Portal der Welten - Adrian Tchaikovsky - E-Book
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Adrian Tchaikovsky

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Beschreibung

England, in der nahen Zukunft. Vier Jahre nach dem spurlosen Verschwinden ihrer besten Freundin Mal ist die Studentin Lee noch immer traumatisiert. Nach einem mysteriösen Anruf kreuzen sich ihre Wege mit denen des MI5-Agenten Julian Sabreur, der einem Phantom nachjagt. Ist es vielleicht Mal? Aber wo war sie – und wo ist sie jetzt? Als auch noch eine Physikerin entführt wird, die über Parallelwelten geforscht hat, beginnt das Gefüge von Lees und Julians Welt auseinanderzubrechen. Irgendetwas ist da draußen, und es hat finstere Absichten …

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DASBUCH

England, in der nahen Zukunft. Vier Jahre nach dem spurlosen Verschwinden ihrer besten Freundin Mal ist die Studentin Lee noch immer traumatisiert. Nach einem mysteriösen Anruf kreuzen sich ihre Wege mit denen des MI5-Agenten Julian Sabreur, der einem Phantom nachjagt. Ist es vielleicht Mal? Aber wo war sie – und wo ist sie jetzt? Als auch noch eine Physikerin entführt wird, die über Parallelwelten geforscht hat, beginnt das Gefüge von Lees und Julians Welt auseinanderzubrechen. Irgendetwas ist da draußen, und es hat finstere Absichten …

Adrian Tchaikovsky im Heyne Verlag:

Die Kinder der Zeit

Die Erben der Zeit

Im Krieg

Portal der Welten

DERAUTOR

Adrian Tchaikovsky wurde in Woodhall Spa, Lincolnshire, geboren, studierte Psychologie und Zoologie, schloss sein Studium schließlich in Rechtswissenschaften ab und war als Jurist in Reading und Leeds tätig. Für seinen Roman »Die Kinder der Zeit« wurde er mit dem Arthur C. Clarke Award ausgezeichnet. Er lebt mit seiner Familie in Leeds.

Mehr zum Autor und seinen Werken auf:

ADRIAN TCHAIKOVSKY

PORTALDER WELTEN

Roman

Aus dem Englischen von Irene Holicki

Deutsche Erstausgabe

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Das Original ist unter dem Titel THE DOORS OF EDEN bei Macmillan, London, erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2020 by Adrian Tchaikovsky Copyright © 2021 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München, unter Verwendung von Alamy Images (funkyfood London – Paul Williams, Mike Kipling Photography, YesPhotographers); Getty Images (Photos by R A Kearton); Mauritius Images (Stefan Hefele); Shutterstock.com (ferojay) Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-26540-3V001diezukunft.de

An die verpassten Chancen

VORSPIEL

DAS EDIACARIUM

AUSZUG AUS: DIE ANDEREN EDEN – SPEKULATIVE EVOLUTION UND INTELLIGENZ VON RUTH EMERSON, PROFESSORIN AN DER UNIVERSITY OF CALIFORNIA

Drei Milliarden Jahre lang spielt sich das Leben hier einzig auf der mikroskopischen Ebene ab. Bakterien ernähren sich von seltsamen Chemikalien in den Tiefen der Erde oder des Meeres. Das Eis kommt und geht. Die Atmosphäre besteht die meiste Zeit aus einer verwirrenden Mischung chemischer Stoffe, die für Lebewesen entweder giftig oder schlicht nicht verwertbar sind. Dennoch gibt es Leben. In mehr als der Hälfte der langen Zeit seit ihrer Entstehung hat diese Welt selbstreplizierende Organismen hervorgebracht. Sie tummeln sich überall, wachsen und sterben wieder ab, und alle bemühen sich nach Kräften, in einem grausamen, unsichtbaren Kampf ums Überleben den Sieg davonzutragen.

Manchmal erscheint das Leben unausweichlich, jedenfalls für uns, die wir das Glück haben, vom anderen Ende des Zeitteleskops aus zurückblicken zu können. Aber wie groß waren die Erfolgschancen tatsächlich? Schwer zu sagen, zumal das Niemandsland zwischen anorganischen Prozessen und organischer Existenz keine starre Linie ist, sondern ein breiter Streifen mit fließenden Übergängen. Dennoch wiegen wir uns in dem Glauben, dass der Übertritt irreversibel ist, wenn ein paar sehr einfache Kriterien erfüllt sind. Man stelle sich das Leben vor wie ein Handbuch, das auch Anweisungen zur Selbstreplikation enthält. Natürlich ist dieser Replikationsprozess nicht fehlerfrei, in dieser Welt ist alles mit Fehlern behaftet. Sie führen zu Mutationen, eröffnen die Möglichkeit zu Veränderungen, und so entsteht Evolution. Eine Mutation kann einen winzigen Klumpen organischer Chemie befähigen, sich effizienter zu replizieren als seine Nachbarn. Die Nachkommen kopieren den Zufallsfehler gewissenhaft und vererben ihn weiter. Auch ohne den Beweis dafür, der im Herzen jeder lebenden Zelle zu finden ist, müsste diese Argumentation jedermann einleuchten. Evolution ist unvermeidlich, sobald ein mit Fehlern behaftetes selbstreplizierendes System auf eine Umgebung mit begrenzten Ressourcen trifft.

Über sehr lange Zeit hätten sich alle Dramen dieser speziellen Welt in einem Wassertropfen abspielen können, so klein war der Maßstab des Lebens. Es gibt Hinweise darauf, dass sich einige Male komplexere Lebensformen zu entwickeln begannen. Doch dann kehrte entweder das Eis zurück, der Säuregrad im Wasser stieg an, oder der Sauerstoffgehalt in der Luft nahm ab – und diese ersten Blüten gingen unter wie aufgeklärte Imperien in den Flutwellen der Barbarei.

Drei Milliarden Jahre schwammen vorbei wie ein Sandkorn im Auge eines Gottes. Das Leben weitete sich aus und füllte die Nischen, die ihm die Welt zur Verfügung stellte. Immer neue Lebensformen flüchteten voreinander, verschlangen wie winzige Tiger ihre Artgenossen und trieben Tauschhandel mit ihrem Genmaterial, als wären sie zwielichtige Schwarzmarkthändler mit Schmuggelware unter dem Trenchcoat. Zunächst beuteten diese Lebensformen das anorganische Substrat ihrer Welt aus. Später nutzten sie die organische Matrix auf dem Totenacker einer Million Milliarden kurzlebiger Generationen ihrer Vorfahren.

Dann machte in dieser Urzeit der Mikroben ein einzelliger Visionär eine brisante Entdeckung – von ihren Auswirkungen her vergleichbar der Entdeckung des Feuers durch die Menschheit: Ein volatiler, hochgiftiger chemischer Stoff wurde gezähmt. Seit der Entstehung der Erde hatte er gierig jedes Element angegriffen, mit dem er in Berührung kam – nun wurde er in den Dienst des sich entwickelnden Lebens gestellt. Die erste Metabolisierung von Sauerstoff mag ein Verteidigungsmechanismus gewesen sein. Ein Prozess, um eine gefährliche Substanz zu integrieren, statt sich von ihr verschlingen zu lassen. Vielleicht handelten eure frühen Vorfahren in ähnlicher Absicht, als sie die ersten Wolfsjungen ihren Müttern wegnahmen. Und was für eine Welt von Möglichkeiten sich damit eröffnete! Sauerstoff verkürzt den Weg zu einem Lebensstil mit höherem Energieverbrauch, er ist die Fahrkarte hinaus aus dem Bakteriengetto und hinein in ein Leben in Saus und Braus. In der Folge wird das Personal komplexer. Jetzt, da unter der Haube ein stärkerer Motor brummt, wird das Leben neu lackiert und bekommt Magnetfelgen und Racingstreifen.

Im nächsten Schritt entdecken die Einzeller den Vorteil der großen Zahl. Matten aus einfachen Bakterien legen sich von Küste zu Küste über sämtliche Meeresböden und werden als zäher Schaum aus organischer Materie, die noch nicht einmal richtig verwesen kann, an tote Strände geschwemmt. Dann heften sich die Zellen aneinander und teilen sich die Arbeit, wenn es ausreichend viele sind, könnte man sie sogar für ein größeres kohärentes Wesen halten. Zwar reißt sie der nächste Sturm, die nächste Flutwelle auseinander, doch hinterher wachsen sie langsam wieder zusammen. Neue Zellen entwickeln sich, einige hängen sich an die Bakterienmatten und an die Felsen und filtern organische Abfallprodukte aus dem Wasser; andere lassen sich von der Strömung treiben. Es entstehen Zellen, die nur in Gesellschaft von ihresgleichen überleben können. Sie sind auf ein kleines Gebiet spezialisiert, ähnlich einem Büroangestellten, der ausschließlich mit Formular G befasst ist. Da jedoch auch der Rest des Alphabets bearbeitet wird, trifft der Gehaltsscheck am Monatsende dennoch ein. Vielzelliges Leben entwickelt sich exponentiell, seit es mit hochprozentigem Sauerstoff befeuert wird. Ein Garten des Lebens entsteht – der allererste Garten Eden. Allerdings wächst darin kein Leben wie das unsere oder auch bloß das unserer Vorfahren. Dieses Leben ist von gänzlich anderer Art. Massen von Polstergebilden liegen träge auf dem Meeresboden oder schieben sich langsam ohne Gliedmaßen oder Muskeln über die Bakterienmatten und ernähren sich von ihnen, obwohl sie keine Mundöffnung haben. Es ist eine globale Gemeinschaft von Organismen, die uns fremd sind, die weder Zähne noch Klauen, weder Augen noch innere Organe kennen.

Auch unsere Welt sah einmal so aus. Kaum geht man sechshundert Millionen Jahre zurück, schon erkennt man keinen Unterschied mehr. Doch jene Welt ist nicht die unsere.

In jener Welt ist etwas erwacht.

ERSTER TEIL

  

Hinab in den Kaninchenbau

1

Sie hieß Lee, eine Abkürzung für Lisa Pryor. Was an sich eine Kurzform für Lisa Chandrapraiar war. Doch als ihre Großeltern von Pakistan nach England kamen, hatten die Beamten von der Einwanderungsbehörde einen anstrengenden Tag hinter sich, und so landete der Name Pryor in den Dokumenten. Ihre Eltern nannten sie immer noch Lisa, aber Mal nannte sie Lee, und nur darauf kam es an. Nach einer Weile gingen auch ihre anderen Freunde dazu über, denn was Mal sagte, pflegte sich festzusetzen.

Mal war die Kurzform für Elsinore Mallory, und sie kam aus einer sozialen Schicht, in der dieser Name ganz und gar akzeptabel war. Trotzdem hatte sie ihn ihren Eltern nie verziehen.

Sie waren beide neunzehn. Lee studierte in Reading Zoologie, Mal hörte Englische Literatur in Oxford – die Universität war so exklusiv, dass man für das, was man dort tat, ein anderes Verb verwendete. In der Schule waren sie nur deshalb befreundet gewesen, weil Lees Eltern alles darangesetzt hatten, ihr eine gute Erziehung zu verschaffen, und weil Mals Eltern bei einem fragwürdigen Börsengeschäft das letzte Hemd verloren hatten und sich nicht mehr leisten konnten, sie auf eine teure Privatschule zu schicken. Der erste Eindruck von Mal hatte sich in Lees Gehirn unauslöschlich eingebrannt: ein schmales weißes Mädchen, das ganz allein dasaß, weil es mit seinen dreizehn Jahren wirklich einigermaßen unausstehlich war. Sie war von einer sehr vornehmen Schule gekommen, wo man ihr eingeredet hatte, sie sei etwas Besseres. Und da sie eben dreizehn war, hatte sie das auch ihren neuen Schulkameraden erklärt und zu ihrer Verwunderung feststellen müssen, dass die das nicht so sahen.

Mal hatte also allein mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf im Umkleideraum gesessen und in Lyall Watsons The Nature of Things gelesen. Lee hatte von genau diesem Buch ein abgegriffenes Gebrauchtexemplar zu Hause liegen. Sie war noch nie jemandem begegnet, der es auch gelesen hatte; es war ziemlich abgedreht und erzählte im reinsten Forteana-Stil vom geheimen Leben der unbelebten Natur. Jetzt hatte sie zum ersten Mal jemanden gefunden, der sich ebenfalls dafür interessierte.

Mal hatte abwehrend den Kopf gehoben und erwartet, nun auch noch von dem pummeligen Pakistani-Mädchen, das sie mit großen Augen anstarrte, verspottet zu werden. Doch sie hatte irgendwie gespürt, worauf es Lee ankam, und von diesem Augenblick an waren sie unzertrennlich gewesen. Lees Eltern wussten nicht, was sie von Mal halten sollten, und Mals Eltern wussten mit Lee erst recht nichts anzufangen, aber das war den beiden egal.

In den darauffolgenden Jahren teilten sie alles miteinander, von den Dungeons and Dragons-Kampagnen bis zum ersten intimen Erlebnis. Die Vertiefung ihrer Beziehung war für beide unausweichlich gewesen, doch von ihren Eltern schöpfte nie jemand Verdacht, die waren in einer Geisteshaltung gefangen, in der so etwas nicht vorkam.

Das andere gemeinsame Hobby war die Suche nach Monstern.

Zu Anfang hatten sie sich lediglich passiv damit beschäftigt. Sie lasen die Fortean Times, sahen sich Wiederholungen von Arthur C. Clarkes Mysterious World-Serie an und surften im Internet. Dort geisterten Gerüchte über den Yeti, den Mokele-Mbembe, den Jersey Devil und streunende Großkatzen herum. Doch zwei Jahre zuvor – bevor Es Passierte – waren sie erstmals miteinander in Urlaub gefahren. Inzwischen waren sie siebzehn Jahre alt, und Mals Eltern waren gern bereit, etwas Reisegeld lockerzumachen. Lee kam ihnen als Anstandswauwau gelegen, sie trauten ihr zu, ihre Tochter davor zu bewahren, in eine kompromittierende Lage zu geraten. Das war natürlich ein fataler Irrtum. Doch er hatte zur Folge, dass niemand etwas dabei fand, wenn die beiden zum Wandern nach Schottland oder zur Verbesserung ihrer Französischkenntnisse nach Gévaudan fahren wollten. Dass sie in der tiefsten Wildnis eifrig nach irgendwelchen Ungeheuern suchten, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht dort lebten, ahnte niemand.

Im Rückblick hätte Lee nicht mehr sagen können, ob sie an all das wirklich geglaubt hatten. Nach dem, was sie erlebt hatten, wollte sich die frühere Begeisterung nicht mehr einstellen. Sie hatten nicht ernsthaft erwartet, handfeste Beweise zu finden. Sie wollten nur jenes viel gerühmte unscharfe Foto schießen, auf dem man bei einem bestimmten Licht fast den Eindruck gewinnen konnte, da wäre etwas: eine Welle auf dem See vielleicht oder ein entfernt menschenähnlicher Schatten im Wald.

Nachdem wir das ein paar Mal gemacht hatten, suchte Mal das Ziel für unsere nächste Reise aus, und dabei stießen wir tatsächlich auf unser Monster.

Als Lee sich später ihren Lebensunterhalt mühsam mit kryptozoologischen Artikeln für Magazine und Webseiten verdiente, beschäftigte sie sich auch mit der literarischen Tradition, in der das »Monster« als Metapher für die Abartigkeit stand, die wir alle von jeher in uns tragen und die in der menschlichen Natur den wahren Bösewicht zu finden glaubte. Dabei kam sie sich vor wie eine Betrügerin, denn das war nicht die Art Monster, auf die sie und Mal getroffen waren. Sie waren der anderen Sorte begegnet, der mit den schrecklichen Klauen und den mörderischen Zähnen. Und wie so viele Kryptiden-Jäger, die sich dem entlaufenen Panther oder dem Affenmenschen tatsächlich gegenübersahen, hatten auch sie erkennen müssen, dass das, was wirklich Freude machte, die Suche nach dem Monster war. Wenn man es tatsächlich fand, flößte es einem nur Angst und Schrecken ein.

Lee war fast das ganze Sommersemester von Mal getrennt gewesen und hatte ihr tränenfeuchte E-Mails geschickt und sich aus lauter Einsamkeit in mitternächtliche Skype-Anrufe geflüchtet. Mal war besser zurechtgekommen, sie hatte sich bis über beide Ohren in Rollenspiele gestürzt und sich im Debattierklub der Universität engagiert. Die beiden waren seit Jahren ein Paar, und nun, fern voneinander, durchliefen sie jenes Stadium einer Beziehung, in dem man sich unentwegt fragt: Ist mir die Sache wichtiger als ihr? Klammere ich zu sehr? Fühlt sie sich womöglich gefesselt? Solche Sorgen verschwanden stets schlagartig, wenn Lee persönlich mit Mal sprechen konnte. Dennoch fürchtete sie jeden Tag von Neuem, Mal könnte sich plötzlich daran erinnern, dass sie weiß war und aus einem vornehmen Haus stammte – und dann könnte sie wie ein Alien nach einem kurzen Besuch auf der Erde zu ihren eigenen Leuten zurückkehren.

Dann waren die Prüfungen vorbei, das Semester war zu Ende, und Lee wünschte sich sehnlichst, der Zug nach Hemel und nach Hause würde schneller fahren. Für ihre Eltern und Geschwister erübrigte sie gerade einmal fünf Minuten, bevor sie sich auf den Weg nach Bracknell im Westen machte, wo Mals Familie sich noch immer nicht von ihrem großen alten Haus trennen konnte.

Mal glich zu jener Zeit einer Porzellanpuppe, die beim leisesten Windhauch zu zerbrechen drohte. Lee hatte sie lange Zeit glühend um ihren Stoffwechsel beneidet, denn das Mädchen konnte bedenkenlos essen. Mal vertilgte doppelt so viel wie sie, während Lees Mutter ständig an ihrer Kleidergröße herumnörgelte und ihr vorhielt, was netten Jungs gefiel oder auch nicht (obwohl ihr das vollkommen gleichgültig war). Mal aber blieb spindeldürr. Inzwischen war sie so blass, dass sie fast schon durchsichtig wirkte. Ihr kurzes Haar hatte sie platinblond gefärbt, um ihre Mutter zu ärgern und um aufzufallen. Dafür hatte sie eine Art von Hassliebe. Sie verabscheute es, wenn sie von Fremden angestarrt wurde, und fürchtete nichts mehr, als abschätzig beurteilt zu werden. Gleichzeitig konnte sie sich nicht durchringen, sich so schlicht und unauffällig zu kleiden, wie Lee es gewöhnlich tat. Etwas in ihr war darauf angewiesen, gesehen und gehört zu werden, zu spüren, dass sie real war.

Natürlich war Lee bereits vor Beginn des Studiums dahintergekommen, dass Mal nur deshalb so schlank war, weil sie das meiste, was sie aß, gleich wieder von sich gab. Eines Sommers erkrankte sie deshalb schwer, und ihre Eltern waren außer sich vor Angst, jemand könnte dahinterkommen, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Sie schleppten sie auf eigene Kosten zu Ärzten und Therapeuten und schickten sie sogar in eine Rehaklinik für reiche Leute mit Essstörungen. Lee erinnerte sich, dass sie in dieser Zeit wie unter einem Schatten gelebt hatte, unter einem unerträglichen Druck, über den sie mit niemandem sprechen konnte. Nach jenem Zwischenfall, als Mal zu viele Pillen geschluckt hatte, nahmen die Eltern sie endlich aus der Klinik und verzichteten auch darauf, sie zu Hause einzusperren. Lee durfte sie wieder besuchen, und danach ging es Mal besser.

Als Es tatsächlich geschah, war Mal immer noch sehr mager, aber ihre Knochen zeichneten sich nicht mehr ganz so deutlich ab. Lees Besorgnis, Mal könnte irgendein Wunderkind aus dem Umfeld von Oxbridge kennenlernen und mit ihr durchbrennen, hatte sich gelegt. Außerdem hatte Mal bereits Pläne geschmiedet.

»Lee«, sagte sie mit jenem gewissen Lächeln, das Lee so durch und durch ging, als hätte sie mit dem Finger in eine Steckdose gefasst. »Wir fahren in den Urlaub.«

Natürlich war es bereits Tradition, Kameras und Nachtsichtgeräte einzupacken, um auf ausgetretenen Pfaden nach Kryptiden zu fahnden. Doch diesmal hatte Mal etwas Neues ausfindig gemacht. Kein Ungeheuer von Loch Ness, kein Lindwurm von Lambton, kein Dorf mit einem Souvenirladen, wo man den jeweiligen Kryptiden als Grimassen schneidendes Plüschtier verewigt hatte. Die alte Sehnsucht nach neuen Gefilden regte sich wieder.

Nach jenem unentdeckten Land, von des Bezirk, mit den Worten des Barden, kein Wandrer wiederkehrt …

Youtube war natürlich kein unentdecktes Land. Entdeckungen waren schließlich Sinn und Zweck dieses Portals. Und wenn man eifrig genug suchte, konnte man dort so ziemlich alles entdecken, auch wenn man sich durch eine Menge Pornos wühlen musste, um das Gewünschte zu finden. Eines bot Youtube nämlich in rauen Mengen, vorausgesetzt, man gab die richtigen Suchbegriffe ein: unerklärliche Phänomene.

Mal und Lee waren auf diesem Gebiet nicht mehr ganz unbedarft. Im Lauf der letzten zwei Jahre hatten sie ein Dutzend Abende damit verbracht, das Netz geradezu hysterisch nach Kryptiden-Videos und rätselhaften Sichtungen von unbekannten Spezies zu durchforsten. Seither war Lee fest davon überzeugt, dass neun Zehntel der auf Youtube eingestellten Videos von »unbekannten Tieren« auf (a) große Quallen, (b) schlechte Spezialeffekte und (c) eigentlich leicht zu identifizierende Tiere hinausliefen, die das Pech gehabt hatten, jemandem zu begegnen, der offenbar nie eine Naturdokumentation gesehen hatte. Ein Exemplar unter der Überschrift »MISTERIÖSETIERE!!« war ein ganz gewöhnlicher Reiher gewesen. Und der Blick dieses Reihers hatte ganz deutlich gesagt: »Lass mich bloß mit diesem Internet-Scheiß in Ruhe«. Jedenfalls hatte Mal das behauptet.

Daher hatte Lee nicht unbedingt den Atem angehalten, als sie nun, bei heruntergelassenen Jalousien, den Laptop unsicher auf den Knien balancierend, dicht nebeneinander auf Mals Bett kauerten.

Das Video, das Mal gefunden hatte, trug den Titel »Vogelmensch von Bodmin?«, und immerhin waren alle drei Wörter richtig geschrieben.

»Das ist bestimmt bescheuert«, hatte Lee erklärt und sich an Mal geschmiegt.

»Sieh es dir an.« Die Stimme ihrer Freundin zitterte ein wenig, und das verriet Lee, dass sie in diesem Sommer auf jeden Fall zum Bodmin-Moor reisen würden, auch wenn das Video noch so blöd war.

Angeblich stammte der Film von einer Überwachungskamera. Schwarz-weiße Nachtaufnahmen von so körniger Qualität, dass der Betrachter sich nicht groß anzustrengen brauchte, um im statisch verzerrten Zwielicht irgendwelche seltsamen Erscheinungen zu sehen. Die Kamera war statisch, sie hing an der Steinmauer eines zweistöckigen Gebäudes und schaute schräg nach unten: Man konnte rechteckige Fenster und gegenüber eine mit Wellblech verkleidete Wand erahnen, vielleicht eine Scheune. Die beiden Gebäude waren etwa drei Meter voneinander entfernt, und der Raum dazwischen war vollgestellt mit landwirtschaftlichen Geräten und mit abgedeckten Kisten, dazwischen lagen eine umgestürzte Hundehütte und ein Fahrrad, dem der Vorderreifen fehlte. Nachdem sich eine Sicherheitsleuchte zugeschaltet hatte, konnte Lee am äußersten Rand des Kamerabereichs ganz schwach die Umrisse eines schlammverkrusteten Range Rovers erkennen. Jedenfalls hatte sie das im Rückblick so in Erinnerung. So recht ließ sich dieses präzise Bild nie mit dem körnigen Video in Einklang bringen. Das Gedächtnis spielte einem oft einen Streich.

Damals hatte sie sich darüber lustig gemacht. Nicht so krass, dass Mal sauer wurde, sondern nur so, wie es bei ihnen üblich war. Wenn es um Forteana-Themen ging, machte die eine einen Vorschlag, und die andere schmetterte ihn freundlich ab. Und dieses Video war als Heißmacher für Kryptiden-Jäger geradezu ein Klassiker. Feste Kameraposition, sodass sich knapp hinter dem Erfassungsbereich etwas abspielen könnte, und Aufnahmen von schlechter Qualität voller Geisterbilder und Phantombewegungen. Der Betrachter konnte eine ganze Prozession von Bigfoots hineininterpretieren.

Es hieß, die Kamera befände sich am Haus eines Schafzüchters im Bodmin-Moor in Cornwall. Die Beschreibung enthielt erstaunlich viele Details über den einsamen Farmer, dessen Tiere immer wieder von einer mysteriösen (man beachte die korrekte Verwendung des »y«!) Bestie attackiert wurden. Und das war in puncto Glaubwürdigkeit ein Warnsignal. Wenn sich jemand genötigt fühlte, eine Erzählung derart auszuschmücken, lag das oft daran, dass die Fakten sich hartnäckig sträubten, für sich zu sprechen. Große Teile des ursprünglichen Bildmaterials waren im Halbdunkel aufgenommen, und das einfallende Mondlicht reichte gerade aus, um die Umrisse erkennbar zu machen, aber nichts war eindeutig. Es gab auch keinen Ton. Dann hatte etwas den Bewegungsmelder ausgelöst, und es war hell geworden, aber man sah niemanden – bestimmt nur deshalb, weil jemand die Kamera und den Sensor falsch ausgerichtet hatte. Auch das war die absolute Norm im Katalog von »gefakten Spukvideos«. Je mehr man die Fantasie der Betrachter für sich arbeiten lassen konnte, desto besser.

Die Szene wiederholte sich ein paar Mal. Vielleicht verlor der Farmer allmählich den Verstand, vielleicht war er auch eingeschlafen oder in die Stadt gefahren, um dort sein preisgekröntes Schwein vorzuführen. Lee erinnerte sich, dass sie nach dem zweiten Vorfall der Sorte »Schreck, lass nach – nein, falscher Alarm« etwas unruhig wurde und schon die Augen verdrehte, als Mal sie in den Rettungsring um ihre Taille kniff und sagte: Schau, da ist es.

Eineinhalb Minuten lang hatte alles im Dunkel gelegen, und Lee konnte sich einbilden, in dieser Finsternis eine Bewegung zu erkennen. Es hätte alles Mögliche sein können. Wenn man die Augen zusammenkniff, kroch der verdächtige Schatten so langsam auf einen zu, dass er den Bewegungsmelder täuschte. Doch beim nächsten Blinzeln hatte er sich um keinen einzigen Pixel bewegt. Oder war da etwas vor dem Nummernschild des Land Rovers, kauerte dort eine Gestalt, ein Hund oder ein Mensch auf Händen und Knien? »Vogelmensch von Bodmin?« fragte der Titel, und das genügte, um die Dunkelheit mit den verschiedensten unheimlichen Erscheinungen zu bevölkern. Vogel-Kryptiden waren schließlich selten, und was sollte ein Vogelmensch sein? Lee erinnerte sich, wie die Räder ihrer Fantasie heiß liefen, weil sie nichts fanden, in das sie sich verbeißen konnten.

Dann wurde es wieder hell, und plötzlich stand etwas wie erstarrt im Lichtkegel. Lee konnte nicht richtig sehen, was es war, es wurde zur Hälfte von einer Plane verdeckt. Das Licht war ohnehin so grell, dass alle Einzelheiten verschwammen. Wahrscheinlich waren alle auf die Computergrafik eines Kunststudenten reingefallen. Allerdings war da tatsächlich etwas, größer als ein Vogel, aber etwas kleiner als ein Mensch, soweit man das ohne Vergleichsmaßstab beurteilen konnte. Sie sahen es beide: eine gebeugte Gestalt, Stacheln, eine Andeutung von Gliedmaßen, von Schwingen, die trotz des zottigen Gefieders eher wie Arme wirkten. Ein langer Schlangenhals mit einem Kopf am oberen Ende – vielleicht auch bloß der Arm in einer Marionette.

Das Phantom ergriff die Flucht, es hetzte zwischen dem Range Rover und der Hausmauer hindurch und stieß dabei eine Kiste um. Das war es, was Mal fasziniert hatte und was nun auch Lee einen Schauer über den Rücken jagte. Das Wesen bewegte sich in einer Weise, wie sie es noch nie gesehen hatten. Es flatterte oder hüpfte nicht wie ein Gartenvogel. Das waren weder die langen Trabschritte eines Straußes noch der Laufstil eines als Vogel verkleideten Menschen. Das komische Ding stürmte schnurstracks durch die schmale Gasse und verschwand in den Schatten. Keinerlei Ähnlichkeit mit einem Menschen und herzlich wenig mit einem Vogel. Zurück blieb der Eindruck eines zerzausten, gefiederten Körpers und wirbelnder Beine – der lange Schwanz fast verschwommen, was noch betonte, wie verdammt schnell das Tierchen war. Und dieses muskulösen Halses mit dem dicken Kopf, der zur Kamera zurückschaute, als wüsste das Phantom, dass es beobachtet wurde. Ein Auge blitzte noch kurz auf, dann war das Wesen verschwunden.

Man kann für eine Kreatur ganz bestimmte Bewegungen programmieren, um in uns Menschen ein tiefes urtümliches Unbehagen zu erzeugen. Lee hatte in den gefakten Videos oft genug Beispiele dafür gesehen. Man entwirft etwas, das menschenähnlicher ist, als einem lieb sein kann, und lässt es dann unversehens davonhuschen wie eine Spinne. Oder man programmiert Gelenke, die sich in eine falsche, aber nicht allzu falsche Richtung beugen. Designer von Horrorwesen verfügen über eine Sprache, die garantiert Gänsehaut erzeugt: Jedes Studio für Spezialeffekte, das schon einmal einen Horrorfilm gedreht hat, wird das bestätigen.

Dieses Vogelwesen arbeitete mit keinem von jenen Tricks. Sein Körper war nach einem anderen Alphabet, in einer völlig anderen Sprache aufgebaut, und das war es, was die beiden jungen Frauen gefangen nahm. Natürlich war das Video ein Fake, ganz offensichtlich. Aber solange das nicht laut ausgesprochen wurde, konnte man so tun, als wäre es vielleicht doch echt.

Am Abend hatten sie bereits einen Mietwagen bestellt und ein Zimmer in einer Frühstückspension in einem kleinen Dorf mit dem hinreißenden Namen St. Teath gebucht. Sie würden nach Bodmin fahren, aber nicht um nach seiner berüchtigten Bestie zu suchen, sondern nach dem Vogelmenschen.

In der Frühstückspension sagte man ihnen dreist ins Gesicht, ein Frühstück sei im Preis nicht inbegriffen. Keine der beiden wagte zu fragen, wofür das Wort »Frühstück« in der Bezeichnung dann wohl stehe, aber sie machten sich einen Spaß daraus, verschiedene Möglichkeiten zu erfinden. Wie Lee sich später erinnerte, schien es niemanden zu kümmern, dass sich zwei junge Mädchen ein Zimmer mit Doppelbett geben ließen. Ob die Inhaber sympathisch aufgeschlossen waren oder sich, wie die alte Königin Victoria, tatsächlich nicht vorstellen konnten, dass Frauen solche Neigungen hatten, wusste sie nicht.

Als Nächstes mussten sie herausfinden, wo sie eigentlich hinwollten. Ein Zeichen von fragwürdigen Youtube-Videos mit gefakten Kryptiden ist, wie viele wichtige Angaben nicht in der Beschreibung enthalten sind, und Lee und Mal hatten nicht vor, auf der Suche nach »der Farm« überall im Bodmin-Moor herumzuirren. Stundenlang fuhren sie von einem Dorf zum anderen, zeigten Aufnahmen aus dem Video und fragten, ob jemand den Ort erkannte, bis jemand sie endlich zur Mittagszeit in einem Pub merkwürdig ansah und fragte, ob sie etwa wegen der »Bestie« gekommen seien. Heraus damit am helllichten Tag, als hätten sie in ihrem ganzen Leben noch nie einen Horrorfilm gesehen. Es wäre eine fantastische Gelegenheit gewesen, zwei Touristen das Gruseln zu lehren, doch der alte Knacker erzählte ihnen ganz unbefangen vom hiesigen Buhmann, ohne unheilvolle Andeutungen zu machen oder man sagt ja … zu raunen.

Vier Jahre später konnte Lee darüber lachen. Doch als sie dann mitten in der Scheiße steckten, war ihnen diese Begegnung wie eine düstere Warnung erschienen, die sie in den Wind geschlagen hatten.

Der alte Knabe war nur deshalb so hilfsbereit gewesen, weil der fragliche Landwirt ortsbekannt, aber nicht sonderlich beliebt war. Ein verschrobener Einzelgänger, der nur selten ins Dorf kam und sich mit jedem seiner bedauernswerten Nachbarn erbitterte Grenzstreitigkeiten lieferte. Als er Monate zuvor auf der örtlichen Polizeiwache aufgetaucht war und behauptet hatte, auf seiner Farm treibe sich ein Monster herum, hatten das alle zum Anlass genommen, sich über ihn lustig zu machen. Der alte Knabe faselte eine volle halbe Stunde lang und lud die beiden Mädchen obendrein zu einem recht anständigen heimischen Birnenmost ein. Dann markierte er ihnen die Farm auf ihrer Wanderkarte und nannte ihnen den Namen des Besitzers – ein gewisser Cador Roberts. Das klang wie ein Clanchef aus den Bergen von Wales, tatsächlich war er wohl bloß ein ältlicher Griesgram, der auf einer Schaffarm am Rand des Moors hockte.

Nachdem sie in ihre Pension zurückgekehrt waren, schwelgten sie den ganzen Abend lang in blutrünstigen Fantasien darüber, was man auf Roberts’ Land finden könnte. Sie überlegten, ob er das Video selbst gefakt hatte oder ob ihn jemand in den Wahnsinn hatte treiben wollen – so wie der Alte geredet hatte, herrschte da wohl kein Mangel an Verdächtigen. Roberts hatte die Bänder seiner Überwachungskamera offenbar der Polizei übergeben. Aber letztlich waren sie auf einem Youtube-Kanal gelandet – vielleicht hatte man das Ganze nur deshalb online gestellt, damit Roberts sich ärgerte, sollte er jemals in die Nähe eines Modems kommen.

Am nächsten Morgen packten sie ihre Wandersachen zusammen und kauften an der nächsten Tankstelle Landkarten, Wasserflaschen und Sandwiches. Es gab zwar eine unbefestigte Stichstraße zu Roberts’ Farm, aber man hatte ihnen glaubhaft versichert, ihr kleiner Mietwagen würde die Fahrt bis dorthin nicht überstehen. Also planten sie, so weit wie möglich auf der Landstraße zu fahren und das restliche Stück zu Fuß zu gehen. Gegen Mittag wollten sie die Farm erreicht haben.

Natürlich hätten sie sich dort nach Vogelmenschen umsehen können, ohne lange um Erlaubnis zu fragen, aber viele Farmer hatten eine Schrotflinte, erst recht, wenn sie vermuteten, dass sich auf ihrem Gelände Kryptide herumtrieben. Für den Fall, dass Roberts sie verdächtigte, zu den Plagegeistern aus dem Dorf zu gehören und ihn zum Narren halten zu wollen, hatten sie eine Geheimwaffe mitgebracht: ein Exemplar der Fortean Times vom Januar dieses Jahres mit einem Artikel von Lee über die Bestie von Gévaudan. Es war Lees erste Veröffentlichung, und sie war überaus stolz darauf. Damit würden sie Roberts beweisen, dass sie seriöse Kryptiden-Jäger waren.

Der Fußmarsch dauerte länger, als sie gedacht hatten. Sie waren so froh, von all den Albernheiten wegzukommen, aus denen ihr Leben großenteils bestand, dass ihnen erst zu Bewusstsein kam, wie spät es schon war, als sie weit nach Mittag endlich das Gehöft entdeckten. Außerdem hing ein kühler Hauch in der Luft, der am Vortag noch nicht da gewesen war. Die Farm war schön gelegen, aber man musste einen Sinn für karge Landschaften haben, um das richtig würdigen zu können. Das Gelände war sehr hügelig, und an vielen Stellen hatten sich Felsen durch das Erdreich gebohrt. Alles war mit grüngelbem Gestrüpp bedeckt. Die Häuser lagen weit auseinander, graue Steinkästen mit zu wenigen, zu kleinen Fenstern, wie dafür geschaffen, wahnsinnige Frauen auf dem Dachboden gefangen zu halten. Und sie waren baufällig; die meisten Höfe, die Lee und Mal zu Gesicht bekamen, waren schon vor Generationen aufgegeben worden. Die Familie Roberts besaß offensichtlich mehr Durchhaltevermögen als die meisten anderen.

Später musste Lee einsehen, dass das ganze Unternehmen ausnehmend bescheuert gewesen war, und zwar aus ganz banalen Gründen. Dass Roberts ein Axtmörder sein könnte, war ihnen nicht in den Sinn gekommen, nicht einmal, dass sie irgendeinem Axtmörder über den Weg laufen könnten, der nicht Roberts war. Sie waren auf der Suche nach Monstern und fürchteten sich nicht, weil beide nicht damit rechneten, fündig zu werden.

Auf ihr Klopfen erfolgte keine Reaktion, und sie sagten sich, Roberts sei wahrscheinlich unterwegs, um sich um seine Schafe zu kümmern. Daran hätten sie nun wirklich früher denken können. Jetzt hatten sie nur zwei Möglichkeiten: entweder auf unbestimmte Zeit zu warten, bis sie hereingebeten wurden, oder hinterher um Entschuldigung zu bitten. Also gingen sie um das Haus herum und suchten nach der Seite, die sie auf dem Video gesehen hatten. Dabei bemühten sie sich gar nicht erst, unbemerkt zu bleiben, sondern schwatzten ohne Punkt und Komma, schließlich war das ein Abenteuer, und sie durften es zusammen erleben.

Die Stelle war rasch gefunden. Jemand hatte einen Teil des Gerümpels weggeräumt, aber der Durchgang zwischen Haus und Scheune war vorhanden und, siehe da, auch die echte Überwachungskamera. Sie machten selbst einige Fotos und untersuchten den schlammigen Boden, als erwarteten sie, belastende Fußabdrücke zu finden.

Sie fanden tatsächlich Fußabdrücke. Und die stammten nicht von einem Menschen.

Lee hatte die ersten Aufnahmen noch auf einem Datenstick gespeichert. Aber das war nicht unbedingt ein schlagender Beweis. Mehrere Fußstapfen lagen übereinander, und keine war vollständig, doch sollte jemand sie tatsächlich mit einem künstlichen Stelzvogelfuß gefakt haben, dann hatte er sich wirklich angestrengt. Die Abdrücke zeigten zwei lange Zehen und innen eine kurze, die aussah, als wäre sie in der Mitte abgebrochen. Mal und Lee sahen sich an, die Stimmung schwankte zwischen Begeisterung und Furcht. Das war etwas Neues, so vage und unendlich vieldeutig es auch sein mochte. Damit würden sie in die Fortean Times kommen. Man würde sie beim Weird Weekend auf die Rednerliste setzen und ihnen vielleicht sogar einen Flug zu einem der großen Symposien in den Staaten spendieren. Sie würden sich in der Szene einen Namen machen – das stand für sie fest.

Mal bemerkte einen unangenehmen Geruch, der anders war als der Bauernhofmief, und ging ihm um die Scheune herum nach. Lee vermisste etwas und war im Unterbewusstsein damit beschäftigt, die Realität mit ihren Erinnerungen an das Video zu vergleichen.

Als sie Mals entsetzten Aufschrei hörte, rannte sie hinterher. Der Geruch nach totem Fleisch, ein süßlicher Verwesungsgestank, war trotz ihres Heuschnupfens so überwältigend, dass ihr sofort übel wurde. Das Summen von Legionen von Fliegen war nicht zu überhören. Dort lag Roberts, dessen war sie sich entsetzlich gewiss.

Aber es waren nur Schafe. Die kleine Herde hatte in einem mehr als provisorischen Pferch gestanden und war überfallen worden. Alle Tiere waren mausetot, und im ersten Moment konnte Lee an nichts anderes denken, denn überall war Blut, sogar an den Wänden, und einige von den Kadavern schienen geradezu explodiert zu sein. Mal stolperte würgend aus der Scheune und gab die Reste ihres Mittagessens von sich, aber Lee war wie gelähmt. Sie hatte schon überfahrene Tiere gesehen, und der Hamster ihrer Nachbarin war nach Hamsterart ohne jeden Grund tot umgefallen. Doch hier lagen, brutal zerfleischt, die Kadaver von mindestens sieben Schafen. Sie musterte sie mit dem nahezu klinischen Blick eines Sherlock Holmes, bevor er irgendwelche abgehobenen Erklärungen zur Person des Mörders absonderte. Je länger sie hinsah, desto mehr begann sie tatsächlich wie ein Detektiv zu denken, und ihr fiel Verschiedenes auf, obwohl Mal immer wieder schrie, sie solle endlich rauskommen. So grauenvoll der Anblick auch war, hier war nicht aus reiner Mordlust getötet worden. Dafür lagen zu viele Knochen frei, und sie waren zerhackt, nicht von Tierzähnen zerbissen …

»Geflenst«, sagte sie, und Mal warf ihr einen verdutzten Blick zu. Dann verließ Lee der Mut, und sie konnte nicht aussprechen, was ihr wie eine Kröte im Kopf saß: So sehen Knochen aus, wenn ein Tier geschlachtet wurde, nicht, wenn etwas sie zernagt hat.

Sie betrachtete die schaurig roten Wände und entdeckte Stellen, wo das Blut nicht bloß hingespritzt war. Ein Foto konnte sie noch schießen, dann musste sie an die frische Luft: Eigentlich waren es nur ein paar verschmierte Flecken und Striche. An sich nicht der Rede wert, nur waren sie absichtlich entstanden. Jemand hatte bewusst solche Linien weit über der Hochwasserlinie des Gemetzels angebracht. Ähnliche Spuren sollten sie noch öfter sehen.

Lee hatte sich eine Theorie zurechtgelegt: Irgendein dreckiger Sadist wollte den armen Roberts psychisch fertigmachen, war auf den Hof gekommen, hatte seine Schafe abgeschlachtet und gefakte Fußabdrücke hinterlassen. Vielleicht war es Roberts auch selbst gewesen, um die Versicherung zu kassieren.

In diesem Moment kam etwas aus der Scheune gerannt. Es schoss so schnell an ihnen vorbei, dass es schon fast um die Ecke des Gebäudes war, bevor sie sich umdrehen und ihm nachsehen konnten. Lee behielt nur ein verschwommenes Bild von einem grauen, zottigen Etwas mit einem langen Schwanz. Natürlich hatte das Video sie genau darauf eingestimmt, und schon im nächsten Augenblick hätte sie nicht mehr sagen können, ob die Szene Wirklichkeit war oder sich nur in ihrem Kopf abgespielt hatte.

Mal war totenblass, aber fest entschlossen, die Suche auf der Stelle fortzusetzen. Lee war ganz ihrer Meinung, und jetzt schaltete sich mit Verspätung auch ihr Gehirn wieder zu und lieferte ihr, was sie zuvor vermisst hatte.

»Der Range Rover ist nicht da.« Roberts war wahrscheinlich draußen auf dem Feld, zwei Reifenspuren führten vom Haus weg ins wilde Moor. Die beiden sahen sich mit großen Augen an. Sie wussten genau, dass sie dabei waren, eine Grenze zu überschreiten, aber darum ging es schließlich bei der Kryptiden-Suche: Man trat ganz dicht an den Rand und spürte bereits den Abgrund des Unbekannten vor den Zehen – bevor man so vernünftig war und einen Schritt zurückwich.

Noch war es hell, und so machten sie sich, nur mit einem Wanderführer und einem Taschenalarm bewaffnet, den draußen im Moor ohnehin niemand hören würde, auf die Suche nach Roberts.

Nachdem sie eine Stunde marschiert waren, entdeckten sie den großen, graublauen Wagen verdreckt und verbeult mitten in einem Feld. Von dem Mann selbst oder von vermeintlichen Vogelmenschen keine Spur. Dafür waren sie offenbar auf ein »Historisches Monument« gestoßen. Drei Menhire bildeten das, was Mals Führer mit wohlwollender Übertreibung einen Steinkreis nannte, obwohl man allenfalls von einem Dreieck hätte sprechen können.

»Die Sechs Brüder«, las Mal vor und warf einen Blick auf die drei Säulen. »So werden sie von den Einheimischen genannt. Hallo? Mr. Roberts?« Ihre Stimme schien von der Luft verschluckt zu werden, bevor der Schall sich ausbreiten konnte. Sie wandte sich an Lee. »Ist es kälter geworden?«

Es war kälter. Sie fröstelten in ihren Shorts und T-Shirts und überlegten, ob sie sich etwas zum Überziehen aus dem Rucksack holen sollten. Lee schaute nach oben, die Nachmittagssonne strahlte hell und heiß vom wolkenlosen blauen Himmel. Die Kälte wirkte fremd, als sickere sie von anderswo herein. So hatte Lee es jedenfalls im Rückblick in Erinnerung.

Mal ging auf den nächsten Stein zu. Er war kaum größer als sie selbst, flach und unregelmäßig, nicht so sauber geglättet wie die Steine in Stonehenge. »Sechs Brüder«, sagte sie spöttisch. Alle drei Steine zeigten an den Innenseiten Kratzer, die von Flechten überwuchert waren, einheimische Graffiti vielleicht, oder rituelle Symbole aus der Steinzeit.

Die Tür des Range Rover stand offen. Lee wurde langsamer und zog hektisch die Luft durch ihre verstopfte Nase – womöglich war hier noch ein Mord geschehen. Doch über dem Lenkrad hing kein zusammengesunkener Leichnam. Von Cador Roberts war weit und breit nichts zu sehen. Sie ging sogar auf die Knie, um unter den Wagen zu schauen, und stellte dabei fest, dass der Boden eiskalt und klatschnass war.

»Lee«, sagte Mal. Sie stand völlig reglos dicht neben dem Stein, ohne ihn zu berühren. »Man kann unendlich weit sehen.«

»Hmmm?« Später sollte Lee versuchen, diese Erklärung in eine tiefsinnige Prophezeiung umzudeuten, aber wahrscheinlich hatte Mal nur die Aussicht gemeint. Die Steine standen auf einer Anhöhe im Moor, und man hatte nach allen Seiten meilenweit freie Sicht. Was sie jedoch nicht sahen, war Roberts – keine Spur von ihm. Das erschreckte sie kaum weniger als die zerfleischten Schafe. Warum sollte jemand seinen Wagen hier abstellen und einfach so ins endlos graubraune Moor hinausmarschieren?

»Ich glaube, wir kommen hier nicht weiter«, stellte Lee fest, und plötzlich raste eine Schattenfront über sie hinweg, als würden sich Wolken vor die Sonne schieben. Eben war der Himmel noch vollkommen klar gewesen, doch sie sagte sich, dass im Moor das Wetter schnell umschlagen konnte.

Dann begann es zu schneien.

Die Schneeflocken kamen aus einem überwiegend blauen Sommerhimmel herabgeschwebt – und Lee war solch ein Stadtkind, dass bei ihr immer noch keine Alarmglocken schrillten. Dann stieß Mal einen Schrei aus. Lee drehte sich zu ihr um, und ein Schneesturm peitschte ihr ins Gesicht.

Wie aus dem Nichts fegte der Wind mit einem Mal von allen Seiten daher. Er brachte mächtige Schneewolken mit, die ihr die Haut zerkratzten und mit tausend spitzen Fingern an ihren Kleidern zerrten. Sie lehnte sich mit aller Kraft dagegen und stolperte vorwärts. Mal kauerte mitten im Sturm zwischen zwei von den Steinen. Sie hatte ihr Handy aus der Tasche gezogen und versuchte, das Wetter auf ein Foto zu bannen. Warum auch nicht? Es wäre ein erstklassiges Phänomen für Fortean: Schnee im Sommer aus einem nahezu klaren Himmel. Vielleicht regnete es als Nächstes Frösche und Fische.

Lee ließ sich zu Mals Füßen auf den Boden fallen und versuchte, die Jacken aus den Rucksäcken zu zerren – es waren nur dünne Anoraks, sie hatten sich auf Regen eingestellt, nicht auf Scotts Antarktisexpedition. Die Temperaturen waren ins Bodenlose gefallen, ihre Finger waren bereits taub. Sie schaffte es, Mal die Kapuze eines Anoraks über den Kopf zu ziehen, als sie versuchte, in ihre eigene Jacke zu schlüpfen, fiel sie gegen den nächsten Stein.

Die Steine … Dagegen half auch der alte Slogan »Ruhe bewahren und weitermachen« nicht mehr. Zuvor hatten drei Steine in großem Abstand auf einem Feld gestanden. Jetzt waren es plötzlich sechs. Sechs Brüder, genau wie die Einheimischen sagten. Die Steine hielten ein Familientreffen ab.

Auf der Innenfläche des Monolithen, an dem Lee lehnte – es war einer von den neuen –, waren Bilder zu sehen. Der Schnee gab sich alle Mühe, die rote Farbe abzuwaschen, aber der Künstler hatte tiefe Rillen ausgemalt. Sie sah eine geschwungene Linie – deutete sie zur Figur um – eine Gestalt im Sprung, Schwanz und Schnabel nach unten gerichtet, ein Bein ausgestreckt – mit wenigen eleganten Strichen skizziert.

»Lee«, sagte Mal.

»Mal, hast du das gesehen?«

»Lee.« Mals Stimme klang angespannt und ruhig zugleich, dabei aber sehr eindringlich.

Lee schaute auf – und da waren die Vogelmenschen.

Sie standen im Zentrum des Steinkreises. Nein. Sie standen da, wo nach Lees innerem Kompass das Zentrum des Steinkreises hätte sein müssen, aber alles war … verschoben – wenn sie in diese Richtung schaute, war es, als hätte sie einen feinen Schnitt im Auge. Es waren mindestens drei, wobei das Schneegestöber – deren Schnee – eine genaue Zählung erschwerte. Sie waren etwas kleiner als Menschen und hielten sich wegen ihres Körperbaus ziemlich gebückt. Die Beine waren lang, aber der Rumpf war nach vorn geneigt, und der lange Schwanz bildete das Gegengewicht. Der war, aus der Nähe betrachtet, auch kein Federschweif wie bei einem Vogel, sondern ein richtiger fester Knochenschwanz. Die Köpfe hinter den Schnäbeln waren rund und überraschend groß. Lee schaute in riesige, tiefschwarze, nach vorne gerichtete Augen – Raubtieraugen.

So etwas konnte es nicht geben, es war, als wären die Randzeichnungen eines Mönchs oder die Fantasien eines Bestiarien-Verfassers zum Leben erwacht. Am ehesten glichen sie riesigen Raben oder, nein, eher Dohlen, denn ihr Gefieder war mit weißen Flecken und Streifen durchsetzt. Lees Gehirn weigerte sich, weitere Einzelheiten aufzunehmen. Denn das waren keine Tiere.

Sie trugen Umhänge: Tierhäute, am Hals und unter dem Bauch zusammengehalten, formlos wie Ponchos. Einer hatte sich ein in Leder gewickeltes Bündel auf den Rücken geschnallt. Ein anderer hielt einen Stab, vielleicht einen Speer in der Ellenbeuge seines Vogelarms, der kein Flügel war, aber immerhin in einem Ärmel aus nassen Federn steckte. Die Hand endete in so stark gekrümmten Klauen, als hätte sich ein Tierpräparator einen Scherz erlaubt.

Der Vogelmann in der Mitte, der größte der Gruppe, ging auf Mal zu. Lee erinnerte sich an das Video, hier war die gleiche fremde Sprache im Zusammenspiel von Muskeln und Bewegungen zu beobachten. Schnee und Kälte waren vergessen – die strammen Muskeln, die Schuppen über dem Knie, wo die Federn aufhörten, der dreizehige Fuß mit dem inneren Glied, das zierlich vom Boden abgespreizt wurde wie der kleine Finger einer alten Tante beim Teetrinken, nahmen ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Nur hatten alte Tanten keine solch gekrümmten Klauen. Nicht in dieser Zeit. Nicht in dieser Welt.

Anfangs hatte sie gedacht, der Vogelmann in der Mitte hätte einen großen Hakenschnabel wie ein – nun, »wie ein Raptor«, aber der Vergleich wäre nicht wirklich hilfreich. Eher wie ein Adler. Nur war es kein Schnabel, sondern eine Klinge aus Metall, gekrümmt wie ein Ellbogen. Bronze, grob gehämmert. Lee sah mit dem Auge der Zoologin sofort, dass die Klauen sich gut eigneten, um etwas festzuhalten, aber als Greifwerkzeuge nicht viel taugten. Doch viele Vögel sind ja sehr geschickt mit ihren Schnäbeln.

Der Vogelmann war keine zwei Meter von Mal entfernt, und die rückte ganz, ganz langsam von ihm ab. Auf der Bronzeklinge war kein Blut zu sehen, aber beide Frauen glaubten zu wissen, was zuerst Roberts’ Schafen und dann Roberts selbst widerfahren war. Die Erkenntnis brach den Zauber, alle Träume vom Ruhm im Kreis der Forteaner traten in den Hintergrund, als ihnen aufging, dass ihnen das gleiche Schicksal drohte.

»Mal, pass auf!«, rief Lee. »Lauf!«

Sie rannten los. Mal hatte in weiser Voraussicht ihren Rucksack weggeworfen, deshalb war sie zunächst schneller, hielt sich aber bald zurück, damit Lee mit ihren kürzeren Beinen aufholen konnte. Wohin sie sich auch wandten, der Schnee raste ihnen entgegen, sie verloren den Range Rover und die Reifenspuren sofort aus den Augen. Mal lief den Hang hinauf, und Lee keuchte hinterher. Links und rechts sah sie huschende Schatten, die Verfolger hielten mühelos Schritt. Sie konnte sie auch rufen hören. Nicht die scharfen Schreie eines Habichts oder das raue Krächzen eines Raben, sondern ein breites Spektrum von Pfiffen und Klickgeräuschen, Schnalzern und Glucksern, vielfältig wie Papageienlaute. Es klang wie Gelächter.

Mal blieb unvermittelt stehen, Lee wäre beinahe in sie hineingerannt, und dann wären sie beide über einen Felshang drei Meter in die Tiefe gestürzt. Doch nicht deshalb hatte ihre Freundin innegehalten, sondern wegen der Aussicht.

Das Moor war immer noch als solches zu erkennen, auch wenn jetzt in den Senken Schnee lag. Weiter unten hatte sich eine Gruppe von Tieren zum Trinken an einem rauschenden Bach versammelt. Sie waren so groß wie Kaltblüter und ähnlich grobschlächtig, aber bis zu den Knöcheln mit zottigem graubraunem Gefieder bedeckt. Auf langen Hälsen saßen kleine, von Federbüschen gekrönte Köpfe. Zwei oder drei standen hoch aufgerichtet, um die Umgebung zu beobachten, während die übrigen tranken. Sie sahen die beiden Frauen nicht, oder die Menschen spielten für sie keine Rolle. Doch als die Vogelmenschen beidseits von Lee und Mal auftauchten, begannen die Wächter warnend zu klopfen, und die Herde zog weiter.

Mal hatte die Vogelmenschen noch nicht bemerkt. Sie zeigte auf etwas in einiger Entfernung. Das Schneegestöber hatte nachgelassen, sodass sie Rauchschwaden erkennen konnten. Lee unterschied auch Gebäude, ähnlich wie Jurten vielleicht, und unweit davon Gehege mit Tieren. Dort herrschte geschäftiges Treiben.

Einer der Vogelmänner direkt neben Lee ergriff das Wort. Hak, sagte er. Dann ging er ein paar Schritte über die Hügelkuppe. Er hatte einen gezackten Feuerstein im Schnabel, den rieb er nun auf dem Boden hin und her, wie um ihn zu wetzen. Dabei ließ er Lee nicht aus den Augen.

Hak.

Lauf.

Lee wich zurück und zerrte an Mals Anorak. Zwei Vogelmänner hatten sich zwischen die Felsen geduckt und beobachteten sie aufmerksam, der dritte befand sich in ihrem Rücken, und auf einmal konnte Lee diesen nachdenklichen Blick keine Sekunde länger ertragen. Diesen abschätzenden, berechnenden Ausdruck, diese Augen so tief wie Brunnen – in denen Grausamkeit funkelte, Mordlust vielleicht. Aber unbestreitbar auch Intelligenz.

Eine der Gestalten ging in die Hocke und schaukelte hin und her, und Lee fühlte sich plötzlich an die Katze einer Freundin erinnert. Die drehte und wand sich genauso, bevor sie sich auf ihre Beute stürzte.

Sie rannte los, und Mal war einen Schritt hinter ihr, nur einen einzigen Schritt. Das hätte sie beschwören können.

Hinterher musste Lee nach dem langen Aufenthalt im Freien wegen Unterkühlung behandelt werden. Sie konnte sich nur an wenig erinnern und wusste auch nicht mehr, wie sie wieder herausgekommen war, falls heraus das richtige Wort war. Heraus und hinein bezogen sich auf normale Richtungen, und diese Beziehung galt hier nicht. Sobald sie in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren, fragte sie nach Mal, und man gab die Frage an sie zurück. Die Einheimischen waren nicht blind, wenn zwei junge Frauen ins Moor gingen und nur eine wiederkam, fiel das auf.

Geblieben war die Erinnerung an die örtliche Polizei, das Krankenhauspersonal, die vielen ernsten Gesichter. Natürlich finden wir Ihre Freundin, Miss, Sie müssen uns nur alles erzählen, was Sie noch wissen. Die Worte kochten in ihr hoch und lähmten ihre Kehle. Sie konnte nicht alles sagen. Man würde sie entweder für verrückt halten oder sie einer Straftat verdächtigen. Sie redete über die Roberts-Farm und das Moor. Sie sprach vom Schnee, denn auch wenn gerade Juli war, schien ihr dies das Einzige zu sein, womit sie die Grenze zum Wahnsinn nicht überschritt. Sie schilderte, wie sie sich verlaufen hätten. Wie von selbst stoppelte ihr Mund eine zusammenhängende Geschichte zusammen, die sie wie eine Plane über das legen konnte, was ihr wirklich im Gedächtnis geblieben war. Was herauskam, hatte nach außen hin die gleiche Form, ohne die Details preiszugeben. Sie entdeckte in sich ein Talent zum Lügen, von dem sie bisher nichts geahnt hatte.

Als sie dann allein in ihrem Krankenhausbett lag, quälte sie sich mit der Frage, ob sie mit ihren Lügen womöglich Mals Schicksal besiegelt hatte. Aber wenn Mal irgendwo gewesen wäre, hätte man sie finden müssen, und dann hätte Lees Geschichte durchaus wahr sein können.

Sie wurde drei Mal vernommen, drei verschiedene freundlich-ernste Polizeibeamte führten sie mit leichten Abweichungen durch die immer gleichen Fragen, und sie lieferte ihnen ihre halbwegs wahrheitsgemäßen Antworten – danach war sie völlig durcheinander und zitterte vor Erschöpfung. Sie sah ihnen an, dass sie dachten: Armes Ding, hat ihre Freundin verloren. Keiner ahnte, dass sie ihre große Liebe, ihr Herz, ihr ganzes Leben verloren hatte. Sie zwang sich, wach zu bleiben, und wartete verzweifelt darauf, dass Mal wohlbehalten durch die Tür des Krankenzimmers käme. Egal, ob sie ihr Vorwürfe machte, weil sie weggelaufen war, egal, ob sie sie hasste, egal auch, ob sie sie niemals wiedersehen wollte.

Am nächsten Morgen gegen sieben Uhr war Lee so übermüdet, dass sie anfing, im Augenwinkel zerzauste, streitbare Vogelmenschen zu sehen. Nun erschien ein Polizist, der nicht älter aussah als sie selbst und seine Fragen mit einem verlegenen Lächeln stellte. Tut mir leid, Miss, es dauert nur einen Moment. Lee begriff, dass er nicht Mals wegen hier war, sondern wegen Cador Roberts, der ebenfalls vermisst wurde. Der Polizist schien nicht genau zu wissen, wer sie war, er konzentrierte sich nur auf Roberts – woher Lee ihn kannte und wann sie ihn zuletzt gesehen habe. Sie kannte ihn nicht, sie hatte ihn nie gesehen und konnte ihm daher nicht weiterhelfen.

Doch dann ging etwas mit ihr durch. Das Gummiband der Diskretion zerriss und flog davon, und sie sprudelte alles heraus: das Video, die Schafe, die Vogelmenschen, die verdammt unglaubliche Aussicht auf den Schneesturm über dem Moor und die herandonnernden gefiederten Reptilien. Sie merkte sehr wohl, dass er sie schon bald für komplett verrückt erklärte, aber er war gut erzogen – und sie benahm sich wie der gottverdammte alte Seemann aus Coleridges Ballade und ließ nicht zu, dass er sich höflich verabschiedete. Volle zwanzig Minuten redete sie auf ihn ein, und er kritzelte aus Gewohnheit alles in ein Notizbuch, obwohl die Seiten sicher gleich nach seiner Rückkehr im Papierkorb der Polizeiwache landen würden. Als Lee endlich alles ausgekotzt hatte, was ihre Lügen bis dahin unterdrückt hatten, lächelte er sie tatsächlich an, ein spitzenmäßiges Lächeln aus dem Arsenal zur Beschwichtigung von Geisteskranken, und versprach ihr, sich zu melden. Zum Glück kam er nicht wieder.

Die Suche wurde zwei Wochen lang fortgesetzt. Man fand Mals Rucksack bei den drei Steinen der Sechs Brüder. Sie selbst fand man natürlich nicht. Sie war in eine Richtung gegangen, die kein Kompass anzeigte, an einen Ort, der auf keiner Karte zu finden war. Lee erinnerte sich, wie Mals Vater nach stundenlanger Anfahrt wutschnaubend aufgetaucht war. Sie erinnerte sich, mit welch glühendem Hass er sie angesehen hatte, weil sie gefunden worden war und seine Tochter nicht. Sie selbst hatte sich unzählige Male mit dem gleichen Blick im Spiegel betrachtet. Mal war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen, das Objekt ihrer Begierde, das Licht, das all die düsteren, trostlosen Banalitäten der Welt erträglich machte. Nach einer Weile wurde die Suche zur bloßen Öffentlichkeitsarbeit, und Lee erinnerte sich, wie sie in die Zukunft geschaut und … nichts gesehen hatte. Auf ein Leben ohne Mal hatte sie sich nie eingestellt. Sie war ein dummer liebeskranker Teenager gewesen, aber sie hatte geliebt, sie hatte ihr Liebstes verloren, und damals hatte sie nicht den Eindruck gehabt, dass die Liebe den Verlust auch nur annähernd mildern konnte.

Mal wurde nie gefunden. Für ihre Angehörigen war das ein weiterer Schlag, denn sie sahen sie wie ein verirrtes Schaf draußen im Moor liegen, auf unerklärliche Weise verschwunden in jener kleinen Kniekehle der Wildnis an der Südspitze der Britischen Inseln. Nur Lee wusste, dass sie im Anderswo war; sie konnte sich sogar mit dem Gedanken trösten: Sie hätte das so gewollt. Ein maßgeschneidertes Schicksal für Elsinore Mallory, das keinem anderen menschlichen Wesen jemals beschieden gewesen war.

Im Lauf der nächsten Jahre schnitt sich Lee – sie hielt es selbst für ein Wunder – weder in der Badewanne die Pulsadern auf, noch schluckte sie den Inhalt des elterlichen Medizinschranks, stattdessen verarbeitete sie Mals Verschwinden zu einem Mythos. Dadurch wurde es leichter zu ertragen. Sie war Das Mädchen, das blieb, und Mal war Das Mädchen, das wegging, als wären sie in den Episoden der Serie Doctor Who verewigt worden. Mal erschien ihr oft in ihren Träumen, als wäre sie immer noch da draußen, oder als wäre sie zurückgekommen.

Und Lee blieb den Kryptiden und den Forteana treu, ohne davon besessen zu sein wie ein Vogelmenschen jagender Van Helsing. Sie machte weiter wie bisher, schrieb ihre Artikel zuerst für Lokalmagazine, dann für überregionale Zeitschriften, und stellte Top-Ten-Listen von »Unheimlichem Scheiß« ins Internet. Damit verdiente sie genug, um die Miete zu bezahlen und nicht zu verhungern. Hin und wieder malte sie sich aus, wie Mal diese Texte las und sich darüber lustig machte. So blieb sie weiterhin mit ihr verbunden, auch noch, nachdem sich der Tag ihres Verschwindens zum vierten Mal gejährt hatte.

Dann rief Mal an.

Jedenfalls hörte sich die Anruferin an wie Mal, die Stimme war für alle Zeiten in Lees Gedächtnis eingebrannt. Sie wollte sich mit ihr treffen. Keine Zeit, mit ihr zu plaudern, Erklärungen abzugeben oder auf Lees »Scheiße, was soll das heißen? Wer spricht da? Warum bist du … was … warte!« zu antworten. Nur ein Ort und ein Zeitpunkt – Fußgängerzone, lächerlich banal. Und die Frage: hingehen oder nicht?

Lee ging hin.

INTERMEZZO

DIE WANDERER

AUSZUG AUS: DIE ANDEREN EDEN – SPEKULATIVE EVOLUTION UND INTELLIGENZ VON RUTH EMERSON, PROFESSORIN AN DER UNIVERSITY OF CALIFORNIA

Nach langer Zeit näherte sich die beschauliche Periode des Ediacariums mit ihren sessilen Polsterformen dem Ende. Die energiesparende Biologie dieser trägen Spezies wurde in rasantem Wandel von der Welt der Zähne und Klauen, des Wettbewerbs und der Prädation verdrängt. Die Totenglocke für das Ediacarium läutete, als eine Spezies entdeckte, wie viel effizienter als mit dem Filtern von Detritus aus dem Wasser man seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte, wenn man Material von seinen wehrlosen Nachbarn raubte.

Es folgte eine regelrechte Explosion biologischer Vielfalt. Polster kamen aus der Mode. Zwar saßen einige Kreaturen immer noch auf einem Fleck und siebten Schwebstoffe aus dem Wasser, doch die Welt wurde von neuen Zwängen umgeformt. Das Leben verspürte ein dringendes Bedürfnis nach Bewegung – auf etwas zu bei den Raubtieren, von etwas weg bei der Beute – man überfiel aus dem Hinterhalt, fraß auf und suchte Schutz.

Willkommen im Kambrium.

Einige Arten entwickelten Muskeln und wurden flink und geschmeidig: schlanke lebende Bänder, die sich durch das Wasser schlängelten. Andere vergruben sich im Sediment. Wieder andere flüchteten sich aus schierer Verzweiflung in eine neue Strategie: An ihren harten Körpern sollten sich die Raubtiere die Zähne ausbeißen und die Klauen stumpf reiben. Unerwünschte Spurenelemente und chemische Verbindungen, die sich wie Nierensteine überall in den Organismen angereichert hatten, wurden nun als Panzerung an die Außenseite abgesondert. Diese Geschöpfe sollten in jeder Zeitlinie die ersten sein, die an Land und in die Luft gingen. Denn dies ist nur eine Zeitlinie von vielen.

In unserer Welt erbten die lebenden Bänder etwas, das noch wichtiger war. Der innere Stab, an dem ihre Muskeln hingen, wurde schließlich zu einem Teil des Rückgrats. Und sie wurden im Laufe einer halben Milliarde Jahre zu uns. Aber nicht in dieser Welt.

Warum? Den genauen Zeitpunkt, zu dem ein Finger die Waagschale berührt und sie anders neigt, als es in unserer eigenen Geschichte der Fall war, gibt es nicht. Vielleicht diktiert nur der Zufall, welches Saatkorn der Zeit keimen wird und welches nicht.

Die großen Raubtiere dieser kambrischen Meereslandschaft sind die Anomalokariden. Auch sie haben einen Panzer. Ihr Körper hat wie bei den Tintenfischen die Form einer Feder, er wird flankiert von flachen Flossenbeinen, die sich wie Wellen kräuseln und sie rasch durch das Wasser schießen lassen. Mit riesigen Stielaugen suchen sie nach ihrer Beute, wozu in ihrer Welt so gut wie alles gehört, was sich bewegt. In dieser Zeitlinie sind sie möglicherweise etwas schneller, ihre Augen sind schärfer, und ihre Arme packen flinker zu als in allen anderen. Unsere mutmaßlichen Vorfahren, kleine knochenlose Aale, sind hier nicht erfolgreich. Sie halten sich so zäh wie die sessilen Seescheiden und andere Atavismen, aber Fische entwickeln sich in diesen Meeren nicht; kein großes Maul, kein Rückenflosse erschreckt die Schwimmer, keine langsamen Verwandten der Quastenflosser schleppen sich an Land und bauen ihre Schwimmblase zu einer notdürftigen Ersatzlunge um. Es gibt keinen Tyrannosaurus und auch kein Mammut. Auch uns gibt es nicht. Dies ist nicht unsere Welt; dies ist nicht unsere Geschichte.

Es ist auch nicht die Geschichte der Anomalokariden, falls ihr nach Rache dürstet. Auch sie werden vergehen oder zumindest in der Bedeutungslosigkeit versinken.

In diesem Kambrium gewinnt der den Rüstungswettlauf, der den stärksten Panzer hat. Die Anomalokariden zerren ihn mit ihren schrecklichen Armen aus dem Sediment, reiben an ihm mit ihren Stacheln, nagen ihn mit ihrem zahnbewehrten Mundring an und lassen ihn dann zugunsten leichterer Beute fallen. In dieser Hölle werden diejenigen geschmiedet, die sich schließlich zur Herrschaft emporkämpfen.

Es sind Gliedertiere mit einem halbmondförmigen Kopf, einem dreilappigen Rumpf, einem Panzer aus Kalkspat und Facettenaugen, die aus winzigen Steinröhrchen bestehen. Zunächst zeigen sie keine besonderen Qualitäten. Unendlich lange Zeit rollen sie nur träge auf dem Meeresboden herum. Aber sie haben auch unendlich lang Zeit. Vor ihnen liegt, was sie allerdings nicht wissen können, eine halbe Milliarde Jahre auf der langen Straße zum Jetzt.

Wenn sie dann endlich an Land gehen, schützt sie ihr Panzer vor der tödlichen Strahlung der Sonne, und ihre großen Atmungsorgane können genügend Wasser für kurze Strandspaziergänge speichern. Die gegliederten Beine haben anfangs kaum die Kraft, den dreigeteilten Leib auf den Sand zu ziehen, aber das wird sich ändern. Ihre Feinde (andere Trilobiten-Abkömmlinge ebenso wie die standhaft ausharrenden Anomalokariden) folgen ihnen nur mit Verzögerung. Inzwischen wächst da draußen eine Pflanzenökologie heran, die sie abweiden können; ein paar Millionen Jahre später wird sich eine Ökologie von Pflanzenfressern entwickeln. Das Leben bewegt sich mit wachsender Zuversicht weiter strandaufwärts. Verschiedene Arten von Asseln, Pfeilschwanzkrebsen und Silberfischen erobern nacheinander das Land, Abarten der Trilobiten, die mit der terrestrischen Fortbewegung experimentieren.

Man könnte glatt übersehen, dass vielen Abkömmlingen der Trilobiten etwas gelungen ist, was keine der späteren Arten – in welcher Zeitlinie auch immer – jemals schaffen wird. Sie sind unsterblich geworden.

Warum müssen wir überhaupt sterben? Gewiss, man kann den Tod mit technischen Mitteln umgehen. Es gibt das »Hochladen«, das zu einem ewigen virtuellen Leben verhilft, und davon werden wir noch mehr zu sehen bekommen; es gibt die unerschütterliche Entschlossenheit einer Medizin, die keine Grenzen anerkennt und jedem, der es sich leisten oder es fordern kann, seine persönliche Langlebigkeit auf den Leib schneidert. Diese Kambrier überwanden den Tod jedoch einfach durch natürliche Entwicklung.

Noch einmal, warum müssen wir sterben? Weil wir jedes Mal, wenn unsere Zellen sich teilen, an den chemischen Enden unserer Chromosomen nagen. Und je mehr sich diese Telomere abnutzen, desto schneller streben wir einem Punkt zu, an dem die gierigen Hände unserer biochemischen Zellmechanismen nichts mehr davon zu fassen bekommen. Sie greifen ungeschickt zu und lassen sie fallen, bis sie schließlich frustriert aufgeben und jede weitere Replikation verweigern. Selbst wenn diese Zersetzung nicht stattfindet, wird uns etwas anderes zum Verhängnis: Wir bekommen Krebs. Feindliche Zellen teilen sich mit rasender Geschwindigkeit und vernichten unerbittlich ihre Nachbarn.

Die Abkömmlinge der Trilobiten, zumindest eine Abstammungslinie, schwitzen sozusagen Telomerase aus – sie bauen ihre angegriffenen Chromosomen bei jeder Zellteilung neu auf. Zwar sterben sie immer noch wie die Fliegen durch Prädation – irgendwas erwischt einen früher oder später – aber eine Eigenschaft ist in ihrem System fest eingebaut: Sie brauchen nicht zu sterben. Die Philosophen, die sie eines Tages hervorbringen werden, brauchen sich nie der existenziellen Frage zu stellen, die uns verfolgt. Der Frage nämlich, warum auch nach der besten Vorstellung immer der Vorhang fallen muss.

Die größte Herausforderung – jene, die ihrer Größe Grenzen setzt und sie trotz dieses genetischen Tricks ums Leben bringt – ist der Abwurf des Exoskeletts. Dabei wird der ganze schützende Panzer butterweich. Wenn sie zu groß werden, geht es schließlich über ihre Kräfte, sich von ihrer gesamten Haut zu befreien. Und damit gelangen die Kambrier unweigerlich ans Ende der Fahnenstange.

Bis auf eine Abstammungslinie, die auch nach Jahrmillionen immer noch leidlich trilobitenähnlich ist. Diese Kambrier schuppen sich beim Häuten, sie werfen den Panzer in Teilen ab, die randvoll sind mit eingeschlossenen Bakterien und Parasiten, sie können immer weiter wachsen, ohne jemals ihren gesamten harten Kleiderschrank auf einmal entsorgen zu müssen. Sie werden groß; sie werden alt. Nach ein paar Millionen Jahren sind sie so groß wie die Wale im Meer oder die Elefanten an Land.