. Jetzt gingen ihm zwei andere Dinge durch den Kopf: Erstens, wer konnte ihm nähere Informationen über das Blatt geben und zweitens, wie sollte er bis Freitag das Manuskript für den aktuellen Gruselroman fertig bekommen?

In Hanks Darm rumorte es. Ein Nachteil der Proteinshakes waren die etwa eine Stunde andauernden Flatulenzen nach der Einnahme. Jetzt noch zu arbeiten machte keinen Sinn. Es war bereits 18 Uhr und aufgrund der heutigen Ereignisse konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Er würde lieber in das Antiquariat von Mr. Feinstein, ein Stockwerk tiefer, gehen. Vielleicht hatte Mr. Feinstein ein Buch über Pflanzen mit Abbildungen. Zunächst aber war es wichtig, das Blatt abzufotografieren bevor es vertrocknete. Er holte sein Smartphone hervor, stellte auf größtmögliche Pixelanzahl und legte das Blatt auf den Schreibtisch. Unter das Blatt legte er noch ein Lineal um auch die genaue Größe festzuhalten. Das Blatt maß eine Länge von 30 cm. Nach dem Foto-Shooting legte er das Blatt in eine kleine Sporttasche, hängte sie sich über die Schulter und fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten.

Auf der Glastür zum Antiquariat stand in einer alten Serifen-Schrift: »Ein Raum ohne Bücher ist ein Körper ohne Seele. Cicero.« Hank betrat den Laden und sog den Duft alter, muffiger, vergilbter Bücher tief in sich ein. Dieser Duft hatte eine ähnlich anregende Wirkung auf sein Gehirn wie die chemischen Rückstandsgase in seiner Wohnung. Wenn ihm in seiner Wohnung nichts einfiel, kam er hierher. Die Regale an den Wänden waren bis unter die Decke mit Büchern vollgestopft. In der Mitte des Raumes ging noch einmal ein Regal von der hinteren Wand bis zur Mitte, welches auch bis zur Decke mit Büchern gefüllt war. An der Fensterfront und auch inmitten des Raums standen Tische, auf denen sich zahlreiche Bücher stapelten. Dadurch, dass eauch unter und neben den Tischen Bücher angehäuft waren, sah der ganze Raum wie eine Buchberglandschaft aus, dessen Täler gerade genug Platz für eine Person boten. In der hinteren Ecke befand sich eine rote, plüschige Sofaecke mit einem kleinen, runden Tisch und einem passenden Sessel dazu. Von dort nahm Hank den süßlichen Duft eines feinen Darjeeling-Tees wahr.

Plötzlich zuckte der Kopf von Mr. Feinstein hinter einem Buchberg hervor. Hastig ging er auf Hank zu. Er war knapp 70 Jahre alt, aber immer noch gut zu Fuß. »Haben Sie das gehört, Mr. Finnegan«, rief er und kam vor Hank zum Stehen. Wie immer trug er ein graues Hemd mit einer riesigen, karierten Krawatte. Das weiße Haar hatte sich inzwischen weitgehend an den Rand des Kopfes zurückgezogen. Durch die dicken Brillengläser schauten ihn wache, lebensfrohe Augen an. Hank beugte sich ein wenig zu ihm hinunter. »Was denn gehört?«, sagte er ein wenig lauter, denn Mr. Feinstein hörte nicht mehr so gut.

»Na, diesen lauten Knall. Klang wie eine Explosion. Nur weit entfernt.«

»Ja, das habe ich auch gehört. Ich wollte Sie aber fragen, ob Sie ein Buch mit Pflanzenabbildungen haben. Am besten mit allen Pflanzen, die es so gibt.« Hanks Protein-Flatulenzen verschafften sich mit einer gewaltigen Detonation Luft.

»Da!«, rief Mr. Feinstein, »da war es wieder. Klang genauso wie beim letzten Mal. Nur diesmal schien es mir näher zu sein.«

Hank errötete leicht. Dass sein Furz genauso klang wie die Explosion des Gas-Tanklasters gab ihm zu denken. »Ja, das denke ich auch, aber was ist denn nun mit dem Pflanzenbuch?«, wollte er schnell das Thema wechseln.

»Ja, natürlich. Kommen Sie.« Hank folgte dem kleinen Mann zum mittleren Bücherregal. Dort standen hauptsächlich Bildbände und alles was Überformat hatte. Er wunderte sich immer wieder, wie Feinstein sich in diesem Bücher-Inferno zurechtfand. Nach wenigen Minuten zog der alte Mann bereits das gesuchte Buch aus dem Regal. »Hier, das dürfte das Richtige sein.«

Hank nahm es in die Hand und blätterte ein wenig darin. »Ja, das scheint mir auch so. Das sind ja wirklich schöne Illustrationen. Sehr detailverliebt. Darf ich mich einen Augenblick auf Ihre Couch setzen?«

»Aber natürlich. Ich bringe Ihnen gleich einen Tee und ein paar Kekse.«

»Oh, sehr freundlich«, sagte Hank und nahm auf dem gemütlichen Sofa Platz. Mr. Feinstein verschwand im hinteren Büroraum und kam sogleich mit einer dampfenden Tasse Darjeeling und einem kleinen Teller Kekse zurück.

»Ich habe Ihren letzten Roman gelesen, ,Die Höllenfahrt der Emelie Parkarson‘. War wirklich spannend. Hab’s in einer Nacht durchgelesen.«

»Vielen Dank, Sir«, sagte Hank. Dass Mr. Feinstein seine Romane las, schmeichelte ihm sehr, wo er doch ansonsten sehr viel anspruchsvollere Kost bevorzugte. Aber Mr. Feinstein sagte immer: »Wenn etwas gut ist, dann ist es gut.« Hank überzeugte diese Argumentation immer wieder. Mr. Feinstein verschwand wieder hinter dem Buchberg, aus dem er zu Beginn aufgetaucht war. Nach einem Schluck Tee holte Hank das Blatt aus der Tasche und begann es mit den Illustrationen im Buch zu vergleichen. Nach einer Dreiviertelstunde hatte er alle Bilder mit dem Blatt verglichen, ohne Ergebnis. Er klappte das Buch zu und gähnte. »Mr. Feinstein. Was möchten Sie für das…«, keine Spur von dem alten Mann. »Mr. Feinstein«, rief er ein wenig lauter. Der Kopf des Antiquars zuckte plötzlich hinter einem Buchberg direkt neben ihm hervor. »Ah«, erschrak Hank, »da sind Sie ja.« Hank blinzelte ein wenig irritiert. Waren die Buchberge durch unterirdische Gänge verknüpft? Tatsächlich erinnerten ihn die ganzen Buchberge jetzt an die Maulwurfhügel im Garten seiner Mutter. Er schüttelte den Kopf. »Was möchten Sie für das Buch haben?«, fragte er noch einmal.

»Sie brauchen mir das Buch nicht abzukaufen, Mr. Finnegan. Offensichtlich hat es Ihnen nicht das Ergebnis geliefert, was Sie sich erhofft haben.«

»Das wäre ja noch schöner. Erst neulich habe ich einen jungen Kerl im Kiosk von Mr. Cravenwood zusammengestaucht, weil er sich eine halbe Stunde lang diverse Zeitschriften durchsah und dann nichts gekauft hat.«

»Zusammengestaucht ist wohl ein wenig untertrieben.« Feinstein grinste. »Sie wollten wohl Alex ein wenig imponieren.«

Hank errötete. »Ähm ja, vielleicht habe ich ein wenig übertrieben, aber Fakt ist, dass es eine Dreistigkeit sondergleichen ist. Also, was möchten Sie für das Buch haben?«

»30 Dollar«, sagte Feinstein, ohne mit dem Grinsen aufzuhören.

Hank schluckte. Damit hatte er nicht gerechnet. »Okay, hier haben Sie 30.« Hank verabschiedete sich und fuhr wieder in seine Wohnung. Er musste an Alex denken. Was war das nur mit ihr. Jedes Mal, wenn er auf den Kiosk zuging, schlug sein Herz mit jedem Schritt stärker und lauter. Ein Mysterium, das er noch zu knacken hatte. Genau wie das Mysterium mit dem Blatt, dem Dartz, der fiesen Fresse in dem Dartz… Ihm schwirrte der Kopf. Erst einmal schlafen, dann sehen wir weiter.

KAPITEL 4

Am Freitagvormittag beendete Hank das Manuskript, zog es auf einen USB-Stick und machte sich auf den Weg zum Verlag. Eigentlich hätte er das Manuskript einfach per eMail in den Verlag schicken können, aber so kam er mal raus und konnte mit seinem Mustang ein wenig durch die Gegend fahren. Der Verlag befand sich in Massena, eine Autostunde entfernt. Die Straße dorthin führte die meiste Zeit am Raquette River entlang, der von Wiesen und Wäldern umsäumt wurde. Es war immer wieder eine schöne Ausfahrt, die Hank sehr genoss. Der Anblick dieses Naturpanoramas war Balsam für seine Seele. Noch besser war es allerdings, zu Fuß in der Natur unterwegs zu sein. Vielleicht demnächst nicht mehr alleine, sondern mit Alex. Bei diesem Gedanken wurde ihm ganz warm ums Herz, und die restliche Strecke legte er mit einem Lächeln zurück.

Massena war, genau wie Potsdam, eine Kleinstadt und lag auch am Raquette River. Hank fuhr in die Maple Street und hielt auf dem Parkplatz vor dem Verlagsgebäude. Das Gebäude war drei Stockwerke hoch und beige verputzt. Auf dem Dach stand in Versalien »Archer Press«, benannt nach seinem Eigentümer Larry Archer. Hank stieg aus dem Mustang, heiße Luft schlug ihm entgegen. Auf der anderen Straßenseite sah er den großen Friedhof von Massena. Er konnte nicht verstehen, warum Larry ausgerechnet gegenüber einem Friedhof sein Verlagsgebäude errichtet hatte. Aber Larry meinte, dass ihn der Friedhof mit seiner romantischen Landschaftsgestaltung eine große Inspirationsquelle sei und außerdem eine stresssenkende Wirkung habe. Wenn es im Verlag mal wieder richtig dick komme, brauche er nur einen Augenblick auf den Friedhof zu schauen und schon sei alles wieder in die richtige Perspektive gerückt. Hank dachte allerdings, dass Larry einfach nur nicht ganz dicht war. Larrys Büro lag in der Mitte des oberen Stockwerks. Natürlich hatte er sich, eigens für den Blick auf den Friedhof, ein riesiges Panoramafenster einbauen lassen. Die Vorzimmerdame lag mit dem Kopf auf dem Schreibtisch und schlief. Hank wusste ganz genau, warum Larry sie noch nicht gefeuert hatte. Wegen ihres großen, runden Hinterns. Larry war total arschfixiert und Mrs. Hanson stellte ihm diesen regelmäßig zur Verfügung. »Hallo Mrs. Hanson, ich wollte zu Larry. Bemühen Sie sich nicht. Ich finde schon allein zurecht«, sagte er zu der schlafenden Frau und ging durch die rot gepolsterte Tür in Larrys Büro. »Hey, Larry. Hast du Mrs. Hanson schon wieder ins Land der Träume gevögelt?«

»Hä, hä, hä, hä«, begrüßte ihn Larry. »Nein, diesmal nicht. Ich hab vom Doc ein Schlafmittel bekommen. Du weißt doch, ich schlafe immer schlechter, und da wollte ich es zunächst einmal testen. Ich hab’s der guten Mrs. Hanson in ihren Kaffee geschüttet. Sie liegt da jetzt schon seit drei Stunden. Scheint ziemlich gut zu funktionieren, das Zeug.«

»Scheint mir auch so.« Hank schüttelte den Kopf und ging durch dichte Rauchschwaden auf Larry zu. »Wie schaffst du es nur, so einen großen Raum dermaßen dicht zu qualmen, dass man die Hand nicht mehr vor Augen sieht?«

»Ich rauche den ganzen Tag, aber mehr als zwei Schachteln schaffe ich einfach nicht«, sagte Larry und zündete sich eine neue Zigarette an. Seine Nikotinsucht war auch der Grund dafür, dass er so dünn war. Das rote, karierte Hemd und die dunkelblaue Jeanshose schlabberten um seinen hageren Körper. Seine großen, runden Augen schienen aus dem schmalen Kopf heraus zu quellen, der von blonden Locken umkräuselt wurde.

»Was hältst du von lüften?«, fragte Hank.

»Lüften ist was für Weicheier!«, schrie Larry plötzlich. »Für Versager, Drückeberger, Fahnenflüchtige!« Larry keuchte, sein Kopf war rot angelaufen. An der Seite seiner Stirn trat eine dicke Ader beängstigend weit hervor. Larry litt an einer außergewöhnlichen Form des Tourette-Syndroms. Er wurde plötzlich verbal aggressiv und warf mit derben Worten um sich. Dabei schien sich sein Wortschatz ständig zu erweitern. Die Diagnose des Tourette-Syndroms wurde relativ spät gestellt. Normalerweise treten die ersten Symptome bereits in der Kindheit auf. Bei Larry hingegen fing es erst mit 30 an. Neben einem nervösen Zucken seines Kniegelenks traten zunehmend verbale Entgleisungen an den Tag. Trotz dieser Diagnose hatte Hank das Gefühl, dass es Larry insgeheim ein großes Vergnügen bereitete, zu fluchen und andere Menschen zur Schnecke zu machen. »Was hältst du von meiner Idee mit der Sex-Roman-Serie?«, fragte er, plötzlich wieder ganz ruhig.